Proteste. Jüdische Rebellion in Jerusalem, New York und andernorts -  - E-Book

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Beschreibung

Was haben Karl Marx, Ferdinand Lassalle, die säkulare Israelin Daphne Leef oder ihre ultraorthodoxe Landsmännin Yocheved Horowitz gemeinsam? Sie alle waren nicht bereit, die herrschenden Verhältnisse einfach so hinzunehmen, und es steht fest, dass Juden und jüdisches Bewusstsein bei vielen Protestbewegungen eine prominente Rolle spielten. Der »Jüdische Almanach 2012« ist diesen Energien gewidmet. Er untersucht die Rolle von Juden als Vordenker, Rebellen, Revolutionäre, Aktivisten und anderen Gegen-den-Strom-Schwimmern. Sei es im Vormärz, bei der Novemberrevolution, im Zweiten Weltkrieg, bei der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung oder bei Occupy Wall Street. Behandelt werden die sozialen Zeltproteste in Israel, Demonstrationen in ultraorthodoxen Kreisen und Soldaten, die den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigern. In Europa wiederum protestieren jüdische Gemeinden gegen eine einseitige Berichterstattung über den Nahostkonflikt, und schließlich lässt sich sogar Asterix' Kampf gegen die Welt durch eine jüdische Brille betrachten. - Mit Beiträgen von Anita Shapira, Moshe Zimmermann, Anetta Kahane, Henryk Broder, Gero von Randow, Almog Behar, Cheryl Goldberg, Christian Wiese und vielen anderen. - Mit Grafiken von Yossi Lemel

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Was haben Karl Marx, Ferdinand Lassalle, die säkulare Israelin Daphne Leef und die ultraorthodoxe Yocheved Horowitz gemeinsam? Sie alle waren nicht bereit, die herrschenden Verhältnisse einfach so hin-zunehmen, und es steht fest, dass Juden und jüdisches Bewusstsein bei vielen Protestbewegungen eine prominente Rolle spielten.

Der Jüdische Almanach ist diesen Energien gewidmet. Er untersucht die Rolle von Juden als Vordenker, Rebellen, Revolutionäre, Aktivisten und andere Gegen-den-Strom-Schwimmer.

JÜDISCHERALMANACH

der Leo Baeck Institute

Proteste

Jüdische Rebellion in Jerusalem,New York und andernorts

Herausgegeben vonGisela Dachsim Auftrag des

Gefördert durch: Stuttgarter Lehrhaus-Stiftung für interreligiösen Dialog

Im Dialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gesprächin Hessen und Nassau

Nordelbischer Arbeitskreis Christen und Juden

Redaktionelle Beratung: Na'ama Sheffi; Anja Siegemund; Adina Stern

Umschlagabbildung: Yossi Lemel

Das Leo Baeck Institut (LBI) ist benannt nach der Symbolfigur der deutschen Judenheit im 20. Jahrhundert und besitzt Zentren in New York, London und Jerusalem sowie eine Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft in Deutschland. Es wurde 1955 in Jerusalem gegründet, um die Geschichte und Kultur des deutschen und zentraleuropäischen Judentums zu erforschen und zu dokumentieren. Seit 1993 gibt das Leo Baeck Institut Jerusalem den Jüdischen Almanach heraus. Dies knüpft an eine alte Tradition an, die durch den Nationalsozialismus gewaltsam abgeschnitten wurde. Erstmals erschien ein Jüdischer Almanach im Jahre 1902.

Leo Baeck Institute:

Jerusalem: 33 Bustenai Street, Jerusalem 93229, Israel; www.leobaeck.org

London: 2nd Floor, Arts Two Building, Queen Mary University of London, Mile end Road, London E1 4NS, UK; www.leobaeck.co.uk

New York: 15 West 16th Street, New York, NY 10011, USA; www.lbi.org

Freunde und Förderer des LBI: Liebigstraße 24, Frankfurt 60323

eBook Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag

© für diese Zusammenstellung Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag;für die einzelnen Beiträge bei den Autorinnen und Autoren

© für die Abbildungen Yossi Lemel

Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

eISBN 978-3-633-79740-0

www.suhrkamp.de

INHALT

Zu diesem Almanach

Moshe Zimmermann Juden und Protest

Viola Roggenkamp Bertha Pappenheim: Von der Hysterie zur Frauenfrage

Andrew Steinman Eine Dialektik des Protests. Wie ich Rabbiner in Deutschland geworden bin

Anetta Kahane Der Partisan aus Chemnitz

Henryk M. Broder Warum Deutschlands Fußballnationalspieler nicht nach Auschwitz fahren müssen

Bernard Kahane und Eric Nataf Asterix im Shtetl. Was der Gallier über das jüdische Unterbewusstsein seines Schöpfers verrät

Gero von Randow Warum Bernard-Henri Lévy trotz Starallüren etwas zu sagen hat

Jean-Noël Jeanneney J'accuse …!

Jérôme Bourdon Gegen die Medien, für ein anderes Israel-Bild. Wie sich Juden für eine andere Wahrnehmung des Nahost-Konflikts engagieren

Anita Shapira Zionismus im Zeitalter der Revolution

Amos Goldberg Zelt auf dem Stadtplatz oder Villa im Dschungel

Tamar Rotem Was ist angemessen? Auch in ultraorthodoxen Kreisen wird – manchmal – protestiert

Almog Behar Ana min al-jahud: Zu den Juden gehöre ich

Eithan Orkibi und Udi Lebel Protest aus Prinzip. Linke und rechte Wehrdienstverweigerer in Israel

Hagar Salamon Schalom, mein Freund. Autoaufkleber als emotionale Plattform politischer Diskurse

Natan Scharansky im Gespräch mit Gisela Dachs Die arabischen Revolutionen waren unvermeidbar

Cheryl Greenberg Juden und Schwarze – Unnatürliche Affinitäten

Andreas Mink Zwei Welten im Zuccotti-Park – Occupy Wall Steet und Occupy Judaism

Steven E. Aschheim Von subtilen kritischen Prägungen. Erinnerungen an eine deutsch-jüdische Kindheit in Südafrika

ZU DIESEM ALMANACH

Der diesjährige Almanach widmet sich einem Thema, das in diesen Zeiten die Welt umtreibt: dem Protest. In der Geschichte spielten oft Juden eine prominente Rolle bei der Auflehnung gegen soziale und politische Ungerechtigkeiten. Die europäischen Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts waren von Karl Marx über Rosa Luxemburg und Leo Trotzki zu großen Teilen das Werk einer jüdischen Avantgarde oder von einer solchen beeinflusst. Aus historischer und sozialpsychologischer Sicht lässt sich das Engagement von Juden und Jüdinnen mit dem Widerstand gegen Diskriminierung und dem Wunsch nach Emanzipation erklären. Doch fordert auch der jüdische Grundsatz vom »Tikkun Olam« dazu auf, die Welt durch menschliches Zutun besser zu machen. Im Talmud steht: Wer gegen eine Ungerechtigkeit protestieren kann und es unterlässt, macht sich zum Komplizen.

Inwiefern und warum Proteste gegen herrschende Verhältnisse ein jüdisches Merkmal sind, wird im Folgenden unter die Lupe genommen. So warnt Moshe Zimmermann in seinem Eröffnungsbeitrag vor dem pauschalisierenden Bild des Juden als Speerspitze des Protestes der Moderne. Dies sei vielmehr ein Element der antisemitischen Propaganda gewesen, die abschätzig die »liberalistische Weltanschauung« mit »dem Judentum« assoziieren wollte. Der Historiker erinnert daran, dass Juden zu Sündenböcken für gesellschaftliche Missstände gemacht wurden. Nur über die – strategische – Forderung nach einer generellen Gleichheit bestand Aussicht auf Besserung der eigenen Lage.

Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Feministin, Sozialarbeiterin und Schriftstellerin Bertha Pappenheim genügend Gründe für ihr Engagement. Neben der bürgerlichen Gleichstellung der Juden kämpfte sie für die Rechte von Frauen und gegen Prostitution – aber erst nachdem ihre eigene, damals so diagnostizierte »Hysterie« überwunden war. Viola Roggenkamp erzählt von dem außergewöhnlichen Schicksal der gebürtigen Wienerin, die als Patientin Anna O. in die Geschichte der Psychoanalyse einging. Als Bertha Pappenheim kurz vor ihrem Krebstod 1936 von der Gestapo vorgeladen wurde, wurden die Juden längst als »Drahtzieher« und »Zersetzer« beschimpft, womit ihre Entfernung aus dem deutschen Volk und schließlich ihre Vernichtung gerechtfertigt werden sollte.

Die Bundesrepublik galt als ein Neuanfang, in dem aber tatsächlich Tabus den Umgang mit den wenigen übrig gebliebenen Juden regelten. Für manche Überlebende schien die Bundesrepublik so vielversprechend, dass sie zur Wahlheimat wurde. Zu ihnen gehört Andrew Steinmans Vater, der sich in den 1980er Jahren nach der ermutigenden Lektüre von Günter Grass' Blechtrommel für einen Umzug von New York nach Frankfurt entschied. In einem sehr persönlichen Beitrag über die »Dialektik des Protests« erzählt Andrew Steinman, wie ihn seine Auseinandersetzungen mit dem Vater und mit Deutschland schließlich dazu brachten, Rabbiner zu werden.

Im anderen Deutschland herrschten nach 1945 andere Regeln, wenn auch nicht minder problematische. Über Juden wurde nämlich gar nicht geredet. Also wurde auch nicht an sie als Juden erinnert, wenn es ans Gedenken ging, sondern an antifaschistische Widerstandskämpfer. Die Juden wiederum hofften, sich mit dem Verschwinden ihrer Geschichte aus dem Alltag der DDR die Normalität verdient zu haben. Einer, der heute ein ganz anderes Verständnis seines Jüdisch-Seins an den Tag legt und einen hohen Preis dafür bezahlt, ist Uwe Dziuballa aus Chemnitz. Anetta Kahane berichtet, wie der Besitzer des Restaurants Shalom in der ehemaligen Karl-Marx-Stadt weiterhin stoisch sein koscheres Bier ausschenkt – allen rechtsradikalen Angriffen zum Trotz.

Dass aber die Kur, falls diese denn möglich wäre, für einen besseren Umgang mit Juden und der deutschen Vergangenheit nicht unbedingt in einem Besuch in Auschwitz liegen müsse, betont Henryk Broder. In seiner Polemik schreibt er gegen eine ritualisierte Erinnerungskultur an, wozu der Besuch der kompletten deutschen Fußballelf im ehemaligen Konzentrationslager gehört hätte, wie er für die Europameisterschaft 2012 zeitweilig geplant war.

In Frankreich, das mit dem Regime von Vichy sein eigenes autoritär-faschistisches Erbe zu tragen hat, gibt es andere Debatten. Viele der jüdischen Intellektuellen gingen ganz im Säkularismus auf. So wissen nur wenige, dass René Goscinny, der Schöpfer der weltberühmten 34 Asterix-Bände, Jude war. Dieser Teil seiner Identität mag ihn aber beim Erzählen mehr beeinflusst haben, als ihm womöglich bewusst war. Bernard Kahane und Eric Nataf gehen den vielen versteckten jüdischen Spuren in seinem Werk nach und sehen darin auch das Rezept für den großen Erfolg: »Wenn Asterix uns bis heute hinreißt, dann deshalb, weil er über seine Komik hinaus den Widerstand gegen das Unabwendbare und gegen die Welt der Mächtigen verkörpert«. Ein anderer prominenter Franzose, der gerne protestiert, aber längst nicht so viel einhellige Begeisterung auslöst, ist Bernard-Henri Lévy. Der jüdische Philosoph kämpft an vielen Fronten gleichzeitig gegen das »Böse«, wobei er die Welt nicht nur verstehen, sondern auch reparieren will. Gero von Randow porträtiert den umstrittenen BHL jenseits seiner Starallüren und findet jede Menge Substanz.

Ein gewaltiger Aufschrei aus dem 19. Jahrhundert prägt (nicht nur) das französische Kollektivbewusstsein bis heute: Emile Zolas »J'accuse«. Es handelt sich um den langen, aufrüttelnden Aufruf, den der bekannte Autor auf der ersten Seite der Tageszeitung L'Aurore an den Präsidenten der Republik richtete. Er warf der Regierung Antisemitismus vor, der zur unrechtmäßigen Verurteilung des der Spionage bezichtigten Hauptmanns Dreyfus geführt hatte. Jean-Noël Jeanneney schreibt über diese entscheidende Wendung in der französischen Geschichte, die schließlich zum Freispruch führte. Zugleich wurde damals auch der Einfluss der Medien deutlich.

»Die Medien« wiederum stehen heute bei vielen jüdischen Gemeinden und Organisationen in Europa und den Vereinigten Staaten generell am Pranger, wenn es um die Berichterstattung über Israel und den Nahostkonflikt geht. Vor allem seit der Zweiten Intifada 2000 wird zunehmend gegen eine verzerrte Wahrnehmung Israels protestiert. Jérôme Bourdon beschreibt Facetten dieses neuen jüdischen Engagements, dessen historische Wurzeln sowie den Wandel des Israel-Bilds im Ausland seit der Staatsgründung im Jahre 1948.

Einen Blick auf die besonderen historischen Umstände, unter denen der Zionismus entstehen konnte, wirft Anita Shapira. In ihrem Beitrag zeigt sie die Verbindung auf zwischen der Verwirklichung des zionistischen Projekts und dem Zeitalter der Revolution und wirft dabei die These auf, dass dieses Unterfangen ohne die Eigentümlichkeiten des 20. Jahrhunderts wohl nicht gelungen wäre.

63 Jahre nach der Staatsgründung ging im Sommer 2011 die israelische Mittelschicht auf die Straße, um gegen hohe Preise und Wirtschaftsmonopole zu protestieren. Mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit knüpften die Demonstranten an die ideologischen Ursprünge des Landes an. Dazu wurde ein altes Symbol der jüdischen Geschichte mobilisiert: das Zelt. Amos Goldberg schreibt über die Bedeutung des Zelts in früheren und heutigen Kontexten. Wenige Monate später kam es in Israel erneut zu Auseinandersetzungen: über den Umgang mit Frauen in ultraorthodoxen Kreisen. Tamar Rotem erzählt, wie sich die fromme Yocheved Horowitz über herrschende Konventionen hinwegsetzte und gegen die Geschlechtertrennung in spezifischen Buslinien protestierte. In einem literarischen Essay schreibt Almog Behar anschließend von seinem ganz persönlichen – linguistischen – Widerstand als orientalischer Jude in Israel. Dieser manifestierte sich vor allem in seiner Aussprache des Hebräischen mit arabischem Klang.

Lange Zeit war Wehrdienstverweigerung in Israel mit einem Tabu behaftet, bis sich diese Erscheinung zunächst am linken, und später auch am rechten Rand der Gesellschaft etablierte. Eithan Orkibi und Udi Lebel zeichnen nach, wie sich der militärische Ungehorsam zu einem festen Bestandteil des israelischen Protestrepertoires entwickelt hat. Zu diesem Repertoire gehören in Israel seit den 1990er Jahren auch die hebräischen »Shticker«. Gemeint sind Aufkleber, die besonders gerne an den Heckscheiben der Autos angebracht werden. Über dieses Phänomen, das vor allem nach der Ermordung Yitzhak Rabins eine ganze Generation von Stickern hervorbrachte, schreibt Hagar Salamon. Als einer, der sich noch nie vor Obrigkeiten gefürchtet hat, gilt Natan Scharansky. Neun Jahre verbrachte der prominente sowjetische Dissident im Gulag, weil er seine Auswanderung aus der UdSSR und seine Einwanderung nach Israel beantragt hatte. Dort trat er 2005 aus Protest gegen den Abzug aus Gaza als Regierungsmitglied zurück. Heute ist er Vorsitzender der israelischen Einwanderungsbehörde und reagiert – wieder anders als der israelische Mainstream – mit Hoffnung auf die Proteste in der arabischen Welt, die er tatsächlich schon vor Jahren vorausgesagt hatte.

Aus der eigenen Freiheit, wie sie jedes Jahr an Pessach mit der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten zelebriert wird, leitet sich für viele amerikanische Juden auch das Sich-Einsetzen für die Freiheit Anderer ab. Das jüdische Engagement für die Bürgerrechtsbewegung wird durch ein ikonenhaftes Bild verkörpert: Rabbi Abraham Joshua Heschel demonstrierte 1964 an der Seite von Martin Luther King in Selma, Alabama. Es gibt aber auch andere Facetten dieser Geschichte. In ihrem Beitrag geht Cheryl Greenberg den vielschichtigen Beziehungen zwischen Juden und Schwarzen nach. Damals in Alabama galt das Wort von der »moralischen Entrüstung«, das 2011 von der Occupy-Bewegung in New York wieder aufgegriffen wurde. Andreas Mink schreibt über Occupy Wall Street and Occupy Judaism, die sich trotz aller Unterschiede in einer langen jüdischen Tradition der Vereinigten Staaten einreihen lassen.

Ein anderer Hoffnungsort für europäische Juden war einst auch Südafrika. Steven Aschheim, dessen Eltern dort in den 1930er Jahren Zuflucht fanden, erinnert sich an seine Kindheit und deren Prägung als Kind deutsch-jüdischer Flüchtlinge. Manche Sensibilität, die aus dem deutsch-jüdischen Kulturerbe stammt, verstärkte sich noch im Kontext Südafrikas.

MOSHE ZIMMERMANNJUDEN UND PROTEST

Über die Gewohnheit des auserwählten Volkes, ständig zu protestieren – oder besser: sich zu beschweren – berichtet des Öfteren bereits das Alte Testament. Das Volk protestierte gegen seine Führer, die Führer gegen das Volk und alle gemeinsam gegen den unlieben Gott. Da der altbiblische Gott Beschwerden automatisch als Zeichen der Ungläubigkeit empfand, wurde der Protest aus dem Volke quasi automatisch bestraft. Sieht man, worauf der populäre Protest in der Regel zielte, kann man für die göttliche Reaktion hier und dort Verständnis aufbringen – mal sehnt sich das Volk nach üppigen Fleischtöpfen, mal wünscht es sich einen König, mal ist es mit dem Propheten nicht einverstanden, kurz, wie der Prophet Jesaja (65,3) als Sprachrohr des jüdischen Gottes formuliert: »Ein Volk, das mich entrüstet«. Doch auch dort, wo der Prophet oder das Volk gerechte Forderungen stellten, endete die Geschichte meist mit einer gehörigen Strafe, nicht mit einer Kurskorrektur.

Was den Juden übrig blieb, war, ihren Protest auf Ziele zu lenken, die von einer derartigen göttlichen Intervention bzw. von der Anwendung religiöser Maximen losgelöst sind. Im Zeitalter der Säkularisierung, etwa in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten, erweiterte sich der Spielraum für einen derartigen Protest. Dabei zielte der kollektive wie auch der individuelle Protest entweder auf die Verbesserung der Lage der jüdischen Minderheit oder auf die Umgestaltung, ja Revolutionierung der gesamten Gesellschaft, was die Verbesserung der Lage der Juden als Nebenprodukt nachziehen sollte. Es war keineswegs überraschend, dass dieses Kollektiv der Unterprivilegierten bzw. Diskriminierten zum Protest gegen herrschende Zustände neigte. Und doch muss die Frage gestellt werden: Stimmt das Image der Juden als Speerspitze des politischen und sozialen Protestes der Moderne? Tendieren Juden, im Vergleich zu anderen unterprivilegierten und benachteiligten Gruppen, mehr zum Protest?

Revolutionen gelten als Gipfel des politischen und sozialen Protests. Doch sind die ersten großen Revolutionen der Neuzeit – die englische (1688), die amerikanische (1776) oder die französische (1789) – keineswegs durch eine markante jüdische Beteiligung gekennzeichnet. Zwar haben diese Revolutionen direkt oder indirekt die Lage der Juden verbessert, die Juden im jeweiligen Land sogar emanzipiert, aber der Einfluss von Juden auf die Entfesselung und den Verlauf der Revolution war minimal, wenn überhaupt vorhanden. Man erinnert an die finanzielle Hilfe, die Haym Solomon zugunsten der revolutionären Armee George Washingtons geleistet hat, man erwähnt die Teilnahme der jüdischen Soldaten unter Führung von Berek Joselewicz im gescheiterten polnischen Aufstand 1794 – doch diese Beteiligung am revolutionären Geschehen gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat Seltenheitswert. Und was die Französische Revolution betrifft – dort fanden nur Antisemiten die Spuren eines jüdischen Einflusses bzw. einer jüdischen Verschwörung.

Erst als die revolutionäre Stimmung Zentral- und Osteuropa erreichte, dort, wo im 18. bis zum 20. Jahrhundert die absolute Mehrheit der Juden lebte, sind Juden zu Trägern des Protestes bzw. der revolutionären Ideen geworden. Die Erklärung für diese Entwicklung liegt jedoch nicht nur beim höheren Prozentsatz der jüdischen Bevölkerung (einige Promille in den Staaten der Revolution 1776 bzw. 1789 im Vergleich zu etwa einem Prozent im Deutschen Reich und beinahe 10 Prozent im geteilten Polen, vor allem im vom russischen Zarenreich besetzten Teil), sondern auch beim legalen Status und vor allem bei der sozio-ökonomischen Situation. Der jüdische Protest zielte zuerst auf gesetzliche Gleichberechtigung, also auf die Emanzipation der Juden, dann auf soziale Chancengleichheit. Gabriel Riesser in Deutschland, Daniele Manin in Italien gelten als Prototypen dieser Art des Protests. Eines haben Riesser, Manin, Moses Hess, Ferdinand Lassalle oder Karl Marx wie auch andere politisch agierende Juden Zentral- und Osteuropas aus der Erfahrung der westlichen Welt – USA, England, Frankreich – gelernt: Der Protest kann und darf nicht allein im Namen der Juden und gegen die Nichtjuden geführt werden, sondern muss im Rahmen einer allgemeingültigen Argumentation, gemeinsam mit anderen benachteiligten Segmenten der Gesellschaft stattfinden. Anders formuliert: Wenn die Gesellschaft ihre Probleme löst, Freiheit und Gleichheit zum Fundament der gesellschaftlichen und politischen Ordnung macht, ist somit die »Judenfrage« von selbst gelöst. In Amerika und Frankreich war die Gleichberechtigung, die Emanzipation, das Nebenprodukt der allgemeingültigen Idee von Freiheit und Gleichheit bzw. die Schlussfolgerung, welche nicht allein die Juden, sondern die Gesellschaft konsequent aus ihren revolutionären Maximen gezogen hatte. Juden, die gegen die vorhandenen Zustände protestieren wollten, haben sich dem Protest gegen Unfreiheit und Ungleichheit angeschlossen, um in diesem größeren Kontext auch das spezifische Unrecht in Bezug auf die Juden beseitigen zu können. Voraussetzung für diese Strategie der Juden war jedoch die verwandelte Wahrnehmung der Lage seitens der Juden selbst – nicht als eine von Gott oktroyierte und zu akzeptierende, sondern als ungerechte und zu korrigierende Gegebenheit. Diese Strategie des jüdischen Protests – die keineswegs eine Selbstverständlichkeit war – repräsentierten auch Heinrich Heine (1797-1856) und Ludwig Börne (1786-1837). Nicht nur zu ihren Lebzeiten, auch später galten sie bei Freund und Feind zugleich als beispielhafte Wegbereiter und als Modelle der modernen jüdischen Gesellschaftskritik. Der »68er« Daniel Cohn-Bendit oder die amerikanische Feministin Betty Frieden, um nur zwei Beispiele zu nennen, standen im 20. Jahrhundert im Zeichen dieser Tradition.

Zuerst schienen die liberale Politik und die liberale Ideologie jenen Juden, die gegen Unrecht und Diskriminierung protestierten, den größten Erfolg zu garantieren. Deshalb befanden sich unter den führenden Köpfen der Liberalen im post-napoleonischen Jahrhundert einige Juden, von Adolphe Crémieux in Frankreich bis Ludwig Bamberger in Deutschland. Inwieweit jedoch die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung oder, wo es möglich war, die jüdischen Wähler sich hinter liberale Parteien und Ideologien stellten, ist ungewiss. Eine automatische Beteiligung an liberalen Parteien oder eine entsprechende Unterstützung gab es nicht. Hierbei spielte die fatalistische Haltung der orthodoxen Juden gegenüber dem Diaspora-Zustand eine entscheidende Rolle. Jedenfalls kann man davon ausgehen, dass auch dort, wo der Prozess der Säkularisierung und Emanzipation im Gange war, nicht nur einige prominente, zum Christentum konvertierte Juden, wie Friedrich Julius Stahl (1802-1861) in Preußen oder Benjamin D'Israeli (1804-1881) in England, Befürworter konservativer Politik geworden sind, insbesondere nachdem die Gleichberechtigung bereits manifest war. Wirtschaftsinteressen wie auch spezifisch jüdische Interessen standen nicht in jedem Fall mit liberaler Politik im Einklang, auch nicht im 20. Jahrhundert. Und so ist das pauschalisierende Bild vom nach Protest strebenden liberalen Juden wenig fundiert, zum Mindesten überzogen und eher ein Element der antisemitischen Propaganda, welche abschätzig die »liberalistische Weltanschauung« mit »dem Judentum« assoziieren wollte. Man kann die Situation sogar umgekehrt auslegen: Eben da sich in anderen Parteien, die das Bürgertum repräsentierten, eine antijüdische Stimmung verbreiten konnte, blieb Juden oft keine andere Wahl, als die Liberalen zu wählen. Zum Großteil Stadtbewohner, gehörten sie zumindest in Zentraleuropa zur klassischen sozioökonomischen Schicht des Bürgertums. Dennoch waren Juden nicht unbedingt Anhänger einer Ideologie, die die Autorität des Staates relativierte und die Beteiligung des Citoyen am Staat und seiner Gestaltung einforderte – was das liberale Bürgertum kennzeichnete.

Nicht nur wirtschaftliches Interesse, sondern auch die angebliche jüdische Neigung zum Protest waren nicht in jedem Fall mit einer Politik des Liberalismus vereinbar. Als darüber hinaus der Nationalismus sich in Europa zunehmend vom Liberalismus entfernte und reaktionär wurde, empfanden es manche Juden auch nicht als opportun, sich mit einem nationalismuskritischen Liberalismus zu identifizieren, und zogen es vor, sich mit den konservativen Strömungen des jeweiligen Nationalismus zu verbünden.

Dass nicht alle Juden den Liberalismus unterstützten, bedeutet aber nicht, dass sie auf Dauer für den Konservatismus eintraten. Seit der 1848er Revolution, der Sternstunde der liberalen Parolen, musste der Liberalismus immer mehr gegen einen neuen Konkurrenten bei der Gestaltung von politischem und sozialem Protest ankämpfen: den Sozialismus. Da der Sozialismus sich vor allem an die neue Klasse des Proletariats wandte, konnte er erst attraktiv werden, als zahlenmäßig die Proletarier eine kritische Größe erreichten, als ein proletarisches Selbstbewusstsein sich herausbildete und als sich außerdem eine klare weltverbessernde Botschaft verkünden ließ. All dies geschah seit der 1848er Revolution bzw. seit der Gründung der ersten Arbeiterbewegung, in Form von Ferdinand Lassalles (1825-1864) Allgemeinem deutschen Arbeiterverein im Jahr 1863. Dass mindestens zwei herausragende Figuren des Sozialismus der ersten Stunde Juden waren – Karl Marx (1819-1883) und Ferdinand Lassalle – half dabei, folgenden Eindruck aufkommen zu lassen: Juden und Sozialismus seien quasi natürliche Verbündete, bzw. der jüdische Drang nach Protest fände im Industriezeitalter im Sozialismus seinen optimalen Ausdruck. Da aber eine jüdische Arbeiterklasse sich erst später und eher in Osteuropa herausbilden konnte, war entsprechend der Sozialismus als Rahmen für einen jüdischen Protest eine relativ späte Erscheinung. Tatsächlich fanden sich bekannte Namen unter den Sprechern des Sozialismus – von Rosa Luxemburg in Deutschland bis hin zu Leo Trotzki in Russland oder Leon Blum in Frankreich, und der Eindruck konnte entstehen, dass Juden eben das Rückgrat des kämpferischen Sozialismus seien. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg konnte man Juden in der Führungsriege der Sozialisten und Kommunisten antreffen, beispielsweise Kurt Eisner, Karl Radek, Paul Levi und viele andere, die politisch aktiv waren oder die Politik als Schriftsteller und Intellektuelle begleiteten. Unter den führenden Köpfen der sowjetischen Revolution von 1917 befanden sich tatsächlich, anders als in den obenerwähnten Revolutionen des 18. Jahrhunderts, verhältnismäßig viele Juden. Wie verbreitet jedoch die pro-sozialistische Inklination unter jüdischen Wählern tatsächlich war, ist nicht genau feststellbar. Der Bund (Algemeyner Yidisher Arbeter Bund in Lite, Poyln un Rusland) und die sozialistischen Zionisten (Po'alei Zion, Hapoel und Hashomer Hazair) waren die zwei nennenswerten jüdischen Gruppierungen, die direkt den Sozialismus als Instrument des jüdischen Protests benutzt oder als Vision betrachtet haben. Zweifelsohne waren Juden mancherorts in sozialistischen und kommunistischen Parteien überproportional vertreten – in Europa wie den USA –, aber auch hier spielten die bekannten taktischen Überlegungen eine Rolle; dass angesichts der vielen offen antisemitischen Parteien Juden sich veranlasst und motiviert sahen, mit Parteien oder Strömungen zu sympathisieren, die für keine oder ein Minimum an Judenfeindschaft standen. Dies aber waren entweder wirklich liberale oder sozialdemokratische Parteien. Antisemiten haben diese jüdische Präsenz in der ersten Reihe des Sozialismus ganz anders interpretiert: »Die Juden wurden aus Notwendigkeit ›Rot‹«, hieß es im antisemitischen Handbuch der Judenfrage, weil es angeblich ihrem Wesen entsprach. Doch ohne die Politik der Antisemiten hätte sich der spezifisch jüdische Protest erübrigt oder zumindest in Verbindung mit anderen politischen Kräften artikulieren können. Noch kurz vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten meinte ein jüdischer Kommentator1 der Lage, dass die rechtsorientierten, nationalistischen Parteien eine beträchtliche Unterstützung von jüdischen Wählern hätten erhalten können – wären sie nur nicht antisemitisch.

Ereignisse wie die Damaskus-Affäre im Jahr 1840 oder die Beilis-Affäre im Russland von 19132 zeigten, wie effektiv und international der Protest von Juden in einem offensichtlichen Fall der Ungerechtigkeit – dem Ritualmord- Vorwurf – werden konnte. Im Vergleich zu Beschwerden und Protesten von anderen unterprivilegierten oder diskriminierten Gruppen erwies sich der jüdische Protest als medial wohl organisiert. Doch diese eher vereinzelten Fälle, in denen der jüdische Protest laut und klar zum Ausdruck kam, sind keineswegs ein Beweis für die angebliche Neigung von Juden, Fahnenträger des allgemeinen Protests zu sein, und noch weniger ein Beweis für die Instrumentalisierung des sozialen Protests für vermeintlich eigennützige Zwecke. Juden agierten in diesen wie in anderen Fällen meist mit juristischen Mitteln, die auf dem Fundament der gegebenen Ordnung beruhten, diese keineswegs unterminieren wollten – im Kampf gegen die »Protokolle der Weisen von Zion« ebenso wie im Kampf gegen verleumderische Kampagnen in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Auf diesem Weg konnte man hier und dort eine Schlacht gewinnen, aber im Endeffekt blieb der Erfolg dieser Art des Protests eher bescheiden. Mehr noch, im extremsten Fall der Judenverfolgung, als während des Zweiten Weltkriegs die Juden Europas bereits ermordet wurden, wo es also um »alles oder nichts« ging, da war der jüdische Protest nicht nur ineffektiv, er war sogar gezähmt, aus taktischen Überlegungen, denn man fürchtete, (auch in den angelsächsischen Ländern) einen Bumerang-Effekt, den ein massiver Protest auslösen könnte.

Auch sorgt bis heute eine andere Facette des Protests für eine optische Täuschung: Eine relativ große Zahl von Juden, die politisch aktiv und in der Lage waren, Proteststimmung im öffentlichen Raum zu artikulieren, waren Literaten, Journalisten, Schriftsteller, Künstler. Als solche konnten sie ihre Unzufriedenheit über herrschende Zustände publik machen und medial verbreiten – eine Unzufriedenheit, die sich nicht unbedingt auf die Lage der Juden beschränkte. Der Vorwurf gegen »die Juden« als Revolutionäre, als Protestler, ja als Verräter erhielt oft seine Überzeugungskraft auf Grund von Beispielen aus eben diesem Bereich. Der antisemitische Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke nannte es gegen Ende des 19. Jahrhunderts »das billige Übergewicht des Judentums in der Tagespresse«. Die Nationalsozialisten haben diese Beweisführung Jahrzehnte später in ihrer Propaganda extensiv benützt. Die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 verwandelte diesen Vorwurf in ein Ritual. Diese auffällige Präsenz von Juden in den Medien half nicht nur der NS-Propaganda dabei, Juden mit Kommunismus, Bolschewismus und Umsturz zu identifizieren.

Sind die Juden tatsächlich »Hetzer« und »Verführer«, um die Sprache der NS-Propaganda zu zitieren, so verliert auch die bloße Teilnahme bzw. Unterstützung der nicht-jüdischen Massen am »linken« oder »internationalen« Protest ihre Bedeutung, ja ihre Legitimation. Diese Art von Argumentation und Delegitimierung blieb auch nach 1945 aktuell, sogar in den westlichen Demokratien: Juden seien die Drahtzieher des Protests, und zwar aus Eigeninteresse als Juden.

Der eigentliche Zusammenhang zwischen Juden und Protest liegt an ganz anderer Stelle: Denn als Zielscheibe des Protests fungierten Juden seit eh und je; sie waren und blieben auch im 19. und 20. Jahrhundert in der Rolle des Sündenbocks für gesellschaftliche Missstände und in der Rolle als Objekt für Beschwerden von Seiten der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft. Der ökonomische Wandel und die Modernisierung ließen diese Tradition nicht bloß fortsetzen, sondern auch zeitgemäß neugestalten. Die sogenannten Hep-Hep-Tumulte im Jahr 1819, die sich gegen Juden in Zentraleuropa richteten, deuteten bereits an, dass im Zeitalter der Industrialisierung und sozialen Verunsicherung Juden weiterhin der Blitzableiter des neuen Sozialprotests bleiben würden. Blickt man dann auf das Jahr der europäischen Revolutionen, 1848, so lässt sich diese Tendenz europaweit nur bestätigen. Spätestens mit dem Aufkommen des modernen Antisemitismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wird klar, dass die moderne »soziale Frage« weitgehend (also nicht nur durch Erzkonservative) mit der »Judenfrage« identifiziert wurde. Möchte man die »soziale Frage« beantworten, will man den sozialen Prozess in »konstruktive« Bahnen lenken, hieß es, so muss man die Juden zum Ziel und Opfer des Protests machen. Aus dieser Zeit stammt auch die entsprechende Parole: »Die Juden sind unser Unglück« von Treitschke, die wiederum der Erzantisemit Julius Streicher etwa ein halbes Jahrhundert später zum Motto seines nationalsozialistischen Hetzblatts Der Stürmer machte.

Die als negativ bewerteten Folgen der Industrialisierung, des Kapitalismus, der Ausbeutung, der Proletarisierung, der Moderne, der Dekonstruktion der altvertrauten Gesellschaftsordnung, aber auch der angeblich jüdische Drang nach Umsturz, kurz – alles was die moderne Gesellschaft verunsicherte, konnte man den Juden anhängen und so den anti-jüdischen Protest zum Ersatz für andere Arten von Sozialprotest oder Reform machen. Dabei ging es vorrangig um ein europäisches Phänomen, um den Kontinent, auf dem etwa 90 Prozent der Juden lebten. Klare Anzeichen für einen erfolgreichen Export dieser europäischen Haltung gab es auch in den USA, in die spätestens seit 1881 eine starke Einwanderung von Seiten europäischer Juden erfolgte. Was der Auto-Hersteller Henry Ford, der Vorzeige-Pilot Charles Lindbergh oder Pfarrer Charles Coughlin schon vor, aber insbesondere dann vor dem Hintergrund der großen Krise 1929 propagierten, unterschied sich nicht von dem, was gleichzeitig in Europa Juden vorgeworfen wurde. Dort, in der Hochburg des Kapitalismus, saß die Angst vor einem Sozialprotest, der sich im Sozialismus manifestieren würde, noch tiefer als in Europa. So konnte Pfarrer Coughlin in seiner Radioansprache zehn Tage nach dem Pogrom von 1938 diese sogenannte »Reichskristallnacht« nicht nur relativieren als marginales Ereignis im Vergleich zur Verfolgung und Ermordung von Christen in der UdSSR, sondern die Juden als »Kommunistenführer« für die Verfolgung der Christen verantwortlich machen, was wiederum die Brutalität der Nazis zur bloßen Reaktion auf die Rolle von Juden als Verfolgern herunterstufte. Ein extremer Fall der Ablenkung von Judenverfolgung und dem Protest dagegen, mit dem Ziel, die Juden als Urheber der sozialen Misere in der Welt zu verunglimpfen.

Juden als Prellbock für die unterschiedlichsten Formen des Sozialprotests – das gab es nach 1945 in Europa, wo die Visibilität von lebenden Juden stark dezimiert war, weniger. Auch in Amerika verloren die Juden seit den 1950er Jahren langsam ihre Position als Hauptobjekt des Protests. Nahezu irrelevant blieben Juden, zumindest als Zielscheibe für Sozialprotest, weiterhin für die Völker des Fernen Ostens, wo Juden zahlenmäßig praktisch nicht existierten und Protest ganz andere Traditionen und Formen hat. Umso paradoxer wirkt die Ausbreitung des anti-jüdischen Protests in der arabischen bzw. muslimischen Welt. Dort, nicht mehr in Europa, gehören Die Protokolle der Weisen von Zion oder Hitlers Mein Kampf zum populären Leseangebot.

Die Erklärung dafür liegt jedoch auf der Hand: Politisch wurden der Zionismus und der Staat Israel zur größten Herausforderung für die arabisch-islamische Gesellschaft. All dies geschah und geschieht im Kontext der postkolonialen Epoche, in der innerhalb der arabisch-muslimischen Welt das Unbehagen über die Prozesse der Modernisierung, Verwestlichung und Säkularisierung radikal zum Ausbruch kam. Israel, der Alliierte oder vermeintliche Handlanger der USA, positionierte sich als ideale Angriffsfläche für den anti-westlichen, anti-modernen, anti-ketzerischen Protest. Dabei bediente sich die arabische bzw. muslimische Gesellschaft Elementen aus der europäischen anti-jüdischen Tradition, wie beispielsweise der pauschalisierenden Parole »Die Juden sind unser Unglück«. Da der Staat Israel sich selbst sehr weitgehend als Alleinvertreter des Judentums versteht, konnten Araber oder Muslime diesen Alleinvertretungsanspruch Israels kritiklos aufnehmen. Die Gleichung Israel ist gleich Juden führte dazu, dass politische, soziale und kulturelle Unzufriedenheit sich nun, anders als früher in Europa, nicht auf die eigene jüdische Minderheit, sondern vornehmlich auf die jüdische Minderheit in der Region fokussieren konnte.

Bei der Betrachtung dieses Phänomens verschafft nun der »arabische Frühling« vom Jahr 2011 eine besondere Perspektive. Denn hier entlud sich in der arabischen Welt ein authentischer Sozialprotest, der sich gegen die eigenen Regierungen richtete und manche Regimewechsel herbeiführte. Im Rahmen dieses Protests rückte jedoch der Staat Israel diesmal nicht als Vertreter der Judenfrage und als probate Angriffsfläche in den Mittelpunkt, sondern blieb quasi in den Kulissen. Jedenfalls wurden frühere antiisraelisch/antijüdische Mechanismen in diesem arabischen Frühling kaum reproduziert.

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Robert Weltsch, »Die Judenfrage für die Juden«, in: Der Jud ist schuld …?, Basel/Berlin 1933, S. 372

VIOLA ROGGENKAMPBERTHA PAPPENHEIM:VON DER HYSTERIE ZUR FRAUENFRAGE

»Die Schönste, die ich hier sah, vielleicht eine der schönsten Jüdinnen, die ich je sah, oder die es gibt, fand ich heute in einem Bordell.« Bertha Pappenheim ist unterwegs im Osmanischen Reich auf der Suche nach jüdischen Huren. An ihre Mitarbeiterinnen nach Neu-Isenburg im Jüdischen Mädchenheim schreibt sie 1911 in diesem Reisebrief: »Ein Jammer, so eine stolze Menschenblüte in solcher Umgebung zu solchem Lebenszweck geboren. Ich begreife, daß ein Mann um eines solchen Weibes willen jede Torheit begeht, aber ich begreife diese 20jährige Person nicht, die das Schönste und Beste, was sie hat – ihren Körper – so feil bietet.« 1

Bertha Pappenheim verurteilt die sich prostituierende junge Jüdin nicht. Sie lässt vor unseren Augen eine jüdische Prinzessin erstehen, bildschön, sprachlos und wie unangetastet. So war sie gewesen: bildschön, traurig, dann wieder rasend vor Wut. Bertha Pappenheim, geboren 1859 in Wien, jüdische Tochter aus wohlhabender Familie, liberal, dabei verwurzelt im orthodoxen Judentum, darf zwar auf eine katholische Mädchenschule gehen, danach aber soll sie einem Mann gegeben werden und Kinder bekommen. Das ist ihr Lebenszweck.

Als Doktor Josef Breuer an ihr Krankenbett gerufen wird, ist Bertha schon 21 Jahre alt und noch immer nicht verheiratet. Das ist mehr als ungewöhnlich. Eine jüdische Tochter steht spätestens mit 16 Jahren auf der Liste der Heiratsvermittler. Die Eltern werden sich längst umgesehen haben nach einem Freier. Doch Bertha verweigert sich dem Gebot des Vaters, dem Drängen der Mutter, dem Gerede der Verwandtschaft, der ganzen Mischpoche um sie herum. Man kennt sich. Martha Bernays zum Beispiel, Sigmund Freuds Zukünftige, ist mit Bertha gut befreundet. Berthas Vater ist von der jüdischen Gemeinde eingesetzt als Vormund für Martha Bernays. Siegmund Pappenheim ist ein bedeutender Mann in der Wiener Gemeinde. Seine Ehe mit Recha Goldschmidt aus dem Frankfurter Ghetto war arrangiert, selbstverständlich.

Berthas Vater wird krank, er wird sterben. Sie hält Nachtwache, tagsüber schläft sie oder häkelt Spitzen. Ihr jüngerer Bruder Wilhelm studiert. Juden dürfen jetzt in Wien studieren. Frauen immer noch nicht. Bildung, gleiche Chancen, denken dürfen, mitreden können. Es ist eines der größten Vergehen an der Menschheit, dass Frauen davon ausgeschlossen sind qua Geschlecht.

Im Hause Pappenheim werden testamentarische Vorkehrungen getroffen. Nach dem Tod des Vaters wird sie heiraten müssen. Ihr zukünftiges Ghetto wird der Salon werden. Wenn nicht etwas geschieht. Bertha wird krank. Sie flieht in eine Phantasiewelt, sie wird hysterisch.