Prototyp - Matthias Clostermann - E-Book

Prototyp E-Book

Matthias Clostermann

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Beschreibung

Ein schwerer Motorradunfall zerstört binnen Sekunden das Leben des jungen Elitesoldaten Stefan Roth. Als dieser danach aus einem langen Koma erwacht, ist er mit einer furchtbaren Tatsache konfrontiert. Er hat bei dem Unfall beide Arme und Beine verloren und sieht einem Leben als hilfloser Krüppel entgegen – bis geheimnisvolle Besucher ihm einen ungeahnten Ausweg aus seiner Misere anbieten. Als Testperson eines geheimen militärischen Forschungsprogramms der Europäischen Union wird er als erster Mensch eine gänzlich neue Art von Neuroprothesen bekommen – Hightech-Roboter-Gliedmaßen, verbunden mit den Muskeln und Nerven seines Körpers, welche er mit seinem Gehirn steuern kann. Das Experiment und die Operationen gelingen tatsächlich, aber hinter der segensreichen Forschung lauert eine dunkle Seite. Denn mithilfe seiner künstlichen Gliedmaßen kontrolliert ihn auch ein anderer. Als der freundliche, aber geheimnisvolle Leiter der Forschungsgruppe und die leitende Ärztin brutal ermordet werden, nehmen die Dinge für Stefan Roth eine gefährliche Wendung. Gemeinsam mit seiner attraktiven Physiotherapeutin und einem jungen Techniker flüchtet er aus der Forschungseinrichtung und macht nun Jagd auf diejenigen, die versuchten, ihn als Prototyp einer menschlichen Waffe zu missbrauchen.

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Seitenzahl: 324

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MATTHIAS CLOSTERMANN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2021

© 2020 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto: © Shutterstock/HowLettery, © Shutterstock/fotoslaz

eISBN 978-3-99200-316-7

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

1

Die Sonne stand bereits sehr tief, und er musste trotz seines abgedunkelten Visiers blinzeln. Das Röhren seiner 1250 RS drang dumpf durch seinen Helm. Er drehte vorsichtig am Gas, und die schwere BMW-Maschine gewann weiter an Geschwindigkeit. Die Wälder links und rechts flogen an ihm vorbei. Er registrierte, wie die Anspannung der letzten Tage von ihm abfiel. Er hatte sich die Maschine vor einem Jahr selber geschenkt, zu seinem einunddreißigsten Geburtstag. Sonst war ja auch niemand da, der sie ihm hätte schenken können. Seine Eltern waren viel zu früh verstorben. Er war noch nicht einmal zwanzig gewesen und hatte sich eigentlich auf ein Studium in Rechtswissenschaften vorbereitet, als die Nachricht von ihrem Unfall sein Leben umgeworfen hatte. Sein Vater hatte sich immer gewünscht, er hätte Anwalt werden sollen, oder gar Richter. Und dann plötzlich, von einem Moment zum anderen, war sein Vater nicht mehr da. Einfach so. Ausgelöscht von ein paar Jugendlichen im Drogen- und Testosteronrausch. Mit einem schweren Mercedes, der nachts ungebremst den kleinen Golf seiner Eltern einfach von der Straße gefegt und gegen eine Häuserwand geschmettert hatte.

Nachdem er einige Wochen wie im Schockzustand verbracht und die schier endlose Flut an Aufgaben – das Begräbnis samt der ausufernden Bürokratie des Sterbens – nachgelassen hatte, war ihm klar geworden, dass er nicht mehr studieren konnte. Er konnte eigentlich gar nichts mehr, so alleine. Also war er zum Bund gegangen, als Zeitsoldat. Feste Abläufe, klare Regeln. Eine Ersatzfamilie. Und immer wieder physische Anstrengung und Adrenalin. Das hielt ihn am Leben. Und hatte ihm eine Karriere eingebracht, denn beim Bund wurden sie schnell aufmerksam auf den schweigsamen Jungen, der nicht nur physisch an jede Grenze ging. So schritt seine Laufbahn schnell voran, bis er mit dreißig dann die Ausbildung zum Kommandosoldat mit „Combat Ready“ bestand. Für eine Freundin, geschweige denn eine Familie, war mit diesem Job für ihn schlicht kein Platz. Er lächelte grimmig unter dem Helm, während ihm der Schweiß an den Wangen und den Nacken hinunterlief. Als Kommandosoldat der KSK hatte er wahrlich genug um die Ohren, obwohl er noch keinen einzigen Kampfeinsatz mitgemacht hatte. Aber angeblich sollte sich das demnächst ändern. Deswegen war er noch mal hier in Calw zur Fortbildung und Untersuchung im Bundeswehrkrankenhaus angetreten. Offenbar hatten sie endlich vor, ihn mal abseits von Übungsplatz und Trainingsmanövern in eine echte Mission zu schicken. Er hatte keine Angst davor. Im Gegenteil. Er wollte endlich einmal gegen einen echten Feind antreten und um sein Leben kämpfen. Vielleicht würde er dann auch seine eigenen Dämonen besiegen können.

Vor ihm mündete die Straße auf eine größere Bundesstraße, ein gelbes Schild wies nach rechts, mit der Aufschrift B 294 Neuenbürg/Höfen an der Enz.

Er nahm etwas Gas zurück und bog in die Straße ein. Es war ein verdammt heißer Juliabend. Er durchfuhr eine kleine Ortschaft. Industriegebäude und schmucke kleine Wohnhäuser säumten die Straße. Als er den Ort Höfen hinter sich ließ, lag wieder menschenleerer Wald vor ihm.

Seine Hand schloss sich fester um den Gashebel und drehte. Die Maschine röhrte wohltuend und schoss nach vorne. Seine muskulösen Arme hielten ihn in perfekter Position, und er lenkte die schwere Maschine mit seinem Körpergewicht durch die schnellen Kurven. Die Landschaft flog vorbei, wurde unscharf, und mit ihr auch die Gefühle, die ihn immer wieder plagten, als würde der Fahrtwind sie zumindest teilweise aus ihm herauswehen. Der Tacho zeigte 120 Stundenkilometer an. Dann 130. 150. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, sein Herz pochte. Er fühlte sich lebendig, wach. Perfekt. Die Straße machte mehrere lang gezogene Kurven, und er legte sich in jede so weit hinein, wie es eben ging. Er wollte die Straße spüren, sie bezwingen. Die Nadel berührte kurz 160 Stundenkilometer. Den Transporter, der wenige Meter vor ihm aus der Einfahrt eines kleinen, im Wald gelegenen Industriegebietes kam, sah er erst Sekunden vor dem Aufprall. Er bremste nicht, sein Gehirn war plötzlich wie gelähmt. Die Welt um ihn herum schien mit einem Mal in Zeitlupe zu verfallen. Der weiße Transporter mit der Aufschrift „Weber Automotive“ ragte wie eine Wand vor ihm auf. Dann schlug er mit voller Wucht in die Seite ein.

Das Motorrad flog nahezu unter dem Transporter durch und krachte nach fast einhundert Metern Funken sprühender Rutschpartie auf dem Asphalt gegen einen großen Baum am Straßenrand. Die Wucht zerriss es beinahe. Später würde die Polizei noch fünfzig Meter weiter Teile des Motorrads im Wald sicherstellen.

Das alles bekam er bereits nicht mehr mit. Mit dem Aufprall auf den Transporter wurde seine Welt schwarz.

Der Transporter war leer. Wenn er wie üblich Motorblöcke geladen hätte, wäre von dem Motorradfahrer nichts mehr übrig geblieben. So wurde der leere Transporter durch den Anprall des schweren Motorrades so zur Seite geschleudert, dass sein Körper, der eine Millisekunde später auf dem Blech aufschlug, seitlich von der Karosse abprallte. Kaum ein Knochen, der nicht brach, kaum ein Organ, das nicht beschädigt wurde. Ein Bein riss sofort unterhalb seines Knies ab, mit einem Geräusch wie zerreißender Stoff. Der Unterschenkel mitsamt Stiefel hing immer noch am Motorrad. Der Fahrer des Transporters schrie, versuchte, den Wagen wieder einzufangen. Wenige Meter weiter kam der VW Crafter zum Stehen, mit einer tiefen Delle in der Seitenwand, an der Fetzen von etwas hingen, das wie Motorradkleidung aussah. Der Fahrer stieg benommen aus, atmete tief ein und eilte zum Straßenrand. Der Körper im Straßengraben – oder das, was davon übrig war –, ließ ihn herumfahren. Tränen schossen ihm in die Augen, er übergab sich, bevor er es überhaupt registrierte. Nach einigen Sekunden Husten und Würgen taumelte er zum Wagen zurück und holte sein Handy. Er musste einen Krankenwagen rufen. Auch wenn das wahrscheinlich nichts mehr nützen würde.

2

Sein Leben bestand aus regelmäßigen Pieptönen und einem beständigen Schnaufen und Schlürfen neben ihm, das er nicht zuordnen konnte. Ansonsten war es dunkel. Irgendwann hatten dann Stimmen das Schnaufen ersetzt, nur das regelmäßige Piepen war geblieben. Ein paarmal waren Empfindungen dazu gekommen, ein Druck, den er sich nicht erklären konnte. Bewegung und kurze Lichtblitze. All das waren nur vage Gefühle, verworren wie in einem Fiebertraum. Es gab verschiedene Stimmen, einige kamen und gingen, ein paar andere kehrten immer wieder. Es war die näselnde Männerstimme, die er hörte, als auch das Licht wiederkam.

Professor Keppler fuhr herum. Aus dem Augenwinkel hatte er eine Veränderung auf der Anzeige wahrgenommen, die seinen Patienten überwachte. Oder hatte er es sich nur eingebildet? Er trat an das Bett und berührte sanft die Brust des Mannes, der vor ihm lag. Oder besser: Was von ihm übrig war.

„Herr Roth? Können Sie mich hören?“

Er fixierte das Gesicht des Patienten einige Zeit lang. Und tatsächlich – die Gesichtsmuskeln, die so lange schlaff gewesen waren, zuckten. Die Lider flatterten kurz.

Sein Blick ging von dem Gesicht des Patienten zu den Anzeigen und zurück. Der EEG-Wert hatte sich verändert, unübersehbar. Und die Herzfrequenz lag minimal höher.

„Herr Roth, wenn Sie mich hören können – mein Name ist Dr. Keppler. Ich bin Ihr Arzt. Sie sind in Sicherheit. Es wird alles gut.“

Er sah kurz auf seine Armbanduhr. 13:57 Uhr, er war wie immer zu spät zu seinem Lunch. Als er zurück zu seinem Patienten blickte, hatte dieser die Augen geöffnet und sah ihn an. Keppler zuckte vor Schreck zusammen und wäre fast reflexhaft zurückgesprungen. Er beherrschte sich gerade noch rechtzeitig, und lächelte den Mann an, der nun schon so viele Wochen im Koma gelegen war.

„Willkommen zurück im Leben, Herr Roth.“

Die Lider des Mannes flatterten noch einmal, dann schlossen sich seine Augen. Es war noch ein langer Weg, aber es war ein Anfang. Professor Keppler blieb noch eine Weile stehen, den Blick auf die Anzeigen über dem Bett gerichtet. Er war äußerlich ganz ruhig, aber sein Herz schlug schneller, und seine Handflächen waren feucht. Er lächelte leise in sich hinein. Den Lunch hatte er längst vergessen. Es waren Momente wie dieser, für die er lebte und arbeitete. Momente, in denen seine Schützlinge ins Leben zurückfanden.

Mit dem Licht kamen die Schmerzen. Zunächst genauso unscharf und vage wie das Licht, dann aber klarer – und quälender. Er konnte die Schmerzen nicht lokalisieren, sie waren einfach Teil von ihm. Im Licht waren jetzt Bewegungen, und manche der Bewegungen hatten Stimmen. Er hatte noch kein Zeitgefühl, daher wusste er nicht, wie lange es dauerte, bis aus dem Licht etwas wurde, das er als „außen“ identifizierte. Es gab noch etwas anderes, ein „Innen“. Die Grenzen zwischen beidem waren oft verwaschen. Schmerzen, das Gefühl rauen Schluckens, das feuchte Geräusch seines Atmens, das war innen. Die Stimmen, die Bewegungen im Licht und das andauernde Piepen, das war außen. Er wusste nicht wieso, aber die Momente, in denen er diese Unterscheidung schaffte, fühlten sich wie ein kleiner Triumph an.

3

„Und Sie sind sicher, dass er keine Gehirnschäden hat?“, fragte der unangenehme Typ, den er Frosch genannt hatte.

Keppler hatte den vier unangemeldeten Besuchern, die nun sein Büro belagerten, Spitznamen gegeben. Das war seine Methode, ruhig zu bleiben, auch wenn ihm die vier gehörig gegen den Strich gingen. Er hatte sich nicht über dreißig Jahre einen Ruf als Spitzenmediziner in der Traumabehandlung erarbeitet, um sich von Anzugträgern wie Frosch, Papagei, Twiggy und Rambo herumkommandieren zu lassen. Die Namen, die er den vieren gegeben hatte, passten zu ihrem Aussehen. Frosch war offensichtlich kein Mediziner, so viel war klar. Auch wenn er gerne mit Fachbegriffen um sich warf – und dabei meistens komplett danebenlag. Keppler tippte auf höherer Beamter. Dem Akzent nach ein Luxemburger, und seiner Visitenkarte nach irgendein Wichtigtuer von der EU, dessen übersteigerte Selbstherrlichkeit nur noch von seiner Körperfülle übertroffen wurde. Seine vorstehenden Augen fixierten Keppler jetzt seit einer geschlagenen Stunde abschätzig durch die Hornbrille, die der Frosch trug. Papagei war offensichtlich sein Assistent, dessen Aufgabe darin zu bestehen schien, ab und zu die Worte seines Vorgesetzten zu wiederholen und ansonsten enthusiastisch zu nicken. Er war deutlich jünger als die anderen, schien sich aber bereits ebenfalls als enorm wichtig anzusehen. Twiggy war eine dürre, etwas bitter wirkende Frau um die fünfzig mit tiefen Furchen um die Mundwinkel. Ihre wässrigen grauen Augen fixierten Keppler ebenfalls die ganze Zeit. Sie schaffte es ohne Worte, dass er sich wie ein Schüler im Gymnasium fühlte, den man mal wieder ohne Hausaufgaben erwischt hatte. Offensichtlich war sie Medizinerin. Das hatte Keppler ihren knappen, aber zumindest fachlich sehr spezifischen Fragen entnehmen können. Der Vierte im Bunde, Rambo, war hochgewachsen und muskulös. Er trug eine Tarnuniform, die Keppler in seinem Büro als komplett deplatziert empfand. Er hatte bis auf eine kurze Begrüßung bis jetzt nur geschwiegen und sich auch nicht namentlich vorgestellt. Sein Blick war undurchdringlich. Er stand gerade wie ein Bügelbrett hinter den drei anderen, die schon viel zu lange Kepplers Besucherstühle besetzten. Trotz seines schroffen Äußeren und der Uniform sympathisierte Keppler im Stillen mit Rambo. Ohne genau festmachen zu können warum, hatte er das Gefühl, dass ihm der Auftritt der drei anderen eher unangenehm war, er es aber nicht offen zeigen durfte.

Keppler lehnte sich in seinem Stuhl zurück und seufzte theatralisch laut. Für den Effekt ließ er noch einmal ein paar Sekunden verstreichen.

„Noch einmal zur Klärung. Es gibt zu diesem Zeitpunkt keinerlei Anzeichen für physische Beschädigungen des Gehirns oder der angrenzenden Nervenbahnen. Der Helm hat seinen Kopf geschützt, und auch das Rückenmark ist wie durch ein Wunder intakt – wenigstens so weit, dass wir Nervenimpulse zu den Extremitäten hin messen konnten. Was darüber hinaus an nicht sichtbaren, kognitiven und funktionalen Einschränkungen besteht, können wir erst feststellen, wenn der Patient bei vollem Bewusstsein ist.“

Twiggy lehnte sich nun vor, ihre Augen schienen ihn zu durchbohren.

„Und wann wird das sein, Professor Keppler? Wir wissen Ihre Arbeit zu schätzen, aber wie lange wollen Sie den Aufwachprozess hinziehen?“

Keppler fühlte Ärger in sich hochwallen, und diesmal konnten ihn selbst die lächerlichen Spitznamen nicht davon abhalten, ihn auch zu zeigen.

„Hören Sie, Frau …“ Er konnte sich gerade noch bremsen, sie tatsächlich mit „Twiggy“ anzureden, und schaute verstohlen auf die Visitenkarte, die sie ihm zu Anfang des Gespräches überreicht hatte.

„Äh … Dr. Montgomery … Meine Methode gibt dem Patienten die Möglichkeit, das körperliche und psychische Trauma sowie die Beschädigungen durch das verlängerte Koma zu verarbeiten. Wenn Sie Zweifel an der Richtigkeit dieser Methode haben, dann steht es Ihnen frei, diese zu äußern. Was ich Ihnen hingegen nicht erlaube, ist, meine Arbeit einem irgendwie gearteten Zeitplan unterzuordnen.“

Frosch, der eigentlich Eugene Van den Belk hieß, hob beschwichtigend die Hand. Offenbar merkte er, dass ihnen das Gespräch zu entgleiten begann.

„Professor Keppler, bitte. Niemand, und ganz bestimmt nicht Dr. Montgomery, zieht Ihre Expertise in Zweifel. Und für Herrn Roth wollen wir selbstverständlich nur das Beste. Deshalb bezahlen wir ja auch seit Wochen die erhöhten Sätze Ihrer Privatklinik. Alles für unsere Truppe, nicht wahr, Major Hendricks?“

Er wandte sich zu dem Uniformierten um, der seine Bemerkung lediglich mit einem kurzen, säuerlichen Gesichtsausdruck quittierte.

„Wir sind nur hier, um mit Ihnen ein gemeinsames Vorgehen abzustimmen. Sie legen den Zeitpunkt des Gesprächs fest. Sie bestimmen, was für den Patienten Stefan Roth gut ist, solange er in Ihrer Obhut ist.“

Keppler ließ mit aufgeblasenen Wangen Luft ab und gab sich ein paar Sekunden, bevor er antwortete. Er bemühte sich, seine Stimme so neutral und ruhig wie möglich zu halten.

„Ich werde Sie benachrichtigen. Im Moment rechne ich damit, dass Herr Roth in der kommenden Woche komplett bei Bewusstsein sein wird. Danach sehen wir weiter.“

Frosch nickte eifrig, was seine Wangen und sein Doppelkinn in wallende Bewegung versetzte. Sein Assistent nickte ebenfalls.

„Herr Professor, vergessen Sie nicht: Was wir Herrn Roth hier anbieten, ist eine absolut einmalige Chance. Das EUTD-Programm kann ihm ein normales Leben zurückgeben. Vielleicht sogar ein neues Berufsleben. Was würde ihn ohne unser Programm erwarten, außer vielleicht einem Pflegeheim? Wir wollen das Gleiche – das Beste!“

Mit diesen Worten erhob er sich schwer atmend. Dr. „Twiggy“ Montgomery stand ebenfalls auf, wandte sich ohne ein weiteres Wort um und ging zur Tür. Der Assistent erhob sich ebenfalls und streckte Keppler die Hand entgegen, zog sie aber nach einem strengen Blick seines Vorgesetzten schnell zurück. Was für ein Schauspiel. Keppler schüttelte kaum merklich den Kopf. Der Uniformierte hielt den dreien die Tür auf, blieb aber selber noch stehen. Keppler sah ihn mit hochgezogenen Brauen an.

„Ist noch was?“, fragte er.

„Bitte helfen Sie dem Jungen. Kommandofeldwebel Roth ist ein guter Mann.“

Professor Keppler nickte bedächtig. Er sah dem Soldaten direkt in die Augen und glaubte, dort echte Sorge zu sehen.

„Kennen Sie ihn persönlich?“

Der Mann trat auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. Keppler stand auf und schüttelte sie, erstaunt über diese plötzliche Geste.

„Major Bernd Hendricks, Herr Professor. Ich war sein Ausbilder bei den KSK. Stefan war einer meiner Besten. Und er ist ein Kamerad. Ich will, dass er die Chance bekommt, die er verdient.“

Die ruhigen braunen Augen des Majors wirkten bedeutend ehrlicher als die gesamte Vorstellung, die seine drei Begleiter geboten hatten. Professor Keppler lächelte zuversichtlich, während er die Hand seines Gegenübers noch einmal drückte. Major Hendricks nickte ihm knapp zu, wandte sich um und ging. Die Tür seines Büros schloss sich mit einem leisen Klicken, und Professor Keppler ließ sich wieder in seinen Stuhl fallen. Er saß eine Zeit lang mit widersprüchlichen Gefühlen hinter seinem übervollen Schreibtisch. Abgesehen davon, dass ihm drei der vier Besucher schlicht vom Auftreten her missfielen und er es generell nicht leiden konnte, wenn man ihn auf diese Weise überfiel – was genau störte ihn nur so sehr an der Sache? Was sie für Stefan Roth tun wollten, war sensationell. Und selbst wenn es nicht zu einhundert Prozent funktionierte wie geplant, so war es immer noch ein spektakulärer medizinischer Quantensprung. Wie viele Unfallopfer konnten sich so glücklich schätzen, eine solche Möglichkeit zu bekommen?

Er seufzte. Es sprach alles dafür, dass es genau das war, was der Major gesagt hatte: Es war die Chance, die Stefan Roth verdiente. Und nach ihm vielleicht viele andere auch. Dass Keppler selbst bei der ganzen Sache ein dummes Gefühl hatte, war sein eigenes Problem. Vielleicht war er nur eifersüchtig, weil das nicht seine eigene Forschung war.

Er schüttelte ein letztes Mal den Kopf. Dann sah er auf seinen Schreibtisch, auf dem sich Patientenakten, Abrechnungsbögen, Memos und unendlich viele weitere Papiere stapelten. Er nahm ein paarmal verschiedene Papiere vom Stapel und legte sie gleich wieder weg, ohne sie wirklich zu lesen. Dann seufzte er erneut und sah auf die Uhr. Gleich 17:00 Uhr. Gerade noch früh genug für einen Kaffee. Er schob seinen Stuhl zurück, nahm Jacke und Hut vom Garderobenhaken und verließ eilig sein Büro, in Gedanken immer noch bei dem unglaublichen Forschungsprojekt, von dem ihm der Frosch erzählt hatte.

Als er wieder Licht sah, konnte er Formen darin erkennen. Langsam setzten sich diese Formen, die sich im Vordergrund seiner Wahrnehmung bewegten, zu etwas zusammen, das er kannte. Zumindest prinzipiell. Vor ihm stand jemand, eine Person, ein Mensch. Er konnte die Geräusche dieser Person zuordnen, auch wenn er nicht wusste, wer da gerade vor ihm war. Jetzt beugte sich die Person über ihn. Als das Gesicht ihm näher kam, wurde es wieder unscharf. Dann leuchtete etwas hell in seine Augen, erst links, dann rechts. Er blinzelte. In seiner Kehle konnte er seinen Atem spüren, schmerzhaft, pfeifend. Er versuchte etwas zu sagen, aber es kam nur ein gurgelndes Geräusch, und mit dem Geräusch noch mehr Schmerzen in seinem Hals. Er wusste mittlerweile, dass das, was da schmerzte, sein Hals war. Nur leider wusste er nicht, wer er selbst war. Das Gesicht vor ihm zog sich jetzt zurück und wandte sich zur Seite. Die Person sagte offenbar etwas zu einem weiteren Anwesenden. Er hörte die Stimme, konnte sie aber nicht verstehen. Dann kam das Gesicht zurück. Er konnte es jetzt klarer erkennen. Er sah gütig wirkende Augen, deren Lider etwas müde herunterzuhängen schienen. Unrasierte Wangen fielen nach vorne, sein Gegenüber war offenkundig nicht mehr jung. Dann öffneten sich die Lippen zu einem Lächeln, und das Gesicht begann zu ihm zu sprechen.

„Können Sie mich hören? Bitte versuchen Sie nicht zu sprechen. Wir mussten Sie intubieren, eine lange Zeit. Ihr Hals ist noch zu gereizt, um zu sprechen, das tut wahrscheinlich noch sehr weh. Wenn Sie mich verstehen können, dann blinzeln Sie einfach einmal deutlich.“

Er schloss die Augen für eine Sekunde und öffnete sie wieder. Das entlockte dem Gesicht vor ihm ein noch breiteres Lächeln.

„Sie sind im Krankenhaus. Das hier ist die Privatklinik Steinenberg. Mein Name ist Professor Keppler, ich bin Ihr behandelnder Arzt. Ich kümmere mich um Sie. Verstehen Sie das?“

Nochmals schloss er die Augen einmal und öffnete sie wieder. Er verstand es, aber auf eine Art auch wieder nicht. Er konnte sich spüren, aber er wusste, dass es nicht richtig war, wie er sich fühlte. Er sollte sich irgendwie anders fühlen …, wusste aber nicht wie. Nur anders.

„Sie waren recht lange im Koma. Sie waren schwer verletzt, und wir haben Sie lange schlafen lassen, damit sich Ihr Körper erholen kann. Sie werden wahrscheinlich noch eine Weile verwirrt sein, das ist normal. Haben Sie bitte keine Angst. Das wird wieder. Wir passen hier alle gut auf Sie auf.“

Das lächelnde Gesicht vor ihm wurde mit einem Mal ernst.

„Sie hatten großes Glück. Und Sie brauchen noch viel Ruhe. Wir sprechen einander bald wieder.“

Dann verschwand das Gesicht, und die Person entfernte sich. Er konnte spüren, wie seine Augen tränten. Licht zu sehen, war sehr, sehr anstrengend. Er hörte noch eine Weile Geräusche, die Stimme des freundlichen Gesichtes war jetzt weiter weg. Aber sie beruhigte ihn, flößte ihm Vertrauen ein. Dann nahm ihn die Dunkelheit wieder auf.

Als er die Augen wieder öffnete, fühlte er sich deutlich klarer. Er konnte schärfer sehen, sah das Weiß der Decke, mit den Lichtern, die ihn leicht blendeten. Er konnte den Kopf etwas drehen, zumindest so weit, bis die Schläuche in seiner Nase seine Bewegung schmerzhaft begrenzten. Aus dem Augenwinkel sah er Vorhänge, durch die Licht fiel. Mühsam drehte er den Kopf in die andere Richtung. Ein Kasten stand neben ihm, aus dem eine Menge an Kabeln herauskamen, die zu ihm führten. Der Kasten war still, aber er konnte sich erinnern, aus dieser Richtung die rhythmischen Pieptöne gehört zu haben. Er drehte den Kopf wieder und sah eine Weile in die hellen Lichter an der Decke. Er hörte seinen Atem. Er schmerzte immer noch mit jedem Zug in seinem Hals, aber es war nicht mehr ganz so quälend wie …

Er konnte nicht sagen, wann er das letzte Mal den Schmerz gespürt hatte. Vorhin? Gestern? Letzte Woche? Mit den Fragen kamen Gedanken hoch. Was war mit ihm los? Er konnte seinen Körper spüren, fühlte jetzt sein Herz pochen, empfand dumpfe Schmerzen in seinem Rücken. Aber nicht viel mehr. Seine Wahrnehmung war jetzt klarer, schärfer, und er konnte sich an eine Zeit davor erinnern, die nur aus Momenten, einzelnen Gefühlen und vagen Ahnungen bestanden hatte. Wie lange hatte diese Phase gedauert?

Mit jeder Frage, die durch seinen Kopf ging, begann mehr Angst in ihm hochzusteigen. Er spürte, wie sein Atem schneller durch seine raue Kehle ging. Ein leises, winselndes Geräusch kam aus seinen geöffneten Lippen. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Panik stieg in ihm auf. Dann riss ihn ein scharfer Signalton aus dem Gerät neben ihm aus seiner Angstspirale. Das Gerät gab drei lang gezogene Töne von sich, dann begann es wie früher im Rhythmus seiner Herzschläge zu piepsen. Ein paar Sekunden später hörte er, wie eine Tür geöffnet wurde, dann Schritte, die rasch näher kamen. Eine dickliche Frau mit rosigem, freundlichem Gesicht beugte sich zu ihm herunter und sah ihm in die Augen. Sie berührte mit sanftem Druck seine Brust.

„Alles gut, Herr Roth. Beruhigen Sie sich. Ich bin Schwester Marion, der Herr Doktor kommt gleich. Es ist alles gut. Ihnen kann nichts passieren.“

Er spürte, wie ihn der sanfte Druck ihrer Hand und die Wärme der Berührung etwas beruhigten. Die Fragen, die durch seinen Kopf rasten, verblassten für einen Moment. Die Frau lächelte ihm aufmunternd zu. Dann drehte sie sich weg, er hörte ein paar leise raschelnde Geräusche, und das Piepsen aus dem Gerät neben ihm verstummte wieder.

Wenig später hörte er, wie die Tür ein zweites Mal aufging. Schwerere Schritte näherten sich. Dann sah er wieder das Gesicht, das er schon kannte. Nur dass die Bartstoppeln in dem Gesicht noch etwas länger geworden waren. Die fast durchgängig weißen Haare standen in etwas ungeordneten Büscheln hoch, und der Mann wirkte, als hätte man ihn gerade aus dem Schlaf geweckt. Aber er lächelte wieder so freundlich wie letztes Mal.

„Hallo, Herr Roth. Schön, dass Sie wieder wach sind!“

Der Mann drehte sich zu der Schwester um.

„Marion, stellen Sie bitte das Kopfende etwas auf. Zehn Grad, nur ein wenig. Danke!“

Er spürte, wie sein Oberkörper mit einem surrenden Geräusch angehoben wurde. Er konnte jetzt die Tür sehen, die er vorher nur gehört hatte. Mit einiger Anstrengung drehte er seinen Kopf ein wenig hin und her und nahm die Eindrücke in sich auf. Der Raum, in dem er lag, war nicht allzu groß, die Wände waren in einer Eierschalenfarbe gestrichen. Gerahmte Bilder hingen an den Wänden. Um ihn herum waren einige eckige Apparate aufgebaut, wie der, der gepiepst hatte. Manche waren niedriger, aber aus allen kamen Schläuche und Kabel heraus, die zu ihm führten. Er sah den Mann an, der vor ihm stand. Mittelgroß, in einem weißen Kittel, den er nicht zugeknöpft trug. Sein graues Hemd war unordentlich in die Hose gestopft, die wohl vor langer Zeit einmal dunkelblau gewesen war. Der Mann trat einen Schritt näher an das Bett. Sein Gesicht war jetzt ernst.

„Herr Roth, Sie werden sich vermutlich fragen, warum Sie hier sind. In den meisten Fällen wie dem Ihren ist die Erinnerung zunächst beeinträchtigt. Das kommt aber meist wieder, seien Sie da bitte unbesorgt.“

Er zwinkerte einmal, was dem Mann vor ihm ein Lächeln entlockte.

„Ich sehe, Sie erinnern sich an unsere vorherige Unterhaltung. Das ist gut. Sehr gut sogar!“

Der Mann räusperte sich kurz und wurde dann wieder ernst.

„Ich werde Ihnen jetzt einiges über das erzählen, was Ihnen passiert ist. Wenn Sie eine Pause wünschen, dann zwinkern Sie einfach zweimal, okay? Das wird eine ganze Menge zu verarbeiten sein für Sie.“

Wieder zwinkerte er, um zu signalisieren, dass er verstanden hatte. Er spürte, wie sich in seinem Inneren etwas zusammenzog. Er hatte Angst vor dem, was der Mann ihm sagen würde. Aber er wollte es, musste es unbedingt hören.

„Ihr Name ist Stefan Roth. Falls Sie sich nicht daran erinnern können, machen Sie sich bitte darüber im Moment wirklich keine Sorgen. Eine teilweise Amnesie ist nach Traumata, so wie Sie sie erlebt haben, absolut normal und zu erwarten. Das gibt sich wieder. Und glauben Sie mir, ich habe schon viele Fälle wie den Ihren betreut.“

Der Mann schürzte für einen Moment die Lippen. Man konnte sehen, wie es in seinem Gesicht arbeitete, während er sich überlegte, was er als Nächstes sagen sollte. Dann holte er einmal seufzend Luft und sprach weiter.

„Sie hatten am 24. Juli dieses Jahres einen sehr schweren Motorradunfall auf einer Landstraße, etwa hundert Kilometer entfernt von hier. Ihre Verletzungen waren so schwer, dass die Chirurgen vom Unfallkrankenhaus Stuttgart sich entschieden haben, Sie sofort in ein künstliches Koma zu versetzen. Sie waren insgesamt sechzehn Wochen bewusstlos. Während dieser Zeit wurde eine Reihe von sehr komplexen chirurgischen Eingriffen vorgenommen, zunächst, um Sie am Leben zu erhalten, und dann, um Ihre multiplen Verletzungen bestmöglich zu versorgen. Die Kollegen haben in mehreren Schritten Organrisse behandelt, Ihre Wirbelsäule wurde an sechzehn Bruchpunkten neu zusammengesetzt, Ihr Becken wurde neu zusammengesetzt, Ihre beiden Schultern, zwölf Rippen sowie Ihre Schlüsselbeine wurden mittels mehrerer aufeinanderfolgender Eingriffe rekonstruiert. Es ist ein Wunder und eine Glanzleistung meiner Kollegen der Universitätskliniken Stuttgart und Tübingen, dass Sie noch am Leben sind. Ich selbst bin Traumatologe und dafür zuständig, Sie so durch den Prozess des Aufwachens aus dem künstlichen Koma sowie durch die ersten Heilungsschritte zu führen, dass Ihr Körper und auch Ihre Psyche das Ganze mit möglichst wenig bleibenden Schäden überstehen.“

Der Arzt hielt nochmals inne. Stefan Roth starrte ihn an, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er atmete flach. Etwas sagte ihm, dass das, was er gehört hatte, noch nicht alles gewesen war. Dann zwang er sich, einmal langsam zu zwinkern, fast wie eine Art Aufmunterung an sein Gegenüber, nun weiterzusprechen. Der Arzt seufzte noch einmal.

„Ich muss Ihnen leider auch sagen, dass die Kollegen trotz aller Bemühungen Ihre Arme, ein ganzes Bein und den anderen Unterschenkel nicht retten konnten. Sie können bis zu einem gewissen Grad prothetisch versorgt werden, Herr Roth, aber Sie werden Ihr Leben lang schwerbehindert bleiben. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen.“

Er hörte die Worte in seinem Kopf nachhallen. Die Bedeutung erschloss sich ihm nur sehr langsam, er nahm alles wie durch eine zähe, gallertartige Schicht wahr, die noch auf seinen Emotionen lag. Doch nach einigen Momenten qualvollen Schweigens kamen ihm Bilder in den Kopf. Bilder, die er nicht sehen wollte. Er spürte, wie sich seine Augen mit heißen Tränen füllten. Sein Atem ging stoßweise durch seinen rauen Hals.

„Herr Roth, ich lasse Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel geben. Wir werden morgen mit Ihrer Therapie beginnen, und ich verspreche Ihnen, wir werden gemeinsam schnelle Fortschritte machen. Sie müssen mir da jetzt vertrauen. Wir werden gemeinsam zusehen, dass Sie Ihr Leben, soweit es geht, zurückbekommen. Versuchen Sie sich jetzt auszuruhen.“

Der Mann legte ihm die Hand auf die Brust. Die Berührung beruhigte ihn auch diesmal wieder. Er spürte die Ehrlichkeit des Mannes vor ihm, seine Fürsorge. Aber diesmal hatte die Hand noch eine andere, schlimme Bedeutung, die ihm immer klarer wurde. Der Mann wie auch die Krankenschwester hatten ihm beide die Hand auf die Brust gelegt, weil sonst nicht mehr viel von ihm übrig war. Wohin sonst hätten sie die Hand auch legen können? Er röchelte, verschluckte sich und hustete, während ihm Tränen aus den Augen liefen. Er wusste nicht, wer er war und wie lange er schon gelebt hatte, aber er wusste sicher, dass er sich noch nie in seinem Leben so hilflos gefühlt hatte.

4

Als er das nächste Mal erwachte, war seine Welt erneut anders. Der Druck in seinem Bauch war weg, und der Schlauch, der beim letzten Mal noch in seine Nase geführt hatte, ebenfalls. Er drehte ein paarmal seinen Kopf. Es schmerzte alles etwas, es war aber bei Weitem angenehmer als beim letzten Mal. Er hob den Kopf mühsam ein wenig an. Es war furchtbar anstrengend, aber immerhin ging es. Auch in seinem Geist gab es Veränderungen. Sein Name. Er sagte ihm jetzt etwas. Er fühlte sich als Stefan Roth. Vorher war ihm der Name nur vage bekannt vorgekommen, was sehr beängstigend gewesen war. Und mit der Erinnerung, wer er war, kam auch das Gefühl, dass er stark war. Dass er das hier irgendwie durchstehen würde. Er lag eine Weile einfach da, während in seinem Kopf Bilder umherschwirrten. Eine wilde Motorradfahrt, Lachen unter Kameraden. Schüsse, die um ihn herum abgefeuert wurden, die er selbst abfeuerte. Ein Trainingsmanöver. Schweißtreibende, harte Übungen auf einem Trainingsplatz. Arme, die nach hundert Liegestützen erst richtig anfingen zu arbeiten. Arme …

Seine Gedankenflut brach jäh ab, und sein Hals wurde eng. Er hob abermals den Kopf, um an sich hinunterzusehen, konnte aber außer einer unförmigen Erhebung unter der Bettdecke, die wohl sein Körper war, nichts wirklich erkennen. Er schluckte und kämpfte gegen die Verzweiflung an.

Nach einer Weile hörte er wieder, wie die Tür zu seinem Zimmer geöffnet wurde. Der Mann, von dem er mittlerweile wusste, dass er Professor Keppler hieß, trat ein. Er war heute bedeutend besser gekleidet, trug unter seinem offenen Kittel sogar ein weißes Hemd mit einer gedeckten, dunkelblauen Krawatte. Sein Gesicht war heute glattrasiert. Er ging zu seinem Bett und strahlte ihn an.

„Guten Morgen, Herr Roth. Gute Neuigkeiten! Wir haben Ihnen die Magensonde entfernt. Ab heute werden Sie sich wieder an selbstständiges Essen gewöhnen. Bis jetzt ist alles genauso, wie es sein soll. Und bald können Sie sich schon Ihr Lieblingsessen aussuchen!“

Er lächelte einmal breit, und Stefan konnte sehen, dass er sich wirklich für ihn freute. Trotz seiner eigenen, düsteren Stimmung ließ er sich zu einem Lächeln mitreißen.

„Danke“, krächzte er. Der Professor hob erstaunt eine Augenbraue und setzte sich jovial auf seine Bettkante.

„Na sieh mal einer an, das Sprechen haben Sie auch schon wiederentdeckt, ganz ohne Hilfe. Ich bin beeindruckt, Herr Roth, wirklich beeindruckt.“

Dann sah er ihn prüfend an und wurde ernst.

„Wir werden heute einige Untersuchungen durchführen, sowohl was Ihren körperlichen, aber auch Ihren mentalen Status angeht. Aber ich glaube, die werden allesamt positiv ausfallen. Sie machen mir einen erstaunlich guten Eindruck heute, wenn man bedenkt, was Sie hinter sich haben. Aber wir müssen natürlich sichergehen. Und dann ist da noch etwas …“

Er sah kurz zu Boden und sammelte sich. Stefan wartete und sah den Professor an. Der hob den Kopf und blickte ihm eine Weile direkt in die Augen. Er konnte den Ausdruck im Gesicht des Professors nicht wirklich deuten, aber es war klar, dass dieser mit sich rang.

„Sie werden heute Nachmittag Besuch bekommen, Herr Roth. Von einer Gruppe von Menschen, die Ihnen ein ganz erstaunliches Angebot machen wollen.“

Stefan versuchte, genug Speichel in seinem Mund zusammenzubekommen und seine noch etwas unwillige Zunge und die Lippen zum Zusammenspiel zu bewegen.

„An … bot …?“, krächzte er.

Der Professor nickte ihm bedächtig zu.

„Offenbar liegt Ihrem Arbeitgeber sehr an Ihnen. Man wird Ihnen anbieten, an einem Forschungsprojekt teilzunehmen – man will versuchen, Ihre verlorenen Gliedmaßen zu ersetzen. Mit neuester, noch experimenteller Technologie.“

Er seufzte und sah Stefan unverwandt an.

„Ich will Ihnen darüber jetzt nicht mehr sagen, die Damen und Herren werden Ihnen das heute Nachmittag sicher mit allen Details nahebringen. Ich selbst werde bei dem Gespräch nicht dabei sein. Man will Sie offenbar alleine sprechen.“

Er hielt einen Moment inne und überlegte seine nächsten Worte.

„Egal, wie verlockend das alles vielleicht klingen mag, lassen Sie sich Zeit mit der Entscheidung. Es ist eigentlich noch viel zu früh, Sie mit solchen Dingen zu konfrontieren, aber … na ja, Ihr Arbeitgeber scheint es sehr eilig zu haben.“

Seine Augen fixierten einen Punkt über Stefans Kopf. Stefan wartete irritiert ab, doch der Professor sagte nichts weiter. Nach einer Weile stand er auf und tätschelte ihm freundlich die Schulter.

„Vielleicht erinnern Sie sich ja morgen sogar schon daran, was Ihre Lieblingsspeise ist. Wenn ja, lassen Sie es morgen früh Schwester Marion wissen!“

Der Tag verging schnell. Stefan Roth wurde von einem Untersuchungsraum in den anderen geschoben, sie nahmen ihm Blut ab, machten Aufnahmen, sahen in seine Augen. Als Letztes kam eine Frau mittleren Alters, die ihn einem psychologischen Test unterzog und seine Erinnerungen abfragte. Alle schienen mit ihm zufrieden zu sein. Er selbst war in sich zurückgezogen und still. Während einer Untersuchung hatten Sie ihn auf eine Bahre gehoben und in einen Computertomografen gefahren. Er hatte zum ersten Mal einen kurzen Blick auf seinen Körper erhaschen können. In ihm steckten immer noch diverse Schläuche und Nadeln, und an manchen Stellen schauten Schrauben aus Stahl aus seiner Haut heraus, die vermutlich die gebrochenen Knochen zusammenhielten. Doch was er sah, schockierte ihn weit weniger, als das, was er nicht sah. Er hatte keine Arme mehr, nicht einmal mehr Stummel. Ein Bein war noch bis zur Mitte des Oberschenkels vorhanden, das andere fehlte gänzlich. Die Sekunde, in der er die Reste seines Körpers sah und realisierte, wer er jetzt war, genügte, um ihn komplett in den Kokon seines eigenen Geistes zu treiben. Er fühlte nichts mehr, keine Angst, keine Verzweiflung, keine Wut. Einfach nur eine eiskalte Leere. Ab und an dachte er an das bevorstehende Gespräch, das der Professor erwähnt hatte. Was konnten diese Leute denn noch mit ihm vorhaben? Er war ein Krüppel, ein kümmerlicher Rest von einem Menschen, unfähig, alleine zu essen, zu pinkeln, geschweige denn irgendetwas von dem zu tun, was für ihn vorher so selbstverständlich gewesen war. Wie wollte ihm da noch jemand helfen? Und warum sollten sie?

5

Das geräumige Krankenzimmer wirkte auf einmal sehr beengt, als sich gleich fünf Personen um sein Bett drängten. Der Dicke im Anzug, der sich Van den Belk nannte, redete von allen am meisten und war schon verschwitzt hereingekommen. Seine ausschweifende Begrüßungsrede hatte ihn dann fast noch mehr zum Schwitzen gebracht. Die hagere Frau, die ihn unentwegt beäugte, war bis jetzt unauffällig und schweigsam. Zwei jüngere Typen waren noch dabei, ein Bubi im Anzug, offenbar ein Assistent, und ein Bärtiger im Holzfällerhemd, der so gar nicht ins Bild passte. Aber die größte Überraschung für ihn war es, seinen Ausbilder wiederzusehen. Er hatte immer noch Mühe, sich an sein Leben vor dem Unfall zu erinnern, aber als er Bernd Hendricks wiedersah, wollte er sofort reflexhaft salutieren – und merkte umso schmerzlicher, dass er dafür zumindest einen Arm benötigt hätte. So konnte er nur den Rücken, so gut es ging, gerade halten. Er sah Hendricks’ Augen und dessen ruhiges Lächeln.

„Stabshauptmann Hendricks …“, stammelte Stefan.

Mit dem altbekannten Gesicht kam wie mit einem Schlag ein großer Teil der Erinnerungen an die gemeinsame Zeit in ihm hoch. Er schluckte gegen den Kloß in seiner Kehle an. Hendricks grinste schmallippig.

„Mittlerweile Major Hendricks. Freut mich, Sie zu sehen, Stefan.“

Van den Belk hielt für einen Moment inne und sah stirnrunzelnd auf Hendricks.

„Nun, Herr Roth, wie ich feststelle, Herrn Major Hendricks kennen Sie ja bereits. Frau Dr. Montgomery ist die medizinische Verantwortliche in unserem Stab. Herr Cols hier ist einer unserer Entwickler und wird Ihnen im Weiteren gerne Rede und Antwort stehen, wenn Sie spezifische Fragen haben. Nun aber genug der Vorstellungen. Können Sie alles verstehen, was ich Ihnen sage, können Sie mir folgen?“

Stefan fand den Typen auf Anhieb unsympathisch, aber er hatte eine gewisse Komik. Außerdem war er gespannt, was ihm diese seltsame Truppe zu sagen hatte. Die Tatsache, dass Bernd Hendricks dabei war, machte das Ganze für Ihn mit einem Schlag sehr wichtig. Was auch immer sie wollten: Hendricks würde nicht dabei sein, wenn es nicht ernsthaft war. Daher nickte er nur knapp und sagte: „Ich verstehe Sie, Herr Van den Balg.“

„Van den Belk, bitte. Aber für einen Deutschen ist das schwer auszusprechen, glauben Sie mir, ich habe dafür Verständnis.“

Er trat einen Schritt näher an Stefans Bett heran. Seine joviale Art wich einem ernsten Gesichtsausdruck, und er fixierte Stefan mit seinen hervorquellenden Augen.

„Herr Roth, ich bin voll entscheidungsbefugter Repräsentant von EUTD, dem European Technology for Defense Program. Wir sind eine Gruppe, die von den Verteidigungsministerien einiger EU-Länder gegründet wurde und nun mit einem sehr umfangreichen Budget Forschungsvorhaben im Rahmen der Entwicklung der Streitkräfte der Europäischen Union durchführt.“

Stefan nickte und runzelte dann die Stirn. Seine Stimme wollte ihm immer noch nicht ganz gehorchen, daher verzichtete er auf eine Nachfrage, doch Van den Belk hatte sein Stirnrunzeln wohl bereits als Frage gedeutet.

„Sie wundern sich sicherlich, denn es gibt ja keine europäischen Streitkräfte. Nun, noch nicht. Aber die Forschungen, die wir auf europäischer Ebene betreiben, kommen letztlich allen Heeren innerhalb der EU zugute, auch wenn sie nicht an den zukünftigen Gemeinschaftsstreitkräften beteiligt sind. Derzeit sind Frankreich, Belgien, Deutschland, Luxemburg und Italien maßgeblich an dem Projekt dran.“

Er holte ein Taschentuch aus der Innentasche seines Anzuges und wischte sich kurz über das verschwitzte Gesicht.

„Ein besonders berücksichtigter Forschungsaspekt ist das Human Enhancement Project. Unsere Gruppe forscht seit einigen Jahren zusammen mit ein paar der bedeutendsten Institute in Europa an Technologien im Bereich der Neuroprothetik. Sagt Ihnen das etwas?“

Stefan schüttelte bloß träge den Kopf. Er hatte Mühe, dem Redefluss des Dicken zu folgen. Er kniff die Augen zusammen und zwang sich, seine Gedanken zu fokussieren.

„Gut, lassen Sie es mich Ihnen kurz erklären. Neuroprothesen sind voll funktionale Prothesen, die an das Nervensystem angeschlossen werden und mittels diesem gesteuert werden können. Wenn also einem Soldaten wie Ihnen ein Arm fehlt, dann kann eine Neuroprothese diesen Arm funktional ersetzen – quasi ein Roboterarm, den Sie mit Ihren Nervenimpulsen, also mit Ihrem eigenen Gehirn, steuern können. Das ist ein Kernbereich unserer Forschung: Neuroprothesen mit Funktionalität für den militärischen Einsatz.“

Stefan überlegte kurz und versuchte mühsam zu begreifen, was Van den Belk ihm sagen wollte.

„Heißt das, Sie können meine Arme ersetzen? Durch Roboterarme?“