Psychologie to go! Wie verrückt sind wir eigentlich? - Franca Cerutti - E-Book
SONDERANGEBOT

Psychologie to go! Wie verrückt sind wir eigentlich? E-Book

Franca Cerutti

0,0
17,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Psychologie leicht gemacht – die charismatische Podcasterin klärt auf Bin ich hochsensibel? Wie setze ich Grenzen? Woran erkenne ich Narzist*innen? Fragen wie diese beantwortet Psychotherapeutin Franca Cerutti jede Woche in ihrem Podcast "Psychologie to go!" – DEM Psychologie-Podcast in Deutschland, in welchem sie wissenschaftliche Erkenntnisse und konkrete Tipps leichtfüßig, sensibel und unterhaltsam verpackt und alltagstauglich macht. Ihr großes Talent, Leichtigkeit in schwierige Themen zu bringen, zeigt sich auch in ihrem ersten, langerwarteten Ratgeber, in dem sie dich mit auf Streifzug durch die spannende Welt der Psyche nimmt. Franca Cerutti klärt dich über die drei verbreitetsten psychischen Erkrankungen Angststörungen, Depression, und Sucht auf. Du erfährst alles darüber, was da in deinem Körper eigentlich genau passiert, wenn sich ein psychisches Leiden einstellt. Zudem gibt dir die Autorin dank praktischen Checklisten, Fragebögen, anregenden Fallgeschichten aus ihrer Praxis und konkreten Ratschlägen Hilfestellung. Was kannst du tun, wenn dich eine Panikattacke überkommt? Wie kannst du deinen Liebsten bei ihren Problemen beistehen und was hilft dir, wenn sich eine Depression bemerkbar macht? Zu all dem und viel mehr nimmt Franca Cerutti kein Blatt vor den Mund und ist nicht nur kompetent, sondern auch einfach herrlich sympathisch.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 409

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Franca Cerutti

In Zusammenarbeit mit Christian Weiss

Psychologieto go!Wie verrückt sind wir eigentlich?

Ehrliches und Überraschendes über unsere Psyche

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Psychologie leicht gemacht – die charismatische Podcasterin klärt auf

Bin ich hochsensibel? Wie setze ich Grenzen? Woran erkenne ich Narzist*innen? Fragen wie diese beantwortet Psychotherapeutin Franca Cerutti jede Woche in ihrem Podcast »Psychologie to go!« – DEM Psychologie-Podcast in Deutschland, in welchem sie wissenschaftliche Erkenntnisse und konkrete Tipps leichtfüßig, sensibel und unterhaltsam verpackt und alltagstauglich macht. Ihr großes Talent, Leichtigkeit in schwierige Themen zu bringen, zeigt sich auch in ihrem ersten, langerwarteten Ratgeber, in dem sie dich mit auf Streifzug durch die spannende Welt der Psyche nimmt.

Franca Cerutti klärt dich über die drei verbreitetsten psychischen Erkrankungen Angststörungen, Depression, und Sucht auf. Du erfährst alles darüber, was da in deinem Körper eigentlich genau passiert, wenn sich ein psychisches Leiden einstellt. Zudem gibt dir die Autorin dank praktischen Checklisten, Fragebögen, anregenden Fallgeschichten aus ihrer Praxis und konkreten Ratschlägen Hilfestellung. Was kannst du tun, wenn dich eine Panikattacke überkommt? Wie kannst du deinen Liebsten bei ihren Problemen beistehen und was hilft dir, wenn sich eine Depression bemerkbar macht? Zu all dem und viel mehr nimmt Franca Cerutti kein Blatt vor den Mund und ist nicht nur kompetent, sondern auch einfach herrlich sympathisch.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.knaur-balance.de

Inhaltsübersicht

Einführung: Wie verrückt sind wir eigentlich?

Was dich erwartet

First things first

Was ist eigentlich »verrückt«? Die internationale Klassifikation

Dein Gehirn in a nutshell

Deine Nervenzellen

Bewusst, unterbewusst, unbewusst

Wodurch du »verrückt« wirst: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Angstalarm

Phobien: Dein archaischer (Ur-)Knall

Spezifische Phobie: Pfui Spinne!

Offene Fragen und ehrliche Antworten zur spezifischen Phobie

Soziale Phobie: So’n Scheiß to meet you!

Offene Fragen und ehrliche Antworten zum Thema soziale Phobie

Agoraphobie: Mach Platz, Angst!

Offene Fragen und ehrliche Antworten zum Thema Agoraphobie

Panikstörung: Kein Blitz aus heiterem Himmel

Was hilft während einer Panikattacke?

Offene Fragen und ehrliche Antworten zum Thema Panikstörung

Generalisierte Angststörung: Ein Pferd! Kein Zebra!

Offene Fragen und ehrliche Antworten zum Thema Generalisierte Angststörung

Tipps, Tools und Therapiehinweise bei Angst

Tu es trotzdem!

Die wirksamste Therapie: Exposition

Flooding: Hier kommt die Flut

Aushalten-Können als Superpower

»Bei mir klappt das nicht! Ich kann das nicht!«

Die zentrale Frage und eine einfache Übung

Denken, Fühlen und Verhalten: Wo fangen wir an?

Erst pfui, dann hui: Du kannst es!

Die Kraft der positiven Selbstgespräche: Auf Du und Du mit dir selbst

Gedanken sind wie Sushi

Zu den Ursachen deiner Angst

Warum du Angst nicht »bekämpfen« musst

Die Botschaft deiner Angst

Wie du Adrenalin abbauen kannst

Was, wenn die Angst nicht das Problem ist, sondern die Lösung?

Neue Situation – alte Angst?

Wie du deinen Ruhenerv stimulierst (What happens in Vagus, stays in Vagus …)

Das Worst-Case-Szenario: Denk die Katastrophe zu Ende

Miese Gefühle sind nicht automatisch gefährlich

Das Spiel mit deinen inneren Bildern

Was kann ich tun, um Angehörigen mit Angst zu helfen?

Depression: »Nicht mein Tag – seit einem Jahr«

Wie fühlt sich eine Depression an?

Depression ≠ Depression

Die genetische Grundlage von Depression: Ein Erbe, das du nicht ausschlagen kannst

Das Verstärker-Verlust-Modell: I love you berry much!

Das Modell der gelernten Hilflosigkeit: Resignierte Hunde

Das kognitionspsychologische Modell: Was glaubst du eigentlich, wer du bist?

Das medizinische Modell: Du bist Chemie und Strom

Und jetzt?

Offene Fragen und ehrliche Antworten zur Depression

Tipps, Tools und Therapiehinweise bei Depression

Nur Bedürfnisse! Keine Ansprüche!

Sucht: Das Leiden kommt auf leisen Sohlen

Abhängigkeit aus Alien-Perspektive

Sucht, Abhängigkeit und schädlicher Gebrauch. Eine Begriffsdefinition

Alkohol: Nervengift im Cocktailglas

Psychische und physische Abhängigkeit

Alkohol und seine schlimmsten Folgen

Immer mehr trinken, für immer weniger wohligen Rausch

Offene Fragen und ehrliche Antworten zum Thema Alkohol

Tipps, Tools und Therapiehinweise bei Alkoholabhängigkeit

But my daddy thinks, I’m fine … sei ehrlich zu dir selbst

Ein Schlusswort: Was jetzt?

Und irgendwann ist alles gut?

Danke

Wichtige Hinweise und Anlaufstellen für dich

Register

Einführung: Wie verrückt sind wir eigentlich?

Um es direkt vorwegzunehmen: »Verrückt« ist natürlich kein psychotherapeutischer Fachbegriff – er ist negativ belegt und ziemlich wertend. Als Therapeutin schätze ich das Wort nicht so sehr. Aber vielleicht magst du, so wie ich, eine schnörkellose Ansprache. Immerhin hast du nach dem Buch gegriffen und reingeblättert, also: Here we go!

Lass uns »verrückt« mal kurz im ursprünglichen Wortsinn verstehen, als eine leichte Verrückung aus der Norm heraus. Einen Schritt weg vom Mittelwert. Im englischsprachigen Raum wird das Wort »disorder« gebraucht, um anzuzeigen, dass etwas von der »order«, also der Ordnung, abweicht. Irgendwas ist in Unordnung geraten und tanzt ein bisschen aus der Reihe. Und wenn wir es so verstehen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch du ein bisschen außerhalb der Ordnung und »ver-rückt« bist, ziemlich hoch. Vielleicht bist du ein wenig ängstlicher oder eine Spur pessimistischer als die meisten Leute, die du kennst. Vielleicht bist du auch perfektionistischer, schläfst länger, bist chaotischer oder hast ein spezielleres Essverhalten als »der Durchschnitt«. So weit, so normal.

Wir sind also alle ein bisschen verrückt – und das ist wiederum normal? Klingt verwirrend!

Mit diesem Buch möchte ich zeigen, dass einiges, was du an deinem Denken, deinen Gefühlen oder deinem Verhalten ganz schön crazy findest, eigentlich total verbreitet ist. Und umgekehrt: Vielleicht hältst du auch so einiges für »normal«, weil du dich daran gewöhnt hast – und tatsächlich steckt möglicherweise ein Symptom dahinter, bei dem du Hilfe gebrauchen könntest. Lass uns hier gemeinsam Licht ins Dunkel bringen. Alle Fragen, die mir als Psychotherapeutin je zu seelischen Schieflagen gestellt wurden, auch die »frechen«, werde ich hier beantworten.

Wo verlaufen die Grenzen zwischen »psychisch gesund« und »psychisch krank«, zwischen »normal« und »verrückt«? Falls du dir Sorgen um dich (oder um eine liebe Person) machst, findest du in diesem Buch Checklisten und Hinweise, ab wann du das Gespräch mit einem Profi suchen solltest.

Hier eine dringende Bitte vorweg: Psychodiagnostik gehört immer in die Hände von Fachleuten, also Vorsicht vor Eigendiagnosen. Dieses Buch liefert dir wertvolle Hinweise, aber es ersetzt kein psychotherapeutisches oder fachärztliches Gespräch. Bitte geh jeglichem Verdacht, der sich möglicherweise durch die Lektüre dieses Buchs ergibt, sorgfältig und mit Profis an deiner Seite nach – in real life!

Was dich erwartet

Knallharte Zahlen, Daten und Fakten! Hässliche Worte! Wahre Geschichten! Fragwürdige Experimente! Und eine herzliche Einladung!

Mehr als jeder vierte Erwachsene erfüllt die Kriterien einer psychischen Erkrankung. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie (DGPPN) spricht in einem Dossier aus dem Jahr 2021 von 27,8 Prozent psychisch erkrankten Erwachsenen jährlich.117,8 Millionen Menschen leiden unter Symptomen, die so gravierend sind, dass eine ausgeglichene, stabile Alltagstauglichkeit nicht mehr gegeben ist. Das sind so viele Menschen, wie aktuell in Nordrhein-Westfalen leben. Erschreckt dich das, oder hast du das so ähnlich erwartet? Fragst du dich gerade, ob du dazugehörst, oder gehst im Kopf sämtliche Verwandte und Bekannte durch?

Stell dir vor, du sitzt in einem voll besetzten Zug. Schau dich um. Sämtliche Geschlechter, Altersgruppen, Ethnien, Religionen, Staturen und soziale Milieus kommen hier zusammen: alt, jung, dick, dünn, arm, reich, grau und bunt – alles dabei. Ein schöner Querschnitt durch die Gesellschaft. Und jetzt zähl mal ab: eins, zwei, drei, DU, eins, zwei, drei, DU, eins, zwei, drei, DU – das ist das ungefähre aktuelle Ausmaß der sogenannten Verrücktheit. Krass, oder?! Die Wahrscheinlichkeit2, dass du entweder selbst von einer psychischen Erkrankung betroffen bist, oder jemanden kennst, ist also sehr, sehr hoch.

Müsste etwas, das so häufig und allgegenwärtig ist, nicht eigentlich schon wieder »normal« sein? Und wie kommt das überhaupt? Stellen die Leute sich mehr an als früher? Was gilt eigentlich als »gestört«? Und wie können wir uns helfen? Diese und ähnliche Fragen werde ich in diesem Buch aufgreifen. Fakt ist: »Psychische Erkrankung« ist inzwischen der zweithäufigste Grund für Krankschreibungen. Platz 1 belegen »Erkrankungen des Skelett– und Muskelsystems«. Hier insbesondere das gute alte »Isch hab’ Rücken!«

Wollen wir wetten, dass unter den Rückenleidenden auch etliche dabei sind, bei denen sich die psychische Anspannung als brettharte und knotige Muskulatur im Körper niederschlägt? Und glaubst du auch, dass es immer noch etliche Menschen gibt, die Stigmatisierung befürchten und sich lieber aufgrund von »Rücken« krankschreiben lassen, als ehrlich einzuräumen, dass es ihnen mental superschlecht geht? Beides ist von außen unsichtbar, aber das eine provoziert weitaus mehr hochgezogene Augenbrauen als das andere – oder nicht? In einer Befragung unter psychisch Erkrankten aus dem Jahr 2021 gab fast die Hälfte zu, schon mal andere Gründe für ihre Arbeitsunfähigkeit vorgeschoben zu haben, um über ihre wahre psychische Belastung nicht sprechen zu müssen.3

Lass uns also ruhig mutig spekulieren, dass psychische Erkrankungen demnächst die Haupt-Krankschreibungsursache darstellen werden, wenn sie es nicht bereits heimlich tun.

Zu den verbreitetsten Seelenleiden gehören

Angststörungen

Depressionen

Suchterkrankungen, hier vor allem Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit.

Geschätzte prozentuale Verteilung in Deutschland: Angststörungen, unipolare Depression, Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit

Häufig treten psychische Störungen parallel und ineinander verzahnt auf.

»Störung« ist, genau wie »verrückt«, kein schönes Wort. Es macht keinen Spaß, es zu benutzen, weil es wie eine Beschimpfung klingt. »Voll gestört, ey!«

Tatsächlich ist es allerdings der aktuell gängige Fachterminus. Als pragmatische Psychotherapeutin nutze ich ihn, weil er in den geltenden offiziellen Leitlinien drinsteht. Als einfühlsame Psychotherapeutin laviere ich mich allerdings auch gerne verbal drum herum und bevorzuge weniger wissenschaftliche, dafür auch weniger stigmatisierende Worte wie Seelenleiden oder Schieflage. Diese Freiheit erlaube ich mir und hoffe, dass du mir das Abweichen von akademischer Strenge und Akkuratesse verzeihst, zugunsten des respektvolleren Ausdrucks und der fluffigeren Lesbarkeit. Wenn ich den Begriff »Störung« verwende, meine ich damit vor allem das Störgefühl, das die Betroffenen selbst empfinden.

Eine weitere pragmatische Entscheidung besteht darin, dass ich mich in diesem Buch auf die drei häufigsten »Verrücktheiten« beschränke und sie in der Reihenfolge ihrer Auftretenswahrscheinlichkeit vorstelle. Denn wie ein weiser Mensch einmal sagte: »Häufiges ist häufig. Und Seltenes ist nicht so häufig.« Dieser weise Mensch ist mein Mann, Christian Weiss. An seiner bestechenden Logik möchte ich mich im Folgenden orientieren. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und wird hier nicht nur Weisheiten wie die eben zitierte beisteuern, sondern auch die medizinische Sicht auf die Dinge.

Apropos Reihenfolge: Es gibt keinen Grund für dich, das Buch zwingend von vorne bis hinten durchzulesen. Du kannst durch die Kapitel hopsen und dich an den Zwischenüberschriften orientieren. Farblich hervorgehoben sind Fallgeschichten, falls du diese bevorzugst. Die Checklisten heben sich ebenfalls optisch ab – gebrauche das Buch also einfach so, wie es dir am meisten nützt.

Du findest hier also unverblümte Fragen und ehrliche Antworten zu den häufigsten psychischen Erkrankungen, unterfüttert mit Fallbeispielen aus meiner therapeutischen Praxis. Du erfährst von Experimenten, die es so heute nicht mehr geben würde, und liest Unterhaltsames, das dir vielleicht neue Perspektiven eröffnet. Außerdem liefert dir dieses Buch Hinweise auf Red Flags, also Warnsignale: Was ist eventuell wirklich nicht mehr »normal«, sondern so deutlich ver-rückt, dass Behandlungsbedarf bestehen könnte? Jedes Kapitel ist zudem durch die Hände eines Mediziners gegangen, der seine fachliche Sicht ergänzt hat (→ sehr weiser Typ, siehe oben).

Wie verrückt sind wir eigentlich? soll über psychische Schieflagen aufklären, sie einsortieren, entstigmatisieren, normalisieren, die Angst vor Behandlung nehmen – und auch ein bisschen Spaß machen.

Ich lade dich ganz herzlich ein, eine erhellende und erkenntnisreiche Entdeckungsreise zu beginnen.

First things first

Ein Wort zur fachlichen Tiefe: Die Biologie, die Medizin und speziell die Neurowissenschaften enträtseln immer mehr Details, was unseren psychischen Prozessen eigentlich zugrunde liegt. Der technische Fortschritt erlaubt es, in immer kleinere Welten vorzustoßen. Und dabei eröffnen sich manchmal ganz neue, riesige Räume. Jede Antwort erzeugt noch mehr Fragen.

Vieles wissen wir schon und manches sogar sehr sicher: zum Beispiel, dass der Mensch ein extrem komplexes Wesen ist. In uns wirken immer sich selbst aktivierende und hemmende Systeme und Mechanismen, die wiederum auf andere Strukturen und sich selbst zurückwirken. Jedes Jahr beschert uns die Forschung neue Erkenntnisse. Bis dato unbekannte Kleinstbausteine werden entdeckt, alte Denkgerüste infrage gestellt.

Gleichzeitig werden einige Wissenslücken nie vollumfänglich gestopft werden. Und das ist richtig gut so. Der Versuch, aus gefühltem Wissen echtes, belegbares Wissen zu machen und Modelle auf ihre Zuverlässigkeit und Vorhersagekraft hin zu testen, nennt sich »Studie«. Zu manchen Themen gibt es keine belastbaren Daten, auf die man sich berufen könnte. Das liegt daran, dass fundierte und wissenschaftlich saubere Studien genehmigt werden müssen. Bei einem solchen Genehmigungsverfahren entscheidet auch eine Ethikkommission darüber, ob der mögliche Schaden, der den Teilnehmenden durch eine Studie zugefügt werden könnte, den Nutzen rechtfertigt. Das gilt übrigens dankenswerterweise auch für Tierversuche. Daher, zu deiner Beruhigung: Einige der in diesem Buch beschriebenen Experimente würde es so heute nicht mehr geben. Und einige, selbst wenn sie einen inhaltlichen Mehrwert böten, wird es niemals geben. In diesen Fällen belassen wir es bei einem »educated guess«.

 

Die hier vorgestellten Modelle sind stark vereinfacht, taugen aber zur grundsätzlichen Erklärung. Jede Vereinfachung führt dazu, dass man sich von der »tatsächlichen« Wahrheit entfernt. Die vier verschiedenen Subtypen der Adenosin-P1-Rezeptoren würden beispielsweise zur vollständigen Darstellung der Funktionsweise des zentralen Nervensystems dazugehören. Sie wären für dich aber wahrscheinlich nur von marginalem Interesse. Ich lasse sie daher unter den Tisch fallen. Ebenso erspare ich dir jede seltene Ausnahme von der Regel. Ich bin in wissenschaftliche Texte abgetaucht, um möglichst viel verständliche Essenz ans Licht zu bringen. Dabei musste das meiste Material in der Tiefe zurückbleiben.

Wenn du dich für dieses tiefer gehende Material interessierst und selber noch mal abtauchen möchtest: Go go go! Darüber freue ich mich. Die Welt ist voller Wissen, und das Schöne ist: Das allermeiste davon ist frei zugänglich. Nutze das! Und wenn du dich mit etwas plagst, was ich beschreibe, also mit einer Angststörung, einer Depression oder einer Suchterkrankung, dann werde selbst zur Expertin oder zum Experten! Das ist der beste Rat, den ich dir als Psychotherapeutin geben kann.

Viele Menschen identifizieren sich stark mit ihrer Erkrankung: Ich BIN ängstlich. Ich BIN depressiv. Ich BIN abhängig. Wie wäre es, wenn daraus würde: Ich neige zu ängstlichen Reaktionsmustern. Ich reagiere unter Belastung depressiv. Ich habe mir Suchtmittelkonsum angewöhnt. Aber ich BINmehr. Zum Beispiel eine Kapazität in eigener Sache, mit lebenslanger Erfahrung mit mir selbst und einer Expertise, die mir hilft, meine Probleme zu lösen!

Angst, Depression und Sucht, die drei Themenfelder dieses Buchs gehören oft zusammen. Die Darstellung als getrennte Entitäten dient der Übersicht, entspricht aber nicht der Realität. Ein Drittel aller alkoholabhängigen Menschen hat ängstliche und depressive Symptome. Fast die Hälfte derjenigen, die depressiv sind, erfüllen gleichzeitig die Kriterien für die Diagnose einer Angststörung4.

Du siehst: Die Überschneidungen sind riesig! Klar kannst du dir aus diesem Buch die Inhalte rauspicken, die dich besonders interessieren. Ein kurzes Querlesen der jeweils anderen Kapitel bringt dir aber möglicherweise auch das eine oder andere AHA!

In den folgenden Kapiteln kannst du dir einen Überblick über einige Grundlagen und Modellvorstellungen verschaffen, wenn du wissen möchtest, wie der Mensch und seine Psyche ganz grob und grundsätzlich funktioniert. Vieles weißt du bestimmt schon, das eine oder andere könnte aber neu und überraschend sein.

Was ist eigentlich »verrückt«? Die internationale Klassifikation

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert es so: »Psychische Störungen stellen Störungen der psychischen Gesundheit einer Person dar, die durch eine Kombination von belastenden Gedanken, Emotionen, Verhaltensweisen und Beziehungen zu anderen gekennzeichnet sind.

Psychische Gesundheit ist ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann.«5

Das bedeutet: Wenn du dich in deinem Denken, deinem Fühlen, deinem Verhalten und in deinen Beziehungen »belastet« und nicht wohlfühlst, »normale« Lebensbelastungen nicht bewältigen kannst und weder produktiv noch aktiv bist, ist wahrscheinlich etwas nicht okay.

Was immer dieses »normal« sei. Behalt das mal im Kopf, wir kommen noch öfter darauf zurück.

Übrigens kommt es gar nicht so selten vor, dass nicht die Betroffenen selbst belastet sind, sondern ihre Mitmenschen. Solltest du dieses Buch zur Hand genommen haben, weil du Wege suchst für eine Person, die dir am Herzen liegt, die aber bisher selbst gar keinen Bedarf sieht – hier kannst du eine Menge Informationen und Tipps bekommen.

 

Die Schule hat uns gelehrt, dass es Richtig und Falsch gibt, Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß, Entweder-oder. Und für viele Sachverhalte trifft das auch zu: 3+4 ist eben nicht »alles Mögliche round about 8«, sondern 7.

Und es gibt Symptome, die ebenso klar und eindeutig auf eine Erkrankung hinweisen und eine unzweifelhafte Diagnose zulassen, zum Beispiel »Schlaganfall«. Aber lassen sich psychische Störungen auch so eindeutig diagnostizieren?

Seit Jahrhunderten versuchen heilkundlich bewanderte Menschen, Krankheitssymptome zu erkennen, zu erfassen und präzise zu benennen, um ein einigermaßen einheitliches Verständnis und auch eine Vergleichbarkeit herzustellen. Zunächst begann man, mutmaßliche Todesursachen festzuhalten und zu beschreiben. Im Jahr 1900 wurde von der französischen Regierung das erste Klassifikationssystem für Krankheiten mit Todesfolge veröffentlicht. Mit den Jahren wurde dieses Klassifikationssystem unter internationaler Zusammenarbeit immer umfassender. In der sechsten Überarbeitung von 1948 fanden schließlich nicht nur potenziell tödliche Erkrankungen und Verletzungen, sondern auch heilbare Krankheiten Berücksichtigung. Und erstmals gab es damals auch ein Kapitel über psychische Erkrankungen. Über die Dauer der Zeit ist ein sehr umfangreiches Nachschlagewerk entstanden, auf das sich heutzutage alle medizinisch Tätigen beziehen. Jede bekannte Erkrankung ist darin erfasst und beschrieben. Die heute gültige internationale Klassifikation von Erkrankungen, die International Classification of Diseases, kurz ICD, liegt aktuell in der elften Überarbeitung vor, die zehnte Version behält aber während einer Übergangsfrist ebenfalls noch ihre Gültigkeit. Das Kapitel über psychische Erkrankungen in der ICD umfasst alles, was wir gegenwärtig als »Verrücktheit« bewerten, von Essstörungen über sexuelle Probleme bis hin zu Persönlichkeitsstörungen. Auf die drei verbreitetsten, Angst, Depression und Sucht, beziehe ich mich.

Die ICD hat für jede psychische Erkrankung festgelegt, welche und wie viele Symptome vorliegen müssen, um eine Diagnose zu rechtfertigen. Das soll verhindern, dass Menschen, die mal eine schlechte Phase haben und öfter traurig oder ängstlich sind, gleich pathologisiert werden. Traurig zu sein, reicht beispielsweise keinesfalls aus, um die Diagnose einer Depression zu begründen. Weitere Symptome wie Antriebsverarmung, Freudverlust oder Schlafstörungen müssen gleichzeitig vorliegen, und zwar jeweils über einen längeren Zeitraum, bevor wirklich von einer Erkrankung gesprochen werden kann. Die kritischen Punkte habe ich jeweils mit Red Flags markiert. Sie signalisieren dir, wo nach aktuellem psychotheoretischem Verständnis die Grenze zwischen »normal« und »abgerückt von normal« verläuft. Alle Checklisten in diesem Buch sind an der ICD 10 orientiert.

Kann man also eindeutig sagen, was »gesund« und was »krank« oder »gestört« ist?

Die Antwort lautet Jein. Die ICD ist immer ein Produkt ihrer Zeit, und sie wird fortlaufend überarbeitet. Transidentität galt beispielsweise noch in der zehnten Version der ICD als »Persönlichkeits- und Verhaltensstörung«, während sie in der elften Version nicht mehr als solche bewertet wird. Computerspielsucht erscheint dahingegen erstmals in der elften Version, während sie zuvor im Katalog der Erkrankungen gar nicht vorkam. Eine Veränderung in unserer Bewertung von Zuständen ist also (dankenswerterweise) immer möglich. Allerdings handelt es sich bei den hier beschriebenen seelischen Schieflagen um seit Jahrzehnten bewährte und in der Wissenschaft sorgfältig erforschte Konzepte. Und vor diesem Hintergrund lässt sich recht gut einordnen, ob eine Person einfach viel Vorsicht walten lässt oder eine Angststörung hat, ob sie eine schlechte Phase hat oder eine Depression und ob sie riskant trinkt oder schon abhängig ist. Während die Begriffe »Depression« oder »Panik« fast schon inflationär benutzt werden, um bedrückende Gefühle zu beschreiben, verhält es sich mit dem Suchtbegriff gegenteilig. Hier grassieren viele Mythen und Meinungen, ab wann von Abhängigkeit zu sprechen sei. Angeblich ist man erst dann suchtkrank, wenn man den ganzen Tag trinkt, oder nur dann, wenn man harte Spirituosen konsumiert. Beides ist falsch.

Es kommt also darauf an, eine emotionale Schieflage nicht vorschnell als »verrückt« oder krankhaft zu bezeichnen und gleichzeitig nichts zu bagatellisieren, bei dem du Hilfe brauchen oder Behandlung in Anspruch nehmen könntest. Du bist herzlich eingeladen, einen ehrlichen Blick auf dich selbst oder deine Lieben zu werfen.

 

Wir sprechen hier über Zahlen, Daten und Fakten. Die Psychologie ist eine Wissenschaft. Wir sprechen aber auch über Menschen, über Schicksale, über Biografien und komplexe Zusammenhänge. Wir reden von Gefühlen und von psychischen Symptomen, die sich überlappen und überlagern können. Manchmal zeigen Menschen Tendenzen einer Störung, aber eben nicht das Vollbild. Daher möchte ich dich für die Dauer dieses Buchs (und gerne auch darüber hinaus) ermuntern, allzu starre gedankliche Kategorien zu verlassen und eher in einem Kontinuum und einem Raum der Möglichkeiten zu denken. Wenn wir über Krankheit, Gesundheit, die sogenannte Normalität oder Ver-rücktheit sprechen, brauchen wir eine Haltung, die Vielschichtigkeit und Uneindeutigkeit erlaubt.

Sind wir nicht alle ein bisschen verrückt? Mehr oder weniger, einerseits – andererseits, sowohl als auch.

Dein Gehirn in a nutshell

Wenn wir über die Psyche sprechen, sprechen wir auch über das Gehirn. Genauer: unser gesamtes Nervensystem. Die Trennung zwischen Psyche und Körper und die Vorstellung, als sei die Psyche etwas, was den Körper »bewohnt«, ist schlicht und einfach falsch. Wir haben keinen Körper, wir sind ein Körper. Wir sind Chemie und Strom, wir sind Botenstoffe und Hormone. Gleichzeitig sind wir, wie Aristoteles schon sagte, als Ganzes mehr als die Summe unserer Teile. Wir sind die Magie, die sich aus dem gesamten komplexen, verzahnten Geschehen ergibt. Und wie könnte dieses ganze System stets und ständig bei jedem »normal« laufen?

Unser menschliches Gehirn ist wohl das komplizierteste Organ, das sich im Laufe der Evolution entwickelt hat. Es macht lediglich 2 Prozent unseres Körpergewichts aus, verbraucht aber etwa 25 Prozent des täglichen Energiebedarfs. Warum ist das so, und was macht gerade das menschliche Gehirn so besonders?

Die Gehirne von Walen wiegen bis zu neun Kilogramm, Elefantenhirne etwa vier Kilogramm und unser menschliches Gehirn nur etwa anderthalb Kilogramm. An der schieren Größe kann es also nicht liegen, dass wir die Lebewesen mit der höchsten Denkfähigkeit sind (zumindest sprechen wir uns selbst das zu, obwohl man bei manchen Zeitgenossen gelegentlich ins Zweifeln kommt).

Entscheidend sind die Anzahl unserer Nervenzellen und ihre Anordnung in der Großhirnrinde, die wir Kortex nennen (das ist das lateinische Wort für, du ahnst es: Rinde). Diese mit Nervenzellen durchsetzte Rinde ist der Ort der »höheren« und komplexeren Verarbeitung von Informationen. Und weil der Kortex bei uns Menschen im Rahmen der Evolution immer größer und größer wurde und in einem Kopf ja nicht unendlich Platz ist, hat er sich unter der Schädeldecke immer mehr aufgefaltet und in Wellen gelegt. Daher sieht unser Gehirn heute so ähnlich aus wie eine faltige Walnuss.

Prozentual gesehen haben wir den größten Kortex von allen Lebewesen, und bis heute ist unser Denkapparat insgesamt noch jedem Supercomputer überlegen. Das hat zwei entscheidende Gründe:

Erstens ist unser Gehirn in der Lage, gleichzeitig komplexe »Rechenoperationen« auszuführen, während ein Computer nur eine nach der anderen bearbeiten kann (zugegebenermaßen kann er das allerdings sehr schnell). Zweitens ist unser Nervensystem verformbar, man sagt »plastisch«. Wir können lernen (und auch verlernen). Und das ist das wahre Wunder: Vereinfacht erklärt, bilden sich beim Lernen neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Beim Ver-lernen bauen sie sich wieder ab. Im Vergleich müsste ein Computerchip sich also selbst ein neues Kabel auf die eigene Platine löten und es mit einem anderen verbinden oder andere Verbindungen physisch zerstören. Und das millionenfach jeden Tag. Das wird vermutlich auch in absehbarer Zeit noch nicht möglich sein. Ein Computer wird in einer Aufgabe nicht besser, wenn er sie jeden Tag erledigen muss. Wir schon.

In einer Untersuchung an Londoner Taxifahrern6 hat sich gezeigt, dass deren Hirnareal, das für räumliche Orientierung zuständig ist, viel größer ist als bei anderen Menschen. Ihr Gehirn ist ver-rückt! Viel genutzte Areale verändern sich also tatsächlich, die Anzahl der Verbindungen nimmt zu, und es ergeben sich mit der Zeit strukturelle Veränderungen. Das Gehirn kann trainiert werden wie ein Muskel. 

Und wie ein Muskel verbraucht es Energie. Pro Milliarde Nervenzellen nämlich circa sechs Kalorien pro Tag nur fürs »Grundrauschen«, das sind etwa 500 Kalorien täglich. Weil das relativ viel ist und wir in den Grundfunktionen noch wie Steinzeitmenschen funktionieren, ist unser Organismus auf Energiesparen getrimmt. Unser Gehirn will faul sein. Daher nutzt es bereits existierende Nervenverbindungen viel lieber, als sich energieaufwendig neue schaffen zu müssen.

Du hast vielleicht schon mal davon gehört: Vertrautes, gewohntes und alltägliches Denken gleicht dem Fahren auf einer breit ausgebauten, schön asphaltierten, vierspurigen Autobahn. Da flutscht’s. Neues, unvertrautes und daher (noch) unverknüpftes Denken gleicht dahingegen eher der mühsamen Bahnung eines neuen Trampelpfads durch unwegsames Gelände. Das kostet Kraft. Unser Gehirn vermeidet es lieber. Und genau das kann in unserem Leben zu ausgewachsenen Problemen führen. Denn nur weil eine Straße breit ausgebaut ist und sich easy fährt, führt sie womöglich dennoch nicht zum Ziel, sondern immer wieder in den gleichen Sumpf …

Unsere Sinnesorgane schicken ihre aus der Umwelt empfangenen Signale zunächst an die subkortikalen Bereiche, also die Gehirnareale, die unter der Rinde liegen. Das bleibt unbewusst oder »vor«-bewusst. Erst danach geht’s, wenn nötig, »rauf« in den Kortex, zur kognitiven Bewertung dieser Eindrücke. Unsere älteren (und vollkommen durchtrainierten, energieeffizienten und fast automatisierten) Hirnareale sind also die ersten Empfänger sämtlicher Eindrücke. Leider reagieren sie schneller und manchmal auch ganz anders, als unser bewusstes Denken auf der Hirnrinde das gerne hätte. Du kennst diese Konflikte bestimmt: Du reagierst angsterfüllt, obwohl du weißt, dass es nichts zum Fürchten gibt. Du greifst zur Zigarette, obwohl du weißt, dass sie dir schadet. Du schreist jemanden an, obwohl du weißt, dass es nichts bringt. Die Impulse sind oft schon gestartet worden, als der Kortex noch gar nichts davon wusste. Vielleicht verstehst du dich selbst manchmal nicht und erlebst kopfschüttelnd die Kluft zwischen dem, was du eigentlich wolltest, oder dem, was du weißt, und dem, was du stattdessen tust. Ja, manchmal ist die Handhabung unseres Gehirns echt kompliziert.

Und abgesehen von diesen Schwierigkeiten kannst du dir sicher vorstellen, dass ein Gebilde, das komplexer ist als ein Supercomputer und das aus biologischer Masse besteht, öfter mal eine »Fehlschaltung« hat. Wenn du stolperst, dich verschluckst oder beim Dartspielen daneben wirfst, tolerierst du das meist problemlos. Einem »falschen« Wort, einem »unangebrachten« Gefühl oder einem »kruden« Gedanken misst du dagegen möglicherweise (zu) viel Bedeutung bei. Womöglich gehst du sogar hart mit dir ins Gericht. Sei nachsichtig. Du bist kein Computer. Du bist ein Lebewesen. Und dadurch fehlerhafter und fehlbarer als jede Maschine, aber gleichzeitig lernfähig, neuroplastisch und wunderbar einzigartig.

Deine Nervenzellen

Deine Nervenzellen, auch Neurone genannt, sind Zellen, die winzige Mengen an Strom leiten und an die nächste Zelle weitergeben. Der Mensch besitzt rund 86 Milliarden Nervenzellen. Das ist eine unvorstellbar große Zahl. Zum Vergleich: Gorillas und Orang-Utans verfügen über 30 Milliarden Neurone.

Damit du dir besser ein Bild machen kannst: Wenn jede deiner Nervenzellen so schwer wie eine Schneeflocke wäre, könnte man damit fast fünf Fußballfelder mit zehn Zentimeter Neuschnee bedecken. Das Ganze hätte ein Gewicht von 57 afrikanischen Elefanten oder etwa 300 Autos. Glücklicherweise wiegt eine Nervenzelle bedeutend weniger als eine Schneeflocke …

Alle deine Nervenbahnen aneinandergeknüpft wären 5,8 Millionen Kilometer lang. Um diese Strecke abzufahren, müsstest du 145 Mal die Erde umrunden. Merk dir einfach, wenn es um Nervenzellen geht: unvorstellbar viele, unvorstellbar klein.

Nervenleitungen kannst du dir wie dicke Äste mit vielen kleinen Verästelungen vorstellen, die wie Stromkabel funktionieren. Inklusive Isolierung drum herum. Wenn du deinen Arm ausstreckst und die Finger spreizt, wäre der Arm das »Hauptkabel«, genannt Axon, und die Finger wären die davon abgehenden »Nebenkabel«, genannt Dendriten. Hierdurch fließt der Strom. Ein bisschen ist das so wie in einem Computer. Mit einem sehr besonderen Unterschied: Wo eine Chipverbindung nur »Strom an« oder »Strom aus«, 0 oder 1 kann, sind unsere Neurone in der Lage, die Strommenge feiner zu justieren: Sie kennen auch »ein wenig« oder »sehr viel«. Dadurch kann eine Menge mehr Informationen verarbeitet werden. In unserem Kopf und in unserem Körper gibt es ein unglaublich komplexes Netz aus Neuronen. Einige sind winzig kurz (0,001 Millimeter), andere unheimlich lang (1 m).

Deine Nervenzellen sind kostbar und so gut wie nicht erneuerbar. Früher glaubte man, dass sich Nervenzellen nicht neu bilden und vermehren können, auch nicht durch »Gehirntraining«. Heute wissen wir, dass es unter gewissen Umständen, in den sogenannten Stammzellnischen des Gehirns, doch vorkommen kann – allerdings nur sehr zögerlich. Zu großen Reparaturleistungen ist das Gehirn dennoch nicht in der Lage. Daher gilt im Großen und Ganzen: Was kaputt ist, ist kaputt und kommt nicht wieder. Der Ausgleich dafür liegt in den Nervenverbindungen zueinander. Je nachdem, was so eine Nervenzelle für eine Aufgabe hat, hat sie nämlich bis zu 10000 (!) Kontaktpunkte mit anderen Nervenzellen. Diese Kontaktpunkte nennt man Synapsen. Und die Aussprossung neuer Synapsen, die können wir gezielt vorantreiben. Hier setzt das »Gehirntraining« an, bei den neuen Verbindungen.

Als Synapse bezeichnet man die Verbindungsstelle zwischen zwei Nervenzellen. Du kannst mit beiden Händen eine Faust machen und die Fäuste so gegeneinanderhalten, dass du, indem du die Ellbogen hebst, deine Handrücken siehst und deine Fingerknöchel gegeneinander zeigen. Jetzt nimm die Fäuste einen Zentimeter auseinander. SO sieht eine Synapse aus. Eine Nervenleitung kommt von links (linker Unterarm), eine von rechts (rechter Unterarm), Knubbel am Ende (deine Fäuste) und dazwischen eine Lücke. Und in dieser Lücke, da passiert die eigentliche Action.

Aufbau einer Synapse

Der Strom, der von links kommt, überspringt die Lücke nicht einfach, sondern lässt chemische Stoffe aus kleinen Bläschen frei, direkt in den Spalt. Das sind die Neurotransmitter. Auf der rechten Seite gibt es spezielle Empfänger, auf die diese Botenstoffe ganz genau passen, wie ein Schlüssel in ein Schloss. Und tatsächlich öffnen oder schließen sie am Rezeptor eine Art Törchen.

Wenn genug dieser Rezeptoren mit einem Neurotransmitter besetzt und damit genug Törchen geöffnet sind, entsteht auf der rechten Seite ein Strom. Der wird dann wieder weitergeleitet. Entweder zur nächsten Nervenzelle oder beispielsweise zu einem Muskel, der sich dadurch zusammenzieht. In unserem Gehirn ist wegen der Milliarden Nervenzellen und der Billionen Verbindungen ein ständiges Blitzgewitter los. Jede Bewegung, jedes Gefühl, jeder Gedanke und jede Wahrnehmung basiert auf Chemie und Strom. Man kann das sogar sichtbar machen. Wenn man empfindliche Elektroden an den Kopf anlegt, sieht man ganz viele gezitterte Linien auf dem Monitor. Das nennt man dann ein EEG (Elektroenzephalogramm). Die Art des Zitterns verändert sich, zum Beispiel wenn man schläft oder wenn bestimmte Erkrankungen im Gehirn vorliegen.

Das Nervensystem durchzieht unseren gesamten Körper wie ein Wurzelgeflecht. Einige Fasern dieses Geflechts können willentlich angesteuert werden. Sie sind für alle bewusst ablaufenden Körperprozesse, vor allem Bewegungen, zuständig. Put your hands up in the air! Das erledigt der Teil unseres Nervengeflechts, den wir somatisches Nervensystem nennen.

Parallel dazu gibt es Fasern, die wir willentlich nicht ansteuern können. Dieses selbstständig arbeitende Geflecht wird als autonomes Nervensystem bezeichnet. Es kontrolliert Funktionen wie Verdauung, Herzschlag, Stoffwechselvorgänge, Durchblutung, Sexualfunktionen, Schwitzen, Gänsehaut, die Pupillenweitung und den unbewussten Teil unserer Atmung. Eine andere Bezeichnung dafür lautet »vegetatives Nervensystem« und spielt als spürbarer Teil vieler unserer seelischen Zustände eine ganz erhebliche Rolle.

Ein zentraler Satz in vielen Therapiegesprächen lautet: »Am Vegetativum kannst du nicht ziehen!« Du kannst dich nämlich weder zu einem ruhigen Herzschlag noch zu weniger Gesichtsröte oder zu einer Erektion zwingen. Deswegen solltest du dafür auch nicht die innere Verantwortung übernehmen! Beeinflussen lassen sich diese Art von Körperfunktionen nicht durch zackige Kommandos, sondern nur »über Bande«, beispielsweise über die bewusste Einflussnahme auf deine Atmung.

Bewusst, unterbewusst, unbewusst

Was unser Bewusstsein ist, ist wirklich nicht leicht zu erklären. Vielleicht kannst du mit folgendem Modell etwas anfangen: Dein bewusstes Leben ist wie ein Live-Stream mit Spitzentechnik. Du bist als Hauptfigur mittendrin. Während du dich in Echtzeit durch deinen Film bewegst, ploppen laufend kleine Einblendungen auf, beispielsweise mit Assoziationen oder Erinnerungen aus deiner Vergangenheit, oder auch »Was wäre wenn«-Fensterchen mit alternativen Handlungssträngen. Ziemlich komplex, aber auch unterhaltsam. Gleichzeitig läuft parallel noch eine Spur, die dich Dinge empfinden lässt: Berührungen, Geruch und Geschmack, Hunger, Durst und Müdigkeit, aber auch Emotionen. Dein Film verfügt über sämtliche sinnliche Qualitäten. Und während du mitten im Geschehen bist, gibt es mehrere geklonte Doubles von dir (nennen wir sie »Ich-Anteile«), die ebenfalls die Hauptrolle spielen wollen und sich manchmal nach vorne drücken, um auch ein paar Zeilen zu sagen. In solchen Momenten gerät die Handlung kurz ins Stocken, weil deine Anteile diskutieren und rangeln. Bestenfalls einigen sie sich, wem jetzt das Rampenlicht gebührt und wer die Situation am besten handeln kann. Schlimmstenfalls gewinnt einfach immer der stärkste Anteil (der aber nicht unbedingt die beste Wahl ist). Ja, manchmal wird es unübersichtlich im Film deines Lebens. Da ist ganz schön viel los in dir, in jedem einzelnen Moment. Die bis hierher geschilderten beispielhaften Vorgänge sind prinzipiell bewusstseinsfähig, du bekommst sie also mit, wenn du deine Aufmerksamkeit darauf richtest.

Und dann gibt es noch das, was der Volksmund Unterbewusstsein nennt. Der Erfinder der Psychoanalyse Sigmund Freud hat den Begriff abgelehnt, weil er es verwirrend fand, geistigen Bewegungen ein »Unten« und ein »Oben« zuzuordnen. Daher sprechen Profis lieber vom »Unbewussten«. Das bildet die Wahrheit auch besser ab. Moment! Die Wahrheit? Ist denn bewiesen, dass es das Unbewusste wirklich gibt? Hmm … ja. Kann man so sagen. Dazu gleich mehr.

Zunächst zurück zum Livestream deines Lebens. Wie du weißt, braucht es für jeden Film ein ganzes Team. Am Set sind viele Menschen, die für den Text, den Ton, die Kulissen, die Kleidung, die richtige Beleuchtung und die Regieanweisungen zuständig sind. Irgendjemand muss ja Impulse und Anweisungen geben, das machst du als Hauptfigur nicht allein. Dieses riesige Team ist also da, in deinem Film aber nicht sichtbar. Sie alle sind dein Unbewusstes. Das Getümmel »hinter den Kulissen« ist übrigens sehr viel größer als das, was man im Film sieht, so wie in deinem Unbewussten auch viel mehr abgeht als in deinem Bewusstsein. In deinem unbewussten inneren Team tauchen immer mal wieder Konflikte auf. Und zwar auf allen Ebenen. Mal macht die Beleuchtung einen schlechten Job, weil sie das Spotlight auf eine Szene richtet, die gar nicht so viel Aufmerksamkeit verdient; mal verzerrt der Ton einen Text, sodass du was ganz anderes verstehst, als gesagt wurde; mal erhältst du als Hauptfigur völlig bescheuerte Anweisungen aus der Regie, die sich eventuell noch mit anderen Stimmen aus dem Off widersprechen. Und irgendwo dudelt Musik, und jemand schreit nach mehr Alkohol. Kommt dir das Kuddelmuddel bekannt vor? Stolperst du auch manchmal wie eine etwas desorientierte Hauptrolle durch die Szenerie?

Das Gute ist: Du kannst mit der Crew in Kontakt treten und alle kennenlernen. Hinter den Kulissen wartet dein Unbewusstes, um von dir erkundet zu werden. Nach und nach kannst du erfahren, welchen Job jedes einzelne Teammitglied eigentlich hat, welche Intention es für deinen Film hegt, warum mancher im Team so beharrlich oder so biestig ist und mancher so still. Du kannst entscheiden, auf wessen Einlassungen du in Zukunft dankend verzichten magst und wessen Stimme du stärker einfließen lassen willst. Du erkennst vielleicht auch die Saboteure, die drohen, deinen Film zum Flop werden zu lassen. Interessant ist vor allem, wer bei deinem Film eigentlich in der Regie sitzt und wer das Drehbuch schreibt. Wäre es nicht super, als Hauptrolle ein Wörtchen mitzusprechen? Dein Unbewusstes ist kein hermetisch abgeriegelter Raum. Die Bewusstseinsebenen sind durchlässig. Du kannst also – buchstäblich – lernen, hinter deine eigenen Kulissen zu gucken und aus deinem Film ein ausgewogenes Gesamtkunstwerk zu machen. Stell dir vor, wie du auf einem Klappstuhl sitzt, dein Name in goldenen Lettern auf der Rückenlehne, ein Megafon in der einen und ein großartiges Drehbuch in der anderen Hand. Mach es zu deinem Film.

Aber wie können wir nun sicher sein, dass es das Unbewusste tatsächlich gibt? Es existiert ein Phänomen namens Blindsehen: Um etwas zu sehen, brauchst du mindestens ein halbwegs intaktes Auge und dahinter eine dicke Nervenbahn, die sich bis in deinen Hinterkopf zieht. Dort, auf der Sehrinde, passiert das, was wir als Sehen bezeichnen. Wenn die Sehrinde (beispielsweise durch einen Unfall) zerstört ist, ist die betroffene Person blind. Und zwar vollständig. Da ist nur noch schwarze Nacht, selbst wenn die Augen unversehrt sind. Es entstehen keine bewussten Seheindrücke mehr. Und doch scheint es da noch was zu geben:

Man hat in einem Experiment Personen mit einer zerstörten Sehrinde Schilder gezeigt und gefragt, welche Farben oder Zahlen darauf abgebildet wären. Da die Testpersonen formal blind waren und die Schilder entsprechend nicht sehen konnten, war die Antwort, logisch: »Ich sehe das nicht! Ich habe keine verdammte Ahnung!« Daraufhin hat man sie gebeten, einfach zu raten. Unglaublich, aber wahr: Obwohl ihnen keiner der präsentierten Reize bewusst zugänglich war, kamen sie durch »Raten« auf die richtigen Antworten. Auch wenn Bilder von Menschen mit stark emotionalen Gesichtsausdrücken gezeigt wurden, konnten die Testpersonen die richtige Emotion benennen. Sie konnten selbst nicht sagen, wie ihnen das gelang, für sie fühlte es sich einfach wie eine spontane Mutmaßung an. Offenbar findet also auch ohne bewusste Wahrnehmung eine Verarbeitung visueller Informationen statt. Ist das nicht ein verblüffender Hinweis auf die Kraft unbewusster Prozesse?7

Der wirklich spannende Teil dabei ist die Erkenntnis, dass wir ohne Bewusstsein Informationen sammeln, von denen wir noch nicht einmal wissen, dass sie da sind. Sie lagern sich in uns an und bilden ein unbewusstes Fundament. Manche Menschen bezeichnen das als ihr Bauchgefühl oder ihre Intuition. Und diese unbewussten Erkenntnisse und Erfahrungen fließen in unsere Urteile und Entscheidungen mit ein. Vorsicht an dieser Stelle: Die Intuition, unser unbewusstes Wissen, genießt einen recht guten Ruf und wird oft als weise, innere Instanz erachtet. Wenn man aber gelten lässt, dass es sich vor allem um geronnene Erfahrung und unbewusst angehäufte Informationen handelt, kommt es ganz darauf an, in welchem Umfeld wir uns bewegt haben und von welcher Qualität die Eindrücke sind, die in uns eingesickert sind. Nur weil unser Bauchgefühl uns etwas sagt, muss das keineswegs gut und richtig sein.

Wir bilden im Laufe unseres Lebens unbewusste Erlebensmuster aus und eine für uns spezielle Art zu denken, zu fühlen und zu handeln. Wir verfügen über ein implizites Wissen, vor dessen Hintergrund wir urteilen und bewerten. Leider ist das ganze System natürlich fehleranfällig und stark von unseren Lebensumständen geprägt. Unterm Strich kann sich, um es deutlich zu sagen, in unserem Unbewussten ein Haufen Murks ansammeln. Um im Bild des Livestreams zu bleiben: Nur weil jemand aus der Kulisse dir laut und fordernd eine Anordnung zubrüllt, macht es das nicht zu einem guten und wertvollen Hinweis. Wie gesagt, du darfst genauer hinschauen und dir bewusst machen, wer hinter den Kulissen in deinem inneren Team die Stimme erhebt, woher diese Stimme kommt und welche Berechtigung sie hat, dir als Hauptrolle irgendwas vorzugeben.

Das Unbewusste ist sehr schnell und reagiert innerhalb von 200 Millisekunden auf Reize. Der Verstand ist deutlich langsamer. Oft begründet er mitunter nur das, was bereits zuvor »gefühlt« wurde. Wie ein Pressesprecher liefert er der Welt dann eine logische und sozial anerkannte, nachvollziehbare Erklärung, warum du so oder so entschieden und gehandelt hast. Die wahrhaftigen Gründe kennt dein Verstand aber ehrlicherweise oft gar nicht. Oder weißt du in jedem Moment genau, was bei dir abläuft und warum? Warum hast du heute zu diesem Oberteil gegriffen? Warum magst du Countrymusic, warum hasst du Bauhausarchitektur? Was ist der Augenblick, in dem du unter der Dusche denkst: fertig – und das Wasser zudrehst? Wieso findest du diese Stimme ätzend und jene Grübchen super? Und warum holst du dir genau jetzt einen Kaffee? Oft genug kam wahrscheinlich einfach eine Anweisung »aus der Kulisse«.

Wodurch du »verrückt« wirst: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Wir Menschen sind so verschieden – jeder lebt in seinem eigenen Film. Und dennoch gibt es die Idee einer »Normalität« und einer »Norm«. Das bezeichnet nichts anderes als das, was mehrheitlich gedacht, gemacht und für okay gehalten wird. Die »Norm« ist der Punkt, an dem die meisten Menschen eine Schnittmenge haben. Wie aber kommt es zu Abweichungen von der Norm? Und warum werden Menschen ver-rückt? Dazu gibt es einige Modellvorstellungen. Eine besonders griffige möchte ich dir hier vorstellen.

Kurz gesagt, treffen zwei Faktoren zusammen: eine genetische Veranlagung plus Umweltbedingungen, die einen negativen Einfluss haben. Die Veranlagung für eine Erkrankung nennt man auch Vulnerabilität, nach dem lateinischen Wort für »Verwundbarkeit« oder »Verletzlichkeit«.

Deine Vulnerabilität ist so etwas wie deine persönliche Achillesferse. Es ist zum Beispiel möglich, dass du die Veranlagung für Bluthochdruck oder Neurodermitis geerbt hast. Wenn du jedoch ein gechilltes Leben führst und dich von auslösenden Faktoren fernhältst, kann es gut sein, dass du dennoch niemals Bluthochdruck entwickelst und dich für immer wohlfühlst in deiner Haut. Eine genetische Veranlagung zu haben bedeutet nicht, dass du auf jeden Fall die entsprechende Symptomatik entwickelst, sondern nur, dass die Möglichkeit besteht.

Für psychische Erkrankungen gilt das Gleiche: Ausgeprägt ängstlich oder depressiv zu reagieren, liegt manchen Menschen in den Genen. Auch die Neigung, eine Abhängigkeit zu entwickeln, wurde dir vielleicht bereits in die Wiege gelegt. Aber noch mal: Wir sprechen über eine Veranlagung, nicht über ein unausweichliches Schicksal. Denn ganz entscheidend ist darüber hinaus, wie du lebst und welche Erfahrungen du machst, was dir vorgelebt wird und welchem Druck du ausgesetzt bist.

Stell dir vor, du trennst einen glibberigen Klumpen Fischlaich in zwei Hälften. Die eine Hälfte gibst du in ein großes, lichtdurchflutetes und nährstoffreiches Gewässer – ein richtiges Fischparadies! Die andere Hälfte kommt in einen brackigen Tümpel. Was würdest du vermuten, wie sich die Fische jeweils entwickeln? Es ist wahrscheinlich, dass unter den schlechten Bedingungen mehr Erkrankungen zutage treten als unter den günstigen Bedingungen. Es ist aber ebenfalls möglich, dass auch in dem traumhaft schönen Gewässer einige Fische erkranken. Und es wird Fische geben, die trotz der schwierigen Umstände in dem Brackwassertümpel zu glücklichen Quappen und gesunden Prachtexemplaren heranwachsen. Paradiesische Umstände schützen nicht vor Erkrankung. Und belastende Umstände machen nicht automatisch krank. Wir reden über die vielschichtige Kombination aus Einflüssen und Möglichkeiten. Mehr oder weniger. Einerseits, andererseits. Sowohl als auch. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei den Fischen unter den ungünstigen Tümpelbedingungen mehr genetisch veranlagte Erkrankungen vorkommen, ist aber klar erhöht. Je artgerechter und besser versorgt, genährt und geschützt ein Lebewesen groß wird, desto mehr Aussicht hat es, gesund zu bleiben.

Krabbeln wir mal wieder an Land und sprechen über deine widrigen Umstände. War dein Großwerden immer so »artgerecht«, wie du es gebraucht hättest? Vielleicht gab es auch in deiner Entwicklung ungünstige Einflüsse, die sich negativ auf deine (psychische) Gesundheit ausgewirkt haben und etwas zutage gefördert haben, worunter du heute leidest. Vielleicht wühlen Erfahrungen in deinem Unbewussten, die manchmal wie giftige Blasen an die Oberfläche des Bewusstseins ploppen und Unheil anrichten. Und nicht nur deine Biografie und deine Herkunft, auch deine aktuellen Lebensumstände können deine genetischen Verletzlichkeiten ungünstig befeuern.

Für alles, was uns menschliche Zweibeiner belasten kann, haben wir einen allgemeinen Oberbegriff gefunden: Stress. Dieser Begriff kommt ursprünglich aus der Werkstoffkunde. Wenn Materialien unter großen Druck gesetzt oder mechanisch stark gedehnt wurden, sprich: Wenn das Material großer Belastung ausgesetzt wurde, sprach man von Stress. Der österreichisch-kanadische Mediziner Hans Selye übertrug den Begriff 1936 erstmals auf die menschliche Psyche und hat damit eine allgegenwärtige und stets passende Zustandsbeschreibung geschaffen. »Stress« hat es unter die hundert Wörter des 20. Jahrhunderts geschafft. Wir nutzen den Begriff für kleine Alltagslästigkeiten genauso wie für große Turbulenzen im Leben. Obwohl er so unspezifisch und beliebig verwendet wird, scheinen wir alle ein gemeinsames Verständnis entwickelt zu haben, was gemeint ist, wenn jemand sagt: »Ich bin total gestresst!«

Krankenkassenstudien zeigen seit Jahren, dass sich über 80 Prozent der befragten Versicherten gestresst fühlen. Und etwa 30 Prozent geben an, diesen Stress nicht gut im Griff zu haben. Diese Menschen fühlen sich von ihrem Leben und von ihrem Alltag in einer Art und Weise unter Druck und Anspannung gesetzt, dass es nicht beherrschbar erscheint. Die große Belastung schädigt die Substanz. Von dem von der WHO beschriebenen »Zustand des Wohlbefindens«, in dem »die normalen Lebensbelastungen« bewältigt werden können, hat sich also laut eigener Auskunft fast jede dritte Person entfernt.8

Jede dritte Person? Moment, deckt sich das nicht ziemlich exakt mit der Aussage der DGPPN, dass mehr als jede vierte Person in Deutschland unter einer psychischen Erkrankung leidet?

Genau! Die Kombination aus einer genetischen Veranlagung und Stress im weitesten Sinne kann krank machen. Daher spricht man in der Psychologie vom Vulnerabilitäts-Stress-Modell, wenn man versucht zu erklären, was Menschen abrücken lässt von der Norm und wodurch Störungen verursacht werden.

Für alle hier beschriebenen Störungsbilder gilt: An der genetischen Veranlagung lässt sich nichts ändern. Aber du hast es in der Hand, an deinen Lebensumständen, deinem Denken, deinem Verhalten und deinem Gefühl etwas zu verändern. Du bist vielleicht in einem brackigen Tümpel groß geworden, aber heute kannst du selbst für dich sorgen und Einfluss darauf nehmen, welcher Stress auf dich einwirkt. Und darüber hinaus kannst du selbst entscheiden, welche Nervenverknüpfungen du stärkst und welche du nicht mehr so oft nutzen möchtest.

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Person B ist durch ihre genetische Vulnerabilität (das ist das Podest) näher an der Belastungsgrenze als Person A oder Person C. Daher reichen wenige Stresspäckchen, um schon in den gefährlichen Bereich zu kommen und schließlich, wenn die Belastungsgrenze überschritten wurde, Symptomatik zu entwickeln. Person C wiederum ist von ihrer genetischen Disposition robuster (das Podest ist flacher), und sie ist weiter weg von der Belastungsgrenze. Aber auch diese Person kann nicht unendlich viel Stress schultern. Irgendwann erreicht auch sie die Grenze und entwickelt eine individuelle Symptomatik. Mit welcher dieser Personen identifizierst du dich?

Dieses allgemeine Störungsmodell kann zur Erklärung aller psychischen Erkrankungen herangezogen werden. Gleichzeitig zeigt es auch, an welchen Stellschrauben du drehen kannst, wenn du deine Belastungsgrenze überschritten hast und in eine emotionale Schieflage geraten bist:

Du kannst die Symptome lindern.

Du kannst deine Belastungsgrenze nach oben schieben.

Du kannst Stresspäckchen abbauen, damit du nicht in die Gefahrenzone kommst.

Angstalarm

Mein Gehirn schlägt ständig Alarm! Wie werde ich die Angst los? Die kurze Antwort: gar nicht.

Entschuldige, dass ich so deutlich werden muss. Angst ist eine menschliche Grundemotion, und du kannst sie nicht loswerden. Das willst du aber auch nicht wirklich, denn Angst bewahrt dich Tag für Tag davor, dumme und gefährliche Dinge zu tun. Ohne das Gefühl der Angst, das sofort einen Fluchtimpuls auslöst oder uns von vornherein nahelegt, bestimmten Umständen auszuweichen, hätte die Gattung Mensch es erdzeitgeschichtlich betrachtet nicht sehr weit gebracht. Dann hätten ein paar forsche Steinzeitmenschen gesagt: »Ach schau, ein unbekanntes fauchendes Tier, das gucke ich mir mal genauer an!« Und damit hätte sich das evolutionäre Experiment »Mensch« auch schon wieder erledigt. Erst mal gebührt der Angst also unsere Anerkennung und Dankbarkeit (so wie jeder Emotion). Aber dafür bist du nicht hier, stimmt’s?

Vielleicht hast du gezielt in dieses Kapitel hineingeblättert, weil du gequält bist von Ängsten. Die folgenden vier Aussagen können dir helfen, grob abzuschätzen, ob deine Angst aus psychologischer Sicht problematisch sein könnte:

Ich habe im Vergleich zu meinem Umfeld unverhältnismäßig häufig Angst.

Die Angst steht gedanklich und auch in meinem Verhalten oft im Vordergrund. Sie nimmt viel Raum in meinem Leben ein.

Ich habe auch dann Angst, wenn ich weiß, dass es gar keinen Anlass gibt oder dass meine Angst unverhältnismäßig und irrational ist.

Ich mache im Grunde nicht das, was ich möchte, sondern das, was die Angst zulässt.

Wenn du viermal genickt hast, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass du an einer Angststörung leidest. Dann ist dieses Kapitel für dich.

Tacheles über Angststörungen

Fakt 1: Angststörungen stellen weltweit die größte Gruppe der psychischen Erkrankungen dar. Frauen sind von Angststörungen doppelt so häufig betroffen wie Männer.

Fakt 2: Angststörungen kommen selten allein. Häufig gibt es gleichzeitig bestehende Erkrankungen. Man nennt das Komorbiditäten. Sowohl untereinander treten Angststörungen häufig parallel auf als auch gleichzeitig (oder in einer zeitlichen Abfolge) mit depressiven Störungen oder Suchterkrankungen.

Fakt 3: Menschen mit einer Angststörung sind in ihrer Lebensführung und in ihrer Arbeitsproduktivität durchschnittlich mindestens genauso eingeschränkt wie Menschen mit körperlichen Erkrankungen.9

Um es klar zu sagen: Sehr wenig oder gar keine Angst zu haben, ist eben genauso »verrückt«, wie sehr viel Angst zu haben. Angst ist an sich ein »normales« Gefühl. Sie will dich warnen und schützen, sie will dich zu Vorsicht und Weitsicht animieren und sie will dein Leben retten. So weit, so danke!

Stell dir aber vor, du hättest einen Feuermelder in der Küche, der blöderweise nicht nur lautstark anspringt, wenn es brennt, sondern sogar dann, wenn du nur Nudeln kochst und etwas Wasserdampf aufsteigt. Und es wird immer schlimmer: Der Feuermelder wird zunehmend empfindlicher und springt sogar an, wenn ein Luftzug vom gekippten Küchenfenster ihn streift. Jede kleinste Reizung reicht irgendwann aus. Es gibt also sehr, sehr häufig einen komplett überflüssigen Alarm in deiner Küche.