Pubertät: Loslassen und Haltgeben - Jan-Uwe Rogge - E-Book

Pubertät: Loslassen und Haltgeben E-Book

Jan-Uwe Rogge

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Beschreibung

Die Pubertät ist eine schwierige Zeit. Türen werden geknallt und Eltern für doof befunden. Was soll man denn tun, wenn Töchter oder Söhne wochenlang in abgerissenen Jeans und ungewaschenen Hemden herumlaufen und bei Vorwürfen nur mit der Spießerfahne winken? Und was soll man zu einer Mutter sagen, die sich ständig um die Meinung der Nachbarn sorgt und einen nur bis um 11 Uhr abends zur Fete lässt? Fest steht, Pubertät ist mühsam für alle Familienmitglieder, die Nerven liegen bloß. Aber der Nervenkrieg muss nicht sein, sagt Jan-Uwe Rogge, denn mit Pubertät lässt sich auch produktiv umgehen. Eltern dürfen in der Erziehung gerade jetzt nicht kapitulieren, denn Erziehung ist auch in der Pubertät möglich! Jugendliche brauchen den richtigen Spielraum für die Entfaltung ihrer Identität, Eltern müssen erkennen, dass die Verweigerung ihrer pubertierenden Kinder zu dem Wunsch gehört, sich auseinanderzusetzen, Grenzen auszutesten. Gerade in der Pubertät bildet sich die Vertrauensbasis für die spätere Beziehung zwischen Eltern und dann erwachsenen Kindern.

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Seitenzahl: 424

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Jan-Uwe Rogge

Pubertät – Loslassen und Haltgeben

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort zur überarbeiteten Neuausgabe

Krisen als Chance – Einführende Gedanken zur Pubertät

TEIL I – NICHT NUR DIE KINDER KOMMEN IN DIE PUBERTÄT ...

Eltern erleben ihre zweite Pubertät

Die Herausforderung der Väter

Wenn Vater und Mutter sich nicht einig sind

Wie Kinder sich zu Erwachsenen entwickeln

Den eigenen Körper akzeptieren

Veränderungen im Denken

Freundschaften

Die Suche nach den eigenen Werten

Loslassen der Eltern

Eine eigene Identität entwickeln

Körperbewusstsein, Selbstvertrauen und Sexualität

Vorpubertät oder Ruhe vor dem Sturm

Suchendes Lösen aus Familienbanden – Freundschaften zu Gleichaltrigen

Pubertät – der brodelnde Vulkan

Verfrühte Reifung

Scham und Schamgefühle

Schwul-Sein

TEIL II – PUBERTIERENDE WOLLEN ERZIEHUNG, PUBERTIERENDE BRAUCHEN ORIENTIERUNG

Vom Mut zur Gelassenheit und vom Mut zu Fehlern

«Ich will doch nur dein Bestes!»

Bloß nicht wie die eigenen Eltern werden!

Halt geben und Beziehung herstellen

Vertrauen ist Zutrauen

Wenn Eltern keinen Halt geben

Jugendliche brauchen Grenzen

Wer Regeln aufstellt, muss sie einhalten

Konsequent handeln

Wenn Grenzverletzungen ohne Folgen bleiben

Konsequenzen-«Killer»

TEIL III – KLASSISCHE KONFLIKTE IM FAMILIENALLTAG

Miteinander reden – miteinander streiten

In Kontakt treten – Atmosphäre herstellen

Ich-Botschaften sind keine Moralpredigten

Wie man Konfliktgespräche führt

Wiedergutmachungen

Fernsehen und Computer, Handy und Internet

Die Bedeutung von Medien im Alltag – einige Beobachtungen

Multimedial und Multifunktional – der Mediengebrauch von Jugendlichen

Musik

Das Handy

Computer und Spiele

Die Netzgeneration – «digital natives»?

Konsumwünsche und Selbstbedienungsmentalität

«Mein Sohn steht auf Markenklamotten!»

«Ich will aussehen, wie ich will!»

Schule und die leidigen Hausaufgaben

Hausaufgaben-Rituale

Nachhilfe – zu Hause und professionell

Der Start ins Berufsleben

TEIL IV – PUBERTÄT UND IHRE RISIKEN

Neuronen und Hormone – das Gehirn verändert sich

Autoaggressionen und Zerstörung als Hilferuf

Erwartungsdruck

Legale Drogen

Die sollen es besser haben

Fettleibigkeit

Magersucht und Bulimie

Tattoos und Piercing

Ritzen

Rauschtrinken und Komasaufen

Schule, Aggression und Gewalt

Psychoterror

Sachbeschädigungen

Leistungsdruck

Schulklima

Schulverweigerung

Mobbing

Prävention und Intervention

Gewalt, Medien und die Faszination des Computers

Ängste, Einsamkeit und Computersucht

TEIL V – NACHGEDANKEN

Abschließende Miniaturen

«Eine Frage habe ich doch noch!» Pubertät – kurz und bündig

Literatur

Internetseiten

Für Sebastian, von dem ich viel gelernt habe. Für Lars und Kai, für Tilman und Anna-Marthe, durch die ich sehr verschiedene Wege erfuhr, die Pubertät zu bestehen

(1998)

Für Sebastian, für Lars und Kai, für Tilman und Anna-Marthe, die erwachsen geworden sind und ihr Leben meistern

(2010)

VORWORT ZUR ÜBERARBEITETEN NEUAUSGABE

Als ich Mitte der neunziger Jahre begann, dieses Buch zu konzipieren und zu schreiben, ahnte niemand, dass es 2010 nahezu eine Viertelmillion Mal verkauft und zu einem der meistgelesenen Ratgeber über die Pubertät werden würde.

Ich habe von Beginn an viele Briefe und mündliche Kommentare nicht allein zur Publikation erhalten, viele Eltern kamen im Anschluss an Seminare und Vorträge auf mich zu, um mir für die Klarheit zu danken, mit der ich auf das vermeintlich schwierige Thema Pubertät eingegangen bin – aber auch für das Verständnis, mit dem ich die Pubertierenden beobachtet und beschrieben habe. «Ich kann mich jetzt besser in meinen Sohn hineinversetzen», erzählte mir einmal ein Vater. «Und zugleich bin ich in meiner Erziehungshaltung gestärkt worden. Sie haben mir Mut gemacht, in Kontakt zu meinem Sohn zu bleiben, aber auch zu erziehen, ohne perfekt sein zu müssen.» Und eine Mutter schrieb mir: «Ich möchte mich für Ihr Buch bedanken. Wenn es kritisch wurde mit meinen beiden pubertierenden Töchtern, dann habe ich es abends in die Hand genommen, darin geblättert, gelesen… Es war wie ein Trostbüchlein… Ich habe dann gemerkt, wie klasse ich bin und wie toll meine Töchter sind… Danke!»

Obgleich das Buch für Erwachsene, für Eltern und Großeltern, für Pädagogen und Erzieher geschrieben war, haben es auch Pubertierende gelesen. Eine der schönsten Zuschriften kam von Ben, 15Jahre alt: «Ihr Buch ist spitze! Ich habe es meinen Eltern gekauft, damit die es nicht so schwer mit mir haben!… Die haben’s gelesen. Und vieles lief tatsächlich besser. Obgleich es manchmal ein echt uncooles Buch ist, weil sie so viele unserer Tricks verraten haben… Nur noch ein Vorschlag: Sie sind wohl ein Offliner! Was Sie da über Medien schreiben, ist absolute Steinzeit. Gehen Sie mal online und schreiben auch darüber, dann wird Ihr Buch noch besser!… Bis bald. Vielleicht online… Trotzdem: Ein cooles Buch!»

Ich gebe es zu: JA, ich bin ein «digital immigrant», wie jene Leute bezeichnet werden, die mit Lesen, Radio, Kino und Fernsehen groß geworden sind und die erst im reiferen Alter die digitale Welt zögernd und vorsichtig erkundet haben, die erst spät ein Mobiltelefon kennengelernt und mühsam erlernt haben, eine SMS zu verschicken, die nachdenklich durch Internetportale in die «schöne neue Welt» gehen nun twittern und skypen können, aber trotzdem das persönliche Gespräch vorziehen. Immigrant bleibt eben Immigrant – ob nun digital, virtuell oder real.

Und trotzdem hat Ben natürlich recht: Manche Themen haben sich in den letzten fünfzehn Jahren verändert, die eine Überarbeitung meines Buches notwendig machten: angefangen bei den medienbezogenen Erfahrungen Heranwachsender (z.B. Handy, Internet, Facebook oder Wikipedia), über Beschleunigungstendenzen in der Entwicklung (z.B. verfrühte Reifungsprozesse, Leistungsdruck), die Erkenntnisse der Hirnforschung (z.B. das Zusammenspiel von Hormonen und Neuronen) bis hin zu veränderten Alltagserfahrungen, die Probleme in der Entwicklung mit sich bringen können (z.B. der Körper als Kampffeld, Ritzen, Rauschtrinken, legale Drogen, Aggression und Gewalt).

Doch eines wird mir im Kontakt mit Pubertierenden wie deren Eltern immer bewusster: Da wachsen mehrheitlich Jugendliche heran, die allen äußeren Widrigkeiten zum Trotz selbstbewusst und eigenständig ihr Leben angehen und meistern. Und da sind Eltern, die ihren in die Welt hinausziehenden Kindern Geleit geben, die sich bemühen, einen guten Erziehungsjob zu machen – und das unter manchmal nicht ganz leichten Umständen.

Ich wünsche den Lesern und Leserinnen viel Spaß mit diesem Buch, Erkenntnisse, vermischt mit Humor, Lachen und Schmunzeln über sich und gemeinsam mit den Pubertierenden, auf dass es Eltern gelingt, gleichzeitig loszulassen und Halt zu geben, damit Kinder lernen, auf eigenen Füßen zu stehen.

KRISEN ALS CHANCE – EINFÜHRENDE GEDANKEN ZUR PUBERTÄT

«Ich verstehe meinen Sohn nicht mehr», klagt die Mutter des 14-jährigen Sven, «er zieht sich in sein Zimmer zurück, ist völlig in sich gekehrt, kein freundliches Wort kommt mehr von ihm, nichts!» Sonjas Vater unterbricht sie beinahe: «Seit die 12 ist, setzt es ganz offensichtlich bei ihr aus. Ich wage sie kaum noch anzusprechen, weil sich sofort ein Riesenkonflikt entwickelt. Gut, ich versteh das mit der Pubertät, aber so dünnhäutig war ich – glaube ich jedenfalls – nicht.» Schmunzelnd ergänzt eine andere Mutter: «Ich hab gleich zwei davon. Robert ist 15, und Gabi ist 11.Das ist katastrophal. Rückzug auf der ganzen Linie ist angesagt. Die Zimmer der beiden sehen aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Bei Robert stinkt es wie in einer Pumahöhle. Dass dort noch keine Epidemie ausgebrochen ist, wundert mich ehrlich. Die leben nach dem Motto: Die im Dunkeln sieht man nicht!» Nun redet sie sich richtig in Rage. «Aber wehe, man lässt sie links liegen, dann kommen sie aus ihrer Höhle gekrochen, sind muffelig und giften einen an, man würde sich nicht um sie kümmern.»

So klingen die Klagen, die Kommentare von verwunderten Eltern, deren Kinder gerade in die Pubertät kommen oder mittendrin sind. Für viele Eltern symbolisieren pubertierende Kinder die permanente Krise, von der sie manchmal glauben, dass sie nie ein Ende findet. Zwar hoffen sie, dass dieses Stadium schnell vorübergeht, «damit’s endlich wieder normaler wird», wie eine Mutter von drei pubertierenden Kindern seufzend anführt. «Aber wenn alle voll im Clinch sind, du nicht mehr ein noch aus weißt, die Schwiegereltern über die Jugend von heute lamentieren, dann meinst du, die Pubertät habe nie ein Ende. Das würde jetzt so bis in alle Ewigkeit weitergehen.»

Ich weiß: Wer mit Heranwachsenden in der Pubertät zu tun hat, bekommt ein ganz eigenes Zeitgefühl, das zwischen Extremen schwankt. Da sitzt man eben noch friedlich mit dem Sohn oder der Tochter zusammen, genießt die Ruhe, die sich Sekunden später als Augenblick vor dem Sturm erweist und sich blitzschnell in ein Gewitter entlädt. Oder diese nervtötend lange Zeit, in der man immer wieder mit dem Heranwachsenden im Streit um dasselbe Thema liegt – Kleidung, Haarschnitt, Hausaufgaben. Man dreht sich wie auf einem Karussell im Kreis und hat schließlich das Gefühl, die Auseinandersetzung ginge nie zu Ende.

Die Pubertät ist jedoch ein Durchgangsstadium – sie hat einen Anfang und (meistens) ein Ende – für die Heranwachsenden wie für die Eltern. Viele Eltern fürchten sich vor der Pubertät ihrer Kinder, weil sie diese Zeit auf Konflikte reduzieren, mit Krisen gleichsetzen. Pubertät bedeutet aber nicht automatisch eine Krise. Die Pubertät ist vor allem eine Phase des Wandels, der Veränderung und der Entwicklung, aus der sich dann Krisen ergeben können. Diese Krisen sind eine Chance – für die Eltern wie für die Jugendlichen–, um zwischenmenschliche Beziehungen neu zu bestimmen. (Ver-)Wandlungen, (Ver-)Änderungen und Entwicklungen prägen wie selbstverständlich Pubertätsverläufe. Sie können sich allerdings, typ- und temperamentsbedingt, höchst verschieden darstellen. Während einige Heranwachsende ihre Entwicklung grell, schrill und provokativ inszenieren und durchleben, ziehen sich andere von der Außenwelt zurück, kapseln sich ab, richten sich in den Innenwelten ihrer Phantasien, Träume und ihres Weltschmerzes ein.

Wenn ich mit Eltern, Großeltern oder pädagogisch Handelnden rede, so bemerke ich: Viele Erwachsene haben nur eine arg begrenzte und enge Vorstellung von dem, was bei Heranwachsenden normal und selbstverständlich ist. Schnell wird vermutet, das Verhalten von Jugendlichen sei entwicklungsgestört, ja pathologisch. Doch so kann man den vielfältigen und komplexen Entwicklungsverläufen nicht gerecht werden.

Gelassenheit ist notwendiger denn je! Das soll heißen: Ich möchte Eltern die große Variationsbreite von Verhaltensweisen vermitteln, die sich während der Pubertät zeigen können und die vollkommen «normal» sind. Nur wenn Eltern ihre Kinder so annehmen, wie sie sind, nur dann können Eltern den Gedanken loslassen, sie wohnten mit einem Zombie, Chaoten oder Außerirdischen unter einem Dach. Um ihnen dieses Gefühl von Normalität zu geben, erzähle ich eine Geschichte, die angeregt ist von einer Bemerkung der französischen Kinder- und Jugendpsychiaterin Françoise Dolto: «Wenn der Hummer den Panzer wechselt, verliert er zunächst seinen alten Panzer und ist dann so lange, bis ihm ein neuer gewachsen ist, ganz und gar schutzlos. Während dieser Zeit schwebt er in großer Gefahr. So ungefähr geht es Jugendlichen.»

Es ist die Geschichte vom Hummer Rune. Rune lebt in der Tiefe des Ozeans. Das Meer hat einen felsigen Untergrund und viele Höhlen, die zum Verstecken einladen. Rune fühlt sich sicher, denn Hummerkinder, so weiß er, werden niemals gefangen, vielmehr gepflegt und gefüttert. Und was danach kommt, interessiert Rune nicht. Rune spürt, dass das Fleisch unter seinem Panzer wächst, sein Panzer längst zu klein ist, er zwickt, kneift, passt nicht mehr. Und als Rune seinen Panzer nicht mehr sehen kann, wirft er ihn ab – so, wie es sein Bruder Ari schon getan hat. Aber Ari hat ihm gesagt, wie gefährlich es ohne Panzer werden könnte. «Mach dich unsichtbar», gab er Rune mit auf den Weg und verschwand. Rune wirft seinen Panzer ab. Schmackhaftes Fleisch kommt zum Vorschein, zu wenig für die Fischer, aber eine Delikatesse für die zahlreichen Feinschmecker unter dem Meeresgetier. Deshalb flieht Rune in eine Felsenhöhle, wandert ganz tief hinein, so tief, dass ihm keiner gefährlich werden kann, und ernährt sich von dem Essbaren, das er in der Höhle findet. Hier ist es warm, gemütlich, dunkel. Rune ist allein, genießt diese Einsamkeit und träumt davon, wie es alles wohl werden wird, wenn er erst mal erwachsen ist. Dann würde er – mit einem neuen Panzer – ausziehen und hinaus in die Welt gehen, dorthin, wo seine erwachsenen Verwandten leben. Es musste dort schön sein, denn er hatte seinen Bruder und andere nicht mehr wiedergesehen, nachdem sie sich auf den Weg gemacht hatten. Im Dunkel der Höhle wächst das Fleisch und drum herum ein ansehnlicher Panzer. Rune fühlt sich allmählich sicherer und geschützter. Als sein Panzer fest und groß genug ist, verlässt er die Höhle, macht sich auf und davon, verlässt die verdreckte, miefige und stickige Höhle, die ihm nun zu eng ist. Rune will jetzt die Welt kennenlernen und allen seinen neuen Panzer zeigen.

Wenn ich diese Geschichte erzähle, dann nicken viele Eltern, vergleichen den Hummer mit ihrer Tochter oder ihrem Sohn, die sich auch in die Zimmer zurückziehen, unansprechbar, unansehnlich, verträumt und empfindlich sind. «Hummerhöhle», entfuhr es vor einiger Zeit einer Mutter, «Hummerhöhle, genau. So ist’s bei meiner Juliane auch: Gardinen zu, tagelang wird nicht gelüftet, halbvolle Teetassen auf dem Boden, Pizzareste, Klamotten verstreut, Juliane zerstreut. Und dann», die Mutter hält sich die Nase zu, «dieser Geruch. Da brauchst du ’ne Nasenklammer, um das Zimmer zu betreten.» – «Ich nehm ’ne Spraydose mit», ruft ein Vater dazwischen, «Frühlingsdüfte heißt das Zeug, weil man sonst den Mief nicht aushält. Tja, so einen Hummer habe ich also auch zu Hause. Hoffentlich bleibt er nicht in der Höhle, bis er vergammelt.»

Aber nicht in jedem Fall verläuft die Pubertät wie bei dem Hummer, der sich zurückzieht. Das Spektrum der Verhaltensmöglichkeiten ist groß. «Ich wünschte», kommentiert die Mutter des 13-jährigen Stefan, «mein Sohn hätte etwas von diesem Tier und zöge sich zurück. Aber er breitet sich aus, hinterlässt überall im Haus seine Spuren, setzt seine Duftmarken und lässt jeden an seiner Pubertät teilhaben. Ich würde ihm gerne eine Hummerfalle bauen und ihn zum Rückzug in sein Zimmer locken.» Pubertät kommt anders, als es sich Eltern denken. «Bei den beiden Ältesten hab ich die Horrorgeschichten, die ich von anderen Eltern über die pubertierenden Kinder hörte, nicht geglaubt. Ich dachte, die übertreiben maßlos. Aber dann kam der Jüngste, der Jan, in seine Jahre. Der forderte mich, tja, überforderte mich teilweise. Obwohl ich doch zwei Kinder durch die Pubertät begleitet hatte, dachte ich mit einem Mal, ich bin unfähig. Jan hat’s mir richtig gezeigt.»

Viele Eltern beziehen die Erziehungsprobleme, die in der Pubertät ihrer Kinder auftreten, auf sich, sehen sich als Schuldige, als Versager. Eltern vergleichen sich mit anderen Eltern, bei denen es vermeintlich besser, ja reibungsloser läuft. Eltern vergleichen ihre Heranwachsenden mit anderen und seufzen verzweifelt: «Warum kann mein Kind nicht auch so freundlich und hilfsbereit sein!» Aus dieser Sichtweise resultieren Ungeduld, Machtkämpfe, gegenseitige Schuldzuweisungen und ungerechte Vorwürfe. Probleme in den Eltern-Kind-Beziehungen sind während der Pubertät normal, weil sich in dieser Zeit veränderte Beziehungen aufbauen und entwickeln, weil alte Gewohnheiten zerbrechen und sich neue einstellen müssen. Die damit einhergehenden Krisen sind für Eltern eine Chance, in eine neue partnerschaftliche Beziehung zu den heranwachsenden Kindern zu treten, eine Beziehung, die nicht auf Macht, Kontrolle und Manipulation aufbaut, sondern von gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Achtung geprägt ist, eine Beziehung, in der Eltern Vorbilder sind, weil sie ihren Kindern vier Prinzipien vorleben:

Ich nehme dich so an, wie du bist!

Ich nehme mich so an, wie ich bin!

Ich bin nicht für dein Tun verantwortlich, du bist es für dich!

Ich bin für mich und mein Tun verantwortlich, du nicht für mich!

Diese Grundsätze gründen auf einer Spannung von Loslassen und Haltgeben, von Distanz und Nähe, von Ablösung und Begleitung. So hat der Heranwachsende das Recht auf eine individuelle Entwicklung. Genauso notwendig sind die Grenzen zwischen den Generationen. Der innere und äußere Auszug aus dem Elternhaus sind wichtig. Eltern müssen ihre Kinder in der Pubertät loslassen. Nur wer sich aus den Augen verliert, kann sich neu finden. Loslassen und Ablösung sind mit wachsenden Freiheiten für die Heranwachsenden verbunden. Doch gehört zur Freiheit auch, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, mit den Folgen von Aktivitäten und Taten konfrontiert zu werden. Freiheit und Verantwortung gehören untrennbar zusammen. Freiheit ohne Verantwortung endet im Chaos und lässt überdies nicht zu, dass sich eine autonome Persönlichkeit ausbildet.

Auch wenn die physischen und psychischen Veränderungen, die Heranwachsende durchleben, nicht parallel verlaufen müssen, so stellt sich die Pubertät doch als eine Phase der körperlichen, sexuellen und sozialen Destabilisierung dar. Sie ist ein Durchgangsstadium zu Selbstbewusstsein, zu einer eigenen Identität. Der Pubertierende lebt in einer Zwischenwelt, in der es keine Eindeutigkeiten gibt. Das ist eine Welt der Zerrissenheit: Auf und Ab, Höhen und Tiefen, Trauer und Glück, himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, stark und schwach, ein einziges Pendeln zwischen Größenphantasien und Im-Boden-Versinken. Kurz gesagt: Die ständigen und plötzlichen Veränderungen sind das einzig Eindeutige.

Das Durchgangsstadium Pubertät ist für die Heranwachsenden eine anstrengende Lebensphase. Sie spüren die Entwicklungsaufgaben, die nicht selten mit Druck und Stress verbunden sind. Und obwohl sie sich von den Eltern zurückziehen, sie abwerten und sich manchmal zweifelhaften Freunden zuwenden, brauchen sie Halt. Halt ist jedoch nicht zu verwechseln mit Klammern. Notwendig wird eine Neugestaltung der Erziehungsbeziehungen. Wer sich also aus den Beziehungen zu Heranwachsenden verabschiedet, der lässt diese allein, ohne Bindung, ohne Vorbild.

Die Phase der Pubertät ist, wie die Geschichte vom Hummer verdeutlicht, eine Zeit, in der viele Risiken und Gefährdungen lauern: Drogen, Alkohol, Selbstüberschätzung (etwa im Sport oder im Straßenverkehr), Schulängste oder -verweigerungen, Selbstmordversuche. Und es gibt Gefährdungen, die aus problematischen Eltern-Kind-Beziehungen resultieren: Da gibt es etwa ein übertriebenes Harmoniebedürfnis, das Reibung und Ablösung nicht zulässt. Oder da stellt der eiserne Besen trügerische Ruhe und Ordnung her. Da herrscht nicht selten emotionale Leere, die den Bedürfnissen der Heranwachsenden nach Zuwendung und Nähe keine Rechnung trägt. Oder Eltern verkennen den Wandel, den ihre Kinder durchleben, sehen nicht, dass sie nach Erfolgserlebnissen streben, eigene Fähigkeiten ausprobieren und durch ihre Bemühungen ihre Zugehörigkeit zur Familie und Gesellschaft beweisen wollen.

Es gibt keine Entwicklung ohne Risiko, ohne Gefährdung, ohne Um- und Irrwege. Es bleiben Restrisiken, die selbst positive Rahmenbedingungen durch Elternhaus, Schule und andere Institutionen nicht völlig ausschließen können. Doch man kann sehr wohl die Bedingungen formulieren, die Heranwachsenden in der Pubertät die notwendige Orientierung vermitteln:

eine haltgebende Um- und Mitwelt, die Interesse am Heranwachsenden, seinen Bedürfnissen und Interessen signalisiert.

Bezugspersonen– Eltern, Lehrer, Freunde, Bekannte–, die ihr Verhalten durchsichtig machen und die das verlässlich vorleben, was sie ausdrücken und meinen.

Bezugspersonen, die den Heranwachsenden achten und respektieren und zugleich Achtung und Respekt einfordern, die den Heranwachsenden so annehmen können, wie er oder sie ist.

Bezugspersonen, deren Handeln von Konsequenz, Verlässlichkeit und Vorhersagbarkeit geprägt ist und sich nicht negativ durch Strafe und Willkür auszeichnet und damit die Persönlichkeit des Jugendlichen missachtet.

Dies hört sich einfacher an, als es in der täglichen Erziehungspraxis umzusetzen ist. Der Heranwachsende fordert ja heraus, will anecken, sich reiben, sich an Grenzen stoßen, sie niederreißen, übertreten, verletzen und geringschätzen. Die Zwischenwelt der Pubertät scheint wie geschaffen für Ausbruchsversuche und Grenzverletzungen. Jugendliche fühlen wohl unbewusst: Wann – wenn nicht jetzt? Um es vorweg zu sagen: Ich habe auch meine Schwierigkeiten mit manchen pubertären Grenzverletzungen, mit rüpelhaftem, unsozialem, (selbst-)zerstörerischem Verhalten. Ich habe Schwierigkeiten mit medialen Horrorszenarien oder unendlichen Saufgelagen, in denen man sich nur zuschüttet, um schnell «abzukotzen», wie es der 15-jährige Ulrich einmal ausdrückte. Aber dennoch habe ich den Eindruck, dass die manchmal extremen Grenzüberschreitungen von Erwachsenen häufig falsch bzw. nicht in angemessener Form bewertet werden.

Die Heranwachsenden werden vorschnell pathologisiert, wenn sie Grenzen verletzen, wenn sie phantasielos, gewalttätig, hedonistisch, unsozial, nicht leistungsbereit sind und dem Konsumrausch verfallen. Sie werden von einer «Das-hat-es-bei-uns-nicht-gegeben»-Haltung als fleischgewordene Symbole für den drohenden Untergang der abendländischen Kultur hingestellt. Eine derartige Einschätzung spielt eine harmonische Vergangenheit gegen eine konfliktträchtige, ja apokalyptische Gegenwart aus. Sie klärt nicht auf, sie vernebelt, verängstigt, macht handlungsunfähig und installiert Verständnislosigkeit zwischen den Generationen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, was hier gemeint ist: «Wenn Väter ihre Kinder einfach gewähren und laufen lassen, wie sie wollen, und sich vor ihren erwachsenen Kindern geradezu fürchten, wenn Söhne schon sein wollen wie die Väter, also ihre Eltern weder scheuen und fürchten noch sich um ihre Worte kümmern, sich nichts mehr sagen lassen wollen, um ja recht erwachsen und selbständig zu erscheinen, wenn Lehrer vor ihren Kindern und Schülern zittern und ihnen lieber schmeicheln, statt sie sicher mit starker Hand auf einen geraden Weg zu führen, sodass sich diese Schüler aus diesen Lehrern nichts mehr machen, wenn es überhaupt schon so weit ist, dass sich die Jüngeren den Älteren gleichstellen, ja gegen sie auftreten in Wort und Tat, die Älteren sich aber unter die Jungen setzen, um sich ihnen gefällig zu machen, indem sie ihre Albernheiten übersehen oder gar daran teilnehmen, damit sie ja nicht den Anschein erwecken, als seien sie Spielverderber oder gar auf Autorität versessen: Wenn auf diese Weise die Jungen allmählich aufsässig werden und sich alsbald verletzt fühlen, wenn ihnen jemand den geringsten Zwang antun will, wenn sie am Ende dann die Gesetze verachten, um nur ja keinen Gebieter über sich zu haben – so führt dieser Missbrauch der Freiheit und Demokratie geradewegs in die Knechtschaft der Tyrannis.» Diese Worte sprach der griechische Philosoph Plato bereits vor 2400Jahren.

Nun will ich nicht behaupten, es sei mit der Pubertät immer schon so gewesen. Pubertätsverläufe – darauf hat der Soziologe Helmut Fend in seinen eingehenden Untersuchungen hingewiesen – sind von komplexen politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen abhängig, ihre inneren wie äußeren Erscheinungsbilder stellen sich höchst unterschiedlich dar. Aber wenn man sich die Geschichte der Jugend, die Geschichte der Pubertät durch die Jahrhunderte anschaut, fällt eines auf: Das Zwischen- und Entwicklungsstadium Pubertät bringt Veränderungen mit sich, die allen Beteiligten offensichtlich Angst machen. Frühere Zeiten versuchten die Unsicherheit durch Riten und Rituale in den Griff zu bekommen, mit denen man Jugendliche in das Erwachsenenalter leitete. Unsere Zeit kennt solche Riten und Rituale immer weniger, ja, man hat sie sogar abgeschafft. Doch leben solche Rituale gewissermaßen in den Gruppen der Gleichaltrigen fort – in den Saufgelagen, den Treffen an einer zugig-kalten Bushaltestelle, in den verschworenen Cliquen, die sich in einer Geheimsprache verständigen.

Wenn man Jugendliche vorschnell stigmatisiert oder abstempelt, nimmt man wie durch eine Taucherbrille nur das wahr, was man sehen und kommentieren will. Ebenso wenig hilft die entgegengesetzte Haltung, die für jede Grenzverletzung Nachsicht zeigt. Pubertierende verachten dauernd verständnisvolle Erwachsene, nehmen sie nicht ernst. Und dies scheint, wie das Zitat von Plato zeigt, nicht erst für unser Jahrhundert zu gelten. Mit Grenzüberschreitungen fordern Heranwachsende heraus: Sie wollen ein einfühlendes, ihrem Alter angemessenes Verstehen von den Erwachsenen. Aber es verwirrt sie, wenn Verständnis mit Akzeptanz gleichgesetzt wird. Für Eltern und pädagogisch Handelnde gilt somit: Wer sich in Jugendliche und in deren – manchmal zerstörerische – Aktivitäten hineinversetzt und bestimmte Handlungen als Ausdruck von Pubertätskrisen deutet, darf dies nicht mit nachsichtiger Akzeptanz verwechseln. Auch durch Vandalismus und Zerstörung wollen Pubertierende – so merkwürdig es auch klingt – eine Auseinandersetzung über Gut und Böse, Richtig oder Falsch führen, eine Auseinandersetzung, in der der Erwachsene Partner und Kontrahent zugleich ist.

Und in diesen Auseinandersetzungen reagieren Heranwachsende äußerst sensibel auf falsche Töne – auch wenn dies in merkwürdigem Widerspruch zu ihren Worten und Taten stehen kann. Erwachsene neigen dazu, Heranwachsende und ihr Verhalten in einen Topf zu schmeißen: «So etwas macht man nicht. Bist du denn völlig durchgeknallt?» Oder: «Mach nur so weiter, dann wirst du schon sehen, was du davon hast!» Dann folgt nicht selten ein Bruch der Beziehung, ein Stillstand der Kommunikation, ein drastischer Gefühlsausbruch oder ein erbitterter Machtkampf. Pubertierende wollen auch dann als Person angenommen sein, wenn sie Grenzen überschritten haben. Kritik an ihren Handlungen können sie aushalten und annehmen, wenn die persönliche Würde respektiert wird und unangetastet bleibt – nach dem Grundsatz: «Ich mag dich. Doch was du getan hast, war nicht in Ordnung!»

«Aber das ist», so wirft Adrians Mutter ein, «das ist verdammt schwer, vor allem, wenn etwas passiert ist. Als mein Sohn neulich von der Polizei nach Hause gebracht wurde, weil er im Kaufhaus etwas geklaut hatte, da brach für mich eine Welt zusammen. Ich wollte schreien, aber dann sah ich Tränen in seinen Augen. Adrian wollte mich nicht unter Druck setzen. Das waren Tränen der Verzweiflung, der Trauer, der Scham. Da hab ich ihn in den Arm genommen. Ich hab ein gutes Gespür gehabt. Er musste den Schaden sofort wiedergutmachen. Aber Sie hätten die Reaktionen meiner Eltern hören sollen: Schimpf und Schande! Die sehen ihn schon als Verbrecher. Aber ehrlich, ich bin froh, wenn er diese Pubertät, diese Zeit, hinter sich hat. Diese ständigen Aufs und Abs, die machen mich fertig!»

In vielen Seminaren und Gesprächen werde ich darauf angesprochen, ob der Begriff Pubertät nicht unzeitgemäß sei, weil er verengt, ob Begriffe wie Adoleszenz oder Jugendalter nicht angemessener wären. Tatsächlich beschreibt die Pubertät – von lateinisch pubes: Schamhaar, pubertas: Geschlechtsreife – zunächst nur körperliche Veränderungen, also jene Zeit im Anschluss an die Kindheit, in der sich die Geschlechtsreife entwickelt und sich der kindliche in einen erwachsenen Körper verwandelt. Veränderungen – häufig zeitlich versetzt – vollziehen sich auch in den geistigen, seelischen und gefühlsmäßigen Persönlichkeitsanteilen: Das Denken wird abstrakter, die Welt, die Zukunft werden zum Thema. Größenphantasien und Verzweiflung gehen nicht selten Hand in Hand. Der Begriff der Adoleszenz beschreibt damit die psychischen, emotionalen und sozialen Veränderungen. Deshalb unterscheiden einige Autoren zwischen Pubertät und Adoleszenz und bestimmen die Begriffe so: Während die Pubertät vom 11. bis zum 15.Lebensjahr dauert, beginnt die Adoleszenz etwa im 14.Lebensjahr.

Ich spreche durchgängig von Pubertät, weil ich die Wechselwirkung von körperlichen, geistigen und gefühlsmäßigen sowie sozialen Veränderungen betonen möchte. Dabei unterscheide ich drei Phasen: Die Vorpubertät (erste Phase) reicht vom 11. bis 14.Lebensjahr. Die «eigentliche» Pubertät (zweite Phase) lässt sich zwischen dem 14. und 16.Lebensjahr verorten. Es versteht sich, dass diese Zeiteinteilung idealtypisch ist. Die Phasen können sich nach vorn oder nach hinten verschieben. Die Nachpubertät umfasst den Zeitraum zwischen dem 16. und 18.Lebensjahr (dritte Phase). Auffällig sind gegenwärtig einerseits frühzeitigere körperliche Reifungsprozesse (Gestaltwandel, Menstruationsbeginn, Samenerguss), die den Beginn der Pubertät nach vorn verlagern. Andererseits kann sich die Nachpubertät bis in das 24.Lebensjahr hinein verschieben.

Die Vorpubertät zeichnet sich durch einschneidende körperliche, psychische und geistig-seelische Veränderungen aus, die starke Verunsicherungen mit sich bringen. In der zweiten Phase streift der Heranwachsende seine Kindheit ab und beginnt, eine eigene Identität zu entwickeln. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf der ersten und zweiten Phase.

In der Nachpubertät geht es vor allem um die Umgestaltung der Beziehung zu den Eltern und ein allmähliches Hineinwachsen in die Gesellschaft. Der Heranwachsende zieht aus, lebt seinen eigenen Alltag. Aus der schroffen Ablehnung der Eltern in der (Vor-)Pubertät entsteht eine allmähliche Wiederannäherung. Die Erziehungsbeziehung, die so prägend für die Kindheit ist, verändert sich hin zu einer partnerschaftlichen, gleichwertigen Beziehung.

Drei Grundgedanken durchziehen dieses Buch, die Ihnen in den verschiedenen Kapiteln immer wieder begegnen werden:

Viele Eltern scheuen Konflikte und Auseinandersetzungen mit ihren Heranwachsenden, sind gar der Meinung, die Erziehung sei in der Pubertät am Ende. Erziehung hat aber mit Beziehung zu tun, mit beharrlicher, nicht immer harmonischer Beziehungsarbeit. Wer sich aus der Erziehung zurückzieht, zieht sich aus der Beziehung zurück, lässt Jugendliche allein. Zerstörerische Aktivitäten von Pubertierenden sind Hinweise darauf, dass Heranwachsende hilflos um Hilfe, nach Zuwendung, nach Annahme schreien. Eltern und alle Erwachsenen, die mit Pubertierenden zu tun haben, müssen ermutigt werden, eine Erziehungsbeziehung einzugehen.

Auch wenn sich der Pubertierende zurückzieht und die Kontaktaufnahme verweigert, auch wenn sich Kommunikation als schwierig erweist, so ist es doch wichtig, im Gespräch zu bleiben, Normen und Werte zu vermitteln. Nur in der Reibung, nur im Abarbeiten an vorgelebten Modellen kann der Pubertierende diese prüfen und übernehmen. Kritik und Streit, Absetzung und Ablehnung kennzeichnen diesen Vorgang. Und Jugendliche wollen Respekt und Achtung. Sie verlangen, ernst genommen zu werden. Darauf haben sie ein Anrecht! Aber partnerschaftliche Beziehungen schließen auch ein, dass Heranwachsende ihre Eltern achten und respektieren. Wenn Eltern eigene Bedürfnisse um des lieben Friedens willen hintanstellen, führt das schnell dazu, dass Pubertierende die Bedürfnisse ihrer Eltern mit Füßen treten.

Nicht allein der Heranwachsende durchlebt die Phase der Pubertät. Dies gilt gleichermaßen für Väter und Mütter. Auch sie erleben körperliche Veränderungen. Das Familienleben «pubertiert». Nicht selten steht mit der Pubertät der Kinder deren baldiger Auszug bevor. Aus der elterlichen Konzentration auf die Kinder, aus der familiären Gemeinsamkeit entwickelt sich eine neue Partnerschaft, eine veränderte Zweierbeziehung von Vater und Mutter. Während der Pubertät ist also nicht allein der Heranwachsende in Bewegung, dies gilt auch für die Eltern. Mir fällt auf, wie wenig dieser Gesichtspunkt von Eltern gesehen und vor allem gelebt wird. Der Auszug der Kinder kann der Beginn einer neuen gemeinsamen Etappe sein. Wird dieser Aspekt unterschätzt, kommt es nicht selten zum Stillstand in den Paarbeziehungen. So ist es wohl kein Zufall, wenn mit dem Auszug der Kinder manchmal ein Ehepartner auszieht und in eine andere Beziehung flieht. Die Pubertät stellt eine spannende Phase in den Eltern-Kind-Beziehungen dar – voller Dramatik, voller kleinerer und größerer Konflikte, voller intensiver Gefühle–, eine Phase, deren Sinn und Tiefe manchmal erst im Nachhinein geschätzt werden.

Das Buch enthält Geschichten aus meiner Beratungs- und Seminarpraxis. Diese Geschichten regen häufig zum Schmunzeln an. Denn Lachen befreit. Humor ist wichtig und kommt in der Erziehung, vor allem in der Beziehung zu Jugendlichen, einfach zu kurz. Die Geschichten wollen nicht lächerlich machen. Ich erzähle in meinen Vorträgen, Beratungen und Seminaren gerne Geschichten, weil die kürzeste Entfernung zwischen einem Problem und seiner Lösung eine Geschichte ist.

Die vielfältigen Fragen, die Eltern haben, sind häufig so konkret und so komplex, dass man sie in Büchern nicht genau beantworten kann. So bieten denn die von mir erzählten Beispiele und Geschichten Anregungen, die in ähnlicher Form auf den eigenen Alltag übertragen werden können. Das Buch versteht sich als eine Landkarte, die Hinweise auf lohnenswerte Erkundungen und Ziele in der Erziehung gibt. Es erläutert, wie man einen Kompass zu bedienen hat, um dorthin zu gelangen. Aber die Landkarte zu lesen, den Kompass zu gebrauchen, die Landschaft zu erkunden – diese Aufgabe kann ein Autor den Eltern und den Heranwachsenden nicht abnehmen. Und vielleicht klappt etwas nicht auf Anhieb, weil man den Wald vor lauter Bäumen, sprich: die einfache Lösung vor lauter Problemen, nicht sieht.

Das Lösen von Problemen hat viel mit Versuch und Irrtum zu tun. Was heute gültig war, kann morgen schon nicht mehr stimmen. Aber das Gefühl, schon einmal eine Lösung gefunden zu haben, macht vielleicht Mut, sich weiteren Herausforderungen zu stellen.

Wenn Eltern und Pubertierende gemeinsam nach Möglichkeiten suchen, um die Tür zur Zwischenwelt der Pubertät zu öffnen, kann das aufregend sein. Dabei ist es egal, welche Lösung man findet. Die Heranwachsenden sollten am Etappenende das Gefühl haben, gestärkt mit den guten Wünschen der Eltern den ganz eigenen Weg zu gehen. Eltern sollten sagen können: Ich nehme dich so, wie du bist! Ziehe aus und meistere dein Leben! Wenn du zurückkommst, bist du als gerngesehener Gast willkommen!

TEIL I

NICHT NUR DIE KINDER KOMMEN IN DIE PUBERTÄT…

«Wenn ich mir überlege», so Marga Sommer, «dass ich nun 51 bin, der letzte Sohn ist bald aus dem Haus, dann überkommt einen schon ein mulmiges Gefühl. Das tut doch weh. Irgendwie hast du als Mutter ausgedient.»

Irene Neubert nickt: «Ich hab zwar einen Beruf. Aber das Haus wird leer sein, kein Leben mehr drin. Ich glaub, manchmal werde ich mich nach dem Stress mit meinen drei Kindern zurücksehnen. Aber man muss ja auch was tun, nur sitzen bleiben und traurig sein – das hilft ja keinem.»

Mechthild Franz lacht: «Wir gehören ja nicht zum alten Eisen, obgleich wir nicht mehr die Frischesten sind. Aber ich bin jetzt 52, da hab ich noch ’ne lange Zeit vor mir. Und ich fühl mich auch nicht alt, obgleich die Falten schon stärker werden.»

Wenn Eltern über die Pubertät ihrer Kinder, über ihren möglichen Auszug oder die bevorstehende Trennung reden, wird so manchem «schwindelig», wie es ein Vater ausgedrückt hat. Die Pubertät der eigenen Kinder zu beobachten und zu begleiten heißt, in einen Spiegel zu schauen: Eltern begegnen dort einerseits der eigenen Pubertät mit ihren Glücks- und Trauermomenten, mit erfüllten und misslungenen Lebensplänen. Andererseits erleben sie, wie sich körperliche Veränderungen nicht allein beim Heranwachsenden zeigen, sondern zugleich am eigenen Körper sichtbar werden. So, wie die körperlichen Veränderungen den Heranwachsenden herausfordern, ein neues Selbstverständnis zu entwickeln oder neue Beziehungen, z.B. zu Gleichaltrigen, einzugehen, so bringen die körperlichen Veränderungen bei den Eltern Aufgaben mit sich, für die vor ihnen liegenden Lebensjahre eine neue Perspektive zu entwickeln.

Wenn auch Eltern in einem vermeintlich festen Rahmen leben, müssen sie ebendiesen Rahmen nun verändern, wollen sie nicht unbeweglich werden. Sonst drohen Stillstand und Leere. Die Entwicklung, die Eltern während der Krise zur Lebensmitte, populär und manchmal arg oberflächlich Midlife-Crisis benannt, durchleben, weist Ähnlichkeiten mit der ersten Pubertät auf. Man kann diese Phase, die die Eltern durchlaufen, auch als zweite Pubertät bezeichnen.

Auch wenn es parallele Entwicklungsprozesse gibt, darf man die gravierenden Unterschiede nicht unterschlagen: Während der Heranwachsende auf dem Weg ins Leben ist, werden Eltern mit der Endlichkeit des Seins konfrontiert. Man mag dies verdrängen, aber dann stößt man doch schmerzlich an die Grenzen der körperlichen Leistungsfähigkeit. Der Blick vieler Eltern richtet sich nun zunehmend nach innen, um – wie es die Psychotherapeutin Anna-Maria Hirsch nennt – «die inneren geistig-psychischen Wachstumsreserven» aufzuspüren und auszuleben.

Während in früheren Generationen die zweite Pubertät nicht selten das Altenteil, das Abgeschobenwerden, bedeutete, haben heutige Eltern, deren Kinder gerade die Pubertät durchleben, noch Jahre und nicht selten ein Drittel des Lebens vor sich. Wer für diese Zeit den Gesichtspunkt körperlicher Leistungsfähigkeit überbewertet, wird schnell an Leistungsgrenzen stoßen, sie in Verkennung der Tatsachen überschreiten, krank werden oder sich als defizitär bzw. leer vorkommen. Wer diese Zeit nur perspektivlos als Auslauf des Lebens deutet, dessen Entwicklung wird stagnieren. Die sozialpsychologische Altersforschung hat immer wieder auf eine lebenslange Entwicklung des Menschen hingewiesen. Jeder Reifeabschnitt – und die zweite Pubertät kann so betrachtet werden – bringt neue Entwicklungsaufgaben mit sich, die herausfordern, denen es sich zu stellen gilt. Angelehnt an Überlegungen von Anna-Maria Hirsch, lassen sich vier zentrale Entwicklungsaufgaben benennen, die die Eltern in der zweiten Pubertät zu bewältigen haben:

die körperlichen Veränderungen zu akzeptieren und für die körperliche Gesundheit zu sorgen;

die Partnerschaft zwischen Mann und Frau neu zu bestimmen;

Perspektiven für die kommenden Jahre zu entwickeln – nach dem Motto: Bewährtes fortführen – Neues beginnen;

sich von den Kindern zu lösen bedeutet, die Eltern-Kind-Beziehung umzugestalten.

ELTERN ERLEBEN IHRE ZWEITE PUBERTÄT

«Mein Mann», berichtet Mechthild Franz, die in diesem Buch schon einmal zu Wort kam, «tut immer noch so, als ob er dreißig sei. Er schuftet mehr, als er müsste, er beklagt sich über seine jüngeren Kollegen. Er will ihnen zeigen, dass er’s noch mit ihnen aufnehmen kann. Aber es geht eben nicht. Pausen oder Urlaub gönnt er sich nicht. Stattdessen stichelt er über seine jüngeren Kollegen, die ständig ausruhen.» Sie macht eine Pause: «Aber ich bin ähnlich. Ich rackere und rackere, muss es mir beweisen. Es muss alles sofort erledigt werden. Wenn ich meine Tochter sehe, wie langsam die was macht, der kannst du im Gehen die Schuhe besohlen, dann kommt es mir hoch.» Sie stutzt: «Aber ob das nun richtig ist, wie ich es mache – langsam kommen mir da Zweifel.»

«Mein Mann», so Roswitha Beier, «misst sich ständig mit seinen Söhnen: Im Tischtennis gewinnt er nur noch knapp, beim Computer sind ihm die beiden haushoch überlegen. Wenn wir mal wandern, dann gibt er das Tempo vor, aber nachher sitzt er völlig ausgepumpt da. Er will es nicht wahrhaben, dass er einfach langsamer geworden ist, mehr Zeit zum Auftanken braucht.»

«Ich hab jahrelang morgens vor dem Spiegel gestanden», so Georg Steiner, «hab geguckt, ob meine Haare weniger werden. Und als die Schläfen grau wurden, hab ich sie gefärbt. Und wehe, einer machte sich über meinen Haarausfall lustig, dann konnte ich fuchsteufelswild werden.» Er lacht. «Es hat jahrelang gedauert, bis ich mich wieder leiden mochte. Davor habe ich mich verhalten wie ein Teenager, jeden Morgen vor dem Spiegel, um mich zu prüfen.»

Frauen kommen in die Wechseljahre, die Hitzewallungen, Schweiß, Herzrasen und körperliches Unwohlsein mit sich bringen. Bei mancher stellt sich zudem das Gefühl ein, das eine Mutter so auf den Punkt brachte: «Nun bin ich nutzlos, ich kann niemals mehr Kinder bekommen.» – «Das kann», erwiderte eine andere Frau, «doch auch schön sein. Nämlich, nicht aufpassen zu müssen, nicht mehr zu verhüten.»

Auch beim Mann sind wechseljahrähnliche Beschwerden feststellbar: Stimmungsschwankungen, eine leichte, nervöse Reizbarkeit, Herz-Kreislauf-Beschwerden oder aufkommende Hitze. Haare fallen aus oder werden grau. Bei Männern wie bei Frauen erschlafft die Haut, sie wird faltig, die Sehkraft lässt nach, sodass manchmal eine Brille unerlässlich wird. Viele scheuen davor zurück, sie zu tragen, weil das ein Zeichen für zunehmendes Alter ist.

Gerade Männer sind vor Ausbruchsversuchen in der zweiten Pubertät nicht gefeit – insbesondere dann, wenn sie sich über Sexualität definiert haben. Gemeinsam mit dem Partner eine auch von Sexualität durchdrungene liebevolle Beziehung zu erhalten stellt eine vordringliche Aufgabe dar. Eltern, die diesen Bereich ausklammern, leben ihren Kindern ein problematisches Modell vor: «Sexualität gehört nicht mehr zu uns.» Eltern, die ihre Sexualität verdrängen, halten Heranwachsenden, die sich in der Sexualität ausprobieren, ständig einen Spiegel vor. Die Auseinandersetzungen um dieses Thema haben eben auch damit zu tun, dass sie Verdrängtes wachrütteln.

Heranwachsende fühlen, die Partnerschaft ihrer Eltern sei eine Zweckgemeinschaft, wenn sie bei ihnen keine Zärtlichkeit oder liebevolle Umarmungen beobachten. Dann fällt es ihnen wesentlich schwerer, diese Eltern zurückzulassen, vermitteln sie ihnen doch das Gefühl, ohne Kinder keinen Lebensinhalt mehr zu haben.

Viele Väter und Mütter sind bei der Kindererziehung völlig in ihrer Rolle aufgegangen, haben sich nur in der Elternschaft wahrgenommen, so als gebe es kein Leben jenseits des Vater- und Mutterseins. Manchmal beobachte ich gar, dass Paare sich nicht mehr mit ihren Vornamen ansprechen – immer häufiger schleicht sich ein, dass Väter ihre Frauen mit «Mutti», Mütter ihre Männer mit «Papa» anreden.

Wenn die Kinder in die Pubertät kommen, so verändern sich die elterlichen Aufgaben. Eltern stellen fest: Erziehung ist nicht alles. Und diese Entdeckung macht manchmal Angst. Man fürchtet sich davor, plötzlich mit leeren Händen dazustehen. Dieser Angst ist nur offensiv zu begegnen, indem man die Beziehung neu gestaltet, als Paar veränderte Umgangsformen entwickelt, sodass aus dem Partner ein Begleiter, aus der Partnerin eine Begleiterin wird. Beide Partner sollten sich vorstellen können, auch den zukünftigen Weg gemeinsam zu gehen, zusammen alt zu werden. Verabschieden sich Eltern nicht von ihrer Rolle und interpretieren diese neu, stellt sich das Gefühl von Leere ein. Die Perspektivlosigkeit wird durch ein starres Klammern an die Kinder ausgeglichen.

In Beratungsgesprächen fällt mir auf, dass nicht nur die Mütter schwer von ihrer Rolle lassen. Häufig haben Väter Probleme damit, sich dieser Entwicklungsaufgabe zu stellen und die Beziehung zu ihrer Partnerin neu zu gestalten.

«Ich habe letztes Jahr», so Erna Schneider, «mit meinem Mann den ersten Urlaub allein seit zwanzig Jahren gemacht. Die vier Kinder sind jetzt aus dem Haus. Sonst waren ja immer Kinder dabei – zumindest eines. Ich hab die Reise gebucht – acht Tage Teneriffa. Nicht länger. Ich hab mir nicht mehr zugetraut, weil ich richtige Angst hatte, diese Zeit mit meinem Mann gemeinsam auszuhalten. Aber dann war es schön, und wir haben noch eine Woche verlängert. Zuerst war es schon ungewohnt, so ohne Kinder – aber dann ging es zunehmend besser.»

«Wir haben es anders gemacht», ergänzt Rosemarie Willems, «wir haben schon sehr früh begonnen, bestimmte Wochenenden allein, ohne die Kinder, zu verbringen. Später, als sie so zwischen zehn und dreizehn waren, sind wir öfter mal eine Woche allein fortgefahren. Und dies regelmäßig. Wir haben diese Zeit genossen. Und die Kinder auch. Sie konnten dann bei den Großeltern ausleben, was sie zu Hause nicht durften, und hinterher haben wir uns alle gefreut auf das Wiedersehen. Wir sind dafür aber auch angefeindet worden: ‹Wie könnt ihr die Kinder allein lassen!› Wenn ein Kind dann mal krank wurde, hieß es: ‹Das kommt davon, weil ihr Rabeneltern seid.› Wir haben uns davon nicht verrückt machen lassen. Heute – die Kinder sind groß – kommen sie hin und wieder mit in den Urlaub, machen sogar Museumsreisen mit, die sie früher grässlich fanden.»

«Das hört sich schön an», klagt Almut Thewes voller Wehmut. «Bei uns geht nichts mehr. Neulich noch waren mein Mann und ich ohne Kinder im Urlaub – aber es endete wie immer: Wir fetzten uns, schrien uns an, ich rannte heulend in den Wald. Unser gemeinsamer Urlaub sieht dann so aus: Jeder geht seiner Wege, wir sehen uns morgens beim Frühstück und dann beim Abendessen. Das nächste Mal fahre ich mit meiner Tochter in die Ferien. Sie macht sich um mich Sorgen, weil ich völlig fertig von den Reisen zurückkomme. Ob mein Mann mitkommt, weiß ich nicht.»

Wenn Eltern in ihrer Rolle erstarren

Heranwachsende haben Schwierigkeiten damit, wenn ihre Eltern in der Erziehung aufgehen. Sie spüren, dass Zuwendung und Liebe nicht bedingungslos, vielmehr mit Verpflichtungen verbunden sind: «Wir haben so viel für dich getan, nun bist du uns zur Dankbarkeit verpflichtet und hast für uns zu sorgen!» Oder: «Wenn es uns schlechtgeht, dann bist du schuld. Du kümmerst dich nicht um uns!»

So werden Heranwachsende ans Haus gefesselt. Eltern machen es ihnen dann unmöglich, eigene Fähigkeiten zu entwickeln. Daraus entstehen Unzufriedenheit, Aggression, Zorn und Wut, die zugleich mit Schuldgefühlen verbunden sind.

Heranwachsende haben Respekt vor Eltern, die für sich sorgen und Verantwortung für sich übernehmen. Doch dies gelingt nicht von heute auf morgen. Das ist ein manchmal mühseliger Entwicklungsprozess, wie die nachstehende Situation zeigt:

Sabine Schröter ist 52.Zwei ihrer heranwachsenden Kinder sind schon ausgezogen, die jüngste Tochter, Yvonne, 21Jahre alt, lebt noch im Haus. Die Mutter ist mit ihrer Tochter in der Beratung, «weil es ständig Krach gibt. Ich verstehe es nicht. Ich tue alles für Yvonne – aber ich glaube, da bin ich auch nicht uneigennützig.» Sie macht eine kurze Pause: «Ich möchte wohl, dass sie noch länger bleibt. Ich verstehe mich nicht, denn eigentlich habe ich es gut. Ein großes Haus, schöne Reisen, viele Gäste und Einladungen, Ansehen im Ort. Und den Kindern geht es prächtig, aber da sind diese Zweifel, diese Sorgen.»

«Welche Sorgen?», will ich wissen.

«Die Sorge, was kommt jetzt! Was bringt die Zukunft! Ich hab meinen Beruf aufgegeben, war Dolmetscherin. Es gab für mich nur die Kinder, die Erziehung. Da lagen auch meine Fähigkeiten. Ich glaube, ich habe meine Aufgabe gut gemacht. Aber nun sind sie groß, nun gehen sie!»

«Wenn Sie Yvonne aus Ihren Händen lassen, was sehen Sie dann in Ihren Händen?», frage ich sie.

Sie blickt auf ihre schlanken Hände und sagt nachdenklich: «Da ist nichts mehr drin. Das macht Angst!»

Yvonne, die bei diesem Beratungsgespräch anwesend ist, lacht ihre Mutter an, meint dann mit ernster Stimme: «Ich hab dir immer gesagt, mach was. Du hast so viele Ideen und Interessen!»

«Yvonne, das ging nicht. Ich musste für euch da sein. Ihr solltet es gut haben. Da wollte ich nichts auf mir sitzenlassen!»

Yvonne verzieht ihr Gesicht: «Soll ich dich jetzt anbeten?»

«Yvonne, das verbitte ich mir!» Und zu mir gewandt: «Sehen Sie, so geht’s häufig. Es fängt harmlos an, und dann eskaliert die Situation.» Sie wirkt ein bisschen fassungslos. «So ist es immer. Was hab ich nur falsch gemacht?»

Yvonne greift nach der Hand ihrer Mutter: «Du machst vieles richtig. Aber», sie räuspert sich, «ich bin nicht dein Ein und Alles. Ich bin Yvonne, und du bist meine Mutter. Aber du sollst doch nicht nur meine Mutter sein!»

«Was soll denn das schon wieder heißen?» Frau Schröters Stimme klingt unsicher, aber eine gewisse Empörung ist unüberhörbar.

«Was meinst du, warum Papa so viel arbeitet?», beharrt Yvonne. Sie wartet die Antwort ihrer Mutter auf diese Frage gar nicht ab: «Weil er dein ständiges Gerede über Sorgen wegen der Kinder, über mich nicht hören kann. Der will auch mal was anderes hören!»

Frau Schröter ist sprachlos.

Elterliche Selbstaufopferung ist keine Tugend, sie wird von manchen Heranwachsenden, wie von Yvonne, als Nötigung, als gefühlsmäßiges Unter-Druck-Setzen empfunden. Kinder spüren, wenn man sie als Mittel zum Zweck missbraucht. Oder anders ausgedrückt: Nur wenn es Eltern gutgeht, geht es den Kindern gut. Dann gehen sie gern aus dem Haus. Und sie kommen gern zurück, um sich Rat zu holen.

Heranwachsende akzeptieren es, wenn Eltern für ihr eigenes Wohlbefinden sorgen, wenn sie ein Recht auf Intimität einfordern und Zeit für sich einklagen. Dann brauchen sich Söhne und Töchter nicht für die Eltern verantwortlich zu fühlen. Wenn sich Eltern nur als Eltern sehen, haben es Kinder schwer, ihre Beziehung zu Vater und Mutter auf eine veränderte Basis zu stellen.

«Haben Sie eine Idee, wie Sie Ihre leeren Hände füllen können?», frage ich Sabine Schröter. Sie zuckt ratlos mit den Schultern.

«Wollen Sie sie überhaupt füllen? Oder sollen sie leer bleiben?» Wieder ein Schulterzucken. Ich lege ihr nahe, darüber nachzudenken, ob sie ein Ziel anpacken möchte. In der nächsten Beratungsstunde berichtet sie, sie habe gemeinsam mit ihrem Mann über die Frage diskutiert. Es sei ein «tolles Gespräch» gewesen. Und sie hätten sich etwas ausgedacht. Sie würde, weil sie mehrere Sprachen fließend spricht, nun fremdsprachige Stadtführungen machen, «aber nicht unentgeltlich, ich bin etwas wert!». Ein halbes Jahr später arbeitet Sabine Schröter als Stadtführerin und schreibt an einem Buch über ihr Stadtviertel, und Yvonne steht kurz vor dem Auszug.

Für Marie Weber kam der Auszug der Kinder äußerst abrupt: Ihr ältester Sohn, Tom, zog mit 19Jahren aus, seine Schwester, Tanja, ein Jahr darauf. «Es entstand ein Loch. Ich bin immer noch in die Kinderzimmer gelaufen. Hab da rumgeschaut, mich hingesetzt und mich an früher erinnert. Wenn ich die Bilder an den Wänden sah, habe ich daran gedacht, wie schön es war. Ich hab mich richtig in Selbstmitleid geflüchtet.» Marie Weber lebte zunächst so, als ob die Kinder im Haus wohnen würden. Sie veränderte nichts – weder ihren Tagesablauf noch die Aufteilung der Wohnung. Die ausgezogenen Kinder besuchten hin und wieder das elterliche Haus, «und alles war wie früher! Einfach schön! Aber ich war traurig, wenn sie dann wieder gingen!»

Marie Weber hatte nicht wirklich Abschied genommen. Ich machte ihr deshalb einen Vorschlag. «Haben Sie ein Frauenzimmer?», fragte ich sie. «Wie bitte?» Sie klingt einigermaßen irritiert. «Ein Zimmer nur für Sie!» Sie lächelt etwas hilflos: «Das Bügelzimmer, die Küche…» Sie schüttelt den Kopf: «Ich habe kein eigenes Zimmer im Haus!» – «Doch», schmunzele ich, «das Zimmer Ihres Sohnes!» Sie reagiert darauf spontan: «Aber das geht doch nicht! Der braucht doch seine gewohnte Umgebung, wenn er kommt!» Wie häufig der Sohn denn komme, will ich wissen. «Na, vielleicht alle acht Wochen!» Sie stutzt: «Und Sie meinen, ich soll das machen?»

Sechs Wochen später ruft sie mich an. Sie habe Toms Zimmer komplett ausgeräumt (er holte die Sachen ab, die er noch brauchte, ein Teil ist zunächst in den Keller gekommen), sie habe neu tapeziert, sich Möbel ausgesucht und an die Tür ein Schild gehängt: «Eintritt nur nach vorherigem Anklopfen!» – «Und wie geht es Ihnen damit?» – «Zuerst war’s ungewohnt, jetzt fühl ich mich wohl!», antwortet sie. Sie habe vor, erklärt sie mir weiter, nun das Zimmer von Tanja als Gästezimmer umzugestalten. Wenn die beiden nun kämen, sind sie «gerngesehene Gäste, sie sind dann meine Gäste, die ich gerne umsorge!».

Ich treffe sie nach einem Jahr wieder: Marie Weber wirkt selbstbewusst, hat eine Umschulung begonnen. «Die Kinder kommen. Sie finden das mit dem Gästezimmer ausgesprochen gut. Zuerst war’s schon eine Umstellung. Aber dann haute es hin. Allerdings hat Tom gemeint, ich könne alles verändern, nur das gemütliche Abendessen müsse bleiben, wenn er da sei. Er würde es auch zubereiten, wenn ich dazu keine Lust hätte. Aber das Abendessen, das müsse bleiben, sonst sei es nicht mehr wie zu Hause.»

Entwicklungen, die Eltern und Kinder in der Pubertät durchlaufen, bringen Krisen mit sich. Sie sind normal und kaum zu vermeiden. Aber Krisen stellen Herausforderungen dar, sie bieten Chancen für veränderte Lebensperspektiven. Wer die Kinder loslässt, hat die Hände frei für neue Aufgaben. Wer dagegen an eingefahrenen Traditionen festhält, klammert sich an die Kinder. Wenn man die Umgestaltung der Beziehung effektvoll inszeniert, stellt sich die Veränderung für alle Beteiligten sinnfälliger dar.

Ich hatte es betont: Nicht nur Frauen erleben körperliche und seelische Veränderungen der Wechseljahre, Ähnliches gilt für Männer. Nur schlagen sie häufig andere Wege ein, um Kinder nicht gehen zu lassen. Ihr Mann, so erzählt etwa Patricia Meier, Mutter des 18-jährigen Thomas, suche seit mehreren Jahren dauernd den Konflikt mit seinem Sohn. «Thomas kann ihm nichts recht machen, obwohl Thomas einen passablen Schulabschluss machte und sich jetzt in der Lehre recht gut bewährt.» Rudolf, ihr Mann, habe sich lange Zeit aus der Erziehung herausgehalten, «das war meine Domäne, aber als Thomas in die Pubertät kam, meinte mein Mann plötzlich, er müsse sich mehr um alles kümmern. Und dann konnte Thomas ihm nichts mehr recht machen. Es gab nur Streit. Das ist bis heute so. Irgendwann hat Thomas dagegengehalten. Fürchterlich. Der Zank hält sie zusammen.» Und seit einiger Zeit, so beobachte sie, provoziere ihr Sohn nun seinen Vater. Sie wisse nicht mehr weiter.

Während – wie im Fall von Yvonne – bei Müttern Selbstaufopferung häufig Mittel zum Zweck ist, ihre heranwachsenden Kinder an sich zu binden, zwingen Väter die Pubertierenden nicht selten in einen nervenaufreibenden Machtkampf. Diese langatmigen Reibereien enden häufig auf beiden Seiten in Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit und ziehen alle Beteiligten in noch stärkere Bindungen. Wenn sich Eltern und Pubertierende nur bekämpfen, dann machen sie sich durch den Konflikt auch voneinander abhängig.

Sich den Entwicklungsaufgaben zu stellen ist eine gemeinsame Aufgabe der Eltern – nicht allein, wie ich es in den Beratungs- und Seminargesprächen allzu oft erlebe, eine Aufgabe der Mütter. Väter grenzen sich häufig aus und versuchen sich in einer Last-Minute-Erziehung, die nicht selten neue Probleme statt Lösungen produziert. Das Beispiel Thomas macht dies deutlich. Je früher Männer in eine Erziehungsbeziehung zu ihren Kindern treten, umso stabiler und tragfähiger stellt sie sich dar. Dann können sich alle Beteiligten etwas zumuten.

DIE HERAUSFORDERUNG DER VÄTER

«Mein Mann», so erzählt mir die Mutter einer Tochter im Grundschulalter, «hält sich völlig aus der Erziehung heraus, weil er der Meinung ist, Väter würden erst später wichtig werden.»

«Das ist typisch», entrüstet sich daraufhin Susanne Müller, Mutter zweier pubertierender Söhne: «Jahrelang hat sich auch mein Göttergatte aus der Erziehung ausgeklinkt. Höchstens im Urlaub hat er eine pädagogische Show abgezogen. Und wenn ich Krach mit meinen Jungen hatte, fühlte er sich manchmal gedrängt zu schlichten.» Sie stockt. «Und dann ging’s meistens gegen mich! Nun pubertieren meine Söhne auf höchstem Niveau, und er meint, Versäumtes nachholen zu müssen, und spielt sich als Oberlehrer auf. Wollen Sie das Ergebnis wissen?» Ich nicke. «Er kriegt einen Wutanfall nach dem anderen, weil seine Söhne nicht so wollen, wie er es will. Und wer ist schuld, dass nichts klappt?» Sie gibt sich selbst eine Antwort: «Ich natürlich, weil ich in der Erziehung versagt habe.»

Aus Beobachtungen in Seminaren und Beratungen kann ich als Trend bestätigen, was in den beiden Äußerungen anklingt: Geht es um Erziehungsprobleme im Kleinkindalter, sind Väter in der absoluten Minderheit. Erst wenn das Thema Pubertät ansteht, treten die Männer verstärkt in Seminaren in Erscheinung. Wobei sie nicht selten von ihren Frauen «mitgeschleppt» werden. Entsprechend verunsichert und trotzig reagieren sie dann.