39,99 €
Dieses umfassende und im deutschsprachigen Raum konkurrenzlose Lehrbuch bietet eine fundierte Navigation durch die vielfältigen Handlungsfelder für Public Health im Kindes- und Jugendalter. Mit ausführlichen Grundlagen, klar verständlichen Konzepten und praxisrelevanten Methoden ist es ein unverzichtbares Nachschlagewerk für Fachkräfte und Studierende: - Grundlagen: Demografische Entwicklung, Kinder und Jugendliche im Fokus der öffentlichen Gesundheit, entwicklungs-pädiatrische Perspektiven, epidemiologische und partizipative Methoden - Kernkonzepte zur Gesundheitsförderung und Prävention: Ernährung und Bewegung, psychische Gesundheit, Armut und soziale Ungleichheit, Kinderschutz - Gesundheitsdeterminanten und -settings: Biologische und individuelle Faktoren; sozioökonomische und soziodemografische Einflüsse; Familie, Schule und Umwelt - Aktuelle und zukünftige Herausforderungen: Public-Health-Ethik, Migration, Kinderrechte, Klimawandel, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität, gesundheitsökonomische Überlegungen - Kinder- und Jugendgesundheit: Gesunde Entwicklung, Früherkennung und -förderung, spezifische Vulnerabilität und Resilienz, neue Perspektiven auf junge Erwachsene ("Emerging Adults") Mit zahlreichen didaktischen Elementen wie Zusammenfassungen, Take-Home-Messages und Praxisbeispielen sowie vielen farbigen Tabellen und Abbildungen gelingt der Transfer zwischen Theorie und Praxis. Dieses Buch ist die ideale Einführung und ein umfassendes Nachschlagewerk für eine interdisziplinäre Betrachtung der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, Österreich und der Schweiz
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 813
Veröffentlichungsjahr: 2025
Julia Dratva
Agnes von Wyl
David Lätsch
Marc Höglinger
(Hrsg.)
Public Health im Kindes- und Jugendalter
Schlüsselkonzepte, Methoden und Umsetzungsstrategien
Unter Mitarbeit von
Kurt Albermann
Theresa Bengough
Verena Biehl
Niolyne Jasmin Bomolo
Christine Brombach
Jonathan Dominguez Hernandez
Julia Dratva
Marloes Eeftens
Rosemarie Felder-Puig
Daniel Frey
Jon Genuneit
Andreas Gerber-Grote
Sabine Haas
Henner Hanssen
Marc Höglinger
Fabienne N. Jäger
Andreas Jud
Birgit Ulrika Keller
Sarah Kienzler
Alexandra Kristian
Meltem Kutlar Joss
David Lätsch (†)
Agnes Leu
Susanne Lochner
Hannelore Neuhauser
Karin Nordström
Orkan Okan
Andreas Pfister
Dietrich Plass
Elisabeth Ryter (†)
Martin Röösli
Brigitte Ruckstuhl
Filomena Sabatella
Ana Maria Scutaru
Susanne Stronski
Svenja Taubner
Ute Thyen
Wendy Ungar
Kerttu Valtanen
Lisbeth Weitensfelder
Frank Wieber
Teresa Wintersteller
Veronika Wöhrer
Agnes von Wyl
Andrea Zumbrunn
Public Health im Kindes- und Jugendalter
Julia Dratva, Agnes von Wyl, David Lätsch, Marc Höglinger (Hrsg.)
Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Gesundheit
Kevin Dadaczynski, Fulda; Ansgar Gerhardus, Bremen; Klaus Hurrelmann, Berlin; Milo Puhan, Zürich; Doris Schaeffer, Bielefeld
Prof. Dr. med.habil. Julia Dratva
ZHAW Departement Gesundheit
Institut für Public Health
Katharina-Sulzer-Platz 9
Postfach
8401 Winterthur
E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. Agnes von Wyl
ZHAW Departement Angewandte Psychologie
Pfingstweidstrasse 96
8037 Zürich
E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. Marc Höglinger
ZHAW School of Management and Law
Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie
Versorgungsforschung
Gertrudstrasse 8
8400 Winterthur
E-Mail: [email protected]
Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Copyright-Hinweis:
Das E-Book einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.
Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
All rights, including for text and data mining (TDM), Artificial Intelligence (AI) training, and similar technologies, are reserved.
Alle Rechte, auch für Text- und Data-Mining (TDM), Training für künstliche Intelligenz (KI) und ähnliche Technologien, sind vorbehalten.
Verantwortliche Person in der EU: Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Merkelstraße 3, 37085 Göttingen, [email protected]
Anregungen und Zuschriften bitte an den Hersteller:
Hogrefe AG
Lektorat Gesundheit
Länggass-Strasse 76
3012 Bern
Schweiz
Tel. +41 31 300 45 00
www.hogrefe.ch
Lektorat: Susanne Ristea
Bearbeitung: Susanne Meinrenken, Bremen
Herstellung: René Tschirren
Umschlagabbildung: Getty Images/FatCamera
Umschlaggestaltung: Hogrefe AG, Bern
Satz: Claudia Wild, Konstanz
Format: EPUB
1. Auflage 2025
© 2025 Hogrefe Verlag, Bern
(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96294-8)
(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76294-4)
ISBN 978-3-456-86294-1
https://doi.org/10.1024/86294-000
Nutzungsbedingungen
Der Erwerber erhält ein einfaches und nicht übertragbares Nutzungsrecht, das ihn zum privaten Gebrauch des E-Books und all der dazugehörigen Dateien berechtigt.
Der Inhalt dieses E-Books darf von dem Kunden vorbehaltlich abweichender zwingender gesetzlicher Regeln weder inhaltlich noch redaktionell verändert werden. Insbesondere darf er Urheberrechtsvermerke, Markenzeichen, digitale Wasserzeichen und andere Rechtsvorbehalte im abgerufenen Inhalt nicht entfernen.
Der Nutzer ist nicht berechtigt, das E-Book – auch nicht auszugsweise – anderen Personen zugänglich zu machen, insbesondere es weiterzuleiten, zu verleihen oder zu vermieten.
Das entgeltliche oder unentgeltliche Einstellen des E-Books ins Internet oder in andere Netzwerke, der Weiterverkauf und/oder jede Art der Nutzung zu kommerziellen Zwecken sind nicht zulässig.
Das Anfertigen von Vervielfältigungen, das Ausdrucken oder Speichern auf anderen Wiedergabegeräten ist nur für den persönlichen Gebrauch gestattet. Dritten darf dadurch kein Zugang ermöglicht werden. Davon ausgenommen sind Materialien, die eindeutig als Vervielfältigungsvorlage vorgesehen sind (z. B. Fragebögen, Arbeitsmaterialien).
Die Übernahme des gesamten E-Books in eine eigene Print- und/oder Online-Publikation ist nicht gestattet. Die Inhalte des E-Books dürfen nur zu privaten Zwecken und nur auszugsweise kopiert werden.
Die Inhalte dürfen nicht zur Entwicklung, zum Training und/oder zur Anreicherung von KI-Systemen, insbesondere von generativen KI-Systemen, verwendet werden. Das Verbot gilt nicht, soweit eine gesetzliche Ausnahme vorliegt.
Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Download-Materialien.
Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.
Wir widmen dieses Buch unserem lieben Kollegen und Mitherausgeber David Lätsch, der völlig unerwartet verstorben ist.
Julia Dratva, Agnes von Wyl, Marc Höglinger
Widmung
Vorwort
1. GeleitwortAnne Lévy
2. GeleitwortIlona Kickbusch
I Grundlagen und historische Entwicklung der Kinder- und Jugend-Public-Health
1 Kinder- und Jugend-Public-HealthJulia Dratva
1.1 Public Health
1.2 Sustainable Developmental Goals
1.3 Kinder und Jugendliche
1.4 Public-Health-Fokus auf Kindheit und Jugend
1.4.1 Gesunde Entwicklung
1.4.2 Bedeutung der Früherkennung und -förderung
1.4.3 Vulnerabilität und Resilienz
1.4.4 Kinderrechte
2 Der Lebenslaufansatz in Public HealthJulia Dratva
2.1 Entwicklung des Lebenslaufansatzes
2.2 Grundkonzepte und Modelle des Lebenslaufansatzes
2.2.1 Zentrale Konzepte des Lebenslaufansatzes
3 Entwicklungspädiatrische PerspektiveAgnes von Wyl
3.1 Was kann ein breites Wissen über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen leisten?
3.2 Risiko- und Schutzfaktoren
3.3 Die Rolle der Eltern bzw. primären Bezugspersonen
3.4 Zusammenspiel von Anlage und Umwelt
3.5 Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
4 Demografische Entwicklung und Kinder- und JugendgesundheitMarc Höglinger
4.1 Einleitung
4.2 Demografische Trends in Bezug auf Kinder und Jugendliche in der Schweiz, Deutschland und Österreich
4.2.1 Niedrigere Geburtenrate und höheres Alter der Eltern bei Geburt
4.2.2 Steigende Lebenserwartung
4.2.3 Sinkender Anteil von Kindern und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung
4.2.4 Alterung der Bevölkerung
4.2.5 Dependency Ratio – zunehmende Last für die erwerbstätige Bevölkerung
4.2.6 Chancen einer alternden Gesellschaft
4.2.7 Migration
4.3 Implikationen der demografischen Entwicklung für Kinder und Jugendliche und deren Gesundheit
5 Kinder und Jugendliche im Blick der öffentlichen Gesundheit – ein historischer RückblickBrigitte Ruckstuhl und Elisabeth Ryter
5.1 Die Hygienerevolution im 19. Jahrhundert und ihre Folgen
5.1.1 Für und wider die Pockenschutzimpfung
5.1.2 Der Staat wird in die Pflicht genommen
5.1.3 „Schule macht krank“
5.1.4 „Arbeit macht krank“
5.1.5 Turnen für die Gesundheit oder die Armee?
5.1.6 Der internationale Wissenstransfer
5.1.7 Schularztfrage
5.1.8 Der Kampf gegen die Tuberkulose
5.1.9 Säuglingsfürsorge
5.2 Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: Von der Mangel- zur Überflussgesellschaft
5.2.1 Kinder im Blick der Vorsorge: Impfen und Zähne putzen
5.2.2 Rauchen als Risiko
5.2.3 Drogen als Schreckgespenst
5.2.4 Neuorientierung der öffentlichen Gesundheit: New Public Health
5.2.5 Neue Zugänge in der HIV/AIDS- und Drogenpolitik
5.2.6 Neoliberale Zeiten
II Aktuelle und zukünftige Herausforderungen
6 Ernährung von Kindern und JugendlichenChristine Brombach
6.1 Einleitung
6.2 Gesund aufwachsen und essen in Kindheit und Jugend
6.3 Wichtige Nährstoffe
6.4 Anforderungen an den Nährstoff- und Energiebedarf
6.4.1 Das erste Lebensjahr
6.4.2 Ernährung von Kleinkindern und Schulkindern
6.4.3 Ernährung von Jugendlichen
6.5 Richtiges Essverhalten wird erlernt
6.6 Epidemiologische Daten zur Ernährung von Kindern und Jugendlichen
7 BewegungHenner Hanssen
7.1 Epidemiologie von Bewegung im Kindesalter
7.2 Empfehlungen zur körperlichen Aktivität im Kindes- und Jugendalter
7.3 Messung körperlicher Aktivität und Leistungsfähigkeit im Kindesalter
7.4 Bewegung und kardiovaskuläre Prävention im Kindesalter
7.5 Umsetzung und Förderung von Bewegung im Kindesalter
8 Psychische GesundheitAgnes von Wyl und Frank Wieber
8.1 Einleitung
8.2 Aktuelle Datenlage zu psychischer Gesundheit
8.3 Mental Health bei Kindern und Jugendlichen: globale Herausforderungen
8.4 Determinanten psychischer Gesundheit
8.5 Ansätze für die Verbesserung der psychischen Gesundheit
8.6 Fokusbeitrag: Syndemie bei Kindern und Jugendlichen: Adipositas, Corona und Probleme der psychischen GesundheitHannelore Neuhauser
8.6.1 Einleitung
8.6.2 Syndemien
8.6.3 Adipositas und Probleme der psychischen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen
8.6.4 COVID-19
8.6.5 Soziale Determinanten und Folgen
8.6.6 Ausblick und Herausforderungen
9 KinderschutzDavid Lätsch
9.1 Einleitung
9.2 Public Health und Kinderschutz: Epidemiologische Grundlagen
9.2.1 Definition von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung
9.2.2 Verbreitung
9.2.3 Folgen
9.2.4 Risiko- und Schutzfaktoren
9.2.5 Wirksamkeit von Interventionen
9.3 Public Health im Kinderschutz: Modelle
9.4 Herausforderungen
9.5 Fokusbeitrag: Kinder und Jugendliche mit einem psychisch erkrankten ElternteilKurt Albermann
9.5.1 Einführung
9.5.2 Belastungen der Kinder
9.5.3 Kinderschutz als schwierige Gratwanderung
9.5.4 Bedeutung des Netzwerks
9.5.5 Präventionsmaßnahmen
9.5.6 Fazit und Ausblick
10 Armut und soziale UngleichheitAndreas Jud
10.1 Einleitung
10.2 Wer, wann, wie viele? Herausforderungen in der Erfassung
10.3 Attribute und Folgen von Armut und Ungleichheit: Gewalt im Fokus
10.4 Strategien zur Verringerung von Kinderarmut im Raum D-A-CH
10.5 Aktuelle Herausforderungen: SARS-CoV-2 als Ungleichmacher?
11 Klimawandel und psychische Kinder- und JugendgesundheitLisbeth Weitensfelder und Alexandra Kristian
11.1 Einleitung und Allgemeines
11.2 Direkte und indirekte Verursacher psychischer Folgeschäden
11.3 Negativspiralen von Chancenverschlechterungen
11.4 Wirkung von Extremen
11.4.1 Extremwetterereignisse
11.4.2 Hitze
11.5 Luftschadstoffe
11.6 Negative Emotionen: Klimaangst und Solastalgie
11.7 Coping-Strategien, Schutzfaktoren und Unterstützungsmaßnahmen
11.7.1 Coping-Strategien von Kindern und Jugendlichen
11.7.2 Schutzfaktoren
11.7.3 Weitere Unterstützungsmaßnahmen
12 Gesundheitsökonomie und Kinder- und Jugend-Public Health: Ein Spiel über den Sandkasten hinausAndreas Gerber-Grote und Wendy Ungar
12.1 Einleitung: Warum überhaupt gesundheitsökonomische Überlegungen?
12.2 Was ist Gesundheitsökonomie?
12.3 Return on Investment im Bereich Public Health
12.4 Wo sind die kritischen Punkte bei gesundheitsökonomischen Analysen?
12.4.1 Zeithorizont
12.4.2 Präferenzen für Gesundheitszustände
12.4.3 Abzinsung
12.5 Fazit: Warum also Gesundheitsökonomie?
13 Migration aus sozialwissenschaftlicher PerspektiveSusanne Lochner
13.1 Theoretische Ansätze der Migrations- und Integrationsforschung
13.2 Migrationsbewegungen und zuwanderungsbedingte Heterogenität
13.3 Migrationsbezogene Bedingungen des Aufwachsens
13.4 Zukünftige Entwicklungen und Herausforderungen
14 Migration aus pädiatrisch-medizinischer Public-Health-PerspektiveFabienne N. Jäger
14.1 Einleitung
14.2 Gesundheit minderjähriger Migrant:innen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung
14.3 Gesundheitsrelevante Faktoren: Herkunft – Transit – Aufnahmeland
14.4 Gesundheitsversorgung
14.5 Herausforderungen
15 Das Potenzial intersektionaler Kinder- und Jugend-Public-Health am Beispiel der Diversitätsdimensionen sexuelle Orientierung und GeschlechtsidentitätAndreas Pfister und Niolyne Jasmin Bomolo
15.1 Einleitung
15.2 Intersektionalität – Definitionen und Grundkonzepte
15.3 Intersektionalität in Public Health: Stand des Diskurses mit Fokus auf Kinder und Jugendliche
15.4 Ausblick: Intersektionale Public-Health-Forschung und -Praxis
15.5 Schlussfolgerung
III Public Health: Kernkonzepte und Methoden
16 Gesundheitsförderung und Prävention im Kindes- und JugendalterVerena Biehl und Andrea Zumbrunn
16.1 Einleitung
16.2 Gesundheit und Krankheit
16.2.1 Gesundheit
16.2.2 Krankheit
16.2.3 Modelle zur Entstehung von Gesundheit und Krankheit
16.3 Gesundheitsförderung und Prävention
16.3.1 Prävention
16.3.2 Gesundheitsförderung
16.3.3 Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention im Kindes- und Jugendalter
16.3.4 Professionelles Handeln in der Gesundheitsförderung und Prävention
17 Public-Health-EthikKarin Nordström
17.1 Einleitung
17.1.1 Public-Health-Ethik als Teilgebiet von Medizinethik
17.1.2 Ethik als integraler Bestandteil von Public Health
17.1.3 Ethische Spannungsfelder der Public-Health-Ethik
17.2 Public-Health-Ethik für Kindes- und Jugendalter
17.3 Anwendbarkeit verschiedener normativer ethischer Theorien
17.3.1 Normativ-ethische Theorien als Ansätze zur Entscheidungsfindung
17.4 Berufsethos für Public-Health-Workforce
18 Quantitative Methoden – Epidemiologische DatenerhebungenJulia Dratva und Hannelore Neuhauser
18.1 Epidemiologie
18.2 Datenquellen
18.3 Studiendesigns und Datenerhebung
18.4 Datenerhebung aus der Kinder- und Jugend-Perspektive
18.4.1 Bevölkerung
18.4.2 Selbstangaben oder Proxy-Angaben?
18.4.3 Bias
18.4.4 Ethische Aspekte
19 Qualitative MethodenVeronika Wöhrer und Teresa Wintersteller
19.1 Einleitung
19.2 Ethnographie
19.3 Interviews
19.3.1 Merkmale und Formen von Interviews in der qualitativen Forschung
19.3.2 Interviewsituation und Gesprächsführung
19.4 Partizipative Forschung
19.5 Abschließendes
IV Gesundheitsdeterminanten und -settings
20 Biologische und individuelle GesundheitsdeterminantenJon Genuneit
20.1 Einführung in das Thema
20.2 Überblick zum Stand des Wissens
20.2.1 Epidemiologische Daten und Fakten
20.2.2 Genetische Determinanten
20.2.3 Lebensstil
20.2.4 Ernährung
20.2.5 Bewegung
20.2.6 Schlaf
20.3 Ausblick, Herausforderungen, voraussichtliche Entwicklungen
21 Sozioökonomische und soziodemografische GesundheitsdeterminantenRosemarie Felder-Puig
21.1 Das Modell der Gesundheitsdeterminanten
21.2 Was sind sozioökonomische und soziodemografische Gesundheitsdeterminanten?
21.3 Erklärungsansätze für den Einfluss dieser Gesundheitsdeterminanten
21.4 Empirische Ergebnisse
21.4.1 Impakt von sozioökonomischem Status
21.4.2 Impakt von Migrationshintergrund
21.4.3 Impakt von Geschlecht und Alter
21.5 Maßnahmen zur Stärkung von benachteiligten Kindern und Jugendlichen
21.6 Fokusbeitrag: Gesundheitskompetenz: ein wichtiges Thema für Kinder- und Jugend-Public-HealthOrkan Okan
21.6.1 Einleitung
21.6.2 Was ist Gesundheitskompetenz?
21.6.3 Gesundheitskompetenz: mehr als personale Kompetenz
21.6.4 Handlungsempfehlungen für die Schule
22 Familie/ParentingUte Thyen
22.1 Einführung in das Thema
22.1.1 Begriffsbestimmung Familie heute
22.1.2 Kontextabhängigkeit des Verständnisses von Familie
22.2 Elterliche Fürsorge und Erziehung
22.2.1 Bedeutung der Frühen Kindheit
22.2.2 Familiäre Risikofaktoren
22.2.3 Besondere Herausforderungen durch Trennung und Scheidung
22.3 Lebenswirklichkeit von Familien
22.3.1 Leben in Armut
22.3.2 Erfahrung von Flucht und Migration
22.3.3 Familien mit einem Kind mit einer chronischen Gesundheitsstörung oder Behinderung
22.4 Perspektive der Kinder und Jugendlichen auf Familie
22.5 Starke Kinder − Starke Eltern
22.6 Ausblick: Herausforderungen, voraussichtliche Entwicklungen
22.7 Fokusbeitrag: Psychische Gesundheit von Young CarersAgnes Leu
22.7.1 Einleitung
22.7.2 Psychische Gesundheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität von Young Carers
22.7.3 Maßnahmen und Strategien zur Unterstützung von Young Carers
23 Schule – prägendes Setting für Kinder und JugendlicheDaniel Frey
23.1 Einleitung
23.2 Das Setting Schule – eine zentrale Gesundheitsdeterminante in der Kindheit und Jugend
23.3 Gesundheitsförderung im Setting Schule
23.4 Gesundheitsförderung durch das Setting Schule
23.4.1 Vermittlung von Lebens- und Gesundheitskompetenzen im Rahmen des modernen Bildungsauftrags
23.4.2 Der salutogenetische Ansatz in der Entwicklung des gesunden Settings Schule
23.4.3 Idealtypisches Modell einer gesunden guten Schule
23.5 Wirkung und Wirkungsmessung schulischer Gesundheitsförderung
23.6 Die Schule in ihrem sozialpolitischen Kontext
23.7 Herausforderungen
24 Umwelt und GesundheitMartin Röösli, Meltem Kutlar Joss, Martina Ragettli, Sarah Kienzler, Dietrich Plass, Ana Maria Scutaru, Kerttu Valtanen und Marloes Eeftens
24.1 Spezifische Wirkungsaspekte bei Kindern
24.1.1 Kinder sind in Entwicklung
24.1.2 Metabolismus und Körpergröße
24.1.3 Art der Umweltexposition
24.1.4 Lebenszeitexposition
24.2 Chemische, physikalische und biologische Umwelteinflüsse
24.2.1 Außenluftschadstoffe
24.2.2 Raumluft
24.2.3 Chemikalien im Boden, Wasser und in der Nahrung
24.2.4 Grünraum und Pollen
24.2.5 Klimawandel und Gesundheit
24.2.6 Lärm
24.2.7 Ionisierende und nicht-ionisierende Strahlung
24.3 Ausblick, Herausforderungen, voraussichtliche Entwicklungen
V Kinder- und Jugendgesundheit
25 Schwangerschaft/GeburtJonathan Dominguez Hernandez
25.1 Einleitung
25.2 Sozioökonomisch bedingte gesundheitliche Ungleichheiten: Schwangerschaft und Geburt
25.3 Mütter- und Säuglingssterblichkeit
25.4 Gewichtszunahme vor und während der Schwangerschaft
25.5 Säuglingsernährung aus Sicht der öffentlichen Gesundheit
25.6 Frühgeburt
25.7 Fazit
26 Frühe KindheitTheresa Bengough und Sabine Haas
26.1 Frühe Kindheit und Gesellschaft
26.2 Frühkindliche Entwicklung
26.2.1 Frühe Hirnentwicklung (Neurobiologie)
26.3 Schutz- und Risikofaktoren der frühkindlichen Entwicklung
26.3.1 Risikofaktoren und Vulnerabilität
26.3.2 Schutzfaktoren und Resilienz
26.4 Frühkindliche Bindung und Bindungsstörungen
26.5 Vorsorgeempfehlungen und Screening
26.5.1 Eltern-Kind-Vorsorge (psychosoziale Anamnese und Screenings)
26.5.2 Impfempfehlungen
26.6 Familienunterstützende Prävention
26.6.1 Relevanz transgenerationaler Programme
26.6.2 Frühe Hilfen
26.6.3 Konzepte der Frühen Hilfen in Deutschland, Liechtenstein, Österreich, Schweiz und Südtirol
27 Schulalter (4–12 Jahre)Susanne Stronski
27.1 Biopsychosoziale Entwicklung im Schulalter
27.1.1 Wachstum, körperliche Entwicklung inkl. motorische Entwicklung und Reifung der Kontrollfunktionen
27.1.2 Psychische Entwicklung: Entwicklung der Kognition inkl. Sprachentwicklung, Entwicklung der schulischen Fertigkeiten, sozioemotionale Entwicklung
27.1.3 Sozioemotionale Entwicklung
27.2 Entwicklungsstörungen und -risiken: Früherkennung, Interventionen und Prävention
27.2.1 Systematische Früherkennung: Vorsorgeuntersuchungen in den D-A-CH-Ländern
27.2.2 Störungen und Risiken der Entwicklung auf biologischer Ebene
27.2.3 Störungen der psychischen Entwicklung
27.2.4 Störungen der intellektuellen Entwicklung und der Entwicklung schulischer Fertigkeiten
27.3 Übertragbare Erkrankungen
27.4 Ausblick, Herausforderungen, voraussichtliche Entwicklungen
28 AdoleszenzSvenja Taubner und Agnes von Wyl
28.1 Einleitung
28.2 Körperliche Entwicklung
28.3 Gehirnentwicklung
28.4 Psychosoziale Entwicklung
28.4.1 Identität
28.4.2 Selbststeuerung und Mentalisieren
28.4.3 Sinnfindung
28.5 Lebensgefühl und Einstellungen Adoleszenter
28.6 Weitere Gesundheitsprobleme
28.7 Psychische Erkrankungen und Prävalenzen
28.8 Risiko- und Schutzfaktoren für psychische Störungen in der Adoleszenz
29 Junge Erwachsene – Emerging AdultsBirgit Ulrika Keller und Filomena Sabatella
29.1 Was ist Emerging Adulthood?
29.1.1 Emerging Adulthood – eine neue Entwicklungsphase
29.1.2 Fünf Hauptdimensionen zu bewältigender Entwicklungsanforderungen
29.2 Globale und Nationale Daten der Gesundheitsberichterstattung zur Gesundheit im frühen Erwachsenalter
29.2.1 Psychische Auffälligkeiten und psychische Störungen
29.2.2 Suizid als zentrales Eskalationsphänomen im Kontext psychischer Erkrankungen im frühen Erwachsenenalter
29.2.3 Sexuelle Gesundheit im frühen Erwachsenenalter
29.3 Aktuelle Stressoren für Emerging Adults
29.3.1 Entwicklung einer Berufsidentität
29.3.2 Beziehungsgestaltung
29.3.3 Sexualität
29.3.4 Gestiegene Ansprüche an die Eltern
29.4 Public-Health-Ansätze für die Emerging Adulthood
29.4.1 Familie
29.4.2 Arbeit
29.4.3 Bildungsinstitutionen
VI Anhang
Autorinnen und Autoren
Sachwortverzeichnis
Kinder und Jugendliche sind keine kleinen Erwachsenen. Aus dieser Einsicht ergibt sich, dass speziell angepasste Methoden, Praktiken und Perspektiven in Medizin, Bildung, Sozialwesen und Public Health entwickelt werden müssen – sonst übersehen wir die wesentlichen Eigenschaften und Bedürfnisse dieser Altersgruppe.
Ein Lehrbuch für Public Health, das sich ganz auf Kinder und Jugendliche ausrichtet und deren Besonderheiten aufgreift und beleuchtet, ist daher an der Zeit. Dieses Anliegen löst das vorliegende Buch ein. Die Autor:innen jedes Kapitels stellten sich die Frage: „Was ist bei diesem Public-Health-Thema für Kinder und Jugendliche besonders hervorzuheben?“. Geschrieben von renommierten Expert:innen kombinieren die Kapitel des Buchs Grundlagen mit aktuellen Forschungsergebnissen und umfangreicher Erfahrung, teils ergänzt durch eine persönliche, pointierte Sichtweise auf das jeweilige Thema.
Die Kapitel decken verschiedene Lebensphasen von 0–24 Jahren ab, zudem beleuchten sie unterschiedliche Lebensräume von Kindern und Jugendlichen, Gesundheitsdeterminanten sowie aktuelle und zukünftige Herausforderungen für Gesellschaft, Sozial- und Gesundheitswesen sowie für die Kinder und Jugendlichen selbst. Dabei betonen die Autor:innen sowohl die unterschiedlichen Vulnerabilitäten in den verschiedenen Altersphasen als auch die Ressourcen und Stärken von Kindern und Jugendlichen. In den Kapiteln zu Kernkonzepten und Methoden (Kap. 16 bis Kap. 18) wird die Frage erörtert, was in der Gesundheitsförderung und Prävention sowie in der Forschung mit Kindern und Jugendlichen speziell zu berücksichtigen ist, um Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden. Praxisbeispiele und Fokusbeiträge vertiefen einzelne Themen und setzen Akzente.
Es ist das erste deutschsprachige Lehrbuch für Public Health im Kindes- und Jugendalter. Es erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit der Themen und Ansätze. Das Buch soll die Vielfalt der thematischen und methodischen Perspektiven aufzeigen und Einblick in die wichtigsten Aspekte von Kinder- und Jugend-Public-Health in Deutschland, Österreich und der Schweiz geben. Zudem möchten wir ein ausgeprägt interdisziplinäres Verständnis von Public Health im Kindes- und Jugendalter vermitteln. Mehr noch, als dies für Public Health allgemein der Fall ist, berühren Fragen zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ganz verschiedene Disziplinen gleichzeitig: Medizin, Psychologie, Soziale Arbeit, Pädagogik, Ökonomie, um nur einige zu nennen. Diesen Anspruch einzulösen, ist dank der engagierten Autor:innen gelungen.
Gedacht ist das Buch insbesondere für Studierende in Public Health oder Gesundheits- und Sozialwissenschaften und für Fachpersonen, die sich zu Kinder- und Jugend-Public-Health weiterbilden wollen. Wir wünschen allen, die es zur Hand nehmen, eine anregende Lektüre mit vielfältigen Erkenntnissen und neuen Einsichten.
Julia Dratva
Agnes von Wyl
David Lätsch (†)
Marc Höglinger
Anne Lévy
Kinder und Jugendliche sind nicht einfach kleine Erwachsene. Im Gegenteil: Sie durchlaufen prägende Lebensphasen. Kinder wachsen, lernen zu laufen, zu reden und zu rechnen. Sie kommen in die Pubertät und werden zu Jugendlichen. Sie lernen, Freundschaften zu schliessen, zu streiten, Fehler zu machen, Hilfe in Anspruch zu nehmen und gehen Risiken ein. Schritt für Schritt entdecken sie die Welt und werden zu jungen Erwachsenen. Im besten Fall finden sie dabei heraus, was sie interessant finden. Worin sie besonders gut sind. Und wie sie ihre Fähigkeiten einsetzen können.
Weil sie im Werden begriffen sind, kommt Kindern und Jugendlichen eine gesunde Ernährung, genügend Bewegung, mentale Gesundheit oder die Stärkung von Resilienz sowie eine gesunde Lebensweise ohne Tabak, Nikotin, Alkohol oder andere Drogen besonders zugute. Ein möglichst gesundes Leben für die ganze Bevölkerung.
Was Kinder und Jugendliche prägt, beeinflusst sie ein Leben lang. Der Schutz ihrer körperlichen, psychischen und sozialen Gesundheit ist deshalb besonders wichtig. Und: eine Aufgabe von uns allen, auch der Politik. So braucht es als Grundlage für einen wirksamen Jugendschutz auch griffige Gesetze. Beispielsweise bei der Werbung für tabak- und nikotinhaltige Produkte oder beim Preis für alkoholische Getränke.
Die Gesundheitspolitik ist wichtig, sie entscheidet aber nicht allein, wie gesund die Kinder und Jugendlichen als Erwachsene sein werden. Kinder und Jugendliche brauchen auch faire Chancen auf eine gute Bildung. Sie brauchen saubere Luft, sichere Fuss- und Radwege, so dass sie sich draussen bewegen können. Sie sollten nicht in Armut aufwachsen müssen und ein gesundes, soziales Umfeld aufbauen können. Der Ansatz „Health in all Policies“ verdeutlicht, wie umfassend Gesundheit gedacht und gestaltet werden muss.
Damit Public-Health-Massnahmen bei Kindern und Jugendlichen ankommen, müssen sie etwas damit anfangen können. So können Kinder Auskunft darüber geben, wie es ihnen geht, aber nicht verlässlich über ihre Gesundheit. Aus diesem Grund befragt die länderübergreifende WHO-Studie Health Behaviour in School Aged Children Schülerinnen und Schüler erst ab einem Alter von 11 Jahren. Jugendliche wiederum holen sich ihre Informationen vermehrt von Gleichaltrigen – im direkten Austausch oder über Social Media. Darum ist es entscheidend, dass wir uns fragen: Wie erreichen wir Kinder und Jugendliche, die Hilfe brauchen? Und: Wie sorgen wir früh für Chancengleichheit, damit soziale Ungleichheit nicht zu einer schlechteren Gesundheit führt?
Das Lehrbuch Public Health im Kindes- und Jugendalter bietet einen umfassenden Einblick in die vielschichtigen Aspekte, die die Gesundheit von Kindern- und Jugendlichen und ihre spätere Gesundheit als Erwachsene prägen. Es beleuchtet die gesundheitlichen Herausforderungen und Möglichkeiten dieser Lebensphase und welche Rolle Fachpersonen darin spielen können. Praxisnah, verständlich und fundiert!
Ich danke den Autorinnen und Autoren sowie der Trägerschaft des Buches für ihr Enga|20|gement und ihre Arbeit. Sie haben ein Werk geschaffen, das nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch inspiriert. Und so bin ich überzeugt, dass das Buch einen prominenten Platz in der Public-Health-Ausbildung künftiger Praktikerinnen und Praktiker einnehmen wird.
Anne Lévy
Direktorin Bundesamt für Gesundheit BAG
Bern, Dezember 2024
Ilona Kickbusch
Die Schweiz hat die UN-Kinderrechtskonvention 1997 und später auch die dazugehörigen drei Fakultativprotokolle ratifiziert. Kinderrechte sind grundlegende Rechte, die allen Kindern zustehen, unabhängig etwa von Hautfarbe, Geschlecht, Religion oder Herkunft. Gesundheit ist ein zentraler Bestandteil der Kinderrechte: jedes Kind hat das Recht auf die bestmögliche Gesundheit, medizinische Behandlung, sauberes Trinkwasser, gesundes Essen, eine saubere und sichere Umgebung, Schutz vor schädlichen Bräuchen und das Recht zu lernen, wie man gesund lebt (Art. 24).
Aber es ist noch längst nicht gelungen, dem Wohlbefinden der Kinder in Politik und Gesellschaft wirklich Vorrang einzuräumen. Besonders deutlich wird dies in Hinblick auf neue gesellschaftliche Entwicklungen, durch welche die Grundprinzipien der Kinderrechte wie z. B. das Recht auf Leben und persönliche Entwicklung, der Kindeswohlvorrang und das Beteiligungsrecht eine neue Dimension bekommen haben.
In drei Bereichen ist dies besonders deutlich: der Klimakrise, der zunehmenden Digitalisierung und der vielfältigen Auswirkungen der Corona Pandemie. Alle drei Bereiche sind bedeutsame Handlungsfelder von Public Health und bestimmend für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.
Klima: 2023 hat der UN-Kinderrechtsausschuss erstmalig das Aufwachsen in einer sauberen, gesunden und nachhaltigen Umwelt als Recht eines jeden Kindes bekräftigt. Der Allgemeine Kommentar 26 (General Comment 26) ergänzt die 1989 verabschiedete UN-Kinderrechtskonvention, die jedem Kind das Recht auf Leben und auf angemessene Lebensbedingungen garantiert, aber das explizite Recht noch nicht nennt. Der Generaldirektor der WHO, Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, sagte im Dezember 2024 vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) aus, dass der Klimawandel „grundsätzlich eine Gesundheitskrise“ sei, die bereits „verheerende Auswirkungen“ auf die menschliche Gesundheit, Gesellschaften, Volkswirtschaften und Gesundheitssysteme weltweit habe.
Obwohl Kinder und Jugendliche am wenigsten für den Klimawandel verantwortlich sind, werden sie am stärksten von den Folgen getroffen, schon heute und in Hinblick auf ihre Zukunft. Praktisch jedes Kind auf der Erde ist bereits heute mindestens einer Form von klima- und umweltbedingten Gefahren, Schocks und Belastungen wie Hitzewellen, Überschwemmungen oder Luftverschmutzung ausgesetzt. Die erste umfassende Analyse von Klimarisiken aus der Perspektive von Kindern – der Klima-Risiko-Index für Kinder von UNICEF gemeinsam mit Fridays for Future erstellt – verdeutlicht dies. Damit wird ein starkes Signal für eine an |22|Kinderrechten orientierte Umwelt- und Klimapolitik gesetzt. Eine solche Politik ist immer auch Gesundheitspolitik und wird zu einer dringenden Public-Health-Aufgabe, sowohl was kurz- und langfristige Folgen betrifft.
Digitalisierung: Die digitale Umgebung spielt im Leben von Kindern und Jugendlichen eine immer wichtigere Rolle. Aus der Perspektive von Kinderrechten muss das Konzept des Kindeswohls entsprechend angepasst werden, besonders auch was die Auswirkungen auf die Gesundheit betrifft. Schon länger werden problematische Aspekte der Nutzung von sozialen Medien durch Kinder und Jugendliche auch unter Public-Health-Gesichtspunkten diskutiert, das beinhaltet u. a. Cybermobbing, Vergleichsdruck, digitale Überforderung oder mangelnde Bewegung und gestörter Schlaf. Auch der starke Einfluss von Produktwerbung sowie Desinformationen wird untersucht. Im Sommer 2024 legte der Surgeon General – der oberste Gesundheitsbeamte der USA – einen Bericht zur Auswirkung der zunehmenden Digitalisierung auf Kinder und Jugendliche vor. Er erklärt den Schutz von Kindern und Jugendlichen in Bezug auf diese neue gesellschaftliche und technologische Entwicklung explizit zur Public-Health-Aufgabe. Er weist zudem darauf hin, dass viele der erprobten Public-Health-Massnahmen durchaus auch für diese neuen Gesundheitsgefährdungen wirksam sein können; so setzt er sich für Warnhinweise ein. Zunehmend schlagen Public-Health-Experten:innen in vielen Ländern auch gesundheitsfördernde Massnahmen wie Smartphone-freie Schulen vor.
Auch setzt sich die Sichtweise durch, dass die in der Kinderrechtskonvention verankerten Rechte auf Schutz, Unterstützung und Teilhabe ebenfalls in der digitalen Welt gewährleistet sein müssen. Eine Vielzahl von internationalen und europäischen Organisationen beginnt in diesen Bereichen aktiv zu werden und auch die Weltgesundheitsorganisation widmet sich den Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen als digitale Determinanten der Gesundheit. Neueste Daten zeigen etwa, dass mehr als jeder zehnte Teenager mit einer problematischen Nutzung sozialer Medien zu kämpfen hat. Unterdessen ist auch hier das Recht auf Mitwirkung bedeutsam: Kinder berichteten, dass ihnen die digitale Umgebung entscheidende Möglichkeiten bietet, ihre Meinung und ihre Kreativität einzubringen, lokal wie international. Der Zugang zu Gesundheitsinformationen ist den Kindern und Jugendlichen sehr wichtig und muss ihnen ermöglicht werden. Besonders die Unterstützung durch niedrigschwellige online-basierte Dienste, wie Beratungen bei psychischen Problemen, kann sehr bedeutsam sein. Hier tut sich ein dringliches und sehr zukunftsrelevantes Public-Health-Forschungs- und Arbeitsfeld auf.
Pandemie: Die Weltgesundheitsorganisation weist darauf hin, dass die COVID-19-Pandemie unverhältnismäßig negative Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche aus niedrigeren sozioökonomischen Schichten hatte. Besonders lange Lockdowns und Schulschließungen sowie der Mangel an Unterstützungsstrukturen zeigten Folgen. Die Daten der Studie über das Gesundheitsverhalten von Kindern im schulpflichtigen Alter (HBSC) verdeutlichen, dass ältere Schülerinnen die Auswirkungen der Pandemie stärker zu spüren bekamen als jüngere Jungen. Ein erheblicher Anteil der befragten Jugendlichen – zwischen 15 und 30 % – berichtete über negative Auswirkungen in verschiedenen Bereichen. Die Folgen für die psychische Gesundheit – besonders bei Mädchen – wirken auch nach Ende der Pandemie nach. Es fehlten – und fehlen weiterhin – gezielte Gesundheitsförderungsmassnahmen sowie Unterstützungssysteme, besonders auch im Hinblick auf langfristigen Folgen. Die Pandemiepläne der Länder waren nicht auf diese Auswirkungen vorbereitet und hatten auch keine detaillierten Planungen für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen während einer Pandemie. Die Generationensolidarität war ungleichmässig auf ältere Menschen ausgerichtet. Es muss eine Public-Health-Aufgabe sein, si|23|cherzustellen, dass die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in der Überarbeitung von Pandemieplänen voll berücksichtigt werden.
Alle drei der hervorgehobenen Handlungsfelder tragen sicherlich dazu bei, dass die WHO in vielen Ländern eine steigende Prävalenz besonders von Angststörungen und Depression feststellt. Zugleich muss darauf hingewiesen werden, dass fast überall die erforderlichen kindgerecht Versorgungsstrukturen fehlen.
Die WHO stellt fest: Wir stehen an einem entscheidenden Punkt für die Gesundheit von Kindern. Das Public-Health-Handlungsimperativ für diese drei Bereiche – Klima, Digitalisierung und Post-Pandemie – ist klar gesetzt, denn eine Verschlechterung der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wirkt sich langfristig negativ auf unsere Gesellschaften aus. Von daher braucht es eine sehr viel bessere Erfassung des Gesundheitszustands von Kindern und Jugendlichen sowie der neuen Gesundheitsdeterminanten; es braucht kontinuierliche Evaluation und Forschung und diese Themen müssen Teil der Gesundheitskommunikation sowie der Inhalte der Gesundheitskompetenz sein. Besonders wichtig aber sind politische Maßnahmen, Pläne und Gesetze, die sich auf die Gesundheitsdeterminanten auswirken und sicherstellen, dass das Gesundheitssystem einen gleichberechtigten Zugang zu kinder- und jugendfreundlichen Diensten ermöglicht. Klima-, Digital- und Pandemiegesetzgebung muss die Rechte von Kindern und Jugendliche wahren und ihnen eine Mitsprache über ihre Zukunft geben. Auch im Gesundheitsbereich wird von daher die Frage nach der Generationengerechtigkeit extrem bedeutsam.
Ilona Kickbusch
Genf, Januar 2025
Julia Dratva
Zusammenfassung
Public Health hat das übergeordnete Ziel, die Gesundheit und Lebensqualität der Bevölkerung zu fördern, Erkrankungen zu vermeiden, und Leben zu verlängern. Public Health übernimmt essenzielle Aufgaben wie die Evaluation und Überwachung des Gesundheitszustands einer Bevölkerung, die Erforschung von Gesundheitsdeterminanten, die Kommunikation mit Bevölkerung und Politik über Gesundheit, gesundheitsförderliche Verhältnisse und Massnahmen, Krankheit zu vermeiden, sowie die Sicherstellung eines gleichberechtigten Zugangs zu einem bedarfsgerechten Gesundheitssystems. Dieses Buch legt den Fokus auf die Lebensphase „Kindheit und Jugend“, da diese Altersgruppe spezifische Charakteristika, Vulnerabilitäten aber auch Resilienzfaktoren auszeichnet, welche in Public Health zu berücksichtigen sind.
Public Health ist eine interdisziplinäre Praxis und Wissenschaft mit dem übergeordneten Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung zu fördern, Erkrankungen zu vermeiden, Lebensqualität zu fördern und Leben zu verlängern [2]. Public Health richtet den Fokus, die Forschung, Interventionen und Maßnahmen auf die Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppen aus, um für ein Maximum an Menschen durch gesundheitsförderliche Verhältnisse und gesundheitsförderliches Verhalten ein hohes Maß an Gesundheit und Wohlergehen zu erreichen. Der englische Begriff „Public Health“, übersetzt „öffentliche Gesundheit“, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch in deutschsprachigen Ländern etabliert.
Infobox: Essentielle Public-Health-Aufgaben [1]
Public Health Forschende und Praxis übernehmen in der Schweiz, Deutschland und Österreich Aufgaben, die als „Essentielle Public-Health-Aufgaben“ bezeichnet werden. Diese sind unter anderem:
Evaluation und Überwachung des Gesundheitszustands der Bevölkerung und der Gesundheitsdeterminanten
Wirksame Kommunikation, um die Menschen über Gesundheit, gesundheitsbeeinflussende und förderliche Faktoren zu informieren und aufzuklären
Politiken, Pläne und Gesetze, die sich auf die Gesundheit auswirken, schaffen, fördern und umsetzen
Sicherstellung eines Gesundheitssystems und einen gleichberechtigten Zugang zu den erforderlichen Dienstleistungen
Weiterentwicklung und Verbesserung des öffentlichen Gesundheitswesens durch kontinuierliche Evaluation und Forschung.
Das heutige, der Public Health zugrunde liegende Gesundheitsverständnis fußt auf der WHO-Verfassung, welche in ihrer Präambel 1946 erstmals eine international anerkannte Definition von Gesundheit formulierte [3]:
|28|„Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.“
Die Schweiz und Österreich unterschrieben die WHO-Verfassung im Jahr 1947, Deutschland 1951.
Die WHO-Verfassung macht auch unmissverständlich klar, dass die Verantwortung für die Gesundheit durch die Bereitstellung angemessener Gesundheits- und Sozialmaßnahmen bei den Regierungen liegt. Die WHO-Definition war wegweisend für die weitere Entwicklung des heutigen Gesundheitsverständnisses (Kap. 16) und von Public Health. 1978 prägte die Alma-Ata-Deklaration den Begriff des Health for all, der einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheit fordert, und stärkte die Rolle der primären Gesundheitsversorgung [4]. Einen weiteren Meilenstein stellte die Ottawa-Charta dar [5]. Sie formulierte 1986 das Konzept der Gesundheitsförderung und ein ressourcenorientiertes Public-Health-Verständnis. Die Jakarta-Deklaration, in der die Prioritäten von Public Health des 21. Jahrhunderts aufgestellt wurden, unterstrich erneut die gesellschaftliche Pflicht, Investitionen in Gesundheit und Gesundheitsinfrastruktur zu tätigen sowie die gesundheitsfördernden Potenziale von Gemeinschaften und die Handlungskompetenz von Individuen zu stärken [6]. Die Betonung der gesellschaftlichen Verantwortung macht deutlich, dass das Gesundheitswesen bzw. die Gesundheitsämter diese große Aufgabe nicht allein stemmen können. Der Ansatz Health in all Policies, also Gesundheit in allen Politikbereichen und gesellschaftlichen Systemen von Schul- bis Verkehrswesen mitzudenken, wird dieser Verantwortung gerecht.
In den Anfängen von Public Health im 18. Jahrhundert lag der Fokus auf den Ursachen und der Bekämpfung von Infektionen, denn der Großteil der Todesursachen war darauf zurückzuführen. Neben den bahnbrechenden Erkenntnissen zu Erregern und deren Übertragungswegen sowie zu Impfungen im 19. Jahrhundert und der Entdeckung der Antibiotika Anfang des 20. Jahrhunderts waren der Zugang zu sauberem Wasser und die Verbesserung der Wohn- und Ernährungssituation maßgeblich für den Rückgang infektionsbedingter Todesursachen verantwortlich. Aus einer europäischen Perspektive stand das 20. Jahrhundert ganz im Zeichen der Transition von übertragbaren zu nicht-übertragbaren Erkrankungen, welche durch veränderte Lebensbedingungen (Kap. 24), die demografische Entwicklung (Kap. 4) und die fortschreitenden medizinischen Möglichkeiten rasant zunahmen.
Im Kindes- und Jugendalter hat der Schutz vor Infektionen jedoch ungeachtet der Zunahme an nicht-übertragbaren Erkrankungen, deren Ursachen häufig im Kindesalter liegen (Kap. 2), weiterhin eine hohe Relevanz. Infektionskrankheiten können schwere Folgen haben und der Impfschutz schützt das Kind und den Jugendlichen selbst, aber auch nicht geimpfte Personen, wie Neugeborene, Schwangere, Menschen mit Kontraindikationen gegenüber Impfungen. Und spätestens seit der COVID-19-Pandemie ist offensichtlich, dass übertragbare Erkrankungen nicht vollends zurückgedrängt sind und neue und alte Gesundheitsrisiken, wie der Klimawandel (Kap. 11 und Kap. 24) oder Armut (Kap. 10), in allen Altersgruppen sowohl mit nicht-übertragbaren als auch übertragbaren Erkrankungen zusammenhängen.
Die globale gesellschaftliche Verantwortung drückt sich auch in den Sustainable Developmental Goals (SDG, nachhaltige Entwicklungsziele) aus. Die globale Gemeinschaft hat mit der Verabschiedung der SDGs aktuelle und zukünftige Aktionsfelder und Ziele bis 2030 für eine globale Gesundheit von Menschen und Planet formuliert. Darin enthalten ist auch eine Vielzahl an Indikatoren, die spezi|29|fisch Kinder und Jugendliche adressieren (s. Infobox) [7].
Infobox: Sustainable Development Goals [7]
Die 17 Sustainable Development Goals (SDG), welche die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 6. Juli 2017 verabschiedet hat, verfolgen eine Vision einer Welt frei von Armut, Hunger, Krankheit und Not im Kontext der planetaren Gesundheit.
Viele SDGs adressieren direkt oder indirekt die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen [8] und in einigen SDGs werden für Kinder und Jugendliche explizite Indikatoren formuliert, um den Erfolg der Umsetzung zu messen, beispielsweise:
SDG2 (Kein Hunger): Indikator 2.2.2 Prävalenz von Fehlernährung bei Kindern unter 5 Jahren, nach Art der Fehlernährung (Auszehrung und Übergewicht)
SDG 3 (Wohlergehen/Gesundheit): Indikator 3.2.1 Sterblichkeitsrate von Kindern unter 5 Jahren
SDG 4 (Gleichberechtigte und hochwertige Bildung): Indikator 4.2.1 Anteil der Kinder im Alter von 24–59 Monaten mit altersgemäßer Entwicklung hinsichtlich Gesundheit, Lernen und psychosozialem Wohlbefinden, nach Geschlecht
SDG 8 (Menschenwürdige Arbeit/Wirtschaftswachstum): Indikator 8.6.1. Anteil junger Menschen (im Alter von 15–24 Jahren), die sich weder in Schul- oder Berufsausbildung noch in Erwerbstätigkeit befinden
In diesem Buch geht es um die Lebensphase „Kindheit und Jugend“. Diese Lebensphase wird häufig in weitere Lebensphasen unterteilt. Es ist üblich, Kindheit von 0–10 Jahren zu definieren und so von der Adoleszenz abzugrenzen. Adoleszenz wird von der WHO und der UN als das Alter zwischen 10 und 19 Jahren definiert, eine Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsensein. Der Begriff „Jugend“ (youth) wiederum umfasst das Alter von 15–24 Jahren.
Wenngleich sich diese Einteilungen der Altersphasen auf spezifische Charakteristika und Entwicklungsmeilensteine bezieht, machen die Überlappungen der Alterspannen deutlich, dass sie stark von gesellschaftlichen Konventionen und Kultur geprägt sind. Wann und welche Entwicklungsaufgaben und Erwartungen an Kinder und Jugendliche herangetragen werden, unterscheidet sich nicht nur zwischen Ländern, sondern auch zwischen Familien in demselben Land. Die starren Alterseinteilungen werden individuellen Lebensläufe und Entwicklungen nicht immer gerecht. Die gesellschaftlichen und individuellen Unterschiede spielen für die Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine bedeutende Rolle. Sie haben Einfluss auf Gesundheitsdeterminanten, Schutz- und Risikofaktoren, denen diese Altersgruppen ausgesetzt sind (Kap. 20). Wenn also Altersgruppen und ihre typischen Charakteristika aus einer Public-Health-Sicht untersucht und adressiert werden, muss Diversität in Entwicklung und Lebensrealitäten beachtet werden, um sowohl universell wirksame, aber auch selektive Maßnahmen zu ergreifen.
Warum aber braucht es in Public Health einen speziellen Fokus auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene? Wird diese Bevölkerungsgruppe nicht von den allgemeinen Public-Health-Zielen, den Gesundheits- und Sozialmaßnahmen von Regierungen, von den Interventionen der Public-Health-Praxis oder der Public-Health-Forschung miterfasst? Nachfolgend werden vier Argumentationslinien für den Fokus vorgestellt: Gesunde Entwicklung |30|im Kindes- und Jugendalter, Früherkennung und -förderung, spezifische Vulnerabilität und Resilienz sowie Kinderrechte.
Erneut lässt sich die WHO-Verfassung von 1946 zitieren, die es als wichtig erachtete, die Relevanz einer gesunden Entwicklung von Kindern explizit hervorzuheben [3]:
„Healthy development of the child is of basic importance; the ability to live harmoniously in a changing total environment is essential to such development.“
Kinder und Jugendliche unterscheiden sich von der Erwachsenenbevölkerung unter anderem darin, dass sie eine intensive physische, psychische, soziale und intellektuelle Entwicklung durchlaufen. Die WHO unterstreicht wie essenziell eine gesunde Entwicklung für Kinder und Jugendliche ist, um
in der sich stetig wandelnden Welt ein harmonisches Leben zu führen,
ihr Potenzial zu entwickeln und auszuschöpfen,
ihre Bedürfnisse zu befriedigen und
Fähigkeiten zu entwickeln, die es ihnen ermöglichen, erfolgreich mit ihrer biologischen, physischen und sozialen Umwelt zu interagieren [9].
Die allermeisten Kinder kommen gesund auf die Welt und bleiben während der Kindheit und Jugend gesund. Dennoch gibt es Erkrankungen und Risiken, die typisch für diese Lebensphase sind, die mit den richtigen Interventionen vermeidbar wären, deren frühzeitige Erkennung die Entstehung oder den Verlauf einer Erkrankung wesentlich beeinflussen können und deren Behandlung altersgerechte Maßnahmen erfordert. Beispiele sind das Neugeborenen-Screening [10], welches in der Schweiz 14 Stoffwechselerkrankungen umfasst, die empfohlenen pädiatrischen Vorsorgeuntersuchungen in allen drei D-A-CH-Ländern, sowie Programme der frühkindlichen und familiären Förderung (vgl. Kap. 25, Kap. 26). Das moderne Verständnis der biopsychosozialen Ursachen für Erkrankungen legt nahe, dass es einer Kinder- und Jugend-Sichtweise im Bereich Public Health bedarf, die die verschiedenen biologischen, psychologischen und sozialen Einflüsse und deren Interaktionen von Anfang an berücksichtigt.
Eine erhöhte Vulnerabilität von Kindern und Jugendlichen, d. h. ihre geringere Widerstandsfähigkeit gegenüber gesundheitsschädlichen Einflüssen und Expositionen, sowie ihre erhöhte Suszeptibilität, wird einerseits anhand der hohen Dichte an Entwicklungsschritten und Transitionen und andererseits durch ihre vielfältigen Abhängigkeiten erklärt. Es sind Abhängigkeiten, die häufig auch noch im jungen Erwachsenenalter bestehen bleiben. Das Gesundheitsmandala zeigt die Komplexität der Umwelt, in die Kinder hineingeboren werden, und die verschiedenen Abhängigkeiten nicht nur von der Familie und den Erziehungsberechtigten, sondern von der Gemeinde, dem Land mit seinen Gesetzen und seiner Kultur sowie den globalen Realitäten, wie Finanzkrisen, Klimaerwärmung oder Kriegen (Abbildung 1-1).
Ein Gegenpol zur Vulnerabilität ist die Resilienz des Individuums: seine Fähigkeit, sich trotz widriger Umstände und Erfahrungen gesund zu entwickeln und zu „gedeihen“. Kindern mit hoher Resilienz gelingt dies besser als Kindern mit geringer Resilienz und gleichen Widrigkeiten. Ein Public-Health-Ziel ist daher, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Die Resilienz eines Kindes zu fördern, |31|heißt auch die Resilienz von Familien oder Gemeinden zu fördern. Dieses ressourcenorientierte Public-Health-Verständnis ist im Kindesalter besonders effektiv (Kap. 20).
Anders als die allermeisten Erwachsenen können Kinder und Jugendliche nur bedingt politisch für ihre Rechte eintreten. Die UN-Kinderrechtskonvention schaffte dafür einen Rahmen. Am 20. November 1989 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die UN-Konvention über die Rechte des Kindes. Die Konvention enthält weltweit gültige Grundwerte im Umgang mit Kindern und davon abgeleitete Rechte (Kap. 1.4.4). Erstmals wurden Kinder als eigenständige Persönlichkeiten angesehen – mit eigenen Rechten, eigener Meinung und eigenen Bedürfnissen. Alle Staaten mit Ausnahme der USA haben die Konvention ratifiziert [12].
Abbildung 1-1: Mandala of Health. Adaptiert von Hancock, 2010 [11]
Zusammengefasst liegt eine Vielzahl an Gründen vor, sich aus einer Kinder- und Jugendperspektive mit Public Health zu befassen, also den Besonderheiten und Bedürfnissen dieser Altersgruppe besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Take Home Messages
Public Health strebt durch Gesundheitsförderung, Prävention und Gesundheitsversorgung ein Höchstmaß an Gesundheit und Wohlergehen für die Bevölkerung an.
|32|Die 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Develeopmental Goals) verfolgen die Vision einer Welt frei von Armut, Hunger, Krankheit und Not im Kontext der planetaren Gesundheit.
Eine gesunde Entwicklung ist von grundlegender Bedeutung, um in einer sich stets verändernden Umwelt ein gesundes und zufriedenes Leben führen und Herausforderungen meistern zu können.
Die hohe Dynamik der Entwicklung in Kindheit und Jugend sowie die vielfältigen Abhängigkeiten müssen in der Public Health für Kinder und Jugendliche berücksichtigt werden.
World Health Organization. Essential public health functions, health systems and health security: developing conceptual clarity and a WHO roadmap for action. Geneva: WHO. 2018 [cited 2024 Apr 16]. Available from: https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/272597/9789241514088-eng.pdf?sequence=1
Acheson ED. On the state of the public health [The fourth Duncan lecture]. Public Health. 1988;102(5):431–7. Crossref
World Health Organization. Preamble to the Constitution of the World Health Organization as adopted by the International Health Conference, New York, 19–22 June 1946. WHO [cited 2024 Apr 16]. Available from: https://digitallibrary.un.org/record/3843230?v=pdf
World Health Organization. Declaration of Alma-Ata. WHO; 2019 [cited 2024 Apr 16]. Available from: https://www.who.int/publications/i/item/WHO-EURO-1978-3938-43697-61471
World Health Organization. Ottawa Charta for health promotion. WHO; 1986 [cited 2024 Apr 16]. Available from: https://www.who.int/teams/health-promotion/enhanced-wellbeing/first-global-conference
World Health Organization. 4th International Conference on Health Promotion, Jakarta, Indonesia. 1997 [cited 2024 Apr 16]. Available from: https://www.who.int/publications/i/item/WHO-HPR-HEP-41CHP-98.1
United Nations. Department of Economic and Social Affairseditor. The 17 goals. [cited 2024 Apr 16]. Available from: https://sdgs.un.org/goals
Unicefeditor. Using data to achieve the Sustainable Development Goals (SDGs) for children. [cited 2024 Apr 16]. Available from: https://data.unicef.org/sdgs/
National Research Council (US), Institute of Medicine (US). Children’s Health, the Nation’s Wealth: Assessing and improvingchild health. Washington, D. C.: National Academies Press; 2004 [cited 2024 Apr 16]. Available from: http://www.nap.edu/catalog/10886
Neoscreening.ch. Zentrum für Pädiatrische Labormedizin (ZPL) Neugeborenen-Screening Schweiz. [abgerufen am 16. April 2024]. Verfügbar unter: https://www.neoscreening.ch/de/
Blair M, Stewart-Brown S, Waterston T, Crowther R. Child public health. 2nd ed. Oxford: Oxford University Press; 2010. Crossref
UNICEF. Die UN Kinderrechtskonvention. UNICEF [cited 2024 Apr 16]. Available from: https://www.unicef.ch/de/wer-wir-sind/kinderrechtskonvention?gclid=Cj0KCQjwmZejBhC_ARIsAGhCqneqiD4na05baRdU4AdPxwsML13CcIy5uswhEbYPYEnhh59cCqC5jFQaApD_EALw_wcB
Julia Dratva
Zusammenfassung
Der Lebenslaufansatz (life course approach) betrachtet Expositionen in verschiedenen Lebensphasen und deren Bedeutung für Gesundheit und Krankheitsentstehung über die gesamte Lebensspanne eines Individuums hinweg. Gesundheit und Krankheit sind gemäß dem Lebenslaufansatz ein Produkt verschiedener gesundheitsförderlicher und -schädlicher Expositionen, denen Menschen im Verlauf des Lebens begegnen. Dabei sind sowohl die kumulativen Effekte als auch die Zeitpunkte der Exposition, die Dynamik und die Interaktionen zwischen Expositionen relevant. Zentrale Konzepte des Lebenslaufansatzes sind Entwicklungsbahnen, Risikoakkumulation, die Developmental Origins of Disease-Theorie oder das Kritische-Phasen-Modell. Der Lebenslaufansatz unterstreicht die Bedeutung der frühen Lebensjahre von der Konzeption bis in die Jugend für ein Leben in Gesundheit und Wohlbefinden. Daraus kann unter anderem die Relevanz für Public Health im Kinder- und Jugendalter abgeleitet werden.
Die Erkenntnis der Lebenslaufforschung, dass viele Erkrankungen des Erwachsenenalters ihren Ursprung bereits in der Schwangerschaft und Kindheit haben, hat das gängige Gesundheitsverständnis und die Public Health des 20. Jahrhunderts nachhaltig verändert. Ein zweiter Paradigmenwechsel besteht darin, dass Gesundheit und Krankheit nur in sehr seltenen Fällen genetisch deterministisch zu erklären sind. Die Rolle dynamischer Umwelt-Gen-Transaktionen und sozialer Faktoren im Kontext psychologischer und biologischer Funktionen hat das Verständnis von Gesundheit und der Bedeutung von Public Health maßgeblich verändert [1].
Der Lebenslaufansatz, life course approach, bietet einen interdisziplinären Ansatz, um den Einfluss von individuellem Verhalten sowie von sozialen oder umweltbezogenen Faktoren auf die Entwicklung von Gesundheit und Krankheit im Lebensverlauf und deren Verteilung in der Bevölkerung zu beschreiben und zu erklären. Dabei werden unterschiedliche Lebensphasen, insbesondere die Schwangerschaft, Kindheit und Jugend, in Bezug auf ihre spezifischen Risiken und Chancen für eine gesunde Entwicklung und das Erkrankungsrisiko für nachfolgende Lebensphasen betrachtet. Das Potenzial, durch Gesundheitsförderung, Verhaltens- und Verhältnisprävention zur Vermeidung chronischer Krankheiten und zum Erhalt von Wohlergehen und Gesundheit beizutragen, ist in diesen frühen Lebensphasen besonders ausgeprägt.
Die ersten Lebenslauftheorien entstanden im Kontext soziologischer Forschung in den 1960er Jahren durch namhafte Forscher, wie Elder, Clausen und andere, ausgelöst durch die industriellen Entwicklungen und die dadurch angestoßenen sozialen Fragen sowie die gesellschaftlichen Veränderungen der Nachkriegszeit. Die Soziologie begreift den Lebenslauf als |34|eine soziale Konstruktion [2], d. h. ein von sozialen Normen und Strukturen geformtes soziales Konstrukt. Aus soziologischer Sicht liegt daher erstens ein Interesse an den Mustern und Strukturen von Lebensverläufen sowie an den Interaktionen des Individuums mit dessen sozialer Umgebung, z. B. seinen Beziehungssystemen (Familie etc.), vor. Zweitens liegt ein Fokus auf dem Studium von Geburtskohorten, um den Einfluss von gesellschaftlichen Kontexten und deren Wandel auf die individuelle Entwicklung zu untersuchen und aus einer historischen Perspektive Erkenntnisse über soziale Einflussfaktoren zu gewinnen. Drittens, im Public-Health-Kontext von besonderem Interesse, wird die Rolle von sozialen Institutionen betrachtet. Soziale Institutionen prägen Individuen und setzen einerseits einen Rahmen für die individuelle Entwicklung und verknüpfen andererseits spezifische Expositionen und Gesundheits- und Krankheitsentwicklungen örtlich und zeitlich miteinander. Eine solche soziale Institution ist z. B. das Bildungssystem: Kinder und Jugendliche durchlaufen, in Abhängigkeit von ihrem kulturellen und sozialen Kontext, eine bestimmte Abfolge von Bildungseinrichtungen, welche jeweils die psychische, physische, soziale und intellektuelle Entwicklung prägen (Kap. 23).
Auch die Entwicklungspsychologie griff das Lebenslaufkonzept früh auf, um interindividuelle Unterschiede der menschlichen Entwicklung im Lebensverlauf und den Einfluss der psychischen, sozialen und physischen Umgebung auf die individuelle Anpassungsfähigkeit, Resilienz und Reaktivität zu untersuchen [3]. Resilienz beschreibt die individuelle Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit, gegenüber sich ändernden Umständen und Bedingungen oder schädlichen Expositionen. Personen mit hoher Resilienz können diesen Änderungen und insbesondere gesundheitsschädlichen Expositionen „besser“ begegnen oder die Expositionen besser verarbeiten. In der Folge können sie trotz dieser schädlichen Expositionen besser gedeihen (engl. thriving, flourishing) bzw. erleiden einen geringeren Schaden als Personen mit geringerer Resilienz (Kap. 16). Der familiäre und gesellschaftliche Kontext kann die individuelle Resilienz stärken oder schwächen und spielt damit eine wichtige Rolle (Kap. 22).
In der Biomedizin war David Barker mit seiner fetal programming hypothesis wegweisend aufzuzeigen, wie schädliche Expositionen bereits in der vorgeburtlichen Phase wirksam sein können [4]. Barker, ein englischer Embryologe, stellte die Hypothese auf, dass Nährstoffmangel in der Schwangerschaft sowohl mit einer erhöhten Kindessterblichkeit als auch mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen im Erwachsenenalter zusammenhing. Barkers’ Hypothese war der Ausgangpunkt für eine Vielzahl an Studien zur Bedeutung früher Lebensfaktoren und deren Einfluss auf die Gesundheit im Lebensverlauf. Eine dieser Studien untersuchte die Folgen des durch das nationalsozialistische Besatzungsregime bewusst verursachten Nahrungsmangels zwischen 1944–1945 in den Niederlanden – eine Periode, die als Dutch hunger winter in die Geschichtsbücher einging. Frauen, die in dieser Zeit schwanger waren, brachten Babys zur Welt, die im hohen Alter deutlich häufiger unter chronischen Erkrankungen litten als Personen ohne die Exposition Nahrungsmangel in der Schwangerschaft [5]. Bemerkenswert war, dass in Abhängigkeit vom Schwangerschaftstrimenon, in welchem die Exposition auftrat, im Alter unterschiedliche chronische Erkrankungen gehäuft auftraten. Diese Erkenntnisse untermauerten das Konzept der kritischen Phasen oder „vulnerablen Zeitfenster“ (Kap. 2.2).
Auf die Hypothese von Barker folgte die Developmental Origins of Health And Disease“-Theorie (DOHAD-Theorie) [6]. Auch hier ist der zentrale Mechanismus die Plastizität, die Anpassungsfähigkeit, als Reaktion auf externe Einflüsse in Schwangerschaft und früher Kindheit. Diese Plastizität dient dem Organismus dafür, sich den zu erwartenden und den gegebenen Lebensumständen optimal anzu|35|passen und so einen Überlebensvorteil zu entwickeln. Spätere Veränderungen der Lebensumgebung und -expositionen können diesen Vorteil in einen Nachteil umkehren und zu einem erhöhten Risiko an chronischen Erkrankungen führen.
Die Erkenntnis, dass bereits in der Schwangerschaft und Kindheit Ursachen für spätere Erkrankungen im Erwachsenenalter zu finden sind, stellte in der Biomedizin einen Paradigmenwechsel dar. In den letzten Jahren nimmt die Evidenz dafür zu, dass selbst präkonzeptionelle Expositionen der Eltern und sogar der Großeltern Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern bzw. Enkelkindern haben können. Diese Zusammenhänge werden über vererbte epigenetische Mechanismen [7] oder durch geteilte Lebenswelten erklärt (Kap. 3.4).
In den letzten Jahren wurde verschiedene Lebenslaufkonzepte und Erklärungsmodelle erarbeitet.
Ein zentrales Konzept des Lebenslaufansatzes ist die Entwicklungsbahn (developmental trajectory) [8]. Entwicklungsbahnen zeigen für eine bestimmte Dimension die Entwicklung über die Zeit auf. Sie folgen meist einem natürlichen Spannungsbogen, der durch initiales Wachstum und Entwicklung, ein Equilibrium und einen physiologischen Abbau gekennzeichnet ist (Abbildung 2-1). Ausgehend von normativen Entwicklungsbahnen können Abweichungen davon sowohl von Individuen als auch von Bevölkerungsgruppen beobachtet und beschrieben werden. Entwicklungsbahnen einzelner Dimensionen können parallel oder versetzt verlaufen, so kann z. B. für Längenwachstum bereits ein Equilibrium erreicht sein, während die intellektuelle Entwicklung sich noch in der Wachstumsphase befindet. Es ist zu betonen, dass je nach Dimension eine abweichende Entwicklungsbahn nicht zwangsläufig mit einem tieferen subjektiven Gesundheitszustand oder geringerem Wohlergehen assoziiert ist.
Abbildung 2-1: Entwicklungsbahnen-Konzept.
Individuelle oder gesellschaftliche Faktoren, Ressourcen und Risiken, sowie Lebensereignis|36|se und Umwelteinflüsse üben über verschiedene Mechanismen, z. B. über die Genexpression, einen Einfluss auf Entwicklungsbahnen und letztendlich auf Gesundheits- und Krankheitsentwicklung aus (Kap. 10, Kap. 20). Dabei können einzelne Expositionen, die z. B. zu kritischen Entwicklungszeitpunkten auftreten, oder wiederkehrende Expositionen Entwicklungsbahnen abrupt respektive graduell verändern. Einige solcher Expositionen sind typisch für eine bestimmte Lebensphase, z. B. der Geburtsmodus oder frühe respiratorische Infektionen. Beides sind z. B. Faktoren, die mit der Entwicklung der Lungenfunktion [9] und von Asthma im Lebensverlauf assoziiert sind [10]. Andere Faktoren treten über die gesamte Lebenspanne auf, z. B. die Exposition gegenüber Luftverschmutzung (Kap. 24), hyperkalorische Ernährung (Kap. 6), oder wiederkehrend auf, z. B. belastende Kindheitserfahrungen (Kap. 10).
Tabelle 2-1: Gewichts-Kategorien und entsprechende BMI-Perzentile im Kindes- und Jugendalter.
Gewichtsbeschreibung
Definition
Untergewicht
Unterhalb der 5. Perzentile
Gesundes Gewicht
5. bis 85. Perzentile
Übergewicht
85. bis 95. Perzentile
Adipositas
95. Perzentile oder darüber
Die Veränderbarkeit von Entwicklungsbahnen lässt sich mit dem Phänomen der Plastizität erklären, welches die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Organismus auf äußere Einflüsse beschreibt (Kap. 2.1, DOHAD), sowie mithilfe der Epigenetik (Kap. 3.4), der Regulation der Genaktivität durch Umweltfaktoren.
Beispiel für Entwicklungsbahnen: Wachstum- und Gewichtsperzentile
Eine in der pädiatrischen Praxis häufige Anwendung von Entwicklungsbahnen sind Wachstums- und Gewichtskurven in Perzentilen (Beispiel Wachstums- und Gewichtskurven Schweiz [11]). Sie dienen unter anderem dem Monitoring des individuellen Wachstums eines Kindes im Vergleich mit Wachstumsverläufen einer vergleichbaren Bevölkerung. Sie werden in der Public-Health-Praxis und -Forschung zur Beschreibung von Wachstum der Bevölkerungsgruppe Kinder und Jugendliche herangezogen.
Der Body-Mass-Index (BMI) ist ein anthropometrischer Index für Gewicht und Größe. Der BMI wird berechnet, indem das Gewicht einer Person (in Kilogramm) durch das Quadrat ihrer Größe (in Metern) geteilt wird. Auch für BMI liegen Entwicklungsbahnen vor. Gewichts-Kategorien im Kindes- und Jugendalter beruhen auf diesen geschlechts- und altersspezifischen BMI-Perzentilen und dienen dem individuellen und dem Populations-Monitoring von Unter- und Übergewicht (Tabelle 2-1, Abb. 2-2) [12].
Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter wird mit klinischen Risikofaktoren, z. B. Cholesterinspiegel und Blutdruck, für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und anderen chronischen Erkrankungen in Verbindung gebracht (Kap. 7). Ursachen für Übergewicht und Adipositas sind vielfältige und bei Weitem nicht allein auf Ernährung oder Bewegung zurückzuführen, sondern auf eine Vielzahl von (epi-)genetischen, biologischen, umweltbezogenen und sozialen Determinanten [13].
In den letzten Jahren wurden Modelle entwickelt, die Erklärungen und Muster für Zusammenhänge zwischen Expositionen über den Lebenslauf hinweg, für die Relevanz bestimmter Zeitpunkte und späterer gesundheitlicher Effekte bieten. Zwei dieser Modelle sind die Risikoakkumulation und das Kritische Phasen-Modell [14].
Abbildung 2-2: Wachstums- und Gewichtskurven in Perzentilen von Jungen 0–18 Jahre.
Das Modell der Risikoakkumulation beschreibt, dass sich Risikofaktoren über die Lebenspanne oder in bestimmten Lebensphasen anhäufen können. Selbstverständlich kann es sich auch um die Akkumulation von protektiven Einflussfaktoren bzw. um beides handeln. Kuh et al. haben verschiedene Modelle dieser Risikoakkumulation beschrieben [14]. Sie unterscheiden sich durch die Unabhängigkeit der Einflussfaktoren voneinander (Modell A), eine durch einen zusätzlichen Faktor erklärbare Häufung von Einflussfaktoren (cluster, Modell B), oder durch eine Abfolge von Faktoren und deren Abhängigkeit voneinander (chain of risks, Risikoketten-Modell C). Dabei ist die Abfolge eher probabilistisch als deterministisch zu verstehen. Eine Variante des Ketten-Modells ist das Trigger-Modell, bei dem der letzte Faktor entscheidend für den gesundheitlichen Effekt ist (Modell D) (Abbildung 2-3).
Ein Kriterium einer erfolgreichen und zielführenden Public-Health-Praxis ist es, zum richtigen Zeitpunkt Maßnahmen zu ergreifen bzw. zu intervenieren.
Dieses Modell ist aus den Erkenntnissen der Lebenslaufforschung entstanden, die darauf hinweisen, dass eine Exposition zu bestimmten „Zeitfenstern“ oder sensiblen Phasen, die für die physische, psychische, sozial-emotionale oder intellektuelle Entwicklung zentral sind, mit einem erhöhten Risiko für spätere chronische Erkrankungen einhergeht. Diese Zeitpunkte einer erhöhten Suszeptibilität für protektive oder schädliche Einflüsse werden auch Opportunitätsfenster (windows of opportunities) oder Vulnerabilitätsfenster (windows of increased vulnerability) genannt. Ein Beispiel für ein Opportunitätsfenster ist das erste Schwangerschaftsdrittel, in dem z. B. die Substitution von Folsäure das Risiko eines Neuronalrohrdefekts reduziert. Die Substitution wird bereits vor der Konzeption empfohlen, damit von Anfang an der Folsäurespiegel ausreichend hoch ist. Im ersten Lebensjahr wiederum besteht eine erhöhte Vulnerabilität gegenüber Passivrauch. Passivrauchen geht unter anderem mit einem erhöhten Risiko eines Plötzlichen Kindstodes oder längerfristig einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) einher.
Die Lebenslauftheorien und methodischen Lebenslaufansätze werden weiterhin erforscht und verfeinert [15]. Herausfordernd bleiben die Komplexität der Einflüsse und Auswirkungen, die inter- und intraindividuelle Heterogenität und Dynamik der Expositionen und deren Auswirkungen auf Gesundheit und Krankheit von Individuen und Bevölkerungsgruppen. In den nachfolgenden Kapiteln folgen weitere Beispiele und Hinweise auf die hohe Relevanz des Lebenslaufansatzes für Kinder- und Jugend-Public-Health-Forschung und -Praxis.
Abbildung 2-3: Epidemiologische Lebenslaufansatz-Modelle. Quelle: Kuh et al., 2004.
Take Home Messages
Viele Erkrankungen des Erwachsenenalters haben ihren Ursprung bereits in der Schwangerschaft und Kindheit.
Die DOHAD-Theorie geht von einer Plastizität des Organismus aus, der sich in der Schwangerschaft und frühen Kindheit an die gegebene Umwelt optimal anpasst.
Lebenslaufbahnen (trajectories) sind ein zentrales Konzept des Lebenslaufansatzes. Sie gehen von einer normativen Entwicklung aus und beschreiben den Verlauf im Kontext von (epi-)genetischen, biologischen, umweltbezogenen, sozialen Expositionen im Lebensverlauf.
Protektive und schädliche Einflussfaktoren akkumulieren über die Lebensspanne und wirken zusammen auf Gesundheit und Wohlergehen.
Expositionen in sensiblen Zeitfenstern können das Risiko von „Nicht-Gedeihen“ oder chronischen Erkrankungen erhöhen (erhöhte Vulnerabilität) oder verringern.
Halfon N, Hochstein M. Life course health development: an integrated framework for developing health, policy, and research. Milbank Q. 2002;80:433–79. Crossref
Wingens M. The life course as a social construction. In: Wingens M, editor. Sociological life course research. Heidelberg: Springer; 2022. Crossref
Lerner RM, Agans JP, Arbeit MR, Chase PA, Weiner MB, Schmid KL, Warren AEA. Resilience and positive youth development: a relational developmental systems model. In: Goldstein S, Brooks RB, editors. Handbook of resilience in children. Boston: Springer; 2013. p. 293–308. Crossref
Barker D. Infant mortality, childhood nutrition, and ischaemic heart disease in England and Wales. The Lancet. 1986;327:1077–81. Crossref
Painter RC, Roseboom TJ, Bleker OP. Prenatal exposure to the Dutch famine and disease in later life: An overview. Reproductive Toxicology. 2005;20:345–52. Crossref
Gluckman PD, Hanson MA, Buklijas T. A conceptual framework for the developmental origins of health and disease. J Dev Orig Health Dis. 2010;1:6–18. Crossref
Krauss-Etschmann S, Meyer KF, Dehmel S, Hylkema MN. Inter- and transgenerational epigenetic inheritance: evidence in asthma and COPD? Clin Epigenet. 2015;7:53. Crossref
Elder GH. The life course as developmental theory. Child Development. 1998;69:1. Crossref
Okyere DO, Bui DS, Washko GR, Lodge CJ, Lowe AJ, Cassim R, et al. Predictors of lung function trajectories in population-based studies: A systematic review. Respirology. 2021;26:938–59. Crossref
Romero-Tapia SDJ, Becerril-Negrete JR, Castro-Rodriguez JA, Del-Río-Navarro BE. Early prediction of asthma. JCM. 2023;12:5404. Crossref
Pädiatrie Schweiz. Pädiatrie Schweiz. Wachstumskurven. 2011 [abgerufen am 20. Juni 2024]. Verfügbar unter: https://www.paediatrieschweiz.ch/unterlagen/wachstumskurven/
Centers for Disease Control and Prevention. Defining Child BMI categories. BMI and BMI categories for children and teens. Centers for Disease Control and Prevention; 2023 [cited 2024 Apr 16]. Available from: https://www.cdc.gov/bmi/child-teen-calculator/bmi-categories.html#:~:text=Child%20and%20teen%20BMI%20categories%20are%20based%20on,by%20the%20square%20of%20their%20height%20%28in%20meters%29
Hampl SE, Hassink SG, Skinner AC, Armstrong SC, Barlow SE, Bolling CF, et al. Clinical practice guideline for the evaluation and treatment of children and adolescents with obesity. Pediatrics. 2023;151:e2022060640. Crossref
Kuh D, Shlomo BY, Ezra S, editors. A life course approach to chronic disease epidemiology. Oxford: Oxford University Press; 2004. Crossref
Halfon N, Larson K, Lu M, Tullis E, Russ S. Lifecourse health development: past, present and future. Matern Child Health J. 2014;18:344–65.
Agnes von Wyl
Zusammenfassung
Die Entwicklungspädiatrie beschäftigt sich mit der Entwicklung und dem Verhalten von gesunden und kranken Kindern vom Säuglingsalter bis in die Adoleszenz. Als Teilgebiet der Pädiatrie fokussiert sie auf die somatische und psychosoziale Entwicklung des Kindes. Sie vermittelt erstens Daten und Kenntnisse über die normale Entwicklung von Kindern zweitens Risiken und Symptome einer auffälligen oder bereits manifest gestörten Entwicklung sowie drittens Wissen über Behandlungsansätze, Rehabilitation und Prävention [1]. Die Entwicklungspädiatrie grenzt sich vor allem durch die Miteinbeziehung von Entwicklungsaspekten vom übrigen medizinischen Denken ab [2]. Sie hat ein breites Anwendungswissen im Erfassen des Entwicklungsstandes und der Entwicklungsdefizite und der entsprechenden Diagnostik. Prävention und Gesundheitsförderung sind ihr Hauptfokus, dabei ist aber immer auch die Einzigartigkeit eines Kindes wichtig.
Die Gesundheit von uns Menschen wird von vielen Faktoren beeinflusst. In der Kindheit und Jugend kommt dem Faktor Entwicklung eine ganz besondere Bedeutung zu. Der Prozess der körperlichen, geistigen, emotionalen und sozialen Entwicklung gestaltet sich für jeden Menschen unterschiedlich. Hinzu kommen äußere Einflüsse, die besonders große Wirkung haben können – im Positiven wie im Negativen. In Bezug auf Public-Health-Programme ist es daher aus entwicklungspädiatrischer Perspektive eminent wichtig, Entwicklung als einen Prozess zu verstehen, der einen Einfluss auf das aktuelle und zukünftige Leben von jungen Menschen hat.
Damit Fachpersonen das Verhalten und Erleben von Kindern und Jugendlichen besser verstehen und diese entwicklungsgerecht behandeln und fördern können, ist es relevant, dass sie über Grundkenntnisse verfügen, was deren Entwicklung angeht. Von zentraler Bedeutung ist beispielsweise zu wissen, dass Entwicklungsschritte erst dann erfolgen können, wenn das Kind die nötige Reife dazu hat. Ein konkretes Beispiel dafür ist das Fahrradfahren-Lernen: Wenn ein Kind die motorischen Fähigkeiten noch nicht hat, sein Gleichgewicht auszubalancieren, führt auch noch so viel Üben nicht zum gewünschten Ziel.
Grundsätzlich folgen Entwicklungsschritte Abläufen, die bei einer Mehrheit von Kindern und Jugendlichen zu beobachten sind. Ihre Reihenfolge und ihre Verbindung zum durchschnittlichen Alter, in dem sie stattfinden, geben einen Orientierungsrahmen. So sollte z. B. ein Kind bis zum Abschluss des Säuglingsalters gewisse motorische Fähigkeiten entwickelt haben, wie das zielgerichtete Greifen, die eigenständige Fortbewegung und den aufrechten Gang. Im Verlauf der ersten Lebensjahre erweitern sich diese Fähigkeiten, das Kind modifiziert bereits erlernte Bewegungsabläufe und erwirbt eine Vielzahl neuer Fertigkeiten. Zu diesen zählen beispielsweise das Springen über Gegenstände oder erste Formen des Werfens [3]. Ebenso gibt es für die Entwicklungsberei|42|che Wachstum, Kognition, Sprache und Gehirn, Wahrnehmung, aber auch den sozialen und emotionalen Bereich typische Entwicklungsphasen und Meilensteine.
Für eine adäquate Förderung von Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, die große Variabilität sowohl im Verlauf als auch in der Ausprägung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Auge zu behalten. Jedes Kind ist einzigartig und entwickelt sich in seinem eigenen Tempo. Es gibt keine festen Zeitpläne für die Entwicklung eines Kindes. Die Verschiedenartigkeit zwischen Kindern gleichen Alters bezeichnet man als interindividuelle Variabilität. Sie ist ein Ausdruck der Spannbreite von Entwicklungsmerkmalen. Für körperliche Merkmale bieten Wachstumskurven Referenzgrößen (Kap. 26). Andere Entwicklungsaspekte werden mit erwartbaren Meilensteinen verglichen, z. B. bei der Sprachentwicklung. Es kann nicht genug betont werden, dass die interindividuelle Variabilität zwischen gleichaltrigen Kindern sehr groß sein kann, und zwar bezogen auf das Ausmaß, den Zeitpunkt des Auftretens einer bestimmten Fertigkeit, Varianten von Fertigkeiten und selbst auf Abfolgen von Entwicklungsschritten. Zusätzlich ist die intraindividuelle Variabilität zu beachten, also Unterschiede verschiedener Entwicklungsmerkmale bei einem einzelnen Kind. Der Begriff der Teilbegabung ist ein Ausdruck für die unterschiedlichen Stärken und Schwächen, die ein Kind zeigen kann: Beispielsweise kann ein Kind in der sprachlichen Entwicklung verzögert sein, jedoch motorisch äußerst geschickt. Schließlich ist die Stabilität bzw. Instabilität der Entwicklung für Prognosen ein wichtiger Faktor: Läuft die Entwicklung eines Merkmals kontinuierlich ab oder diskontinuierlich, z. B. in Sprüngen?
Es gibt indes auch Kinder, die in ihrer Entwicklung so große Abweichungen zeigen, dass von einer Entwicklungsstörung ausgegangen werden muss. Falls es sich dabei um eine Ausprägung handelt, die eine Unterstützung von außen bedingt, hilft das Entwicklungswissen bei der Entscheidung, wann es sinnvoll und wichtig ist, zu intervenieren und eine angezeigte Förderung zu ermöglichen. Auch ist Früherkennung wesentlich, denn adäquate Förderung sollte frühzeitig ansetzen, weil in der Regel eine möglichst frühe Intervention bzw. Förderung den größten Erfolg verspricht. Außerdem gibt es für gewisse Entwicklungsprozesse Zeitfenster, in denen eine Intervention besonders günstig ist (Kap. 2.2.1). Diese Zeitfenster bedeuten sensible Phasen, in denen Säuglinge und Kleinkinder für bestimmte Reize besonders empfänglich sind; nach einer gewissen Zeit gehen sie vorüber bzw. schließen sich wieder. Die Organisation, die sich in diesen Phasen neuronal bildet, ist oft irreversibel und somit von großer Bedeutung für die fortlaufende Entwicklung des Kindes [4].
Um einschätzen zu können, ob es sich bei Auffälligkeiten um eine Entwicklungsstörung oder Verhaltensstörung handelt, ist eine systematische Entwicklungsdiagnostik Voraussetzung. Demgegenüber bieten Entwicklungsscreenings mit geringem Aufwand eine grobe Orientierung über den Entwicklungsstand und allfällige Auffälligkeiten. Eine Entwicklungstestung kann im Falle eines positiven Screenings spezifischere Informationen beisteuern.
Risiko- und Schutzfaktoren spielen bei der Einschätzung von Entwicklungs- und Verhaltensstörungen sowie bei der Entscheidung für Präventions- und Gesundheitsförderungsprojekten in diesem Bereich eine wichtige Rolle. Genau genommen können Entwicklungs- und Verhaltensstörungen nur dann präventiv angegangen werden, wenn die Risiko- und Schutzfaktoren bekannt sind und in der Wahl der Ansätze berücksichtigt werden. Sowohl Risiko- wie auch Schutzfaktoren lassen sich nach kindbezogenen und umweltbezogenen Ansätzen aufteilen. Eine chronische Krankheit ist z. B. ein kindbezogener Risikofaktor, eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung ein kindbezogener Schutzfaktor. Die |43|kindlichen Faktoren können nach ihrem Auftreten weiter in pränatal und perinatal (Kap. 25) oder postnatal (Kap. 26 ff) unterteilt werden. Bei den umweltbezogenen Risikofaktoren ist eine psychische Erkrankung eines Elternteils ein Risikofaktor, ein offenes und anregendes Erziehungsklima indessen ein Schutzfaktor. Bei den umfeldbezogenen Faktoren unterscheidet man außerdem zwischen direkten – z. B. die Eltern-Kind-Interaktion – und indirekten Faktoren, z. B. Armut oder eine psychische Störung der Eltern.
Risikofaktoren können Entwicklungs- oder Verhaltensstörungen verursachen bzw. verstärken. Kindliche und umweltbezogene Einflüsse interagieren auf komplexe Weise. Beispielsweise bedeutet eine Frühgeburt, dass die Signale des Säuglings zur Aktivierung des Bindungsverhaltens häufig desorganisiert und wenig stark ausgeprägt sind [5]. Dies kann bei der Mutter den Prozess des Bondings erschweren und schließlich den sensitiven Umgang mit ihrem Baby beeinträchtigen. Dies bedeutet wiederum, dass das Kind weniger Unterstützung bei der Affektregulation erhält. Risikofaktoren wirken somit komplex auf die Entwicklung eines Kindes ein. Ob eine Entwicklungsstörung entsteht, ist jedoch nicht zwingend von der Art des Risikofaktors abhängig, sondern vielmehr vom Schweregrad, der Dauer einer Belastung sowie der Anzahl der Risikofaktoren. So ist eine Kumulation von Risikofaktoren gravierender und erhöht die Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer Störung [6]. Auch die schwerere Ausprägung eines Risikofaktors bedeutet eine größere Gefahr einer andauernden Störung [7].
Im Gegensatz dazu sind Schutzfaktoren Merkmale, die eine Entstehung einer Entwicklungs- oder Verhaltensstörung verhindern oder eine positive Entwicklung begünstigen können [8]. Schutzfaktoren – bzw. Ressourcen oder Stärken – sind gegenwärtig im Fokus der Entwicklungspädiatrie wie des Public-Health-Bereichs insgesamt. Schutzfaktoren zu stärken bedeutet, das Risiko für Entwicklungs- und Verhaltensstörungen zu verringern. Die präzise Identifizierung von Schutzfaktoren hat somit praktische Relevanz. Schutzfaktoren zeigen ihre protektive Wirkung erst bei Vorhandensein eines Risikos. Somit lassen sich Schutzfaktoren als „Helfer in der Not“ verstehen [9]. Die Mannheimer Risikokinderstudie konnte beispielsweise zeigen, dass eine positive Mutter-Kind-Interaktion bzw. ein feinfühliges Verhalten der Mutter die Symptombelastung bei Kindern in psychosozial hoch belasteten Familien deutlich verringerte, dass hingegen bei Kindern aus psychosozial unbelasteten Familien kein Unterschied zu beobachten war [10].