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«Die Supermann-Geschichte faszinierte mich. Vor den anderen spielt er den kompletten Deppen, aber heimlich hat er unglaubliche Fähigkeiten. War das nicht exakt mein Leben? Nur ohne die Fähigkeiten?» Wer im Märkischen Viertel aufgewachsen ist, der weiß, was Härte ist: Beton, Rockerbanden, pieksige Sträucher, und auf drei Seiten stand da früher außerdem noch die Berliner Mauer. Fil hat das alles am eigenen Leib erlebt, und dazu noch einiges mehr. Nun schreibt er über sich: als Kind in der Hochhaussiedlung, als Erziehungsobjekt in einer raumschiffartigen Gesamtschule der Siebziger, als Punk in feindlicher Umwelt, als Ziel sozialpädogischer Extremmaßnahmen und als Heranwachsender, der nicht weiß, wer ihm mehr Rätsel aufgibt: die Eltern, die Lehrer, die Mädchen oder er sich selbst.
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Seitenzahl: 320
Veröffentlichungsjahr: 2014
Fil Tägert
Die Geschichte meiner Jugend
Roman
«Die Supermann-Geschichte faszinierte mich. Vor den anderen spielt er den kompletten Deppen, aber heimlich hat er unglaubliche Fähigkeiten. War das nicht exakt mein Leben? Nur ohne die Fähigkeiten?»
Wer im Märkischen Viertel aufgewachsen ist, der weiß, was Härte ist: Beton, Rockerbanden, pieksige Sträucher, und auf drei Seiten stand da früher außerdem noch die Berliner Mauer. Fil hat das alles am eigenen Leib erlebt, und dazu noch einiges mehr. Nun schreibt er über sich: als Kind in der Hochhaussiedlung, als Erziehungsobjekt in einer raumschiffartigen Gesamtschule der Siebziger, als Punk in feindlicher Umwelt, als Ziel sozialpädogischer Extremmaßnahmen und als Heranwachsender, der nicht weiß, wer ihm mehr Rätsel aufgibt: die Eltern, die Lehrer, die Mädchen oder er sich selbst.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2015
Copyright © 2015 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Illustration Fil
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream Inc.
ISBN 978-3-644-50771-5
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Epilog
Danksagung
Das Märkische Viertel wurde von 1963 bis 1968 im Norden Westberlins erbaut. Vorher war diese Gegend eine Art Sumpf gewesen. Ein sumpfiges Gelände voller tollwütiger Kampfkröten und milbendurchseuchter Molche, um das keiner weinen würde. Von drei Seiten von der Mauer umgeben und dem Osten freimütig die Botschaft «Sumpf ist Trumpf» hinüberschickend, eine Botschaft, der wenig Wahres anhaftete.
So durfte das nicht bleiben.
Irgendwann spuckten die Westler deshalb in die Hände und begannen frohgemut, eine große Zahl Hochhäuser zu bauen – mitten hinein in den schlechten Schlamm. Hohe Hochhäuser. Wie in New York. Nicht ganz so hoch. Ziemlich viele andere Unterschiede auch.
Sie verpassten den Häusern eine geheimnisvoll um die Ecke gedachte Nummerierung und strichen sie in den fünf Grundfarben an: Grau, Weiß, Gelb, Orange und Dunkelgrau.
70000 Menschen zogen bald dorthin.
«Beton», rief der Bezirksbürgermeister in seiner Einweihungsrede, «Werkstoff der Zukunft. Unsere Neubauten – sie werden länger stehen als die Pyramiden.»
Muss man abwarten – der Beton war auf jeden Fall ganz schön dünn. Durch die Wände, Decken und Böden hörten die Bewohner rund um die Uhr ihre Nachbarn und die Nachbarn ihrer Nachbarn, anders als bei den Pyramiden, sag ich mal, aber umso besser: So lernten sich alle schnell kennen und wurden beste Freunde.
Es war immer sonnig im Märkischen Viertel, denn nirgends gab es hohe Bäume. Nur mickrige, in immer gleichen Abständen in den Boden gesteckte Jungpflanzen, halbmeterhoch und an Holzpflöcke geknotet, damit sie nicht umfielen. Sie sahen genauso tot aus wie die Pflöcke, an denen sie hingen. Untenrum war das M.V. zusätzlich mit dornigen Hecken bebraunt, die Kinder nannten sie «die Piker». Es wuchsen allerdings auch ein paar Hagebuttensträucher.
In der Mitte des Märkischen Viertels war das Zentrum. Das Zentrum, wo es alles gab: drei Supermärkte, Schuster, Bäcker, Friseur, Schreibwaren, Spielwaren, ein chinesisches und ein italienisches Restaurant, einen Wienerwald, die Eisdiele, Siggi’s Imbiss, den Laden, wo keiner wusste, was der nun wieder wollte, das Kino «Kegelbrücke», ein Schwimmbad und die Diskothek «Shock».
Du hattest schon das Gefühl, einer haut dir in die Fresse, wenn du nur am Shock vorbeigingst. Kino und Schwimmbad kamen im Vergleich dazu ganz gut.
In drei Richtungen war, wie gesagt, die Mauer, es gab also nur einen Weg raus. Du brauchtest mit Bus und Umsteigen ungefähr zwei Stunden bis nach Kreuzberg, Schöneberg oder in sonst eine Gegend, wo’s nicht so aussah wie hier. Fast niemand nahm diese Reise auf sich. Man musste ja dann auch wieder zurück.
Die ursprüngliche Idee war eigentlich gewesen, eine U-Bahn-Linie bis ins M.V. zu legen, um die Menschen dort mit dem Rest der Stadt zu verbinden.
«U-Bahn – schneller als die Pyramiden», rief der Bezirksbürgermeister.
Als 1968 alles fertig gebaut war, hackten Bauarbeiter einige Straßen auch sofort wieder auf, legten Rohre frei, gruben um die Rohre rum, entdeckten Rohre unter den Rohren, Kabel, Krötenskelette, irgendwas aus Bernstein und gruben da auch noch drumrum. Sie gruben, gruben und gruben.
«U-Bahn», dachten die Leute.
1974 sollte sie fertig sein.
Dann 1986.
1993 wurde erklärt: Doch keine U-Bahn.
So blieben wir weitgehend unter uns und konnten unsere eigene Kultur entwickeln.
Von draußen kam wenig rein. David Bowie soll eine Zeitlang in Berlin gelebt haben – mag sein. Hoffentlich hat’s ihm gefallen, bei uns schneite er jedenfalls nicht vorbei. Im Kino lernten wir nur die Welt Bud Spencers, Terence Hills und Godzillas gegen Frankensteins Monster kennen. Im Schwimmbad sahen wir die mageren Hintern der vor uns Schwimmenden, die unseren eigenen fatal glichen. Ins Shock traute sich keiner rein.
Wir waren wie neue Menschen in einer neuen Welt. Pioniere.
Es war aufregend – die Kinder warfen ihre Katzen vom Balkon, um zu kucken, ob sie auf den Füßen landen würden. Die kleinen Geschwister der Kinder warfen ihre Meerschweinchen hinterher, um zu schauen, ob die Meerschweinchen Katzen waren. Manche Erwachsene sprangen gleich selbst runter. Vielleicht sind Menschen nicht gerne hoch oben. Es scheint einen Sog nach unten zu geben.
Ich mochte das Märkische Viertel. War es nicht irgendwie bereits die Stadt der Zukunft, in der wir jetzt schon leben durften? Wir armen Kreaturen einer jämmerlichen Gegenwart, in der die Männer Haare wie Frauen hatten und die Hosen unten so elend weit wurden? Man konnte im M.V. seine Kumpel besuchen, ohne dafür auf die Straße zu müssen. Noch besser hätte ich es gefunden, wenn alle Häuser durch unterirdische Gänge miteinander verbunden gewesen wären. Und wenn wir Uniformen wie in Raumschiff Enterprise gehabt hätten.
Vor allem die Frauen.
Wir blinzelten hoch zu den höchsten Dächern, auf denen meistens noch scharfkantige Dreieckskonstruktionen drauf waren. Warum Dreiecke?, fragten wir nicht. War ja die Zukunft hier, das konnte man eh nicht alles schnallen.
Ich war ein phantasiebegabtes Kind, darum blieb ich am liebsten den ganzen Tag zu Hause, denn da kannst du mit Phantasie irgendwie am meisten machen. Außerdem schmeißt dich da keiner in die Piker.
Ich blieb zu Hause und bereitete mich spielerisch auf das Leben vor. Mit meinen Playmobilfiguren erdachte ich mir die verzwicktesten Szenarien: einer war meistens auf der Flucht vor den anderen, kam aber immer wieder durch. Vorsichtig baute ich von Zeit zu Zeit sogar Lego in mein Spiel mit ein. Ich weiß: Lego und Playmobil??? Aber so war ich schon als Kind: ein kleines bisschen anders eben.
Meine Mutter gab mir Bücher zum Lesen. Zuerst waren das echt witzige Sachen: Pippi Langstrumpf, das Sams, Tom Sawyer. Aber je älter ich wurde, desto unkomischer wurden die Bücher. Irgendwann ging’s fast nur noch um das Dritte Reich mit Anne Frank, Friedrich, der es damals war, und dem rosa Kaninchen, und am Schluss waren alle tot. Wie gesagt – nicht die witzigsten Bücher der Welt, aber man konnte daraus viel lernen. Über die Nazis. Dass sie schlecht gewesen waren.
«Hast du das schon verstanden?», fragte meine Mutter immer, wenn ich ein Buch durchhatte. «Es ist eigentlich für viel ältere Kinder.»
«Logisch hab ich’s verstanden. Gib mir doch mal eins für noch ältere.»
Wie es aussah, war ich sehr begabt. Deswegen hatten meine Eltern mich auch ein Jahr früher einschulen lassen, nämlich schon mit fünf. Vorher hatte meine Mutter wochenlang mit mir für den Einschulungstest geübt. Da musste man was zeichnen, und das war mir schwergefallen.
«Warum hat dein Männchen denn nur drei Finger, Philipp?»
Wusste ich auch nicht, warum.
«Schau mal, so geht das: eins, zwei, drei, vier, fünf. Siehst du? Jetzt probier mal selber.»
Ich malte einen Eumel mit sieben Fingern an einer Hand und vier an der anderen. Waren doch total viele Finger. Nicht gut? Aus Unsicherheit malte ich ihm noch acht Zehen an jeden Fuß und zwei Bauchnäbel.
«Komm, wir nehmen ein neues Blatt.»
So kam ich schon mit fünf in die Schule, ich war mit Abstand der Jüngste in der Klasse. Trotz meiner Hochbegabung wählten sie mich dort aber nicht zum Anführer, was ein bisschen typisch ist fürs Märkische Viertel. Eigentlich auch für die ganze übrige Welt.
Am Wochenende ging mein Vater ab und zu mit mir raus. Fußball spielen. Ich stand dann da, und der Ball schoss an mir vorbei.
«Versuch mal zu dribbeln!», rief mein Vater dribbelnd. «Hä?», dachte ich. Da knallte mir der Ball an die Nuss.
«Einen Kopfball nie mit dem Kinn annehmen», mahnte er. Sport und Phantasie – natürliche Feinde, wa?
Sport war nicht mein Lieblingsfach. Jede Stunde spielten wir Fußball gegen die Parallelklasse. Natürlich nur die Jungs, die Mädchen kuckten zu. Das war nun ihr Sportunterricht: rumsitzen. Deshalb wäre ich als Kind lieber ein Mädchen gewesen. Deshalb und wegen den süßen Klamotten.
Wir waren zwölf Jungen in der Klasse, und ein einziger war schlechter als ich. Das heißt, er war nicht eigentlich schlechter, nur unberechenbarer. Er hatte Schwierigkeiten, seine Schuhe zuzubinden, und konnte sich nicht merken, für welche Mannschaft er spielte. Manchmal lag er auch zuckend mit Schaum vor dem Mund und zerbrochener Brille den anderen im Weg. Deshalb war er der ewige Ersatzspieler, die Geheimwaffe, die wir nie einsetzten, und durfte mit den Mädchen zukucken, während ich jedes Mal mitspielen musste.
Fast alle Jungs aus meiner Klasse waren Stürmer, nur ich und ein stotternder Einpullerer mit sanftem Naturell mussten Verteidiger sein. Die Parallelklasse war uns haushoch überlegen, die ganze Action spielte sich vor unserem Tor ab. Das heißt, während die ganzen guten Spieler vorne vor sich hin stürmten, knallte uns der Gegner hinten einen nach dem anderen rein. Ich versuchte immer woanders zu sein, wenn der Ball kam, ohne dass es so aussah, als würde ich ihm aus dem Weg gehen. Gar nicht so einfach, vor allem wenn man phantasiebegabt ist und die ganze Zeit dabei noch vor sich hin träumen muss.
Unser Torwart, der dicke Lars, war eine Flasche, aber auf seine Weise gab er alles. Wenn der Ball schon längst im Tor lag, schmiss er sich nachträglich noch auf den Schotter, schürfte sich die Schwarte auf und schrie dann: «Was ist das für ’ne Scheißabwehr?!» Wir verloren immer so fünf zu null, sechs zu null, acht zu null, und jedes Mal waren der Stotternde und ich schuld.
«Sport ist nur was für Idioten», sagte meine Mutter und gab mir ein neues Buch.
Einmal auf dem Nachhauseweg von der Schule fand ich ein zerfleddertes Supermann-Heft ohne Umschlag und schmuggelte es unter meinem Pulli in die Wohnung. Ich las es unter der Bettdecke. Was nicht einfach war, denn ich wusste zwar aus meinen traurigen Büchern, dass man Verbotenes unter der Bettdecke liest, aber nicht, dass man dazu noch eine Taschenlampe braucht.
Die Supermann-Geschichte faszinierte mich. Vor den anderen spielt er den kompletten Deppen, aber heimlich hat er unglaubliche Fähigkeiten. War das nicht exakt mein Leben? Nur ohne die Fähigkeiten? Wieder und wieder las ich das Heft. Ich fand auch gut, dass es ohne Nazis war.
Die letzten Seiten fehlten allerdings, und es ärgerte mich sehr, dass die Geschichte kein Ende hatte. Dann fand ich’s aber irgendwie gar nicht so schlecht: Es machte das Ganze mysteriöser. So anders als die ewigen geschriebenen Bücher, die wie stumpfsinnige Ozeandampfer von der ersten Seite an auf ihr – meist unglückliches – Ende zusteuerten. Zwischen ihren Buchdeckeln blieben sie gefangen. Supermann war frei.
Als ich zehn war, verbrachte ich mit einem Haufen anderer Kinder einen Teil der Sommerferien auf der Insel Scharfenberg im Tegeler See. Jeden Tag gingen wir schwimmen. Einmal nach dem Schwimmen saß ich mit zwei Mädchen, noch in den nassen Badeklamotten, auf einem umgestürzten Baumstamm, der in den See ragte. «Wir werden uns eine Nierenentzündung holen», dachte ich, «das ist der pure Wahnsinn», denn so hatte meine Mutter es mich gelehrt. Aber ich sagte mal nichts. Summte tonlos vor mich hin, denn ich stellte mir gerade vor, ich sei der Star einer Fernsehserie und in meinem Kopf lief jetzt der Vorspann dazu ab. Es war eine Serie über ein Fußballteam, das irre schlecht zu sein scheint, aber eigentlich haben sie’s total drauf und verstellen sich nur aus taktischen Gründen.
Die Mädchen schnipsten Rindebrocken in meine Richtung, und plötzlich fragte mich eine: «Bist du Mexikaner?»
Komische Frage, wir kannten uns doch schon seit der ersten Klasse. Sie war Heike Bujarski, das schönste Mädchen unter der Sonne. Und ich war doch Philipp aus der Parallelklasse und kein Mexikaner.
Die Antwort fiel also nicht schwer: «Nein.»
«Hab nur gedacht», sagte Heike, «weil Mexikaner immer so süß aussehen.»
«Nee, bin aber keiner.»
Wir schwiegen und saßen weiter in der Sonne auf dem Baumstamm, umschwirrt von frischgeschlüpften Mücken, Schmetterlingen und Hummeln. Heike schaute aufs Wasser, das andere Mädchen schielte zu mir rüber. Ich suchte in der zerklüfteten Oberfläche des toten Baumes nach Ameisen. Mit denen konnte ich über Hirnwellen kommunizieren.
Dann sprangen die Mädchen in den See und schwammen davon. «Endlich!», dachte ich und rannte zu meinen Kleidern. Schnell den Bademantel übergeworfen, kucken, ob keiner kuckt, und die nasse Hose aus. Meine Nieren fühlten sich eiskalt an. Hoffentlich waren sie nicht schon entzündet. Nachdem ich mich angezogen hatte, packte ich Badehose und Handtuch in eine Tüte, schulterte die und ging in die Maisfelder. Große Maisfelder gab es auf der Insel Scharfenberg. Als Junge war man darin total verborgen. Ich rupfte mir einen rohen Kolben von der Staude, begann darauf rumzukauen und dachte nach.
Irgendwas hatte Heike mir sagen wollen mit dieser Geschichte von dem süßen Mexikaner, da war ich ganz sicher. Auch das Verhalten des anderen Mädchens hatte darauf hingewiesen. Dieses Starren. Eingeweiht war sie mir vorgekommen. Aber worein? Was war hier die geheime Botschaft? Sahen Mexikaner überhaupt süß aus? Die einzigen, die ich kannte, kamen im Lucky-Luke-Heft «Tortillas für die Daltons» vor, und die sahen eher witzig aus. Hatte sie das gemeint? Witzig? Nein, sie hatte wohl wirklich süß gemeint. Wie sie schon das Wort ausgesprochen hatte: «süüß». Flötend, mit gespitzten Lippen und dem Blick zum Boden. Heike war so unglaublich schön. Kannte sie einen Mexikaner? War sie im Urlaub mit ihren Eltern nach Mexiko gefahren und hatte sich dort in einen verliebt? In einen süßen? Ich sah ihn vor mir, dunkelhäutig, schwarzlockig und mit einem riesigen Sombrero. Mir brach es das Herz, aber es passte einfach: sie in ihrer Schönheit, mit einem süßen Mexikaner. Bloß warum erzählte sie mir davon? Brauchte sie mich für irgendeinen Botendienst? Durften ihre Eltern nichts wissen? Ich dachte noch lange darüber nach.
Auf dem Schulweg, in der Schule und auf dem Weg zurück begann ich mir irgendwann vorzustellen, dass ich ein riesiger Roboter wäre. Gigantisch, ein mobiles vernunftbegabtes eigenes Märkisches Viertel auf zwei Beinen, bevölkert von winzigen Wesen. Im Kopf war die Kommandozentrale, von der aus mit den anderen Körperteilen kommuniziert wurde. Beispielsweise meldete der Typ, der den Darm beaufsichtigte (ein unrasierter rauchender Vogel mit brauner Uniform. Ständig schlecht gelaunt, na ja, er hatte auch den übelsten Job): «Ey! Hier unten ist wieder ’ne Fuhre bereit!»
«Geht jetzt nicht», funkten sie von oben, «wir sind noch unterwegs. zehn Minuten mindestens.»
«Waas? Wie soll ich den Druck zehn Minuten halten? Mir fliegt hier gleich alles um die Ohren!»
«Die Beine sind schon informiert, aber schneller schaffen wir’s nicht.»
«Ihr habt gut reden, hockt da oben gemütlich rum!»
Es war tatsächlich ausgesprochen gemütlich oben. Riesige Siebziger-Jahre-Computer, in denen sich so Magnetbänder drehten, überall blinkten bunte Lämpchen, für die Mannschaft gab es moderne Räume mit Sofas, ovalen Fenstern und Lavalampen. Zwischen den Schichten konnten sie dort Filme kucken. Alle trugen rote Pagenuniformen wie Pikkolo aus den Fix-und-Foxi-Taschenbüchern. Nur der Darmtyp hatte eben eine braune (wie kam ich bloß immer auf solche Sachen?). Und dann gab es noch einen mit einer blauen. Er hieß Joe, und seine Aufgabe war der Außendienst.
Wir hatten oben nämlich auch einen kleinen wendigen Turbojet, mit dem man zu den Ohren raus in die Welt fliegen konnte. Wenn’s sein musste. Und ab und zu musste es leider sein.
«4…3…2…1…Start!»
Der Jet schoss aus dem rechten Ohr des Riesen-Philipp-Roboters ins Freie. Joe ging in den Tiefflug, riss die Maschine im letzten Moment wieder hoch. Einmal fraß ihn fast ein Hund. Weil er so winzig war, brauchte er lange für die Strecke, darum hatte er ein Pausenbrot dabei. Endlich näherte er sich seinem Ziel: «Objekt anvisiert, ich geh rein.»
In der Kommandozentrale bibberten sie.
«Er geht rein, und hier kommt gleich was raus!», funkte der ewige Typ von unten.
«Ruhe!»
Heike Bujarski war auch auf dem Weg nach Hause. Gerade hatte ich sie noch kurz in der Schule gesehen. Jetzt sah ich sie schon wieder auf dem großen Bildschirm in meinem Kopf. Geschickt steuerte Joe seinen Jet auf sie zu, wendete scharf und flog in ihr linkes Ohr.
Alarmsirenen! Joe boxte die Fensterkuppel hoch und sprang aus dem Jet. Überall wimmelte es vor Wachpersonal. Heikes Leute sahen aus wie meine, nur dass sie grüne Uniformen hatten. Auch ihre Kommandozentrale ähnelte meiner; sie war allerdings etwas kleiner und weniger Lichter blinkten.
Mit gezielten Phaserstößen hielt Joe sich Heikes Männer vom Hals, er rannte zu den Computern und fing dort fieberhaft zu suchen an. Zum Glück waren die Computerrollen beschriftet. Schule – nein, Völkerball – nein, Familie, Freunde, Ferien – ah, hier war’s: Wie ich Philipp finde.
Eine schwere Rolle, was immer das bedeutete. Joe riss sie aus der Verankerung und lief Richtung Jet, aber schon versperrte ihm ein Dutzend grün gewandeter Gestalten den Weg.
«Her mit der Rolle», rief der Boss von denen, «hier kommst du eh nicht mehr raus. Wir werden dich foltern, um rauszufinden, wer dich schickt. Das dürfte hochinteressant werden.»
Joe drehte sich um und rannte in die andere Richtung.
«Hinterher!», riefen Heikes Männer.
Schnell zum rechten Ohr. Hier musste es doch … da sah er ihn auch schon: ein grüner Turbojet, bewacht von zwei Männern. Joe schaltete sie blitzschnell aus und sprang in den Jet.
«Schnappt ihn euch! Er darf nicht entkommen!»
Der erste von Heikes Männern war schon beim Jet, aber zu spät: Joe hatte das Schätzchen ruck, zuck gestartet und sauste zum rechten Ohr hinaus.
In der Kommandozentrale bei mir jubelten sie. Aber: Heikes Jet war leider wesentlich schlechter als meiner und nicht für lange Flüge konzipiert. Er trudelte und verlor an Höhe. «Mistvogel!», fluchte Joe. Und da kam wieder der Hund von vorhin.
«Ballast abwerfen! Du musst Ballast abwerfen, Joe! Wirf die Rolle ab, dann bist du leichter!»
«Niemals! Die Rolle ist mein Auftrag!»
Da schaltete ich mich persönlich ein: «Wirf die Rolle ab, Joe. Das ist es nicht wert. Wirf sie ab, ist schon okay.»
«Zu Befehl, Boss», murmelte Joe tonlos und schmiss die Rolle aus dem Jet, dem geifernden Köter direkt in den Rachen. Wie ich Philipp finde konnte man noch kurz lesen, dann schnappte das Biest zu und verschluckte sie. Joe riss die Maschine mit letzter Kraft hoch und steuerte sie auf Impulsantrieb sicher durch mein Ohr zurück in die Zentrale.
«Mach dir nichts draus, Mann», sagten die anderen, aber Joes Laune war im Keller. Er ging in sein Schlafquartier, wollte einfach nur alleine sein.
«Fast hätte es geklappt», murmelte er tonlos, während er sich einen Saft eingoss.
Sein bester Freund Bill kam durch die elektromagnetische Schiebetür herein.
«So was passiert, Kumpel. Aber du warst nah dran, verflucht nah. Wir konstruieren einen neuen, besseren Jet, und dann versuchst du’s noch mal.»
«Noch mal?», wunderte sich Joe. «Aber die Rolle ist doch hin. Für immer verloren.»
«Nichts ist verloren», beruhigte ihn Bill. «Sie haben von jeder Rolle Duplikate. Glaub mir: Nächstes Mal haut’s hin. Und jetzt lass uns ins Bordkino gehn. Sie zeigen Das Mädchen auf dem Besenstiel und danach Mit Schirm, Charme und Melone.»
Inzwischen war ich an unserer Wohnungstür angelangt. Ich hatte, ohne es zu merken, den ganzen halbstündigen Weg von der Schule nach Hause zurückgelegt.
Verrückt, wie vertieft man in seine Phantasien sein kann. Die Außenwelt war währenddessen völlig verblasst. Jetzt erinnerte ich mich, dass ich auf dem Nachhauseweg sogar jemanden getroffen hatte. Total vergessen gehabt. Wer war das noch mal gewesen? Mehrere, glaub ich sogar. Ach, jetzt fiel es mir wieder ein: Johnny und seine Kumpels hatten an der Ecke gestanden. Die waren alle so um die dreizehn, vierzehn – langhaarig, Raucher, AC/DC- oder Kiss-Aufnäher hinten auf den Jeansjacken. Nie beides zusammen, du konntest nur AC/DCoder Kiss sein. Auf meiner Jeansjacke war hinten ironischerweise ein Fußball drauf. Na ja. Genau, Johnny und seine Kumpels hatten dort rumgelungert. Ich erinnerte mich plötzlich, dass ich noch kurz gedacht hatte: «Da hinten sind Johnny und seine Leute – ich geh mal am besten nicht auf die andere Straßenseite, sondern extra dicht an ihnen vorbei, sonst denken sie noch, ich hab Angst oder so.» Dieses Verhalten hatte ich aus den Western gelernt, die in unserem Ghettokino liefen: Der Held ging immer alleine auf die Bösen zu, die immer in der Überzahl waren. Godzilla machte es auch so: Alleine gegen ein paar tausend Japaner. Also los.
«Ey, Piepel», sagte Johnny.
Erst mal weitergehen. Vielleicht meint er ja jemand anderen.
«Ey, Piepel. Ich rede mit dir.»
Johnny packte mich von hinten an meiner Schulmappe, und genau in dem Moment schickte ich Joe in dem kleinen Turbojet los. Wegen dem Heike-Auftrag natürlich, aber auch – wie ich mich jetzt erinnerte –, damit wenigstens er durchkam, falls sie mich killen würden.
«Wo willst du denn hin? Wir tun dir doch nichts», sagte Johnny, aber kaum hatte er das gesagt, schubste er mich schon in die Piker. Ich rappelte mich auf, beobachtete Joes Flug auf meinem inneren Monitor und sagte: «Lasst mich in Ruhe. Sonst könnt ihr nachher die Arztkosten bezahlen.» (Der alte Arztkosten-Trick. Funktionierte leider fast nie.)
«Wir tun dir doch gar nichts», sagte Johnnys einer Kumpel und schubste mich zurück in die Piker.
«Du Arschficker», meinte nun wieder Johnny, «ich krieg noch fünf Mark von dir.»
«Nein», sagte ich. Vorsicht, Joe, der Hund!
«Na logisch. Hab ich dir letzte Woche geliehen. Stimmt’s?»
Die anderen nickten.
«Du verwechselst mich, glaub ich», sagte ich mit zittriger Stimme, aber Johnny packte mich am Kragen und zog mich so nah an sein Gesicht heran, dass ich seine Pickel zählen konnte. Es waren dreizehn. Er hielt mir seine Faust unter die Nase, aus der die Spitze eines abgebrochenen Mercedessterns ragte.
«Willst du mich verarschen?», flüsterte er heiser.
Ich schüttelte schnell den Kopf. War aber auch ’ne leichte Frage gewesen. Warum waren bloß die Mädchen nie so klar wie die Jungs?
«Morgen um dieselbe Zeit hier gibst du mir meine Kohle zurück, sonst …»
Er kratzte mir mit der Mercedesfaust über die Backe. Es tat weh und fühlte sich heiß an. Dann schubsten sie mich wieder in die Piker, die sich in ihrer vertrauten Kratzigkeit absurderweise jetzt schon wie eine Art Zuhause anfühlten, machten meine Schulmappe auf und schmissen die Sachen in der Gegend rum. Lachend zogen sie ab.
Ich sammelte meinen Kram wieder ein. Zum Glück konnte ich alles finden. Wut kroch in mir hoch wie eine garstige Kröte, über meinen riesigen Hirnmonitor begannen schon erste Rachephantasien zu flimmern, aber dafür hatte ich jetzt keine Zeit: Joe wurde gerade von Heikes Männern angegriffen, er musste sie mit dem Phaser betäuben. Und jetzt schnell zum Hauptcomputer!
So hatte ich meinen Nachhauseweg fortgesetzt und die Sache erst mal vergessen. Bloß jetzt fiel’s mir wieder ein, und ich hatte keine fünf Mark. Und sowieso wollte ich Johnny auch keine fünf Mark geben, denn er hatte sich getäuscht: Nicht mir, sondern einem anderen Elfjährigen hatte er dieses Geld geliehen. Irgendwo da draußen gab es wohl einen Jungen, der so aussah wie ich. Ganz schön mutig: Leiht sich von Johnny fünf Mark – eigentlich auch nett von Johnny, ihm die zu leihen, das musste man zugeben – leiht sich von Johnny fünf Mark und gibt sie einfach nicht zurück! Der Junge musste Nerven aus Stahl haben. Hey! Wenn ich genauso aussah wie er – hatte ich dann vielleicht auch Nerven aus Stahl? Könnte hinkommen. Klasse. Geheimagent Philipp. Was willst du, Johnny? Bang bang bang! Oh, bist du tot? Das tut mir aber leid.
Meine Mutter stand in der Küche. Sie sah meine blutige Backe.
«Was ist denn mit dir passiert?», rief sie aus.
«Das waren die anderen», sagte ich.
«Die anderen sind neidisch auf dich», tröstete sie mich. «Sie spüren, dass du ihnen geistig überlegen bist.»
«Ich glaub auch.»
«Lies das hier», fuhr sie fort und gab mir ein Buch, Die Verwandlung von Franz Kafka. «Das wird dir gefallen, und du kannst sicher sein, die anderen wären viel zu dumm, um das zu verstehen.»
«Ha», sagte ich und fing auch gleich an zu lesen: «Als Georg heute Morgen aufwachte, war er auf einmal ein riesengroßer Käfer.» Konnte ja nur noch besser werden.
Die nächsten Wochen ging ich auf verschlungensten Wegen zur Schule, aber Johnny und seine Kumpels sah ich zum Glück erst einmal nicht wieder.
Mit zwölf kam ich in die siebte Klasse, auf die Gesamtschule. Sie erschien mir wie ein Raumschiff. Ein Raumschiff ohne Käpt’n. Alles riesig, unübersichtlich und lila, grün oder orange gestrichen. Die Fenster waren rund. Ein bisschen sah’s tatsächlich aus wie in meinem Kopf, wenn ich der Riesenroboter war, allerdings war alles sehr viel dreckiger. Und wir hatten wieder keine Uniformen, seufz. Wir hatten auch keine Klassenverbände mehr, sondern wurden in sogenannte Großgruppen zu 150 Schülern eingeteilt. In immer anderen Zusammensetzungen hatten wir Unterricht – immer woanders.
Der Unterricht ging bis vier Uhr nachmittags, und in dieser Zeit war man hauptsächlich damit beschäftigt, von Raum zu Raum zu rennen. Die Räume trugen Bezeichnungen wie 201.03. Selbst wenn man mal wirklich so einen Raum gefunden hatte und schon drinsaß, fragte man sich noch, ob es ihn überhaupt gab. Viele Räume waren fensterlos und neonbeleuchtet – schon wieder die Zukunft, Mann.
Und dann: die erste Sportstunde. Mit lauter fremden Halberwachsenen in der Umkleide. Ich zieh meine Turnhose hoch und zucke zusammen: Direkt neben mir steht Johnny. Wieso ist Johnny noch in der siebten Klasse?, denke ich. Und: Scheiße, die fünf Mark. Aber er scheint mich nicht zu erkennen. Da kommt der Sportlehrer rein und sagt: «Leute, wir spielen Fußball.»
Alle so: «Yeah», und ich auch: «Jippie.» Aber das Herz sackt mir in die hochgezogene Hose, weil klar ist: Nach dieser Sportstunde ist mein Ruf auch auf der neuen Schule im Eimer. Wenn sie sehen, dass ich wie ein Mädchen spiele, ach, was sag ich: wie das Mädchen eines Mädchens, bin ich wieder in derselben Verliererrolle wie auf der Grundschule. Und es gibt keine Möglichkeit, das zu verhindern! Jetzt sind die Karten noch so super ungemischt, keiner kennt keinen, ein großartiger Zustand. Warum kann das nicht so bleiben? Genieß diese letzten freien Minuten, denke ich und grinse schief einen anderen Jungen an. Der grinst zurück.
«Astrein: Fußball!», sagt er.
«Einwandfrei», sag ich.
Wenn ich doch bloß ein gebrochenes Bein hätte. Einen fetten Gips: «Mist, kann nicht mitspielen. Würde so gerne. Fußball ist unser Leben. Na ja, ich kuck euch zu, Leute. Aber baut mal keine Scheiße, ey.» Und die anderen würden denken: «Philipp ist in Ordnung. Würde gerne mitspielen, aber kann nicht. Shit.»
Johnny und ein anderer größerer Typ wählen die Mannschaften aus. Johnny kuckt zu mir rüber. Er kneift die Augen zusammen.
«Dreck», denke ich. «Jetzt erinnert er sich doch.»
«Hast du’s drauf?», fragt Johnny, und ich will schon antworten: «Hier liegt eine Verwechslung vor», als mir klarwird, was er meint. Er will mich in seine Mannschaft wählen! Als Ersten!
«Logo», sage ich.
«Okay», meint Johnny und winkt mich zu sich.
So stehen wir kurz zu zweit da, die kleinste Mannschaft der Welt, der größte Irrtum in der Geschichte des runden Leders, und obwohl ich Angst habe vor dem schlimmen Absturz, der gleich kommen und sich in den nächsten Sportstunden fortsetzen wird bis zur völligen Vernichtung meiner Reputation, bin ich doch auch ein bisschen stolz. Old Johnny und ich. Der Teufel und sein General. Die Kapeiken von der Tankstelle. Zwei Supernasen auf dem Rasen für ein Halleluja. Leider vergeht dieser Moment schnell. Goodbye. Johnny and Me – Hello Loneliness. Es wird nie wieder so sein. Die Zeit macht echt alles kaputt. Beide Mannschaften sind jetzt gewählt.
«Wer geht ins Tor?», fragt Johnny. Keiner will. Da kommt mir eine Idee.
«Kann ich ja mal machen», sage ich so lässig, dass ich fast noch auf den Hallenboden spucke dabei.
«Hast du’s denn drauf?», fragt Johnny.
«Möglich.»
«Okay.»
Mein hastig erstellter, aber trotzdem genialer Plan geht so: Ich im Tor, und es kommt erst gar kein Ball in meine Nähe, weil könnte doch sein. Vielleicht kann ich das die sieben Jahre bis zum Abitur durchhalten, und danach werde ich eh nie mehr Fußball spielen. Das wird überhaupt der Hammer werden: ein Erwachsenenleben ohne Sport. Auf einmal fühle ich mich besser. Genau. Muss jetzt einfach nur diese Sportstunde überstehen. Und dann die nächste. Stück für Stück schachtel ich mich hier raus.
Anpfiff. Pock, pack, der Ball liegt hinter mir im Tor. Hab ihn gar nicht kommen sehen.
«Tor!!!», grölen die Gegner, und Johnny tritt fluchend den Hallenboden. Ein Quietschen, das mir durch Mark und Bein geht.
Alle sehen mich an. Ich mache eine halbärschige Werhättedasgedachtgeste, während sich meine Augen mit Tränen füllen.
«Scheibenhonig», flüstere ich, ziehe einen Mundwinkel hoch, den anderen runter, stemme die Hand in die Hüfte, nehm sie wieder da weg, wechsel ein paarmal Spielbein und Standbein, fahr mir durchs Haar, schick den Turbojet los und schau mir die dicken Matten an, die an der gegenüberliegenden Hallenseite lehnen. Wofür die wohl sind?
Sie starren immer noch alle zu mir. Was denn jetzt noch?
«Abstoß!», brüllt der Sportlehrer. Ach ja, der Ball. Genau. Raus mit der Schweinebacke. Auf Nimmerwiedersehn, Muchacho, grüß mir die Sierra Nevada, Compadre. Ich leg ihn mir zurecht, hebe das rechte Bein, tret am Ball vorbei, erwisch ihn allerdings beim Zurückschwingen. Er rollt langsam ins Tor.
Der Sportlehrer pfeift. «Eigentor!», ruft er. «Zwei zu null.»
Johnny schüttelt seine Faust in meine Richtung. «Willst du mich verarschen, du Spast?» Die Leute aus meiner Mannschaft schreien mich an. Die Gegner lachen sich schlapp und klatschen Beifall. Meine Knie zittern. Ich nehm den Ball vorsichtig hoch und werfe ihn weg. Leider nicht sehr weit und leider zu einem von den Gegnern, der ihn mir sofort wieder reinsemmelt.
«Drei zu null!»
«Was ist das für ’ne Scheißabwehr?», frage ich zaghaft und sacke vorsichtig in mich zusammen.
Wir verlieren zwölf zu null.
«Jetzt bin ich tot», denke ich nach dem Abpfiff. Trau mich niemanden anzusehen, bleib im Tor stehen und untersuche intensiv den rechten Pfosten, als wäre dort die Erklärung zu finden. Ah ja, hier ist etwas Lack abgesplittert, hm. Hm. Da ruft der Sportlehrer: «Hey hey hey, wir sind noch nicht fertig! Zum krönenden Abschluss spielen wir jetzt Spinnenfußball!»
«Hähö, Spinnenfußball?», tönt es von allen Seiten. Er zeigt uns, wie’s geht. Auf Händen und Füßen, aber so, dass die Brust nach oben zeigt, krepeln wir durch die Halle, und so kann’s auf einmal keiner mehr. Es macht auch keinem Spaß, ist einfach nur anstrengend und behirbelt. Die Mädchen, die wie zu alten Grundschulzeiten keinen Sport machen oder irgendwelche Bänder schwingen, lachen uns aus. Als die Stunde vorbei ist, haben alle wie durch ein Wunder meine schwache Performance vergessen und fluchen stattdessen nur: «Scheißspinnenfußball!»
Johnny flucht am lautesten, vielleicht, um davon abzulenken, dass seine Mannschaft kein einziges Tor geschossen hat. Ich weiß nicht, ob man das über Johnny sagen darf, aber irgendwie war er auch nicht so gut. Vielleicht, weil er Raucher ist.
«Scheißspinnenfußball!», sagt er.
«Echt», murmel ich.
Leider haben wir’s danach nie wieder gespielt.
«AC/DC, Alter», sagte Vogel, der in Bio neben mir saß, jetzt schon zum fünften Mal heute. Wir hatten Sexualkunde. Ich fand’s echt interessant, aber die anderen taten so, als wüssten sie schon alles darüber, keiner hörte zu. Selbst schuld, später würden sie sich ärgern, und ich wär dann fein raus, kicher.
Unsere Schule war ja, wie gesagt, ein ultramoderner Bau. Wir hatten alles: Chemielabore, «Sprachlabore», Biologiebecken mit Froschleichen zum Drinrumstochern und vor allem Top-Physikräume, in denen die Tische mit allen möglichen technischen Anschlüssen versehen waren. In so einem saßen wir jetzt. Vielleicht, weil Sexualkunde ja auch irgendwie was mit Physik zu tun hat – Schwerkraft und so. Weil, mit Mädchen war’s ja schwer, oh Mann. Sorry. Vielleicht aber auch nur, weil die verzettelten Hippielehrer, die wir nun hatten, selber nicht durchblickten, welcher Raum für was war.
Auf jeden Fall saßen wir an diesen durchtechnisierten Tischen voller großer, kleiner und mittlerer Steckdosen, und über einer von denen stand AC/DC. Aber nicht etwa mit Edding oder Kuli geschrieben oder mit einem Springer reingeritzt, nein, ganz offiziell, legal oder was, ordentlich gestanzt in ein kleines, fest mit dem Tisch verschraubtes Blechschild. Dieses kleine Schild faszinierte Vogel mehr als das seitlich aufgeschnittene Glied und die Frontalvagina mit sämtlichen Eierstöcken, die uns weiter vorne präsentiert wurden.
«AC/DC», dachte er (ich konnte seine Gedanken lesen, weil er dabei den Mund bewegte), und dann sprach er es aus. «AC/DC.»
Ich nun wieder wusste, dass das einfach nur Gleichstrom/Wechselstrom hieß und darum gar nicht verwunderlich war, aber ich wollte Vogel nicht den Spaß verderben. Und nach einer Weile fand ich’s auch gut. Nicht dass es da stand, sondern dass Vogels Blick immer wieder daran hängenblieb, dass auch beim fünften Mal ungläubige Verwunderung in ihm aufbrandete und dass er vor allem gar keine Erklärung dafür suchte, sondern sich nur immer wieder von neuem fröhlich darüber bepfiff. Die Welt ist witziger, wenn man die ganzen Zusammenhänge nicht kapiert. Vogel checkte das und hatte hier neben mir den Spaß seines Lebens. So wollte ich auch sein. Kein Klugscheißer mehr, sondern ein glücklicher lachender Wilder. Und so würde ich auch werden. Ich war zwölf. Fast ein Teenager. Ich war bereit, die Kindheit hinter mir zu lassen. Mit meinen Playmobilfiguren spielte ich auch nur noch echt harte, von Italowestern inspirierte Spiele. Hatte ihnen mit einem gefundenen Plastikfeuerzeug Brandblasen in die Gesichter geschmolzen, solche, wie sie Clint Eastwood in Zwei glorreiche Halunken in der Wüstenszene hat. Dauernd schossen sie sich über den Haufen und rissen dazu zynische Sprüche. Man könnte sagen, mein Spiel war erwachsen geworden.
Also lächelte ich freundlich, als Vogel nun wieder «AC/DC» sagte, und statt ihm die Sache zu erklären – was ich übrigens schon mehrmals erfolglos versucht hatte –, raunte ich: «Auf jeden.»
Du kannst deine Schlauigkeit nicht abschalten, einem AC/DC-betriebenen Staubsauger gleich, aber du musst sie ja nun auch nicht dauernd raushängen lassen wie den ausgepullerten Puller aus der Hose. Wenn ich wie Vogel sein wollte, musste ich lernen, so zu denken wie er, und der erste Schritt dazu war: nicht mehr zu denken wie ich. Heimlich folgte ich aber dennoch dem Unterricht, das war doch alles total wichtig für später, Mann.
Jenny Gesundbrunnen kam an Vogels und meinen Tisch. Jenny hatte riesige Brüste, und vor denen hielt sie einen zusammengefalteten Zettel. Also, sie drückte diesen Zettel jetzt nicht erbebend an die Brüste wie die Mätressen am Hofe des Sonnenkönigs es getan haben mögen, ihre Brüste waren nur eben so groß, dass sich irgendwie alles, was sie hielt, «vor den Brüsten» befand. Wenn man vor ihr stand, stand man vor den Brüsten. Brüste.
«Was gibt’s denn, Jenny?», fragte Herr Kolbe, der Biolehrer. «Kann ich dir helfen?»
Sie hörte nicht auf ihn, sondern stützte sich mit einer Hand auf unseren Tisch. Die Brüste waren jetzt direkt neben meinem Kopf. Vogel beugte sich vor und starrte drauf. Er glotzte seelenruhig – ein fröhlicher Wilder, der wusste, was ihm gefiel. So musste ich auch werden, war ich aber noch nicht. Ich kuckte auf das AC/DC-Zeichen. Ich las: A C D C.
Jenny war so hübsch. Leider hatte mir meine Mutter inzwischen schon beigebracht, dass hübsche Mädchen dumm sind. Und, stimmt, sie wirkte nicht besonders schlau mit ihrem dauergewellten Olivia-Newton-John-Look und der Drahthaarbürste hinten in der knallengen Jeans.
«Wie geht’s, Alter?», fragte sie mich nun.
«Ganz okay», sagte ich.
«Jenny, dein Platz ist hinten bei Anke. Komm. Dann setz dich doch einfach mal wieder dort hin, oder?», schlug Herr Kolbe vor, aber man spürte, dass er das nicht wirklich so wörtlich meinte. Sein Zickenbart machte unten eine witzige Welle, und diese Welle sprach eine andere Sprache. Sie sagte: «If you’re going to San-Fran-Zisko …»
Jenny blieb bei uns stehen und kaute weiter mit offenem Mund ihren Kaugummi (leider – wie meine Mutter mir erklärt hatte – auch wieder ein Zeichen von Dummheit). Sie kaute und kaute. Sie kaute so heftig auf dem sicher schon seit Stunden geschmacklosen Klumpen, dass ihre Brüste im Rhythmus mitwippten. Ich sah das nicht, ich war ja noch mit AC/DC-Lesen beschäftigt, aber ich spürte es. Ich spürte, wie sie die Luftmassen nahe meinem Kopf bewegten. Physik und Sexualkunde – es hing irgendwie doch zusammen. Meine Ohren waren plötzlich ganz heiß und wahrscheinlich auch rot. Vielleicht wurde ich auch krank. Hoffentlich nicht!
«Hier, für dich», sagte Jenny schließlich und schob mir den Zettel hin. Dann ging sie zurück zu ihrer harten Turnschuhbikermädchenclique, den Drahthaarbürstenbräuten von der letzten Bank, die nun alle johlten, pfiffen und applaudierten.
Jenny streckte die Arme in die Luft wie Marilyn Monroe oder ich weiß gar nicht, wie wer, und tänzelte mit dem Hintern wackelnd vor ihren Mädchen hin und her. Noch mehr Gejohle.
«Leute, so ist das doch nicht gut», fand Herr Kolbe. «Das macht doch keinen Spaß so.»
Ich entfaltete den Zettel. Willst du mit mir gehen? Kreuze an: Ja, Nein, Vielleicht stand darauf.
«Du musst Ja