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Obwohl Kannibalen und Liebe eine Horrorkurzgeschichtensammlung ist, kommt der Horror hier keinesfalls zu kurz. Vielmehr (wie man an dem gerade gelesenen Satz auch erkennen kann ...) breitet er sich süffisant auf Kosten des Humors aus. Doch immer dann, wenn der Leser (bzw. die Frau oder das Mädchen) denkt, der Humor hätte vor dem Grauen kapituliert, taucht er unvermittelt auf und schlägt zurück. Harhar! Die Geschichten in diesem Buch sind nichts weniger als extrem blutige, nervenzerfetzende Zweikämpfe zwischen den beiden Urkräften Horror und Humor. Wer zum Schluss obsiegt? Findet es heraus!
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Kannibalen und Liebe
FiL, eigentlich Philip Tägert, ist Urberliner, im Märkischen Viertel aufgewachsen und Ex-Punk. Bereits mit zehn Jahren gewann FiL den Schreibwettbewerb der Berliner Morgenpost, mit vierzehn veröffentlichte er seine ersten Comics im Berliner Stadtmagazin zitty, das seitdem in zweiwöchigem Rhythmus die Abenteuer seiner Helden Didi & Stulle präsentiert. Nach einer abgebrochenen Ausbildung zum Kunstmaler konzentrierte er sich hauptsächlich auf seine Arbeit als Zeichner, ist seit 1992 allerdings mindestens genauso erfolgreich als Bühnen-Entertainer und Sänger tätig. Auch die Bühnenkarriere hatte sich schon früher abgezeichnet, als er – ebenfalls bereits mit vierzehn – als Gitarrist der Punkband Kollektiv Antiserum fungierte. Ständiger Begleiter seiner Bühnenshows ist der Handpuppenhai Sharkey. Dem erfolgreichen One-Pager bei zitty folgte ein umfangreiches Oeuvre weiterer Comic-Werke wie der Reihe Always Ultra und den kleinformatigen Geschichten Teufel und Pistolen, der Kultheftreihe von Berlin Comix. Im Verlag Reprodukt sowie im zitty-Verlag sind bislang zehn vierfarbige Sammelbände von »Didi & Stulle« erschienen. Seit 2009 gibt es eine DVD von FiL: »Die FiL & Sharkey Show«, einen Mitschnitt der gleichnamigen Show aus dem Kölner Wohnzimmertheater. Im Oktober 2014 erschien sein erster autobiografischer Roman Pullern im Stehen und 2016 sein zweiter Roman Mitarbeiter des Monats. 2020 erschien der Reise- und Tourbericht Worte über Orte. Seine aktuelle Bühnenshow heißt »Wege zum Glück und wieder zurück«.e Bühnenshow heißt »Wege zum Glück und wieder zurück«.
Zartbesaitete, für euch gibt es andere Bücher!Mutter, blättere DU jetzt bitte nicht auch hier herum!Alle anderen aber ... kommt näher! Lasst euch ein paar Schauergeschichten schmecken! Und wenn jemand fragt, was Ihr da lest, dann sagt: Es ist ...… DER BLANKE HORROR!!!
Fil
Ultra-fetzige Horror-Stories
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© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Covergestaltung: Thomas Gilke, BuckowCoverabbildung: © FilAutorenfoto: © Daniel PorsdE-Book by pepyrusISBN 978-3-8437-3258-1
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Mutter
Z-Promis
Rosemarie
Die Metamorphose
Kannibalen der Liebe
Säge
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Mutter
»IS THAT THE MEATYOU WANTED TO EAT?«
motörhead
»Hast du das Teewasser aufgesetzt?«, fragt Mutter.
»Haha, sehr witzig«, antworte ich, die Augen verdrehend. Aber dann muss ich doch lachen.
»Was denn?«, fragt Mutter daraufhin mit schönster Unschuldsmiene und stemmt die Hände in die Hüften. »Wolltest du dir keinen Tee machen? Du weißt, ICH trinke Kaffee.«
»Ja, das weiß ich, Mutter. Genauso, wie ich weiß, dass DU dieses Wasser aufgesetzt hast. Wenn du mich ins Bockshorn jagen willst, musst du früher aufstehen.«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst. So langsam wird mir das unheimlich. Also, du möchtest keinen Tee.«
Sie dreht die Gasflamme runter, schüttelt den Kopf, holt die Pralinenschachtel aus dem Hängeschrank und offeriert mir eine.
Ich nehme Nougat, Mutter natürlich Krokant.
»Da fehlen auch welche«, sagt sie genüsslich kauend.
Mutter! An der ist eine Staatsschauspielerin verloren gegangen. Vier Tage hausen wir nun schon zu zweit in dieser abgelegenen Skihütte, und seit vier Tagen unterhält sie mich unermüdlich mit ihrem albernen Quatsch. Sie setzt Wasser auf, öffnet Schranktüren, vertauscht Sofakissen, versteckt Schuhe, Zahnpasta, Hosen, meine Brille – um dann stets zu beteuern, sie wäre es nicht gewesen.
Wenn das jemand anders mit mir abziehen würde, würde es mich vermutlich wahnsinnig nerven, vor allem, weil das alles so glasklar durchschaubar und todesalbern ist. Aber es macht einfach solche Freude, Mutter beim Komödiespielen zu beobachten. Wie sie die Stirn runzelt, die Lippen schürzt, mit dem Fuß aufstampft und dann so wunderschön verdächtig unverdächtig flötet: »Waaas? Iiiiich doch nicht!«
Es ist so süß. Wie sie diese ganze alberne Gruselkomödie stoisch einfach immer weiter durchzieht, das ist typisch Mutter. Wenn die sich einmal etwas ins Köpfchen gesetzt hat, dann ist dagegen kein Kraut gewachsen.
Und natürlich rührt es mich auch, denn ich weiß ja, warum sie das alles macht. Für mich. Manchmal denke ich, alles, was Mutter macht, macht sie für mich. Aber ich glaube, nie konnte ich ihre Hilfe so gut gebrauchen wie jetzt. Auf andere Gedanken will sie mich bringen.
Mich aus dem Loch rausholen.
Das Loch. Dorthinein war ich gefallen, nachdem Ellie aus heiterem Himmel verkündet hatte, dass es aus ist zwischen ihr und mir. Einfach so. Aus. Nachdem wir nun zwei Jahre verlobt waren und nächste Woche sogar zusammenziehen wollten, lässt sie die Bombe platzen: »Ich liebe dich nicht mehr.« Ohne Begründung, ohne ein weiteres Wort, zack, bumm. Ich war am Boden zerstört. So hatte mich Mutter vorgefunden, als sie vom Einkaufen kam.
»Wir brauchen einen Tapetenwechsel«, hatte sie gesagt und sofort diese Hütte hier in den Schweizer Alpen gemietet.
»Aber die Arbeit«, hatte ich eingewandt. »Ich kann da doch nicht einfach weg.«
»Papperlapapp, schnippschnapp«, hatte sie geantwortet. »Schau dich mal an, wie du hier im Sessel hängst! Du bist doch gar nicht in der Lage zu arbeiten, dafür hat Madamchen gesorgt. Nein, ich werde nichts gegen sie sagen, ich bin ja froh, dass es endlich vorbei ist. Du weißt, was ich von dem ganzen Kokolores hielt. Aber eine Auszeit brauchst du, da gibt es gar keine Diskussion. Soll ich mit deinem Chef sprechen, oder willst du das machen?«
»Ich mach’s selbst«, hatte ich gemurmelt. Mutter hatte ja recht gehabt. Auf der Arbeit anzurufen, hatte ich mich dennoch nicht getraut, sondern stattdessen eine E-Mail geschrieben, und noch am selben Abend waren wir aufgebrochen. Mutter am Steuer. Das schien uns beiden sicherer, ich neige in emotionalen Ausnahmesituationen dazu, etwas – sagen wir mal – zögerlich zu fahren. Kaum zu glauben, dass das erst fünf Tage her ist.
Schon auch witzig, dass wir nun ausgerechnet in einer Skihütte gelandet sind – weder Mutter noch ich fahren ja Ski.
Wir waren nie im Skiurlaub gewesen wie andere Leute. »Ich kann dir auch so den Fuß brechen, dann sparen wir das Geld für die Reise«, hatte Mutter immer gesagt, wenn ich etwas in der Richtung vorgeschlagen hatte, und so war es dann doch immer wieder Mallorca geworden. Bereue ich nicht. Tatsächlich habe ich mir in meinem ganzen 43-jährigen Leben noch nie etwas gebrochen, und wenn das nicht Mutters Verdienst ist, fress ich ’nen Besen.
Die Hütte ist geräumig und auf eine rustikale Art fast luxuriös – hat Mutter mal wieder blendend ausgesucht, die Frau ist der Mozart des Online-Bookings. Man könnte hier jetzt sowieso nicht Ski fahren wegen des Sturms. Er fing gerade an, als wir am Mittwoch eintrafen, und seither wird er mit jedem Tag wüster. Im Radio nennen sie ihn bereits den Jahrtausendsturm, da möchte man wirklich nicht vor die Tür.
Zum Glück hatten wir uns am ersten Tag schon im örtlichen Supermarkt mit Proviant für zwei Wochen eingedeckt. Und so sitzen wir nun seit vier Tagen urgemütlich im Warmen, während draußen die Hölle losbricht, spielen Scrabble, essen Pralinen und schauen fern. Das perfekte Leben.
Zum Glück funktioniert der Fernseher, Internet haben wir nämlich nicht. Darüber kam es dann doch fast zum Streit, als Mutter vor der Abreise meinte: »Nichts da, schnipp, schnapp, Tablet und Smartphone bleiben zu Hause. Nicht, dass du nächtelang Madamchen hinterhergoogelst wie ein kranker Kater. Das hätte sie gern, oh ja, das würde ihr gefallen, dieser Person, aber das lasse ich nicht zu, da kannst du dich auf den Kopf stellen.«
Ich hatte nachgegeben. Jetzt vermisse ich meine geliebte Börsen-App, aber in Bezug auf Ellie hatte Mutter hundertprozentig recht. Es tut gut, keine Stalking-Möglichkeit zu haben. Ich werde schnell schwach. Mutter weiß das.
Tatsächlich denke ich viel weniger an Ellie, als ich befürchtet hatte. Es ist einfach zu nett hier mit Mutter, und ihre albernen Pranks halten mich zusätzlich auf Trab.
Aber täusch dich da mal nicht, damit kommst du auf Dauer nicht durch, Mutter.
Einmal werde ich dich auf frischer Tat erwischen, zieh dich warm an.
»Was glaubst du, wie lange der Sturm noch anhält?«, frage ich Mutter drei Tage später beim Frühstück. Es gibt ihre legendären Speckpfannkuchen. Ich kann mich nicht zurückhalten und nehme einen dritten. Dazu hat Mutter echten Kaba-Kakao gemacht, mit einem großen Tupfer Sprühsahne. Wenn der Urlaub vorbei ist, passe ich nicht mehr durch die Tür.
»Woher soll ich das wissen?«, sagt sie gut gelaunt. »Irgendwann wird er schon abflauen. Sag mal, hast du mein Strickzeug gesehen?«
Dein Strickzeug ist fein säuberlich im Badezimmerschrank verstaut, Mutter. Das hat der Geist heute Nacht gemacht. Was du kannst, kann ich nämlich schon lange.
»Nein«, sage ich. »Meinst du, Hugo hat es stibitzt?«
Da! Lachfältchenattacke an Mutters Mund. Aber sie behält die Fassung. Oh, diese Komödiantin!
»Hugo ist ganz schön umtriebig in letzter Zeit«, sagt sie. Wir sind dazu übergegangen, den Geist Hugo zu nennen. Einen lieben Namen wollten wir ihm geben, er ist ja ein freundlicher Geist und versteckt die Dinge immer so, dass sie ganz leicht zu finden sind. Jetzt kippt sie noch eine Kelle Pfannkuchenteig in die spritzende Pfanne.
»Oh nein, ich bin total voll«, jammere ich.
»Papperlapapp, Schnickschnack«, entgegnet sie. »Hat dir das dein Madamchen in den Kopf gesetzt? Dass du ›auf deine Linie achten‹ sollst? Ein Spornosexueller solltest du werden, oder wie war das? Quitschquatsch. Du bist prima, wie du bist, und wenn’s dir schmeckt, dann schmeckt’s dir, basta.«
Volltreffer. Mutter natürlich wieder. Tatsächlich hatte Ellie ständig an meinem Gewicht rumgenörgelt. Gut, bei 1 Meter 65 sind 99 Kilo kein Pappenstiel. Allerdings bin ich auch nicht mehr der Jüngste, und ab dreißig setzt es bei Männern an, da kann man nichts machen. Ellie durfte ich mit solchen wissenschaftlichen Fakten allerdings nicht kommen, da ging es immer nur Salat hier, weniger Speckpfannkuchen da.
Ich gebe nach, halte Mutter meinen Teller hin und mache die freudige Entdeckung, dass es mir fast gar nichts mehr ausmacht, an Ellie zu denken. Es schmerzt nicht, es ist da nur noch so eine leichte Übelkeit.
Ellie war die erste Frau in meinem Leben (nach Mutter natürlich), sie hatte allerdings schon mit mehreren was gehabt. Nun gut, sie war auch zwölf Jahre älter als ich. Während der zwei Jahre, die wir zusammen gewesen waren, war ich ständig verunsichert gewesen, ob ich ihren Erwartungen auch entsprach. War ich »männlich« genug? Sollte ich ihr die Tür aufhalten, das Essen bezahlen, sollte ich meine Eifersucht zeigen oder verbergen? Mit Mutter hatte ich über Ellie nie reden können, das artete immer sofort in Streit aus. Und das, wo Mutter und ich sonst praktisch nie stritten. Wenn ich bei Ellie übernachtet hatte, hatte ich oft wach gelegen und diese fremde Frau neben mir beobachtet, mit der ich nun mein Leben teilen sollte. Es kam mir falsch vor. Vor allem: Was würde aus Mutter werden, wenn ich zu Hause auszog? Ich war doch alles, was sie hatte. Aber ich konnte auch nicht von Ellie lassen. Ich hatte sie geliebt. Oder zumindest hatte ich mir das eingebildet.
»Beine breit – Hochzeitskleid«, hatte Mutter einmal gesagt. Damals hatte ich nicht verstanden, was sie damit meinte, fand es sogar unpassend und vulgär, aber jetzt bekomme ich langsam eine Ahnung. Hatte mich Ellie eingewickelt mit ihren Waffen einer Frau? Mein Gott, die Trennung ist erst eine Woche her, aber es kommt mir vor, als wären Jahre vergangen seitdem.
Niemals hätte ich vermutet, dass Liebeskummer so leicht zu ertragen ist. Sogar, dass Mutter Ellie »Madamchen« nennt, stört mich nicht mehr, dabei sind wir uns früher wegen dieses Ausdrucks regelrecht an die Gurgel gegangen. Warum bloß? Ist doch witzig: »Madamchen«. Und es passt auch. Ellie ist wirklich ein »Madamchen«. Hihi.
Tag 9. Hugo hat wieder zugeschlagen! Heute Morgen, als ich zum Zähneputzen ins Bad ging, war der Spiegel mit Lippenstift beschmiert. In ungelenken Buchstaben stand dort: »Ich weiß, was du getan hast.«
Huuu, ich zittere, Mutter! Aber du hast dich schon wieder verraten. Denn erstens: Wer hier im Hause benutzt denn Lippenstift? Hallo? Und jetzt kommt’s: Ich erkenne die Farbe wieder. Das ist dieses ins Ketchupige spielende Rot, das du dir letzten Monat versuchsweise gekauft hattest und mit dem du so unglücklich warst. Oh ja, natürlich achte ich auf so was. Ein paar Tage hast du’s probiert, dann bist du wieder beim guten alten Karmesin gelandet. Aber du kannst ja nichts wegwerfen, Mutter. Und natürlich nimmst du für deinen Streich nicht den guten Lippenstift, sondern den Fehlkauf. Selbst das Tatort-Team Weimar würde dir jetzt langsam auf die Schliche kommen.
Aber ich spiele weiter mit, es ist einfach zu amüsant. Dein Gebiss macht jetzt mal einen kurzen Ausflug in den Kühlschrank, mit schönen Grüßen von Hugo.
Ach, wir haben es hier wirklich gut. Man merkt, dass man sich erholt, wenn man sich gehen lassen kann. Gestern haben Mutter und ich vorm Fernseher eine ganze Flasche Baileys geleert, und sie wurde so herrlich albern, wie ich sie, glaube ich, noch nie erlebt habe.
Das Einzige, was stört, ist der Geruch. Jetzt ist er auch schon wieder präsent, stärker als gestern sogar, kommt’s mir vor. Mutter sagt, das muss ein Waschbär oder ein anderes Tier sein, das irgendwie in die Zwischenwände oder auf den Dachboden gelangt ist und dort starb. Und nun verwest. Ein schauriger Gedanke. Eher halbherzig haben wir schon nach diesem Tier gesucht, in der Hoffnung, es nicht zu finden, denn was sollten wir dann tun? Anfassen würde es wohl keiner von uns. Tja, hätte ich mein Smartphone dabei, hätten wir einen Kammerjäger rufen können, bloß ob der bei dem Sturm überhaupt gekommen wäre? Mutter und ich haben uns erst mal mit Kölnischwasser beholfen, von dem sie – ich konnte es kaum fassen – mindestens einen Zehnjahresvorrat mitgeschleppt hat. Wirklich! Literweise Kölnischwasser hat sie gekauft, als hätte sie geahnt, dass wir es so gut brauchen würden. Muss ein Supersonderangebot gewesen sein.
»Hugo weiß, was ich getan habe«, sage ich beim Frühstück.
»Wirklich?«, fragt Mutter. »Und mein Gebiss hat er wohl auch versteckt?«
Ich lache, zwinkere und blicke hüstelnd Richtung Kühlschrank. Mutter versteht und holt das gute Stück aus dem Eierfach.
»Erfrischend«, sagt sie, nachdem sie es eingesetzt hat, und zwinkert mir zu.
An Ellie habe ich heute den ganzen Tag nicht gedacht. Schätze, ich bin vollkommen über sie hinweg. Aber das sage ich Mutter nicht. Am Ende beschließt sie dann, wieder heimzufahren, und ich will diesen Urlaub so lange ausdehnen wie möglich.
Ich kann nicht schlafen. Nicht, weil Mutter schnarcht, bei Gott nicht, daran bin ich gewöhnt. Wahrscheinlich würde ich eher OHNE Mutters Schnarchen nicht einschlafen können. Nein, es ist tatsächlich der Gestank. Er ist noch stärker geworden, als wäre das, was ihn absondert, näher gekommen. Nach einer Stunde des Herumwälzens stehe ich auf, um mir ein Schlummerbrot zu machen. Doch gerade, als ich das Licht in der Küche anknipsen will, erstarre ich. Der Gestank ist hier noch einmal doppelt so stark – das tote Tier muss in der Küche sein. Und das wiederum heißt, dass es gar kein totes Tier ist, denn die bewegen sich ja nun einmal nicht von selbst. Hat sich ein Obdachloser in unsere Hütte geschlichen? Hat er vor dem Sturm Unterschlupf gesucht und versteckt sich nun hier? Auf dem Dachboden! Da hatte Mutter zwar nachgesehen, aber ihre Augen sind ja nicht mehr die besten, und Frau Eitelchen sieht gar nicht ein, dass sie eine Brille braucht. Lebt jemand schon seit Tagen auf dem Dachboden und kommt nachts in die Küche, um Essen zu stehlen? Mit pochendem Herzen starre ich ins Dunkel der Küche, die Hand immer noch am Lichtschalter. Ich kann die Präsenz eines anderen Wesens spüren. Zu hören ist nichts. Ist er genauso erstarrt wie ich? Sicher hat er ein Küchenmesser in der Hand. Wenn ich hier stehen bleibe, werden sich meine Augen an das Dunkel gewöhnen, und ich werde seine Umrisse erkennen. Das könnte ich nicht ertragen! Halb wahnsinnig vor Angst tue ich das einzig Vernünftige. Ich drehe mich auf dem Absatz um, renne hoch ins Schlafzimmer und wecke Mutter.
»Da ist jemand in der Küche!«, wispere ich panisch.
»Papperlapapp, schnippschnapp«, sagt Mutter.
»Doch, wirklich, glaub mir, da ist einer, ein Obdachloser oder so was. Daher kommt auch der Gestank, es ist kein totes Tier, es ist ein Mensch!«
Mutter sieht mich kurz verständnislos an. Dann kriecht der Schalk in ihre Augen, und sie setzt sich schmunzelnd auf.
»Ein Mensch?«, fragt sie. »Aber vielleicht kein lebender Mensch, hm? Vielleicht ist es …« Unvermittelt packt sie mich an der Schulter und lässt ihren Kopf vorschnellen, sodass unsere Nasen aneinanderstoßen. Dazu ruft sie mit schauriger Stimme: »HUGO!«
Ich schreie auf. Dann schreie ich noch einmal. Ich kann mich nicht mehr beruhigen.
»Mutter!«, rufe ich danach wütend. Sie lacht schallend.
»Komm mal mit, Herr von und zu Hasenfuß«, sagt sie, hüpft aus dem Bett und schickt sich an, die Treppen hinabzusteigen.
»Nein, Mutter, geh nicht da runter!«, zische ich so leise und so eindringlich, wie ich kann.
Aber Mutter lässt sich ja niemals von etwas abbringen. Sie geht runter. Zähneklappernd und von Angstschweiß durchnässt, bleibe ich oben.
Sie schaltet das Licht in der Küche ein. Der Schein dringt nach oben.
»Ah, Herr Hugo, schön, Sie endlich einmal persönlich kennenzulernen«, höre ich sie sagen. »Ist das Ihr Kopf, den Sie in der Hand halten? Warum nicht, ist sicher ganz bequem, da kann der Hals sich mal entspannen. Oh, und was haben Sie denn da in der anderen Hand. Eine Axt? Hilfe! Argggurgel, koller koller koller.«
»Haha, sehr witzig, Mutter!«, rufe ich, die Treppe hinuntertrottend. In der Küche steht Mutter – wenn man mir diesen Scherz verzeihen will – sozusagen »mutterseelenallein«. Keine Spur eines Eindringlings. Der Gestank ist zwar noch da, scheint aber jetzt nicht stärker als oben im Schlafzimmer zu sein.
Mutter lacht. Dann aber nimmt sie mich kurz in den Arm und sagt: »Ich bin sicher, du hast nur schlecht geträumt. Oder vielleicht ein bisschen zu viel ›Hugo‹ gespielt, hm?« Hier zwinkert sie mir zu. Dann öffnet sie den Kühlschrank, holt Eier und Butter raus und sagt: »Ich denke, wir haben uns beide ein paar Mitternachtsspeckpfannkuchen verdient auf den Schreck.«
Irgendetwas stimmt nicht. Zunächst einmal der Sturm. Tobt seit zwölf Tagen. Seit unserer Ankunft. Wann macht ein Sturm so etwas? Wenn ich aus dem Fenster sehe, ist dort alles weiß. Wenn ich mein Ohr ans Fenster presse, höre ich es draußen stürmen, aber sonst hört man nichts hier in der Hütte. Ist dort draußen überhaupt Sturm? Manchmal hätte ich gute Lust, rauszugehen und es zu überprüfen, aber Mutter ist dagegen. »Zu gefährlich«, sagt sie, »da weht’s dich gleich in eine Gletscherspalte, wir müssen einfach abwarten.«
Zweitens: Hugo. Mich beschleicht wirklich langsam das Gefühl, Mutter denkt, Hugo wäre ich. Ich meine, ich bin es ja auch zur Hälfte. Aber ich denke wirklich langsam, sie glaubt, es wäre NUR ich. Natürlich, Mutter ist eine Extraklassemimin, habe ich ja schon erwähnt, aber wer hält so was zwölf Tage durch? Sie täuscht es unglaublich echt vor, und wenn – also wenn Mutter nicht die andere Hälfte Hugos ist, wer ist es dann? Wer schreibt sonst morgens die Nachrichten an den Badezimmerspiegel? »Ich weiß, was du getan hast.« »Du hast Blut an deinen Händen.« »In der Hölle warte ich auf dich.« Es ist langsam wirklich nicht mehr witzig. Ein paarmal habe ich Mutter schon gebeten, damit aufzuhören, habe sogar meine Karten auf den Tisch gelegt und zugegeben, dass einige Hugo-Streiche auf mein Konto gingen. Selbst da lachte sie nur kopfschüttelnd, als würde sie das für einen besonders ausgefuchsten Trick von mir halten.
Aber hier kann doch niemand sein außer Mutter und mir, wir hätten das doch mitkriegen müssen – ein Geräusch, irgendwas. Gerade wenn er auf dem Dachboden haust – eigentlich ja der einzige Ort, wo er sein könnte – , gerade dann müsste man ihn doch hören. Der Boden müsste knarren.
Manchmal, wenn Mutter in der Küche hantiert, schleiche ich mich zur Dachluke und lausche – nichts. Der Gestank ist furchtbar – der originale Gestank und die Kölnischwasserschwaden, die wir hier versprühen. Warum hatte Mutter überhaupt so viel Kölnischwasser dabei?
Und dann ist da noch etwas – ich weiß, dass wir einen Grund hatten, auf diese Skihütte zu fahren, aber ich kann mich an den nicht mehr erinnern. Es ist kein normaler Urlaub, ich habe ja sogar meinen Chef angelogen, um freizukriegen. Warum?
»Madamchen«, denke ich manchmal, dieses Wort scheint irgendetwas zu bedeuten. Aus Mutter ist auch nichts herauszukriegen. Sie lächelt nur immer vielsagend, wenn ich sie nach dem Grund unseres Aufenthalts frage, und sagt dann Sachen wie »Warum schwarum pippeldipopp«. Dann muss ich natürlich lachen und vergesse bei Pralinen und Honigtee, was ich eigentlich gefragt hatte.
Also, es ist ein schöner Urlaub, den Mutter da organisiert hat für uns, ich bin ihr dankbar, aber irgendetwas stimmt nicht. Irgendwas ist faul im Staate Dänemark. Ich schlafe schlecht.
Tag 16. Es kommt vom Dachboden. Der Gestank. Der Gestank kommt vom Dachboden, das ist nicht mehr zu leugnen. Das tote Tier, oder was auch immer es ist, muss dort oben sein.
Ich habe Angst davor, aber ich muss es jetzt endlich sehen. Mutter schläft noch, ich schleiche mich aus dem Schlafzimmer und verfange mich im Dunkeln mit dem Ärmel in der Türklinke. Zum Glück reißt der Stoff nicht, da könnte ich mir was anhören von Mutter, wenn ich ihr gutes Nachthemd zerrissen hätte. Seit drei Tagen trage ich nun schon Mutters Klamotten, seit Hugo meine gesamte Garderobe verschwinden ließ. All meine Hemden, Hosen, Unterhosen, mein Mantel, meine Schuhe – alles ist weg und bisher auch noch nicht wieder aufgetaucht.
»Du gehst zu weit, Mutter«, habe ich gerufen. Sie hat die Unschuldige gespielt. Und inzwischen glaube ich ihr auch fast. Ich kann mir kaum noch vorstellen, dass sie Hugo ist. Ich spiele seit Tagen keine Streiche mehr, und trotzdem passiert mehr als zuvor. Ständig steht irgendwas an einem ungewohnten Ort, mehrmals am Tag finden wir Inschriften auf Schranktüren und Spiegeln, immer mit Lippenstift geschrieben, immer auf irgendein dunkles Geheimnis hinweisend.
Mutters ketchupfarbener Lippenstift ist weg, sagt sie – ich glaube ihr. Aber es macht keinen Sinn. Wenn jemand mit uns beiden hier wäre, dann müssten wir ihn hören, und Geister gibt es nicht. Geister gibt es nicht, das weiß ich. Merkwürdig auch, dass Mutter gar nicht beunruhigt ist. Im Gegenteil, sie lässt es sich hier gut gehen. Sie läuft die meiste Zeit im Nachthemd herum. Und der Sturm hört nicht auf.
So viele Rätsel. Eins werde ich jetzt aber lösen: das des Dachbodens. Ich habe eine Taschenlampe und ein langes Küchenmesser, und derart bewaffnet, fummle ich vorsichtig, um Mutter nicht zu wecken, die Dachbodentreppe aus ihrer Verankerung und klappe sie herunter.
Meine Nackenhaare richten sich auf, während ich hochsteige. Stufe um Stufe. Messer und Taschenlampe in der rechten Hand, damit ich mich mit der linken am Geländer festhalten kann. Jetzt bin ich an der Decke angelangt, ich löse die Verriegelung der Luke und drücke sie langsam auf. Sie quietscht. Ich drücke langsamer. Wegen Mutter.
Dann ist die Luke offen, und wenn ich noch einen Beweis gebraucht hätte, dass der Gestank von hier kommt – jetzt hätte ich ihn. Ich kriege kaum Luft, so grauenhaft süßlich-faulig dünstet es aus der Öffnung. Es ist stockdunkel da oben. Klar. Deshalb habe ich die Taschenlampe.
Am liebsten würde ich sofort wieder hinabsteigen. Ich bin kein Held. Nein, ich bin kein Held, ich bin ein 43-jähriger Mann, der noch bei seiner Mutter lebt, der nie eine Frau hatte, der immer allem aus dem Weg ging bzw. es sich von seiner Mutter aus dem Weg räumen ließ.
Darum sind wir hier! Blitzt es mir auf einmal durchs Hirn, darum sind wir hier, weil Mutter mir etwas aus dem Weg geräumt hat! Mutter hat etwas für mich getan, etwas Großartiges, etwas so Liebevolles und Aufopferndes, dass mir für einen Moment Tränen in die Augen schießen, obwohl ich keine Ahnung habe, was es war. Die Empfindung von unendlicher Dankbarkeit ist so stark, dass sie sogar für einen Moment die Angst überlagert. Dann kommt die allerdings zurück. Dort oben auf dem Dachboden ist etwas. Etwas ist da oben, etwas, das gotterbärmlich stinkt und vielleicht auch Dinge unten verrückt oder stiehlt. Hugo. Hugo, der Geist.
Ich nehme die Taschenlampe in die linke Hand, steige mit puddingweichen Beinen eine Stufe höher und stecke den Kopf durch die Luke.
Es ist stockdunkel. Ich traue mich nicht, die Taschenlampe anzuknipsen. Es gibt keine Geister, sage ich mir, und was auch immer dort oben ist, ist tot und kann dir nichts tun. Jetzt schau nach. Aber ich kann nicht. Und dann höre ich es.
Ein Schubbern, ein Geräusch wie ein Handtuch, das beim Abtrocknen über einen Teller wischt. Es ist ein ganz leises Geräusch, aber es ist da. Und es kommt von überall her. Überall um mich herum schubbert es. Jetzt kommt noch ein feines Knacken dazu, ein Knistern – was ist das? Ich will nicht wissen, was hier oben ist, aber vielleicht werden sich meine Augen gleich an das Dunkel gewöhnen, und dann muss ich es sehen. Ich senke den Blick, starre zu Boden – und der Boden bewegt sich! Der Boden hier hebt und senkt sich, der Boden macht dieses Geräusch! Ohne zu wissen, was ich tue, schalte ich die Taschenlampe ein und sehe – Würmer. Maden. Asseln. Hunderte, vielleicht Tausende Insekten krabbeln herum, der Boden ist übersät von ihnen. Einige klettern schon meinen Arm hoch. Angeekelt schüttele ich sie ab, schaue dabei hoch und sehe – einen Sessel. An der hinteren Wand des Dachbodens steht ein Sessel vor dem Fenster. Und jemand sitzt darin! Ich sehe seinen Hinterkopf.
Ich schreie laut auf, ducke mich und knalle die Luke zu. Das Vorhängeschloss flutscht mir mehrmals aus meinen zitternden Fingern, aber schließlich kriege ich es doch zu. Dann klettere ich, so schnell ich kann, die Treppe hinunter, reiße mir das Nachthemd vom Leib und untersuche meine Arme. Keine Maden. Habe ich mir das alles eingebildet? Aber da! Da kriechen Maden aus dem Nachthemd heraus! Ich trete nach ihnen, reiße ein sentimentales Ölgemälde mit Bergmassiv von der Wand und schlage damit kreischend wieder und wieder auf die Biester ein, bis ich sicher bin, dass sie alle tot sind.
Oh nein, Mutters Nachthemd!
Mit spitzen Fingern hebe ich es auf, trage es zur Waschmaschine, schlinge mir ein Handtuch um die Hüften und gehe ins Schlafzimmer.
»Mutter?«, flüstere ich.
Keine Antwort.
»Mutter?«, sage ich laut. Ich muss sie wecken, ich muss ihr von dem Ding auf dem Dachboden erzählen, sie wird wissen, was zu tun ist.
»Mutter!«
Ich schalte das Licht ein. Mutters Bett ist leer. Nicht nur leer. Es ist frisch gemacht. Wie lange war ich denn weg? Doch nur fünf Minuten, oder? Wieso macht Mutter mitten in der Nacht ihr Bett? Und wo ist sie? Panik befällt mich. Ich schalte alle Lampen in der Hütte ein und rufe laut nach ihr. Aber sie bleibt verschwunden. Auf dem Dachboden kann sie nicht sein, da war ich gerade. Ist sie rausgegangen? Nachts bei dem Sturm? Nein. Ihre Kleider sind auch alle noch da. Und ihre Schuhe. Ohne Schuhe nachts bei Sturm grundlos raus – nein. Sie muss hier noch irgendwo sein. Ich suche. Ist ihr etwas zugestoßen? Hat sie einen Herzinfarkt bekommen und liegt jetzt hinterm Sofa? Und hat vorher noch ihr Bett gemacht? Das ergibt doch alles keinen Sinn. Wie ein kopfloses Huhn renne ich von Raum zu Raum. Ich öffne die Schubladen, als könnte sie zerhackt darin liegen.
So. Schluss. »Reiß dich zusammen«, sage ich laut. »Denk an Mutter. Sie ist vielleicht in Gefahr.«
Ich gehe in die Diele, nehme das Telefon und wähle die Nummer der Polizei.
»Dienststelle Nordost«, sagt eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung, und mir wird klar, dass das die erste fremde Stimme ist, die ich seit … Wie lange? Seit Ewigkeiten höre. Für einen Moment kann ich nichts sagen.
»Hallo?«, sagt die Stimme. »Möchten Sie etwas melden?«
»Ja, ich … meine Mutter ist verschwunden.«
»Ihre Mutter?«
»Ja. Seit … seit einer Viertelstunde ungefähr. Ich weiß, das … ich weiß schon, das scheint nicht lange …« Ich verspüre den starken Impuls, den Hörer wieder aufzulegen. Das ist ein Scherz! Mutter hat sich hier irgendwo versteckt – oder?
»Wo befinden Sie sich?«
SAG IHM NICHT DIE ADRESSE! Sag ihm nicht, wo du bist, das Ding auf dem Dachboden, das ist ein böses Ding, das darf er nicht sehen! Aber dann muss ich an Mutter denken. Das Wichtigste ist, dass wir sie wiederfinden. Und ich gebe ihm die Adresse. Zum Glück steht sie auf einem laminierten Zettel, der neben dem Telefon liegt.
Okay. Sie schicken einen Wagen. Sie werden Mutter finden. Es ist nicht zu spät, gib die Hoffnung nicht auf. Ich muss mich aber anziehen, bevor sie kommen, und es sollte etwas Maskulines sein, ein Hosenanzug, kein Kleid, und flache Schuhe.
Da sehe ich es.
Am Badezimmerspiegel ist eine neue Inschrift. Ich bin sicher, dass die gerade noch nicht da war, ich war doch im Bad, als ich das Nachthemd auf die Waschmaschine gelegt habe, und ich bin sicher, da stand da noch nichts.
»Sie ist nicht fort«, steht da. Eigentlich eine tröstliche Nachricht. Ich drehe mich um – an der Wand gegenüber steht: »Sie ist noch hier.«
»Aber wo?«, rufe ich, und meine Stimme klingt fremd. Viel höher als sonst und gleichzeitig rau. Alt klingt meine Stimme. Sehr alt.
Ich bin nackt, das Handtuch habe ich längst verloren, aber ich habe etwas in der Hand, das fällt mir jetzt erst auf. Etwas kleines Glattes. Irgendwie will ich nicht wissen, was es ist, ich mag da nicht hinschauen, dann hebe ich die Hand aber doch und sehe – den ketchuproten Lippenstift.
Habe ich den gedankenlos aufgehoben, lag er hier? Oder habe ICH diese Sätze geschrieben, bin ICH der Geist, war ICH die ganze Zeit Hugo, der komplette Hugo, bin ich wahnsinnig geworden?
Es würde erschreckend viel Sinn machen. Und – Mutter? Wo ist sie? Habe ich ihr etwas angetan?
Ich lausche konzentriert, als könnte ich die Antwort hören.
Aber nichts. Die Hütte ist totenstill. Ich gehe noch mal ins Schlafzimmer. Mutters Bett, das fällt mir jetzt auf, ist nicht nur ordentlich gemacht, es ist sogar ausgesprochen professionell gemacht. So kriegt man das als Privatmensch eigentlich gar nicht hin. Es sieht aus, als hätte da noch nie jemand drin geschlafen. Eine kleine Gummibärchentüte liegt auf dem Kopfkissen.
Da schrillt die Türklingel, und ich schreie auf. Jemand klopft. Laut und fordernd. Solche Geräusche bin ich nicht mehr gewohnt.
Schnell werfe ich mir einen Morgenrock über und gehe zur Tür.
»Der Sturm«, denke ich noch, aber als ich die Tür öffne, ist draußen kein Sturm. Es ist eine sternklare Nacht, und vor mir stehen zwei Polizisten.
Sie zucken zusammen. Erst denke ich, ich habe vergessen, mich anzuziehen, und stehe hier wie ein Irrer nackt, aber dann fällt mir ein: Es ist der Geruch. Der Geruch wird ihnen merkwürdig vorkommen.
»Ein toter Waschbär«, sage ich. Das ist keine gute Begrüßung.
»Guten Abend, meine Damen und Herren«, füge ich deshalb hinzu. Es sind zwei Herren, stimmt also fast.
»Wir haben einen Notruf erhalten über eine vermisste ältere Dame«, sagt der eine Polizist. »Sind Sie das?«
Wegen des Morgenmantels denkt er, ich wäre Mutter. Ich muss lachen. Es klingt so furchtbar, dass ich sofort wieder damit aufhöre.
»Nein«, sage ich. »Mutter. Es ist Mutter.«
»Dürfen wir hereinkommen?«
Ich lasse sie herein. Sie sehen sich um. Gehen ins Schlafzimmer, ins Wohnzimmer, ins Bad.
Die Nachrichten! Die Lippenstiftnachrichten! Und ich habe den Lippenstift noch in der Hand! Ich muss auf sie ja wie ein Psychopath wirken.
»Das«, sage ich und deute auf die Schmierereien, »na ja … das ist … nichts Besonderes.«
Man merkt, wie sehr der Gestank ihnen zusetzt, einer hält sich seine Mütze vors Gesicht.
»Wie lange wohnen Sie schon hier oben, Frau …?«
Frau? Jetzt reicht’s aber. Wer ist denn hier verrückt?
»Herr«, sage ich, »Herr.« Absurderweise fällt mir mein Name grad nicht ein.
»Hugo«, sage ich. »Hugo Richter. Wie lange wir schon hier sind? Ich weiß nicht. Die Tage … Sie können sich ja vorstellen, wie das ist – die Tage verschmelzen so bei dem Sturm.«
»Sturm?«, fragt der eine.
Ich nicke. Dann schüttele ich den Kopf, falls doch kein Sturm ist, was ich langsam glaube.
Der eine schaut seinen Kollegen bedeutsam an, geht aus dem Bad und spricht leise in sein Funkgerät. Ich verstehe »verwirrt« – das stimmt. Und »alte Frau«, und das stimmt nicht. Mutter ist nicht alt.
»Wir würden uns gern auch auf dem Dachboden umsehen«, sagt der erste Polizist.
Untersuchungshaft. Fast drei Wochen bin ich schon hier. Sie kommen immer wieder und »erklären« mir meinen Fall, aber es macht keinen Sinn. Ich versuche jedes Mal, angestrengt zuzuhören, um den Fehler zu finden, bislang erfolglos. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Meistens dämmere ich vor mich hin. Mutter haben sie nicht gefunden, aber ich weiß, dass sie noch lebt. Ich spüre es. Das ist übrigens der einzige Punkt, in dem wir übereinstimmen: Mutter lebt. Das sagen die auch.
Nur, sie wollen mir weismachen, ICH sei Mutter. Richtig, sie behaupten, ich sei meine eigene Mutter, das wäre ja mal ein medizinisches Kuriosum, vorsichtig formuliert.
Die Geschichte, die sie verzapfen, geht so: Ich bin Mutter, und mein Sohn Hugo (also ich. Ich weiß, es ist verwirrend. Und das sind nun Staatsangestellte), also mein Sohn hat sich verlobt mit einer gewissen Elisabeth. Und dieses Madamchen wollte er heiraten und mit ihr zusammenziehen.
Als ob ich Mutter so was jemals antun könnte, papperlapapp, schnippschnapp.
Und es sei zum Streit gekommen, sagen sie, wobei ich meinen Sohn und seine Verlobte ermordet hätte.
Die Leiche der Frau hätten sie bei uns zu Hause gefunden, mit der Leiche des Sohnes sei ich auf diese Skihütte geflohen. Richtig, das Ding auf dem Dachboden, das soll Hugo gewesen sein, also ich.
Merken Sie, wie verwirrend das alles ist? Ich nicke zu alldem nur, weil diese Leute mich ohnehin nicht verstehen werden.
Mutter werden sie aber zuhören. Mutter wird kommen und mich hier rausholen. Wenn es jemand schafft, dann sie. Sie wird mich nicht im Stich lassen. Sie ist nicht tot. Das sagen die hier ja auch.
Diese Gewissheit bleibt: Mutter lebt.