QazQrom - A. J. McCabe - E-Book

QazQrom E-Book

A. J. McCabe

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Beschreibung

Eva-Sophie Becker (28), ist Bankerin und leidenschaftliche Freeclimberin. Ohne eigenes Zutun findet sie sich mitten in einer internationalen Intrige um Unterschlagung, Geldwäsche und illegale Konten wieder: Mehrere Milliarden Dollar sind aus den Sozialrücklagen einer Chromhütte in Kasachstan verschwunden. Ein Teil des Geldes scheint auf undurchsichtigen Wegen auf das Offshore-Konto eines US-amerikanischen Ölmagnaten gelangt zu sein. Durch ein Versehen landete die Zugangsberechtigung zu diesem Konto auf Sophies Smartphone. Sie hätte jetzt die Möglichkeit, sich Zugriff auf die Millionen zu verschaffen - und den kasachischen MinenarbeiterInnen ihr Erspartes zurückzugeben ...

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Seitenzahl: 525

Veröffentlichungsjahr: 2021

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DIESEGESCHICHTE habe ich zwei Leuten unter dem gemeinsamen Pseudonym A. J. McCabe zu verdanken. Sie erzählt von Personen aus deren Umfeld. Ihre Zeit beim Geheimdienst ist so lange her und so oft dementiert worden, dass sie inzwischen für fiktiv gelten könnte, ebenso wie die Handlung dieses Romans. Zwar sind einige Figuren und Geschehnisse an Personen der Zeitgeschichte angelehnt, aber ihre Hintergründe und Handlungen sind frei erfunden – insbesondere die Idee, es könnte in Köln so etwas wie eine Tageszeitung mit überregionaler Bedeutung geben.

September 2021

U. Brandt

für Tamara

Inhaltsverzeichnis

Null

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Null

KLAR lief das Ding schief. Hätte man dran fühlen können. Passte eben nichts zusammen. Allein schon die Bude – viel zu schick und persönlich für ein sicheres Haus. Dazu die naseweise Hausmeisterin … Vier zog skeptisch die Luft durch die Nase ein, selbstverständlich geräuschlos.

Er und seine Einheit eilten das verglaste Treppenhaus hinauf, das ihnen im Briefing exakt geschildert worden war: Apartmentblock, schick, modern, hell. Genau wie die sechzehn Wohnungen, alle mit ähnlichen Grundrissen; die meisten lagen am Wochenende verwaist, weil ihre potenten Mieter sich von ihren aufreibenden Jobs in der City erholen mussten.

Vier brummte abfällig. Nichts deutete auf den Unterschlupf einer Terroristin hin. Beige Gusssteinstufen glänzten frisch gewischt; die Stuttgarter Innenstadt war schließlich Ground Zero der schwäbischen Kehrwoche. Sneakers mit hellen Sohlen, wie sie die meisten Kameraden des Sondereinsatzkommandos trugen, erzeugten darauf keine Geräusche und hinterließen keine Spuren. Lautlos huschten die Männer in Helmen und schwarzen Sturmhauben, in Kampfoveralls und Schutzwesten die Treppen hoch.

Gegenüber der rechten der beiden Türen im dritten Stock nahm ihr Kommandeur Position. Er trug, wie sie alle, das Hoheitszeichen mit dem Landeswappen auf dem einen Bizeps; auf dem anderen Ärmel seines Overalls prangte eine Eins.

Zwei, der stellvertretende Einsatzleiter, verharrte eine Etage tiefer am Fuß der Treppe. Zwischen ihnen warteten konzentriert und sprungbereit die zwölf Kameraden des Kommandos. Ihre MPs hielten sie mit der Mündung nach unten. Zwei flüsterte in das Funkmikrofon an seinem Mundwinkel. »Visierlicht.«

Fast gleichzeitig strahlten die starken Punktleuchten an den Maschinenpistolen auf. Ihre Lichtschwerter tauchten das Treppenhaus in reflektiertes Unterflurlicht wie einen angesagten Nachtclub.

»Ramme bereit.«

Sechs, der Polizist unmittelbar neben der Tür, der zusätzlich zu seiner MP den schweren Bohrhammer in der linken Armbeuge trug, den Riemen des Apparats am Gürtel gesichert, hob die Ramme in die Waagrechte und richtete sie auf das Türschloss.

Der Spion in der dünnen Holztür zeigte kein Licht, spiegelte nur die Reflexionen der Visierlampen vom glänzenden Steinboden.

»Bereit.« Sechs murmelte in sein Kinnmikrophon. Er setzte, um sein ganzes Gewicht gegen die Ramme zu stemmen, sein rechtes Bein weit nach hinten.

»Los!«

Wie unter einer Explosion knallte das Schloss auf, Sechs sprang rasch beiseite. Das Türblatt, polternd aus Schließriegel und Scharnieren gerissen, krachte wie geplant in den Flur des Apartments. Vier, auf der anderen Seite der Tür, verharrte reglos. Eine lange halbe Sekunde.

»Rein!«

Vier hob seine Waffe vors Gesicht, schnellte in die Türöffnung und setzte mit raschen, kontrollierten Schritten in die Wohnung. Hinter ihm folgten seine Kameraden. Ihre Visierleuchten warfen seinen Schatten voraus an die Wände des Flurs und auf die Tür zum Wohnbereich, aus deren Spalt ein schwacher Lichtschein drang.

Aus dieser Türöffnung kam ihm eine junge Frau mit weit aufgerissenen Augen entgegengestürzt, ihre Ohrhörer noch in einer Hand. »What the fuck are you …?«

»Stopp! Hinlegen!« Vier zielte und leuchtete der Zielperson ins Gesicht. »Stopp!«

Die Frau blinzelte und schwankte, der Lauf der MP traf sie unter der Nase über dem Schneidezahn. »Zurück! Hinlegen! Keine Bewegung!«

»Are you fucking crazy?« Die Zielperson, wahrscheinlich Eva-Sophie Becker, riss die linke Hand hoch, vielleicht, um ihre Lippe zu betasten, beinahe berührte sie die Mündung der MP. Wenn sie an den Lauf der Waffe griff, war Schießfreigabe von den Vorschriften gedeckt. Jeder seiner Kameraden würde den Sachverhalt ohne Zögern bestätigen. Über seine Schulter sprühte ein Kamerad der Zielperson zischend Nebel ins Gesicht.

»Zurück! Hinlegen! Auf den Boden!«

Eva-Sophie Becker kniff die brennenden Augen zusammen, zögerte, wich nur langsam zurück.

Worauf wartete sie bloß, verdammt nochmal? Vier senkte seine Waffe, rempelte der Zielperson seinen geharnischten Ellbogen vor die Brust. Er musste Abstand schaffen zwischen sich und der Bedrohung, so stand es im Schulungsbuch.

Vom Stoß hintenüber geworfen, strauchelte die junge Frau, prallte mit der Schulter gegen ein stählernes Bücherregal, fiel auf die linke Seite, schrie auf und drehte sich sofort wieder auf den Rücken. Doch da hatte Vier sie schon unter Kontrolle und drückte sie mit beiden Knien auf den Boden. Über und hinter ihm rückten seine Kameraden nach, besetzten entschlossen die kleine Wohnung.

»Freeze!« Vier brüllte der Frau ins Gesicht. Als sie die tränenden Augen abwandte, dabei aber nicht nachließ, sich zu wehren, half er mit einem winzigen Stupser nach. Sofort blutete sie auch noch an der Stirn.

Inzwischen kam ihm Sechs zu Hilfe. Gemeinsam wanden sie der Zielperson die Daumen aus den Fäusten, hebelten sie zur Armbeuge, machten die Frau damit wehrunfähig und drehten sie auf den Bauch. Sie packten ihre Handgelenke und fixierten sie mit Bindern hinter dem Rücken.

Die Frau schrie auf, warf wütend ihren Kopf herum, fast hätte sie Sechs am Helm getroffen. Im Reflex stieß er ihr den Kolben seiner MP in den Nacken. Niederhalten zur Immobilisierung war erlaubt. Für Vier sah es ganz so aus, als könnte es einen Bluterguss geben, verdammt, der rotgeränderte Abdruck des Schulterstücks war schon deutlich zu erkennen.

Sechs machte sich daran, die Verdächtige auf verdeckte Bewaffnung zu checken. Auch im Intimbereich; nirgendwo stand geschrieben, wie gründlich diese Untersuchung sein musste. Sechs richtete seine Helmkamera wie zufällig auf die Füße der Zielperson. Als die wütend hochschnellten, »Dreckswichser!«, traf es sich gut, dass Sechs seitlich mit geschlossenen Beinen kniete und der fiese Schwung ihrer Hacken vom Metallschaft der Elektroramme gestoppt wurde. Es knackte trocken wie brechende Knochen. Die Zielperson wimmerte auf.

»Geschieht ihr ganz recht, der blöden Schnepfe«, sagte sich Vier tonlos.

»Sauber!« Acht hatte das winzige Badezimmer durchsucht.

»Sauber!« Elf brauchte ungefähr eine Zehntelsekunde, um festzustellen, dass der Balkon des Apartments unberührt lag. Dabei war sein Winken zu den Kameraden auf dem Dach gegenüber schon eingerechnet.

»Sauber!«, rief Fünf, der Eva-Sophie Beckers schmales Schlafzimmer inspiziert und für unbelebt befunden hatte. Den letzten Raum bildete das geräumige Wohnzimmer, in dem sie standen und knieten.

Eins sprach seine Zusammenfassung in den Funkknopf an seinem Kragen. »Zielobjekt gesichert; Zielperson am Boden. Die Kollegen SPS können abrücken.« Das war an die Scharfschützen von gegenüber gerichtet.

Ganz so kontrolliert wie der Boss es an die Zentrale durchgab, sah es in Sophie Beckers Apartment nicht aus. Überall standen Koffer herum, teilweise gepackt. War die Terroristin dabei, ihre Spuren zu verwischen? Zwei und Eins musterten die Hinterlassenschaften im zerwühlten Wohnraum und konnten sich keinen Reim darauf machen. Durchschläge und Kopien uralter Akten, getippt in ungleichmäßiger Schreibmaschinenschrift, mit handschriftlichen Anmerkungen in Sütterlin, mit Hakenkreuzen in Briefkopf und Dienstsiegel, flatterten überall im Raum verteilt. Gab es einen rechtsradikalen Hintergrund? »Müssen die Kollegen abklären.«

»Lassen Sie los!« Sophie Becker wehrte sich heftig. Vier und sein Kollege hatten alle Hände voll zu tun, die schmale Frau zu bändigen. Für eine Tarnexistenz als Bankangestellte wirkte sie erstaunlich gut trainiert. Doch Vier und Sechs als untergeordnete SEK-Beamte wussten nie, mit wem sie es zu tun hatten. Ob diese junge Frau wirklich in einer Bank hinter dem Schalter stand, konnte niemand sagen, Überraschungen waren sie gewohnt. Dafür, dass es kein böses Erwachen gab, sorgten sie selbst. Wenn ihr Zielobjekt ansprechbar war und sich manierlich benahm, kamen sie ihr vielleicht entgegen und drehten sie auf den Rücken. Dann wäre auch der dicke Tropfen Blut nicht so deutlich zu sehen, der ihr aus dem linken Ohr lief und am Kiefer herabrann.

»Sie sind Eva-Sophie Becker?« Eins übernahm.

»Yes … ähm … Nein.« Die Frau atmete schwer.

»Safira al-Husseini?«

»Who the fuck?«

»Sie sprechen doch deutsch?«

»Ja … ähm … No.«

»Wo sind Ihre Papiere?«

»In mein … wallet. In meiner Brieftasche.«

Vier wunderte sich doch sehr. Eva-Sophie Becker, geboren 1989 in Herkenrath, NRW, wohnhaft in Stuttgart-Rosenberg, sprach unüberhörbar mit stark slawischem Akzent. Irgendetwas lief hier völlig schief – nach seiner völlig unmaßgeblichen Meinung.

***

EINEN Vormittag zuvor waren in Frankfurt zwei junge Frauen gelandet. Auf dem Rollfeld hatte es genieselt. Nach mehr als zehn Stunden im klimatisierten Jumbo ließ sich der Temperaturunterschied nicht spüren. Die Luft, die durch die Lücke zwischen den dicken Gummilippen der Passagierbrücke und der aluminiumglänzenden Außenhaut des Fliegers hereinpfiff, roch nach Abgasen und Gummi. Grau spannte sich der Himmel hinter den kleinen Bullaugen des Flugsteigs, so matt und schlierig wie die Startbahn. Greta Hesseler und Eva-Sophie Becker kamen aus der Karibik zurück. Zehn Tage hatten sie sich gebräunt, gebrutzelt und mit Sand paniert, sich an bunten Drinks festgehalten und die gutgebauten, abenteuerlustigen Jungmänner durchgelästert, hauptsächlich Amerikaner und Israelis, die nach ihnen die Köpfe verdrehten. Sie fühlten sich unbeschwert, sie hatten noch volle vierundzwanzig Stunden Urlaub, den würden sie sich durch ein paar Tropfen Regen nicht vermiesen lassen.

»Oder, Esa?« Greta hob auffordernd eine Handfläche.

»Nie im Leben!« Sophie klatschte ab und schlug ein. Sie schlenderten die sanfte Steigung der Röhre hinauf, die vom Flugzeug ins Terminalgebäude führte, zwei junge Frauen Ende zwanzig, sportlich, schlank, hübsch – Greta mit herausfordernd vollen Lippen, aschblond, ihr asymmetrischer Pony fiel ihr gern über die blitzend blauen Augen; Eva-Sophie mittelblond, mit langen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren und einem wimpernhellen Madonnengesicht. Sie hatten es nicht eilig. Die halbe Nacht hatten sie sich aufgekratzt Drinks aus der Bordküche kommen lassen, leider nicht so bunt und kunstvoll geschüttelt wie an Zorros Bar am Strand von Isla Mujeres.

Zorros Spezialität, der Tegusta Sunset, leuchtete so orange und rosa wie er sollte, auch mit Rum statt Tequila und Mangonektar statt Orangensaft. Nach genau diesen Farben hatten Greta und Sophie ihre Jux-Sonnenbrillen ausgesucht: rosa Herzen mit blau funkelnden Plastikperlen für Greta, gelborange Rauten mit smaragdgrünem Rand für Sophie. Mit ihren schrillen Brillen, in Sonnentops, hellen Shorts und Riemchensandaletten, sahen die beiden aus wie aus der Tampon-Reklame: selbstbewusst und sorglos. Sie kicherten übermütig.

Bis sie um die Ecke bogen. Am Ende des Gangs, vor einer Glastür, die ins Innere des Terminalgebäudes führte, nahmen zwei Grenzschutzbeamte in Uniform alle Ankommenden in Augenschein, holten sich einzelne Reisende aus der Schlange und ließen sich die Papiere zeigen, auch wenn das den Fluss der übrigen Passagiere aufhielt. Sophie zögerte. Greta zupfte sie am Handgelenk. »Was’n los? Denen geht’s doch nur um Migranten.«

Tatsächlich zogen die Beamten ausschließlich Alleinreisende heraus, eine junge Mexikanerin und einen dunkelhäutigen jungen Mann, der aus der Karibik stammen mochte.

Sophie schluckte. Ihr war nicht präsent, dass sich die Einreisemodalitäten seit dem Sommer der Flüchtlingskrise verschärft hatten.

Sie beide hatten freilich nichts zu befürchten. Nachdem sie ihre wuchtigen Hartschalenkoffer vom Band gehoben hatten –viel leichter, als sie aussahen, denn außer ein paar Tops, Shorts und Bikinis enthielten sie nur luftige Unterwäsche; für Mitbringsel hatten beide keine Lust und keine Adressaten gehabt–, stellten sie sich an der Passkontrolle in den Bereich für EU-Bürger.

Der Grenzschützer sah gut aus: männlicher Kiefer, markante Jochbeine, Bartschatten und feine dunkle Brauen über leuchtend grauen Augen. »Wenn Sie kurz die Brille …«

Greta schob ihre rosa Brille ins Haar, wie unabsichtlich fuhr sie mit der Zungenspitze über die Lippen. Provozierend drehte sie den Kopf, zeigte ihre schlanke Nase im vorteilhaften Halbprofil, senkte die Stirn und warf dem markigen Beamten einen langen, heißen Blick zu. »Seehr geern!«

»Danke. Angenehme Weiterreise.« Der Typ blieb kühl wie eine Hundeschnauze. Ungerührt schob er ihren Pass zurück.

Greta warf ihren Pony herrisch aus dem Gesicht und stolzierte mit wiegendem Po durch die Absperrung.

Sophie musste grinsen. Sie war dran. Sie nahm ihre Brille ab.

»Danke, Frau … Becker.«

Sophie nickte. Fast kam es ihr so vor, als kontrollierte der gutaussehende Polizist ihr Passfoto gründlicher als Gretas, er sah ihr ins Gesicht, wieder auf ihren Pass. Sophie lächelte, ließ wie zufällig ein Augenzwinkern aufflackern.

»Bitte.« Der Beamte reichte ihren Pass zurück und lächelte dabei schüchtern. Zumindest bildete Sophie sich das ein.

Sie machte sich auf den engen Weg durch die Sicherheitsklappen. Beim besten Willen konnte sie nicht stolzieren wie Greta, schon gar nicht in ihren flachen Sandalen. Und doch spürte sie sicher, dass ihr die Blicke des Typen folgten …

Eva-Sophie Becker tippelte gutgelaunt durch die schulterhohen elektrischen Türflügel und bemerkte nicht, dass der Grenzschutzpolizist hinter ihrem Rücken seinem Vorgesetzten ein Zeichen gab. Der Kommandeur am Ende der Buchtenreihe nickte bestätigend und griff nach dem Funkgerät am Kragen seiner Uniformjacke.

Er und seine Kollegen ließen Sophie Becker nicht mehr aus den Augen.

FRA, der Frankfurter Flughafen, gilt selbst unter Wohlmeinenden als unübersichtlich. Das größte Drehkreuz der Bundesrepublik mit dem höchsten Passagieraufkommen und den meisten Flugbewegungen ist zugleich die am häufigsten umgebaute Anlage des Landes. Lager- und Abfertigungshallen, Versorgungsflure und Korridore, Seiten- und Verbindungsgebäude stammen aus den letzten dreißig Jahren. Ankommende Reisende steigen am Ausgang der Terminals in ein Untergeschoss ab, müssen durch eine Straßenunterführung, dann in den zweiten Stock, um die Autobahn zu überqueren, und erreichen über eine lange Fußgängerröhre den neugebauten Flughafenbahnhof – wo die Züge wiederum zwei Etagen tiefer verkehren. Hätten Greta und Sophie diesen Weg genommen, wären sie den zwei Polizeibeamten in die Arme gelaufen, die am oberen Ende der Rolltreppenflucht jeden einzelnen Bahnreisenden scannten. Einer der beiden hatte Eva-Sophies Passfoto auf dem Display.

Zwar steckte auch in Gretas und Sophies Gepäck ein Bahnticket, doch die beiden hatten noch einen vollen Tag Urlaub. Sie waren in der Stadt, in der sie sich ein Jahr zuvor kennengelernt hatten, wo sie zusammen die letzten sechs Monate im Traineeprogramm der Bank durchgestanden und erfolgreich absolviert hatten.

Eva-Sophie war nach ihrem mittelprächtigen Abschluss in Volkswirtschaftslehre mehr oder weniger zufällig ins HP-Programm der Bankzentrale geraten. Umso mehr hatte Greta sie beeindruckt, die zwar keinen besseren Abschluss hatte, jedoch bereits in der Vorstellungsrunde im Bankenturm genau angeben konnte, wohin sie wollte: in die Top Twenty, die Vermögensverwaltung der begütertsten Privatkunden. Das lernte Sophie rasch von ihrer neuen Freundin: dass Greta zwei Dinge tödlich ernst nahm – ihre Karriere und ihr Vergnügen.

Greta und Sophie hatten zehn Tage Karibikstrand hinter sich, sie hatten es sich gutgehen lassen, sie waren fast die ganze Zeit brav gewesen, sie fühlten sich lebendig und begehrenswert, überdreht und ausgelaugt zugleich. Sie gönnten es sich, auf vertrautem Terrain noch einen draufzumachen, wie in den alten Zeiten ein Jahr zuvor.

Zumindest Greta kannte sich auch gut aus in der chaotischen Zusammenballung von Flughafengebäuden, sie lotste Sophie zum nächsten Straßenausgang, wo sie sich in ein Taxi fallen ließen.

SPÄTER standen Greta und Eva-Sophie am Mainufer, in einem der zehn besten Clubs der Republik. Die Macher pflegten ein Design, das am ehesten einem TV-Testbild ähnelte, mit schwarzweißen Quadraten und einzelnen primärfarbenen Flächen als Highlights. Und sie bespielten eine Terrasse über dem Main.

Unter Greta und Sophie lag der Fluss, am Horizont hing ein blutroter letzter Streifen der untergegangenen Sonne. Ein magischer Augenblick, fand Sophie wehmütig.

»Mit der Playa norte nicht zu vergleichen, was?« Greta klang fast sarkastisch.

»Man kann nicht immer Urlaub haben.« Schlichte Tatsachen zu akzeptieren fiel Sophie leicht.

»Aber auch nicht erst wieder in sechs Monaten. Versprochen?«

»Versprochen.« Sie ließen die Gläser und Eiswürfel klingeln. Sophie nahm einen tiefen Schluck.

»Bin sofort wieder da.« Greta stellte ihren Drink ab, legte ihr Handy daneben. Sie hatte kaum an ihrem Glas genippt und musste schon wieder aufs Klo. Blasenentzündung? Schwangerschaft? Sophie zuckte belustigt die Achseln. In Gretas Leben schien immer Alarm zu sein, immer ein Gipfel zu ersteigen oder ein Abenteuer zu bestehen. Ihr eigenes Dasein kam Sophie dagegen lahm und grau vor. Quatsch! Sie schüttelte den Gedanken ab. Ihr Leben war in Ordnung, Sophie hatte, anders als Greta, ein Talent zum Zufriedensein. »Auf uns!« Sophie prostete sich selbst zu. »Und auf einen Wahnsinnsurlaub.«

Die nächsten Ferien, das hatten sie sich im Scherz geschworen, würden sie erst buchen, wenn sie es in die obersten Etagen geschafft hatten. Diese Räume blieben in jeder Bankfiliale für die potentesten Privatkunden reserviert, für die Superhigh performers und HNWIs, High net worth individuals.

Selbst im ehemaligen Stammhaus der Banco dei Tedeschi in Venedig, wo die deutsch-venezianische Handelsbank seit dem vierzehnten Jahrhundert in einem alten Palazzo residierte und die Gründerfamilien ihre Geschäfte dreihundert Jahre lang unter den Arkaden im Parterre abgewickelt hatten, beherbergte inzwischen der vierte Stock das Refugium der Privatkunden.

Für Sophie blieb der Palazzo in Venedig ein Mythos. Seit dem Aufstieg der ehemals italienischen Privatbank zum drittgrößten Bankhaus Deutschlands diente er nur noch repräsentativen Zwecken. Dorthin wurde man nur vom Landesvorstand aufwärts eingeladen. Niemand, den Sophie beruflich traf, war schon einmal im Palazzo gewesen, bis auf Tom Böhnert, den Büroleiter des Vorstandsvorsitzenden und den einzigen Banker auf der Vorstandsetage unter fünfzig – Jahre und Millionen.

Eva-Sophie selbst hatte nur einen flüchtigen Einblick in die Welt der HNWIs erhascht, als sie während des Trainee-Programms ein Exklusivmailing betreute. Zehneinhalb Prozent Rendite pries die Bank damals an. Das Angebot ging ausschließlich an fünfhundert handverlesene Empfänger. Und doch erreichten Sophie innerhalb weniger Tage mehr als dreihundert Anfragen aus allen Teilen der Welt, die sie umgehend an die zuständigen regionalen Berater weiterleitete. Darin, begriff Sophie, bestand der Hebel, um an das Geld der Superreichen zu kommen: deren unersättliche Gier.

Als sie ihren Job in der Stuttgarter Filiale angetreten hatte, musste sie als erstes ihren Mailaccount aufräumen. Sonst ploppten unablässig irreführende Adressen auf, deren schwerreiche Inhaber für Sophies günstige Fahrzeugfinanzierungen keine Verwendung hatten.

Hoppla! Gretas Smartphone vibrierte und leuchtete auf. Ein Foto erschien auf dem Display, es zeigte einen gutaussehenden jungen Mann mit wildem Schopf. Das musste einer von Gretas vielen Followern sein, vermutete Sophie amüsiert. Und erstarrte: da grinste ihr das Gesicht von Tom Böhnert entgegen, dem begehrtesten Junggesellen der Bank!

Beeindruckt griff Sophie nach dem Telefon, nahm es behutsam hoch. Sie hatte tatsächlich Tom Böhnerts Gesicht unter ihren Fingerspitzen, seine männlichen Wangen, seine seeblauen Augen, seine ungezähmte Tolle. Sophie seufzte. Der schöne Tom – und Greta hatte nicht nur seine Nummer in ihren Kontakten gespeichert, sondern sogar sein Foto! Jetzt hinterließ er ihr auch noch eine Nachricht! Wahnsinn!! Falls Böhnert nicht schwul war, gut genug dafür sah er aus. Nie hatte Sophie beobachtet, dass er an irgendeiner Frau Interesse signalisiert hätte. An ihr selbst sowieso nicht, dafür war sie ein viel zu kleines Licht. Tom behandelte sie wie Luft.

»Hier.« Greta kam zurück und stellte frische Drinks auf die Balustrade. Sie kippte den Rest ihres alten Glases auf einen Zug und griff nach ihrem Telefon. Dann rückte sie zu Sophie heran. »Sorry. Lange Schlange auf dem Mädchenklo.«

»Tom hat angerufen.« Beiläufig, Sophie verzog keine Miene. Sie fand, sie bekam es ganz gut hin.

»Bist du etwa drangegangen?« Klang Greta ertappt?

»War nur eine Nachricht.«

»Hast du gelesen?«

»Ja. Bis denne. Heißt was?«

»Vielleicht kommt er später noch vorbei.« Auch Greta ließ es wie beiläufig klingen. Dabei wäre es selbstverständlich eine Sensation! Tom Böhnert kam nirgends einfach zufällig vorbei.

»Klar. Ist nicht dein Ernst.«

»Meiner schon.« Greta hatte einen vielversprechenden Blick drauf, der Stahlträger hätte schmelzen können. »Egal, das ist unser Abend, oder?« Greta hob ihren neuen Drink, stieß an.

»Isso.« Eva-Sophie nahm einen kräftigen Schluck. Sie hatte ihn nötig. Greta verwaltete nicht nur die Nummer und das Foto vom schönen Tom in ihren Kontakten. Sie hatte sogar vielleicht so eine Art Date mit ihm – krass!

DER ICE kam fast pünktlich. Greta und Sophie standen fröstelnd auf dem Flughafenbahnhof, am vorderen Ende des zugigen Bahnsteigs. Für die kurze Fahrt nach Stuttgart hatten sie nicht reserviert.

»Wenn wir keinen Sitzplatz kriegen, schrei ich.« Sophie war abgrundtief mies drauf.

»Komm schon, Süße, beruhig dich. Ich regele das schon.« Greta konnte auch mütterlich tun. Sophie regte sich nur noch mehr auf. Sie hatte fürchterliche Kopfschmerzen und bereits zwei Tabletten genommen. Dabei müsste sie ausgeschlafen sein, sie waren ans Limit des Late-check-outs gegangen und bis nachmittags im Bett geblieben.

Sie stiegen ein. Leute standen in den Gängen. Greta bugsierte sie zu zwei unbelegten Sitzen –Bitte bei Bedarf freimachen– im Großraumwagen, schob Sophie auf den Fensterplatz und wuchtete ihre beiden Koffer ins Gepäcknetz. »So.« Greta ließ sich in ihren Sitz fallen.

»Danke.«

»Entspann dich.«

Eva-Sophie schmiegte die Stirn ans kühle Fenster, der Zug nahm surrend Fahrt auf. »Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast. Keine Ahnung, was mit mir los war.«

An den Vorabend im Club erinnerte sich Sophie nur noch schemenhaft. Nach dem zweiten Drink war ihr ziemlich rasch übel geworden. Der Rest der Nacht blieb als kompletter Filmriss verloren. Nie zuvor war ihr so etwas passiert. Anscheinend hatte Greta sie ins Hotel verfrachtet.

»Vielleicht war’s die Luftveränderung«, half Greta aus. Schließlich lag die Temperatur in Deutschland fast fünfzehn Grad niedriger als in Mexiko. »Die Zeitumstellung. Oder Filialallergie.« So lautete ihr Geheimcode, wenn sie einen Vormittag krankfeierten. Ganze Tage zu versäumen kam bei der Bank nicht infrage.

Sophie nickte, sie musste trocken auflachen. Da meldeten sich ihre Kopfschmerzen zurück. Sie nestelte in ihrer Handtasche und warf noch eine Pille ein.

AMHAUPTBAHNHOF in Stuttgart verabschiedeten sie sich am improvisierten Taxistand vor dem Bauzaun. »War superschön.« Küsschen. »Bis morgen.«

»N’Abend.« Sophie riss die Tür eines Taxis auf, nannte dem Fahrer ihre Adresse und sank in die schwarzen Ledersitze, die nach alten Schuhen und Nagellackentferner rochen. Sie war froh, endlich alleine zu sein, sie fühlte sich hundemüde, sie würde sich höchstens noch ein Bad einlaufen lassen, vielleicht schon im Taxi ein wenig dösen …

»Da ist gesperrt. Wollen Sie hier aussteigen?« Sophie schreckte auf. Überall zuckte Blaulicht. Vor ihnen stand ein Streifenwagen quer über der Straße. Verwirrt steckte Sophie dem Fahrer ihren Zehner hin, stieg aus, hob ihren Koffer aus dem Wagen und rollte ihn auf das Trottoir.

Das Taxi wendete und fuhr davon. Die Seitentür zu Sophies Haus stand offen. Polizisten in Uniform und Männer in weißen Papieranzügen kamen heraus oder trugen Metallkoffer hinein. Unmittelbar vor der Tür wartete ein Rettungswagen mit Warnblinkern und offenen Hecktüren.

Ein olivgrüner Mannschaftswagen mit vergitterten Frontscheiben und abgedunkelten Seitenfenstern fuhr gerade davon. Hinter ihm zog ein Streifenpolizist in Uniform das Absperrband wieder quer über die Straße. Dann kam er auf Sophie zu. »Sie können hier nicht durch.«

Das hatte ihr gerade noch gefehlt. »Ich wohne da. Nummer Neunundachtzig.«

»Tut mir leid. Dauert noch ein paar Minuten.«

»Was ist denn los?«

»Kann ich Ihnen nicht sagen.« Der Polizist öffnete die Tür seines Streifenwagens.

»Um welche Wohnung geht’s?« Sophie war viel zu erschossen, um echtes Interesse aufzubringen.

Der Beamte griff ans Armaturenbrett und reichte ihr eine Visitenkarte. »Ab morgen früh können Sie hier anrufen. Dann erhalten Sie Auskunft.«

Sophie drehte das Pappkärtchen mit dem Wappen der Stuttgarter Polizei unschlüssig in den Händen.

Aus der Tür zu ihrem Haus traten zwei Männer in hellen Mänteln. Irgendwas an ihnen sah ungewöhnlich aus. Sie bewegten sich energisch, hatten es jedoch nicht eilig, entfernten sich nur ein paar Schritte von der Tür und steckten die Köpfe zusammen, anscheinend beratschlagten sie sich. Ihre Haarschnitte sahen sehr militärisch aus, mit eckig ausrasierten Nacken und großräumig freigeschnittenen Ohren.

Sie wirkten wie Soldaten in Zivil, fand Sophie. Verwundert wandte sie sich zum Streifenwagen um. Der Polizeibeamte wollte gerade wieder einsteigen.

»Sind da Israelis dran?«

»Wie bitte?«

»Die Männer da vorn, sind das israelische Polizisten?«

»Unsinn. Höchstens Amerikaner. Rufen Sie uns morgen an.«

»Ich war zehn Tage im Urlaub. Ich hab nix mitbekommen.«

Der Polizist musterte Sophie alarmiert. »Und Sie sind?«

»Sophie Becker.«

»Eva-Sophie Becker?« Plötzlich fummelte der Beamte hektisch sein Halfter auf, zog seine Pistole und entsicherte sie.

Sophie begriff nicht. »Nein.« Sie hob beschwichtigend die Hände.

»Safari Alhu-… Dingens, Hussi?« Der junge Polizist stammelte. Überstürzt nahm er in der Deckung der offenen Fahrertür Kombatstellung ein und richtete seine Waffe auf Sophie. »Hände hoch!«

Die Bewegung erschreckte Sophie. »Nein!« Krampfhaft versuchte sie ruhig zu bleiben, ihre Stimme unter Kontrolle zu behalten. Vorsichtshalber hob sie auch ihre Arme auf Schulterhöhe. Sie hatte keinen Schimmer, weshalb der Polizist sich so irrsinnig aufführte.

Der junge Mann zischte nervös in das Funkmikro an seinem Kragen. »Isa? Isa, kommen! Ich brauch Verstärkung.« Mit einem erhobenen Arm ruderte er hektisch in der Luft, wie um seine Kollegen zu alarmieren. »Isa?«

Er wirkte auf Sophie so hektisch und durcheinander, als könnte er jederzeit die Nerven verlieren. Sophie wunderte sich. »Nein. Ich bin das nicht. Ich wollte Eva-Sophie nur besuchen.«

»Was?« Der Polizist zog erleichtert die Luft ein, ließ die Waffe ein paar Zentimeter sinken.

»Ich bin Greta Hesseler, eine Kollegin.«

»Papiere?«

»Wie?«

»Ihre Papiere, bitte.«

»Nein, ich … ich komme gerade aus dem Urlaub, ich bin total übermüdet, vierundzwanzig Stunden Flug!«

»Ah ja.« Das Funkgerät des Polizisten krächzte. »Isa?«

»Ich komme schon klar.« Sophie hatte noch nie einen derart hypernervösen Polizisten erlebt, es wirkte fast schon komisch. Sie sah sich um, suchte nach einem Ausweg aus dieser grotesken Situation. Die übrigen Polizeibeamten und Spurensicherer schienen sie nicht zu beachten. Sophie wandte sich vorsichtig zum Gehen.

»Moment noch!« Der Beamte fuhr sie an.

»Danke, ich komme schon klar. Ich such mir ein Taxi.« Sophie griff sich behutsam ihren Koffer und machte sich davon. Bis zur Querstraße drehte sie sich nicht um. Bevor sie um die Ecke in den Sichtschutz der Büsche vor ihrem Haus bog, warf sie einen flüchtigen Blick zurück. Der verwirrte Jungpolizist saß in seinem Streifenwagen am Funkgerät und sprach aufgeregt hinein.

Durch eine Lücke im Grün sah Sophie die offenen Hecktüren des Rettungswagens leuchten. Gerade bewegte sich dort etwas. Auf der Trage, die von zwei Sanitätern in den RTW geschoben wurde, lag unverkennbar Yasemin Shaleva. Sophie hatte die junge Frau nur ein einziges Mal gesehen, als sie die Schlüssel zum Apartment übergaben. Jetzt sah Yasemins Gesicht geschwollen und gerötet aus, sie hatte eine Halskrause um den Nacken, ihr linkes Bein steckte in einer unförmigen Aufblasschiene. Sie wirkte nicht bei Bewusstsein. Aber es handelte sich eindeutig um Yasemin, Sophies Couchsurferin aus Tel Aviv.

Also musste irgendetwas mit ihrem Apartment passiert sein, also hatte irgendjemand bei ihr eingebrochen und Yasemin überfallen! Sophie schauderte bestürzt. Sie musste sich auf ihren Koffer setzen.

Als der Rettungswagen seine Sirene anstellte und davonrollte, machte sich auch Sophie hastig auf den Weg. Sie war viel zu durcheinander, um beim durchgeknallten Polizisten oder irgendeinem seiner Kollegen nachzufragen oder gar selbst irgendwelche Fragen zu beantworten.

»ICH BIN’S. Kann ich reinkommen?«

»Sicher, was’n los?« Gretas Stimme über die Gegensprechanlage klang träge und verwaschen. War die Technik kaputt? Dabei lag ihre Wohnung, genau wie Sophies, in einem modernen Neubau. Der Summer funktionierte einwandfrei, Sophie schob ihren Koffer in den Flur, in dem sofort das Licht ansprang. Der Aufzug wartete, einladend glitt die Tür auf.

Vor Gretas Wohnungstür klingelte Sophie noch einmal. Von drinnen antwortete ihr unterdrücktes Fluchen. Anscheinend stellte es ein kompliziertes Unterfangen dar, Gretas Tür aufzuschließen, zu entriegeln, die Sperrkette auszuklinken, das zweite Schloss aufzusperren. Endlich ging die Tür auf. Greta stand schon im Nachthemd, Kühlbrille im Haar. »Sorry.«

»Verrammelst du immer so?« Sophie wunderte sich.

»Was?«

»Kette und Riegel und zweites Schloss?«

»War alles schon vor mir an der Tür. Warum fragst du?«

»Nur so, nichts Wichtiges. Kann ich bei dir übernachten? Bei mir ist eingebrochen worden.«

»Echt jetzt?« Wirklich geschockt klang Greta nicht. Sie hatte einen glasigen Blick. »Was geklaut?« Greta stolperte, hielt sich am Türrahmen fest. »Sorry, ich hab mir noch einen genehmigt.« Ihre Augen glitten fahrig an Sophie vorbei.

Greta sammelte Cocktails. Wo andere Leute Andenken oder kitschige Mitbringsel kauften, setzte Greta ihr Geld in Erinnerungen um – in Erfahrungen von Rausch und Grenzüberschreitung. Von jeder ihrer Reisen brachte sie einen Lieblingsdrink mit, aus Hongkong den Singapore sling, Cuba libre aus der Karibik, aus NYC selbstverständlich Long Island Ice Tea, Planter’s Punch aus Miami Beach. Wahrscheinlich gab es in ihrer Wohnung mehr Schnapsflaschen als Bücher.

»Wird schon nicht so schlimm sein. Morgen sehen wir weiter. Lass uns schlafen gehen.« Sophie spielte business as usual.

»Gute Idee. Komm zu mir ins Bett.«

Es machte Sophie nichts aus. Gretas Bett sah breit und weich aus. Sophie war nicht prüde. Auf Isla Mujeres hatte sie Greta öfter nackt gesehen, sie hatten sogar einmal geknutscht, Zorro zuliebe und in seinem Bett. Auch da waren sie ziemlich beschwipst gewesen, nichts von Bedeutung. Doch jetzt wollte Sophie nur schlafen. Sie zog sich aus.

Greta schlüpfte auf ihrer Seite bereits ins Bett, schob sich die Kühlbrille über die Augen und drehte sich seufzend auf die Seite. Sophie fühlte sich zerschlagen und löschte das Licht. Sobald sie unter die Decke kroch, hörte sie Gretas leise pfeifenden Atem. Die hatte sich auf den Rücken gewälzt, ihre Brille phosphoreszierte im Dunkeln blaugrün.

Sophies Gedanken wirbelten wild durcheinander. Sie sah Yasemin vor sich, die blondierte junge Frau auf der Trage, bewusstlos, verbunden und fixiert. Zusammengeschlagen? Was hatte sie bloß in ihrer Wohnung angestellt?

Irgendwann musste Sophie doch eingeschlafen sein. Wirre Bilder schwirrten durch ihre Träume, türkis stand ihr Apartment unter schwappendem Meerwasser, Fische schwammen darin herum. Bereits im Traum fürchtete Sophie, was wohl ihre Vermieterin zu dieser Überschwemmung sagen würde. Dann ging die Wohnung in Explosionen und Feuerbällen auf und verschwamm in einem blutroten Sonnenuntergang.

Sophie schreckte aus dem Schlaf. Ihr Handy brummte. Es war drei Uhr morgens. »Ja?« Es schien eine Art Werbeanruf zu sein. Irgendein Typ mit schwedischem oder indischem Akzent wollte ihr Handy kaufen.

»Kaufen?« Sophie murrte, stinksauer.

»Supergutes Angebot, ernsthaft!« Der junge Mann klang ganz freundlich, doch Sophie hatte dafür keinen Nerv. Wenige Wochen zuvor hatte sie sich ein fast neues aktuelles Modell gekauft, auf einer Internetseite mit wiederaufgearbeiteten Gebrauchtgeräten, deshalb kam der Junge überhaupt auf sie.

»Echt nicht!« Sophie drückte ihn weg, schaltete irritiert ihr Telefon aus. Erst dabei fiel ihr auf, dass das alles nicht zusammenpasste. Der Typ hatte sie auf ihrem Diensthandy angerufen, einem nagelneuen Modell Acht, das die Bank ihr zur Verfügung stellte. Privat nutzte Sophie jedoch ein sechs Monate altes koreanisches Gerät. Auf dem hatte der Anrufer sich aber nicht gemeldet! Was für ein Idiot!

Eins

Vier Jahre zuvor

DEN EIGENENTOD überlässt keiner dem Zufall. Fast jeder hat eine Vorstellung davon, wie er oder sie sich umbringen würde und kennt eine bevorzugte Methode, zumindest in der Theorie. Für Oleg Proporov standen gleich sieben Möglichkeiten zur Auswahl.

Als Gewerkschaftsführer hatte er jahrelange Erfahrung damit. Betriebsunfälle und schwerste Erkrankungen stellten unvermeidliche Gefahren der Chromitförderung dar, ganz gleich wie oft Proporov und seine Mitstreiter davor warnten, in der Betriebsleitergruppe argumentierten und ihre Kolleginnen und Kollegen zur Vorsicht agitierten. Die Betriebsangehörigen der PAO Qazaqstan Qrom in Qromtay, Kasachstan erhielten gute Löhne und eine überdurchschnittliche Kranken- und Altersversorgung. Proporov selbst hatte dazu beigetragen, sie zu erkämpfen. Als zweiter Sekretär der Belegschaftsvereinigung hatte er allerdings auch jeden einzelnen Toten mit eigenen Augen gesehen, manche sogar beim Sterben begleitet.

Proporov rieb sich die unangenehmen Erinnerungen aus den Augen. Er rückte sein Wasserglas zu den zwei mit Korken verschlossenen Glasflaschen, deren Bäuche im flachen Licht matt schimmerten. Mit der Handfläche wischte er eine Flasche frei. Die tiefgekühlte klare Flüssigkeit darin funkelte in den letzten Sonnenstrahlen, ließ das Glas in der warmen Abendluft jedoch sofort wieder beschlagen.

Oleg Proporov war bereit. Er trug sein bestes weißes Hemd, seine beiden Orden steckten sauber ausgerichtet am breiten Revers seines Hochzeitsanzugs. Das Jackett zog er nicht an, er passte nicht mehr hinein. Das konnte später der Bestatter richten, der trennte oft den Rücken bis zum Kragen auseinander, bevor er seine Kunden in den Sarg legte.

In Gedanken hakte Proporov alles ab, was er erledigt hinterlassen wollte. Seinen Brief hatte er auf dem Küchentisch deponiert. Darin schilderte er Jeka Wassikova seine Gründe. Das meiste wusste seine Frau bereits, weil er ihr in den langen Jahren ihrer Ehe immer von seinen Sorgen hatte erzählen können.

Waren sie glücklich gewesen? Proporov tat sich schwer mit großen Worten. Sie hatten gute Zeiten gehabt, vielleicht mehr als die meisten. Seit er Jeka zum ersten Mal gesehen hatte, diese selbstgewisse junge Maschinistin mit Kranführeraufnäher am Arbeitseinteiler, wie sie lässig an die stählerne Leiter ihres Laufkrans gelehnt stand, die dunklen Locken unter einem Tuch gebändigt, mit einer Pausenzigarette zwischen den Fingern, trug er dieses Bild wie eingebrannt im Gedächtnis. Wie sie auf ihrem Steuerstand hoch unter der Decke der staubigen, vom Glühen der Erzschmelze geisterhaft beleuchteten Hochofenhalle die tonnenschweren Sintertröge zollgenau bugsierte. Reibungslos, elegant und leicht sah das aus, dabei stellte es kräftezehrende Arbeit dar, die Hebel der massiven Schwerlastkräne zu bedienen. Jekas Unterarme und ihre Hände hatten damals mehr Kraft als seine eigenen.

Inzwischen sahen ihre Haare weiß und dünn aus, an vielen Stellen bedeckte der Flaum kaum die Kopfhaut. Das war selbst auf dem Hochglanzfoto im Goldrahmen zu erkennen, das noch immer im guten Zimmer ihres Hauses hing und den Moment festhielt, als Oleg Proporov, persönlich und aus den Händen des Generalsekretärs der KPdSU, in Moskau seine Urkunde überreicht und den Orden angesteckt bekommen hatte.

Viele Jahre war das her, Proporov lächelte in Gedanken. Heute, früh am Morgen, war Jeka Akarelian –selbstverständlich hatte sie ihren Mädchennamen behalten wie alle fortschrittlichen Frauen ihrer Generation–, in die Provinzhauptstadt gefahren, um nach ihrer zukünftigen Schwiegertochter zu sehen, die seinen und ihren ersten Enkel erwartete. Offiziell durfte Oleg nichts davon wissen.

Er saß zusammengesunken am Tisch auf der Bank hinter seinem Haus, einem von Dutzenden gleichförmiger Schnellbauten. Jedes der Arbeiterheime duckte sich in einen schmalen Hintergarten, der meist zu einem Innenhof mit festgestampfter, rissiger Erde vertrocknet war. Der kasachischen Steppe Kartoffeln oder gar Gemüse abzutrotzen, schien kaum möglich, selbst mit der Wasserversorgung aus der Pumpanlage der Genossenschaft.

Proporov brauchte sich nicht umzusehen, er kannte jeden Quadratzoll seines Grundstücks. In diesem Innenhof hatten seine Kinder gespielt, bis sie alt genug für ein Fahrrad, später ein Moped waren und sich die Umgebung und die lichte Weite der Steppe auf eigenen Rädern eroberten. Dass man sich von den Gruben fernzuhalten hatte, wusste jedes Kind in Chromtau, auch Irina und Katsvi.

Drei kratertiefe Tagebaue begrenzten den Ort im Süden und Südosten. Es waren talweite Aushebungen mit spiraligen Schotterrampen, wie die neuen, überbreiten Muldenkipper sie brauchten, um sich kilometerlang vom dreihundert Meter tiefen Grund der Krater auf die Ebene hinauf und zu den Verhüttungswerken zu winden. In der Grube und im Hüttenwerk lauerten sieben der acht Gefahren, die ein Menschenleben kosten konnten. Jeder mögliche Arbeitsunfall sicherte den Angehörigen eine lebenslange Witwen- oder Waisenrente. Proporov schnaubte bitter.

Um zu Tode zu kommen konnte er in die Luft gesprengt oder von einem Gelenklader oder einem Muldenkipper überrollt werden, er konnte in glühenden Erzstaub oder kochende Schwefelsäure fallen, vom Schwerlastkran stürzen oder unter einen Waggon der Grubenbahn geraten. Doch Proporov hatte sich für eine weitere Möglichkeit entschieden, die fast seit Beginn des Minenbetriebs als versicherungsfähig galt. Bei der schweren, hochgefährlichen und gesundheitsschädlichen Arbeit in der Chromverhüttung stand der alltägliche Konsum von Schnaps und Zigaretten auf der Tagesordnung. Dessen Folgen mussten mitversichert sein, das brauchte den Betriebsärzten und den Ingenieuren des Leitungsgremiums niemand zu erläutern.

Proporov nestelte den Verschluss seines Gürtels auseinander, öffnete den obersten Knopf und den Reißverschluss seiner Hose. Er würde in den nächsten Minuten fast zwei Liter Flüssigkeit zu sich nehmen. Dafür saß ihm die Hochzeitshose zu eng. Niemand beobachtete ihn, von den Nachbarhäusern lugten nur fensterlose Giebel und Dachflächen über die Wellblechzäune. Er hockte allein, Jeka Wassikova würde erst zum Wochenende zurückkommen. Gerne hätte er die Geburt seines Enkels noch miterlebt. Doch die Zeit lief ihm davon. Weil er einen Fehler gemacht hatte. Nicht er persönlich, noch nie in seinem Leben hatte er etwas gestohlen. Aber durch seine Schuld war es geschehen. Dafür musste er jetzt die Verantwortung übernehmen.

Oleg Proporov schob die zwei großen Flaschen zurecht. Er musste rasch trinken, die zweite Flasche zumindest zu zwei Dritteln leeren, bevor ihn der Inhalt der ersten außer Gefecht setzte.

Das erste Glas floss ihm leicht durch die Kehle, der eisgekühlte Schnaps schmeckte mild. Proporov spülte mit dem zweiten Glas nach, schüttete sich das klobige Wasserglas noch einmal randvoll, zog scharf die Luft ein und leerte es in einem Zug. Jetzt brannte der Wodka in seiner Kehle. Proporov trank entschlossen und zielstrebig. Vorsichtshalber zog er den Korken aus der zweiten Flasche. Noch kontrollierte er jede seiner Bewegungen, schenkte sich das vierte und fünfte Glas ein, fast ohne einen Tropfen zu verschütten, leerte rasch den Rest der Flasche ins sechste. Er musste heftig aufstoßen, der Himmel färbte sich violett, zumindest in seinen Augen unter den schweren Lidern.

Er warf das Trinkglas beiseite, schob seine flachen Hände vorsichtig über die Tischplatte auf die glitzernde Flasche zu. Sie schwankte, als wollte sie sich seinem Griff entziehen. Endlich schlossen sich seine Fäuste um das kalte Glas. Proporov führte den Flaschenhals an die Lippen und trank in verzweifelten Zügen, unterbrochen nur von heftigem Husten und Würgen. Mit dem letzten Funken seines Bewusstseins konzentrierte er sich darauf, den Schnaps auf jeden Fall bei sich zu behalten. Er hatte schließlich eine Arbeit zu erledigen.

*** *

AN EINEM ANDEREN Tag, am anderen Ende der Welt, fuhr ein schwerer Kombi, ein family waggon, suchend am Stadtpark im Zentrum von Biloxi, Mississippi entlang. Erst in einer Querstraße fand sich eine Parklücke. Die junge Frau mit schulterlangen blonden Haaren, die aus der Beifahrertür sprang, ihre Kostümjacke zuknöpfte und ihre kleine Tochter vom Rücksitz hob, hieß Valerie deVonn. Aus der Nähe wirkte sie nicht ganz so jugendlich, sie ging auf die vierzig zu. Ihr strahlendes Lächeln zeigte viele weiße Zähne. »Da sind wir schon, meine Schätzchen.« Nur um die Augen herum sah sie müde aus.

DeVonn half auch ihrer älteren Tochter aus dem Wagen. Beide Mädchen trugen feine Sonntagskleidchen mit spitzenverbrämten Unterröcken. Megan, die jüngere, war sieben. Sie griff nach der Hand ihrer älteren Schwester.

»Das ist doch kein Picknick, Mama!«, beklagte sich die Größere.

»Komm schon, Joanna: Wir sind draußen, es gibt was zu essen und zu trinken. Und wir sind alle zusammen!«

»Viel zu viele Leute!« Joanna war zwar auch erst neun, aber von einem Picknick mit der Familie hatte sie eine klare Vorstellung. Eine Decke, ein Weidenkorb mit Essenssachen, ein Federballspiel gehörten dazu. Nicht aber Lautsprecher, eine girlandengeschmückte Bühne, lange Tischreihen und überall Poster mit einem grauhaarigen alten Mann.

»Mama arbeitet doch eh wieder.« Joanna war nicht leicht zu täuschen. »Ganz die Mama«, schmunzelte Sebastian deVonn lautlos. »Wir schlagen uns die Bäuche voll und dann hauen wir wieder ab, was sagt ihr?«, fügte er mit einem gutmütigen Grinsen hinzu. Er war es gewohnt, seine Töchter aufzumuntern, zu versorgen, ins Bett zu bringen und sie morgens zur Schule zu fahren.

Kaum eine Stunde später schwang sich Senator Grambell zum zweiten Mal energisch auf die Bühne und zog drei Leute mit sich hinauf. »Keinesfalls dürfen wir im Rahmen dieser herrlichen Veranstaltung versäumen, unseren Freunden und Förderern zu danken! In allererster Linie dem Champion der Arbeitsplatzbeschaffer von Gulfport und Biloxi, Dagoburt Damm, CEO von Damm Oil Incorporated! – Komm her, Burt!«

Der Mann in Grambells Schlepptau brachte noch ein paar Zentimeter weniger auf die Beine als der Senator, dafür folgte ihm seine hochgewachsene, elegante dritte Frau, ein ehemaliges Fotomodell, und sein halbwüchsiger Sohn, ebenso wie Damm in einen dunklen Anzug gekleidet.

»Sie alle kennen Burt Damm und seine reizende Familie. Bitte begrüßen Sie herzlich Missis Natalja Damm und den aufstrebenden Jason Damm, sechzehn Jahre jung und bereits das prächtige Ebenbild seines überaus erfolgreichen Vaters!«

Beifall brandete auf. Burt Damm, Valerie deVonns Boss, war bekannt und beliebt in der Stadt. Der Ölmilliardär galt als der begütertste Grundbesitzer, einer der größten Arbeitgeber und der erfolgreichste Kasinobetreiber Biloxis. Letzteres ließ sich überzeugend belegen – es gab genau zwei Spielbanken in der Stadt. Ihm gehörten beide.

Burt Damm zog sich das Mikrofon herab. »Danke, Jeff. Wir alle wissen, wie viel Senator Geoffrey Grambell für unsere Stadt getan hat und in der nächsten Legislaturperiode sicherlich weiterhin tun wird. Jeder kann sich glücklich schätzen, zu diesem Erfolg einen kleinen Beitrag zu leisten. Besten Dank.«

Grambell schüttelte nachsichtig den Kopf über so viel Bescheidenheit, ging strahlend auf Damm zu, zog ihn sogar in eine herzliche Umarmung. Ms Damm und dem Sohn reichte der Senator formvollendet die Hand.

»Okay, wir können.« Valerie deVonn sah das Ende der Veranstaltung erreicht. Sie würde den Rest des Nachmittags ihrer Familie widmen, selten genug, dass sie Zeit für ihre Töchter hatte. »Dank dir, Schatz.« Sie hauchte ihrem Ehegatten einen Kuss auf die Wange, der sich ebenso auf den Besuch der Veranstaltung wie auf seine Rolle bei der Erziehung der gemeinsamen Kinder beziehen konnte. »Lass uns abhauen.«

Sie wandte sich zum Gehen, als ein Kellner sie antippte. »Mister Damm bittet Sie, eine Minute zu ihm zu kommen.«

DeVonn seufzte auf. Sie kannte ihren Chef und seine Minuten. »Geht ihr schon mal vor, Seb.«

Sebastian deVonn machte achselzuckend gute Miene. »Na, dann kommt, ihr Süßen.«

Joanna und Megan hatten tapfer durchgehalten und kaum gequengelt. Schokoladenränder um ihre Münder zeugten von der Torte, an der sie sich in der Pause bedient hatten. Auch ihre Kleidchen mussten in die Wäsche.

Valerie deVonn näherte sich der kleinen Gruppe um ihren Chef, Burt Damm stürzte mit weit ausgebreiteten Armen auf sie zu, als hätten sie sich nicht zuletzt am Samstagvormittag gesehen. Und würden das in weniger als fünfzehn Stunden wieder tun.

Damm führte sie zu Grambell. Beide nickten sich freundlich zu. »Jeff hat ein Problem.«

Der Senator schüttelte seinen Silberschopf. »Ach wo, ich suche vielmehr nach einer Lösung. Die Fernsehspots brechen uns das Genick.« Er brauchte Geld. Nichts, was deVonn überrascht hätte: Politiker brauchten stets Geld, darin bestand der wichtigste Teil ihrer Arbeit. Grambell strahlte unbekümmert. »Burt hat sich bereit erklärt, uns aus der Patsche zu helfen.«

Das versprach schwierig zu werden, ahnte deVonn. Damm hatte bereits unter seinem Namen, unter denen seiner Frau und seines Sohnes, ja selbst unter dem Namen seiner Ex-Frau gespendet. In den zwei Jahren vor einer Wahl durfte jede Einzelperson nicht mehr als hundertzwanzigtausend Dollar geben. Grambells Partei arbeitete an der Abschaffung dieser Obergrenze, doch derzeit wäre jede weitere Zuwendung definitiv illegal.

»Ich frage mich, ob du dir eine Spende vorstellen könntest, Val?« Damm ließ es wie eine offene Frage klingen.

Der Senator beobachtete ihre Reaktion genau, er musterte sie ungeniert und kritisch, fast wie eine Packung Schinken im Supermarktregal.

DeVonn überlegte fieberhaft, setzte dazu ihr einnehmendstes Lächeln auf. Wie sie ihren Boss einschätzte, erhielte sie die Summe in bar, in den Büchern würde das Geld als ihr Jahresbonus auftauchen. Versteuern müsste sie es dennoch. Nichts davon konnte sie in Gegenwart des Senators ansprechen. Und doch müsste sie das klären, bevor sie eine Verpflichtung einginge. »Mit der größten Begeisterung, Senator!«

Grambell strahlte nur noch breiter. »Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, auch ihrem Boss.« Er zwinkerte Damm verschwörerisch zu. »Ihre Spende wird unseren Engpass …«

»Über die genaue Summe sollten wir in Ruhe sprechen, Senator.« Valerie deVonn suchte Grambells Augenkontakt ebenso eindringlich wie den Blick ihres Chefs.

»Kein Problem.« Damm schüttelte den Kopf und hob großzügig die offenen Handflächen.

»Sehr bald.« Valerie deVonn nickte ausweichend.

»Ich verstehe. Darauf freue ich mich.« Grambell verabschiedete sich mit einem angedeuteten Kapitänsgruß. »Burt, ich zähle auf Sie.« Er strahlte Damm und deVonn siegesgewiss an, wandte sich ab und widmete sich seinem nächsten potentiellen Spender.

Auch Valerie deVonn verabschiedete sich rasch. Sie ließ Damm mit seinem Haifischgrinsen zurück, wie er es nach jedem erfolgreichen Abschluss aufsetzte. Ob er sich und seine Familie mit seiner Praxis in rechtliche Schwierigkeiten brachte, das war eine der Fragen, die den Ölmogul nicht zu kümmern brauchten. Dafür hatte er seine Leute, Menschen wie Valerie deVonn. Sie würde das regeln.

*** **

DERGERUCH von Qromtay drang aus den Schlitzen der Klimaanlage, lange bevor die Stadt in Sicht kam. Der schlaftrunkene junge Mann auf der Sitzbank direkt hinter dem Fahrersitz sog den vertrauten Duft durch die Nase ein – süßlich-schwerer Brauereidunst mit einer scharfen Beinote von angebrannten Kartoffeln. Nichts deutete auf den metallischen Ursprung des Aromas hin. In seiner Kindheit hatte Katsvi Akarelian den Geruch nie wahrgenommen. Nur wer von außen kam, etwa von der Polizeischule in Almaty, über zweitausend Kilometer Busfahrt auf horizontlangen Überlandstraßen entfernt, erschnüffelte die Stadt schon von weitem. Denn obwohl die große Steppe Qazaqstans kilometerweite Ausblicke bot, verlor sich jedes Ziel einer Fahrt im stundenlangen monotonen Brummen der Lastwagenmotoren, in der gleichbleibenden Aussicht auf schnurgerade, oft holprige Fernstraßen, auf denen ortsfremde Fernfahrer immer wieder sprichwörtliche Irrfahrten von vielen Stunden oder sogar Tagen durchmachten, bis sie einsahen, dass sie an einer der seltenen Kreuzungen falsch abgebogen sein mussten.

Durch die Frontscheibe zeigte sich über Stunden dasselbe Bild. Nur in den Seitenfenstern war die Fortbewegung zu bemerken, dort lösten sich Grasflächen und Trockenfelder ab, wuchsen kniehohe Krüppelbüsche oder rotbraune Riesenflechten, zogen dunkelgrüne Wildhecken und gelbliche Trockenbüsche vorbei. Die Sary Arka wogte endlos, ein Ozean aus Gras und Ginster, Moos und Nesseln, aus Sand, Geröll und Fels, wie Katsvi von unzähligen Stunden im Überlandbus wusste.

Diesmal hatte er, wie einmal in jedem Monat, die schnellere Flugverbindung genommen, fünfeinhalb Stunden im Turboprop. Jetzt neigten sich die letzten zwei Stunden Busfahrt vom Flughafen in Aqtöbe dem Ende zu. Katsvi fühlte sich ausgelaugt.

Als erstes tauchten die hochaufgeschütteten Abraumhalden am Horizont auf. Von den Gebäuden stachen jedem Neuankömmling zunächst die Läuterhallen ins Auge, riesige staubiggraue Wellblechkonstruktionen mit rußgeränderten Toren wie zahnlose Mäuler. Davor kamen die ersten geduckten Arbeiterhäuschen in Sicht. Von den drei tiefen Gruben, die den Ursprung der Stadt ausmachten, ihren Reichtum und ihr Schicksal bestimmten, war nichts zu sehen. Obwohl die Krater größer waren als die gesamte Ansiedlung, bemerkte man ihre Abgründe erst, wenn man unmittelbar davorstand.

Pflichtbewusst kontrollierte Katsvi seine Habseligkeiten, den flachen Wochenendkoffer, seine Jacke, die Thermoskanne mit süßem Tee, den er sich vor seinem Aufbruch im Morgengrauen gebrüht hatte. Es war drei Uhr nachmittags, der Überlandbus erreichte den Park im Stadtzentrum – Katsvi kam fast rechtzeitig.

Noch unterhielt sich die Beerdigungsgesellschaft leise, noch herrschte gedämpfte Stimmung. Arbeitskollegen und Freunde seines Vaters aus der Mine, junge Technikerinnen und Gewerkschafter, saßen an langen Tafeln im Innenhof, an aufgebockten Türblättern aus dem Haus und aus Nachbarhäusern. Die Männer aus der Mine wurden nicht alt, Oleg Ivanowitsch hatte die meisten seiner Kollegen überlebt. Junge und alte Frauen in schwarz, viele verhärmt, machten sich nützlich, schenkten Kaffee nach und räumten geleerte Kuchenplatten ab. Es gab Hefezopf und schwarzen Tee, um die Gesellschaft für den Gang zum Friedhof zu stärken. Später, nach der Zeremonie, würden Reden, traurige Rundgesänge und tief in der Nacht wohl auch lebensfrohe Trinklieder erklingen, das wusste Katsvi aus Erfahrung. Der Tod war kein seltener Gast in der Stadt, doch ein ungebetener, wie überall.

Katsvi Akarelian drückte sich an den Gästen vorbei ins Haus und dort ins Schlafzimmer, wo er rasch in den schwarzen Anzug aus seinem Koffer wechselte.

Seine Mutter fand er in der schmalen Küche, zog sie vom großen Topf weg und umarmte sie. Klein und weich war Jekaterina Wassikova geworden, deren Leib und Hände sich stets fest und kraftvoll angefühlt hatten. Doch jetzt, die dünnen Haare unter einem schwarzen Kopftuch verborgen, wirkte seine Mutter wie eine alte Frau. Sie war noch keine sechzig – Minenarbeiter alterten schnell.

»Du kommst gerade recht, Junge.« Sie strich ihm die Haare aus der Stirn.

»Kann ich ihn sehen?« Katsvi klang bedrückt und ruhelos.

»Erspar dir das, Svikhan. Er lag zwei Tage in der Sonne.«

»Weiß ich doch.«

»Auch der Erste Sekretär rät das.«

Katsvi nickte nur abweisend. Der örtliche Vorsitzende der früheren Staatspartei nahm im unabhängigen Qazaqstan keine Machtstellung mehr ein. Doch die Verbindungen aus der Unionszeit blieben in den Köpfen der älteren Leute lebendig, funktionierten womöglich noch immer.

Jeka und Liowa waren dabei, Fleischsuppe und Kohl für den Abend aufzuwärmen. Katsvi nahm seine Freundin zärtlich in die Arme.

»Wie lange kannst du bleiben, Svi?« Liowa strahlte ihn an.

»Das ganze Wochenende.« Es stimmte nicht ganz. Er sollte den Flug am Sonntagabend nehmen. Am Montagmorgen musste er pünktlich zum Dienst erscheinen.

»Wie schön!« Sie funkelte ihn aus großen Augen an. »Und traurig.«

»Danke, dass du hilfst.«

»Jeka Wassikova war doch bei mir, als der Anruf kam.« Für Katsvis Freundin schien es selbstverständlich, dass seine Mutter und sie sich beistanden.

»Du musst dich schonen, Liowa. Deine Kraft wird noch gebraucht.«

Sie lachte seine guten Ratschläge weg und wies mit der Stirn auf die Vorbereitungen in der kleinen Küche. »Gibt eine Menge zu tun.«

Hefekuchen dampften im Ofen, Kartoffelteig wartete in großen Plastikschüsseln. Liowa löste sich aus Katsvis Umarmung und strich sich die Schürze glatt. Ihr winziger Bauchansatz ließ sich bereits ahnen, wenn man eingeweiht war, wie Katsvi und seine Mutter.

Lange konnte es nicht mehr so weitergehen, dass sie sich nur jedes vierte Wochenende sahen. Sobald das Kind da war, würde er sich nach Aqtöbe versetzen lassen. Er musste sich entscheiden, ob er seine werdende Familie wichtiger nahm oder die mögliche Karriere bei der Kriminalpolizei.

»Komm!« Seine Mutter nahm ihn beiseite, lotste ihn durch den schmalen Flur. »Das Bild hat er auch mitgenommen.«

Jeka Akarelian führte ihren Sohn ins gute Zimmer. Zwei Kerzen brannten zu Häupten des einfachen, dunkel gebeizten Holzsargs. Über dem Diwan und Gästebett fiel Katsvi ein neues Bild auf, eine goldgerahmte Ikone, die zu klein war, um den hellen Fleck an der Wand auszufüllen. Denn sie hing an der Stelle, wo jahrelang das Bild der Ordensverleihung mit Genosse Michail Sergejewitsch geprangt hatte, Oleg Ivanowitschs ganzer Stolz. Katsvi begriff.

Es war nicht die Aufgabe des Gewerkschaftssekretärs und Ortsvorsitzenden der Partei, Erinnerungen zu beschlagnahmen. Sein Beileid für einen jahrelangen Mitgewerkschafter und Kampfgenossen zu äußern und seine Reverenz zu erweisen, das kam dem Kollegen seines Vaters zu. Ein Diebstahl nicht.

»Lass ihn ruhen, Svikhan. Versprich mir das.« Damit ließ Jeka ihren Sohn allein.

Doch Katsvi zögerte nicht lange. Eine knappe Minute senkte er die Stirn in Gedanken an seinen Vater, dann schraubte er den Sarg auf.

Aufgedunsen sah das Gesicht aus, schwammig und bläulich verfärbt, doch wesentlich jünger als in Katsvis Erinnerung, geradezu friedlich. Es wirkte nicht, als hätte Oleg im Sterben sehr gelitten. Nur zwei auffällig hautfarbene Streifen, die schlecht überschminkten Kerben in den Wangen, wo der Unterkiefer mit Draht hochgebunden worden war, verliehen seinem Vater einen bitteren Zug um den Mund, den Katsvi im Leben nie bemerkt hatte.

Der Leninorden fehlte tatsächlich, der Platz am Anzugsrevers gähnte leer; Oleg Proporovs Kriegsorden steckte seitlich versetzt, ließ Platz frei für den größeren, wichtigeren Held der sozialistischen Arbeit. Aus irgendeinem Grund schien sein Vater bei der Gewerkschaft in Ungnade gefallen zu sein. Katsvi konnte sich keinen Reim darauf machen. Der Typ Funktionär, der Freundschaftsdienste und Vergünstigungen verteilte oder akzeptierte, war sein Vater nie gewesen. Zeit seines Lebens hatte Oleg Proporov sich für die Belange seiner Kolleginnen und Kollegen eingesetzt; oft mehr als er berichten durfte, denn die staatswichtigen Betriebe der Chromitförderung unterlagen strenger Geheimhaltungspflicht. Deswegen musste der Gewerkschaftssekretär bisweilen abweisend und verschlossen wirken, manchmal sogar ruppig und schroff, das schon. Aber eine ehrliche Haut war er, grundanständig durch und durch. Nichts Gegenteiliges hatte Katsvi jemals über seinen Vater sagen hören. Dass Liowa und er seinen Enkel erwarteten, hätte er ihm gerne anvertraut. Dafür war es jetzt zu spät.

Ein Sohn küsste den toten Vater, zumindest auf die Stirn, das war Brauch. Doch Katsvi brachte es nicht über sich. Ekel spielte dabei keine Rolle, in seiner Kriminalistenlaufbahn hatte er weit Schlimmeres gesehen und gerochen. Ihm ging der fehlende Respekt vor der Totenruhe gegen den Strich. Die Schändung durch den Ersten Sekretär würde Katsvi nicht billigen, indem er vorgab, alles sei in bester Ordnung. Wütend schob er den dünnen Sperrholzdeckel wieder über den Kopf des Toten und drehte die Schrauben ein – er würde der Sache auf den Grund gehen.

*** ***

DIELANDESZENTRALE der Banco dei Tedeschi von Baden und Württemberg in Stuttgart residierte in einem fünfstöckigen Gebäude mit Sandsteinfassade in bester Lage. Sie lag wenige Gehminuten vom Schloss wie vom Hauptbahnhof entfernt – und auch von Sophies Wohnung, hätte sie dort übernachtet. Heute nahm Greta sie mit dem Auto aus Bad Cannstadt mit, wo die Leute wohnten, die etwas auf sich hielten, wie Greta fand.

Die oberste Etage der Niederlassung wirkte von der Straße wie ein niedriges Versorgungsgeschoss, verschattet durch ein überhängendes Vordach. Der nach drei Seiten geschützte Dachgarten auf der Rückseite war von unten nicht zu sehen. Er wies nach Süden. Der fünfte Stock beherbergte die Vorstandsetage, das Reich Gottes, auch wenn es hier am Schlossplatz nur der Regionalgott war.

Greta arbeitete im dritten Stock. Die Kreditlinien der Geschäftskunden und Mittelständler, die sie dort betreute, hatten sich in den vierzehn Tagen ihrer Abwesenheit nicht groß verändert. Ein paar Ergänzungen mussten eingepflegt und an die Buchhaltung weitergeleitet werden, und schon war Greta auf dem Laufenden. Jetzt hatte sie bereits Zeit, sich den Speiseplan der Kantine anzusehen. Sie musste aufpassen, sie hatte in Mexiko fast siebenhundert Gramm zugelegt. Am Essen lag es sicher nicht. Doch Zorros Drinks schmeckten einfach zu lecker.

Eva-Sophie Beckers Büro lag im zweiten Stock: Mobilkredite. Neunzig Prozent der in der Landeshauptstadt produzierten Luxuskarossen gehörten der Bank; die Fahrzeuge wurden geleast, gemietet oder auf Kredit gekauft. Die Betreuung der Fahrzeugkredite beschäftigte eine der größten Abteilungen. Sophie teilte sich ein Großraumbüro mit fast zwanzig Kolleginnen und Kollegen. Sie stellte die Abwesenheitsmeldung ihres Mailprogramms um. Seit Freitagnachmittag, dem offiziellen Ende ihres Urlaubs, waren nicht einmal dreißig Mails aufgelaufen. Beim größten Teil handelte es sich um CCs von Protokollen, Plänen und Vorgängen, die sie nicht zu interessieren brauchten. Zwei halb private Mails blieben übrig. Eine von Dirk Janssen-Obermann, dem Rechnerfreak der Frankfurter Zentrale. Der zeigte sich bei Computerproblemen stets überaus hilfsbereit und würde Sophie sicher auch im Privatleben gerne aushelfen. Doch Janssen-Obermann litt unter einer Farbverirrung: er war in Gottes Roter Periode entworfen worden: Dirk hatte fuchsrote Haare, feuerrote Wimpern, rostrote Brauen, von Natur aus gerötete Gesichtshaut, die unter den Augen auch noch tiefrot anlief, wenn er nervös wurde. Das passierte dem Ärmsten bei fast allen Themen außerhalb des IT-Bereichs.

Sophie holte sich die Tastatur heran und bedankte sich in unverfänglichem Ton für Dirks Urlaubswünsche. Nicht unfreundlich – sicher würden sie sich auf einen Kaffee treffen, sollte sie zufällig in der Frankfurter Zentrale zu tun haben. Einen Computerfreak wie Purple Durk hielt man sich besser warm. Noch während sie tippte, ploppte eine neue Nachricht auf. Sophie traute ihren Augen nicht, als sie den Absender las: [email protected].

Tom Böhnert mailte ihr und Greta (und der Vorstandsassistentin in CC). Mit dem Betreff Diensthandy/VK. Böhnert bat sie und Greta zu einer Videokonferenz um halb zwölf, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt! Gretas Durchwahl hatte Sophie auf Taste zwei programmiert. »Was heißt das?«

»Hä?« Greta klang ahnungslos.

»Videokonferenz mit Tom Wichtigmann um halb zwölf. Hast du deine Mails nicht gelesen?«

»Doch, klar.« Aber die Geräusche von Gretas Tastatur im Hintergrund verrieten, dass sie Böhnerts Mail erst in diesem Augenblick öffnete. »Der Hammer! Was will er von mir, äh … von uns?«

»Weißt du auch nicht? Dann lassen wir uns überraschen. Ich hol dich ab.« Sophie konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie hatte ihr Diensthandy privat genutzt, doch das wurde von der Bank ausdrücklich erlaubt. Sie hatte damit nicht mehr oder länger als üblich telefoniert oder geschrieben oder Sprachnachrichten verschickt, in Mexiko hatte sie das Ding überhaupt nicht benutzt, außer um Fotos zu schießen … Sophie schob den Gedanken weg. Wahrscheinlich ging es um irgendetwas anderes, um Toms Bild auf Gretas Handy oder irgend so eine Nichtigkeit.

DERKONFERENZRAUM im vierten Stock wartete schon für sie hergerichtet, Großbildschirm und Soundbar an der Wand angeschaltet, Kamera und Mikrofone auf dem Tisch bereit. Greta und Eva-Sophie sahen sich mit hochgezogenen Achseln und Brauen aufgedreht an, neugierig und eine Spur bange, wie im Freizeitpark auf der ersten, steil ansteigenden Rampe einer rasanten Achterbahn.

»Hey!« Böhnert klang jungenhaft, als er sich ins Bild setzte und sein Mikrofon heranzog. »Danke, dass ihr das hier so unkompliziert möglich macht. Okay, wenn wir uns duzen? Greta kenn ich ja schon, du bist Eva-Sophie?«

»Sophie ist okay, hallo!« Klang sie zu reserviert?

»Hallo. Ich komm gleich zur Sache, sicher habt ihr einen Haufen zu tun, am ersten Tag nach dem Urlaub, wie war’s überhaupt?«

»Super!« Greta.

»Schön!« Sophie.

»Ihr wart zusammen, oder? Wo noch mal?«

»Isla mujeres.« Greta konnte ein spanisches kehliges ch.

»Mexiko.« Sophie sprach es deutsch aus. War das normal, dass der Vorstandsbüroleiter der Frankfurter Zentrale hier mit ihnen beiden über ihren Urlaub plauderte? Woher wusste der überhaupt Bescheid? Kannten die in der Bank die Abwesenheitsdaten von jedem einzelnen Mitarbeiter? Sophie wunderte sich.

»Folgendes: Ich hab hier eine Anfrage von unserem CEO Eastern in den USA, da scheint es irgendein technisches Problem zu geben, Virus oder so. Und jetzt würden die das gerne abklären. Dazu bräuchten die eure phones. Also die von der Bank.«

»Wie?« Irgendetwas kam Sophie merkwürdig vor.

»Also, ich würde euch gern einen Boten schicken, der die Telefone abholt.«

»Sämtliche Smartphones hier in Stuttgart?« Greta konnte sich das nicht vorstellen.

»Nein, nur eure beiden.«

»Hat das irgendwas mit unserem Urlaub zu tun?«

»Indirekt höchstens. Earl Bakken scheint Infos zu haben, dass es eine Sicherheitslücke gibt, irgendein technisches glitch, das über einen amerikanischen provider übertragen wird. Näheres weiß ich auch nicht. Okay?«

»Okay.« Greta schien es nichts auszumachen.

»Was sollen wir tun?« Sophie klang eher zurückhaltend.

»Diensthandys auf den Tisch, wenn’s recht ist.« Böhnert musste selbst grinsen über seinen Fake-Feldwebel-Ton. »Frau Schepers packt die dann gleich ein und schickt sie mir.«

»Sollen wir sie zurücksetzen?«

»Auf keinen Fall. Dann wären die Daten verloren, die wir brauchen.« Schepers hieß die Sekretärin, die Greta und Sophie eben eingewiesen hatte. »Ihr kriegt selbstverständlich postwendend neue. Und wenn ihr zwei Hübschen das nächste Mal in Frankfurt seid, muss ich euch unbedingt zum Mittagessen einladen. Erinnert mich daran!«

»Wird gemacht.« Greta legte ihr Telefon bereits streberhaft auf die Tischoberfläche.

»Danke, Grets.«

Sophie wunderte sich. Hatte Böhnert etwa schon einen Kosenamen für Greta? Wie gut kannten sich die beiden eigentlich? Greta machte ganz den Anschein, als nähme sie die Essenseinladung ernst. Sophie nicht; niemals würde Tom Wichtigtuer Böhnert geruhen, Eva-Sophie Kleinemaus Becker zum Essen auszuführen.

»Ich hab meins nicht dabei.« Sophie zögerte. Greta sah sie verdutzt an. Wusste sie etwa, dass Sophie gerade schwindelte?

»Ooch, das ist blöd. Eigentlich solltet ihr eure Diensthandys immer parat haben …« Böhnert klang angesäuert. »Tja, wie machen wir das? Ich muss die morgen haben.« Er schien angestrengt nachzudenken.

Sophie könnte rasch nach Hause rennen und ihr Handy holen. Aber irgendetwas ließ sie zögern, dies anzubieten. Entweder Böhnert kam von selber darauf. Oder eben nicht. Weil es sowieso völlig unnötig wäre: Sie hatte ihr Telefon selbstverständlich in der Tasche. Sie hatte nur keine Lust, es abzugeben, solange noch die vielen Bilder vom Strand darauf waren. Die Kamera machte einfach tollere Fotos als die an ihrem eigenen Telefon. Außerdem gab es das Selfie in Zorros Bett. Das ging keinen etwas an.

Inzwischen schien Tom Böhnert einen Entschluss gefasst zu haben. »Würde es euch was ausmachen, wenn ihr morgen als erstes schnell hier hochkommt? Dann können wir die Dinger direkt austauschen. Um halb zehn? Bei mir? Frau Schepers soll euch die Züge buchen. Okay?«

Greta nickte eifrig, geradezu aufgedreht. Sophie war auch einverstanden. »Wir kommen.«

»Super. Bis morgen dann. Ach ja: denkt an die Codes und die Passwörter zum Entsperren, okay?« Böhnerts Bild auf der Projektionsfläche erlosch, das Lämpchen am Bildrand leuchtete rot. Die Konferenz war vorbei.