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Richard Bachman

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

Grausam, packend, anrührend

Ein großer Coup soll den geistig zurückgebliebenen Blaze aller Sorgen entledigen. Er entführt das Baby einer reichen Familie. Was wird er dem Kleinen antun? Während alle Welt ihn jagt, um den Horror zu beenden, geht in Blaze eine Verwandlung vor. Das Lösegeld interessiert ihn längst nicht mehr ...

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Seitenzahl: 476

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HEYNE <

DAS BUCH

Die Kindheit des jungen Blaze ist schrecklich: Die Mutter ist gestorben, und sein Vater, ein Trinker, verprügelt ihn ständig und wirft ihn so oft die Treppe hinunter, bis das Kind einen bleibenden Schaden davonträgt. Der leicht behinderte Junge wird in ein Kinderheim gesteckt, wo sich die kommenden Jahre jedoch erst recht qualvoll gestalten. Als Jugendlicher begeht er mit seinem Kumpel George harmlose Straftaten, bis dieser bei einer Stecherei umkommt. Aber George meldet sich aus dem Totenreich, und flüstert Blaze ein, einen größeren Coup zu starten. Um an wirklich viel Geld zu kommen, entführt Blaze schließlich das Baby einer reichen Familie. Allein mit dem kleinen Bündel Leben, erwacht in ihm eine ungeahnte Fürsorge. Die Flucht vor dem gigantischen Polizeiaufgebot führt in eine Katastrophe …

»Unwiderstehlicher Gangstergroove! Und schon in diesem frühen Roman findet sich jene vibrierende Energie, mit der Kings Helden Kräfte bekämpfen, gegen die sie eigentlich keine Chance haben.«

Stern

DER AUTOR

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Nach seinen ersten großen Erfolgsromanen veröffentlichte er auch unter dem Pseudonym Richard Bachman mehrere Bücher. Stephen King hat das Originalmanuskript von Qual (Originaltitel: Blaze) aus dem Jahr 1973 nun beträchtlich erweitert und mit einem Nachwort versehen. Bei Heyne erschien zuletzt sein großer Roman Wahn und die Storysammlung Sunset.

LIEFERBARE TITEL

Sunset – Wahn – Love – Der Dunkle Turm – Brennen muss Salem – Sara – Cujo – Dead Zone – Das Attentat – Feuerkind

Inhaltsverzeichnis

DAS BUCHDER AUTORLIEFERBARE TITELWidmungInschriftKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Copyright

Für Tommy und Lori Spruce

Und in Gedanken bei James T. Farrell

Dies sind die Slums des Herzens.

John D. MacDonald

1

GEORGE WAR IRGENDWO IM DUNKELN. Blaze konnte ihn nicht sehen, aber seine Stimme war laut und deutlich zu hören, rau und ein wenig heiser. George hörte sich immer irgendwie erkältet an. Als Kind hatte er mal einen Unfall gehabt. Er sprach nie darüber, was passiert war. Jedenfalls hatte er eine ziemlich große Narbe auf dem Adamsapfel.

»Der doch nicht, Dummkopf, der ist doch total mit Aufklebern zugepflastert. Nimm einen Chevy oder einen Ford. Dunkelblau oder grün. Zwei Jahre alt. Nicht älter, nicht jünger. An die erinnert sich kein Mensch. Und keine Sticker.«

Blaze ging an dem kleinen Auto mit den Aufklebern vorbei. Das schwache Dröhnen des Basses erreichte ihn sogar hier am anderen Ende des Parkplatzes, der zu der Kneipe gehörte. Es war Samstagabend, und der Laden war voll. Die Luft war bitterkalt. Er war in die Stadt getrampt, aber jetzt stand er schon seit vierzig Minuten im Freien, und seine Ohren waren wie abgestorben. Er hatte seine Mütze vergessen. Irgendwas vergaß er immer. Er hatte schon die Hände aus den Jackentaschen nehmen und auf seine Ohren legen wollen, aber George hielt ihn davon ab. George sagte, die Ohren könnten ruhig kalt werden, nur nicht die Hände. Zum Kurzschließen eines Autos brauche man die Ohren nicht. Es war sechzehn Grad unter null.

»Da«, sagte George. »Rechts von dir.«

Blaze drehte den Kopf und sah einen Saab. Mit einem Aufkleber. Sah überhaupt nicht wie das richtige Auto aus.

»Das ist links, du Dummkopf«, sagte George. »Rechts von dir, hab ich gesagt. Die Hand, mit der du in der Nase bohrst.«

»’tschuldigung, George.«

Ja, er stellte sich schon wieder wie ein Idiot an. Er konnte beidhändig in der Nase bohren, aber seine rechte Hand kannte er, die Hand, mit der man auch schreibt. Er dachte an diese Hand und schaute auf die entsprechende Seite. Dort stand ein dunkelgrüner Ford.

Blaze schlenderte betont lässig zu dem Ford hinüber. Er warf einen Blick über die Schulter. Die Kaschemme war eine College-Kneipe namens The Bag. Das war ein blöder Name, weil, wenn man Sack sagte, meinte man doch eigentlich seine Eier. Zum Eingang musste man ein paar Stufen runtergehen. Freitags und samstags abends spielte eine Band. Drinnen würde es voll und warm sein, eine Menge wie verrückt tanzender kleiner Mädchen in kurzen Röcken. Wäre nett, reinzugehen, sich nur mal umzuschauen …

»Was sollst du jetzt machen?«, fragte George. »Etwa auf der Commonwealth Avenue rumlatschen? Du könntest nicht mal meiner alten blinden Oma was vormachen. Tu’s einfach, kapiert?«

»Okay, ich hab ja nur …«

»Jaja, ich weiß schon, was du nur hast. Konzentrier dich auf den Job.«

»Okay.«

»Was bist du, Blaze?«

Er senkte den Kopf und zog Rotz hoch. »Ich bin ein Dummkopf.«

George sagte immer, das wäre überhaupt keine Schande, aber es wäre eben eine Tatsache, der man ins Auge sehen müsse. Man könnte keinem vormachen, man wäre clever. Die schauten einen an und sahen die Wahrheit: Das Licht brannte, aber es war niemand zu Hause. Wenn man ein Dummkopf war, dann musste man einfach losziehen und seinen Kram machen. Und wenn man erwischt wurde, dann gestand man eben alles, außer mit wem man zusammen gewesen war, denn am Ende würden sie ja sowieso alles andere aus einem herausbekommen. George sagte, Dummköpfe könnten nicht für fünf Cent lügen.

Blaze nahm die Hände aus den Taschen und ballte sie zweimal kurz zu Fäusten. Die Knöchel knackten laut in der kalten, stillen Luft.

»Bist du so weit, Großer?«, fragte George.

»Ja.«

»Dann geh ich mir jetzt ein Bier besorgen. Und du kümmerst dich um die Sache.«

Blaze spürte Panik in sich aufsteigen. Sie schnürte ihm den Hals zu. »He, nein, ich hab so was noch nie gemacht. Ich hab dir doch immer nur zugesehen.«

»Tja, diesmal wirst du mehr tun als nur zusehen.«

»Aber …«

Er sprach nicht weiter. Es hatte keinen Sinn, weiterzureden, es sei denn, er wollte laut brüllen. Er konnte das harte Knirschen des Schnees hören, als George zu der Kneipe hinüberging. Schon bald wurden seine Schritte vom pulsierenden Wummern des Basses übertönt.

»Himmel«, sagte Blaze. »O Herr im Himmel.«

Und seine Finger wurden kalt. Bei dieser Temperatur würden sie nur ungefähr fünf Minuten zu irgendwas zu gebrauchen sein. Vielleicht noch nicht mal so lange. Er ging zur Fahrerseite hinüber und dachte, wahrscheinlich ist abgeschlossen. Falls die Tür abgeschlossen war, taugte dieser Wagen nichts, er hatte den Slim Jim nämlich nicht dabei, den hatte George. Aber die Tür war nicht abgeschlossen. Er öffnete sie, griff hinein, fand den Hebel für die Motorhaube und zog daran. Dann ging er nach vorn, tastete nach der zweiten Verriegelung, fand auch die und hob die Haube hoch.

In seiner Tasche steckte eine kleine Stifttaschenlampe. Er nahm sie heraus, knipste sie an und richtete den Strahl auf den Motorblock.

Finde das Zündkabel.

Aber es war der reinste Spaghettihaufen. Batteriekabel, Schläuche, Zündkerzenkabel, die Benzinleitung …

Der Schweiß lief ihm über Stirn und Schläfen und gefror auf seinen Wangen. Das hier würde nicht hinhauen. Niemals. Auf einmal hatte er jedoch eine Idee. Es war vielleicht keine besonders gute Idee, aber er hatte nicht viele, und wenn er mal eine hatte, dann musste er dranbleiben. Er kehrte zur Fahrerseite zurück und öffnete wieder die Tür. Die Innenbeleuchtung ging an, aber dagegen konnte er nichts machen. Wenn irgendwer ihn hier herumfummeln sah, würde der bestimmt denken, er hätte Startschwierigkeiten. Klar, in so einer kalten Nacht konnte das doch sein, oder? Nicht mal George könnte ihm deshalb Ärger machen. Zumindest nicht viel.

Er klappte die Sonnenblende über dem Lenkrad runter, hoffte wider alle Vernunft, dass vielleicht ein Reserveschlüssel runterfiel, weil die Leute da manchmal ihren Ersatzschlüssel aufbewahrten, aber außer einem alten Eiskratzer war da nichts. Der fiel dann runter. Als Nächstes versuchte er es mit dem Handschuhfach. Vollgestopft mit Papieren. Er räumte alles raus, auf den Boden, kniete sich dazu auf den Sitz, sein Atem stieg in Wölkchen auf. Jede Menge Papiere, eine Schachtel Pfefferminzbonbons, aber keine Schlüssel.

Na siehste, du gottverdammter Idiot, hörte er George sagen, bist du jetzt zufrieden? Bist du jetzt vielleicht so weit, wenigstens mal zu versuchen, die Karre kurzzuschließen?

Ja, er war wohl so weit. Er könnte zumindest mal ein paar von den Drähten losreißen und sie aneinanderhalten, so wie George es immer tat, und mal sehen, was dann passierte. Er schloss die Tür und kehrte mit gesenktem Kopf zurück nach vorn zum Kühler des Fords. Dann blieb er stehen. Ihm war eine neue Idee gekommen. Er ging zurück, öffnete die Tür, bückte sich, hob die Fußmatte an – und da war er. Auf dem Schlüssel stand nicht FORD, da stand überhaupt nichts, denn es war ein Dupli, aber er hatte auf jeden Fall den rechteckigen Kopf und alles.

Blaze hob ihn auf und küsste das kalte Metall.

Unverschlossenes Auto, dachte er. Dann dachte er: Unverschlossenes Auto und Schlüssel unter der Fußmatte. Dann dachte er: Ich bin hier heute Abend nicht der größte Idiot, George.

Er schob sich hinter das Lenkrad, zog die Tür zu, steckte den Schlüssel ins Zündschloss – ging wie geschmiert rein – und bemerkte dann, dass er den Parkplatz nicht sehen konnte, weil die Haube immer noch oben war. Er schaute sich schnell um, zuerst in die eine Richtung, dann in die andere, vergewisserte sich, dass George in der Zwischenzeit nicht etwa beschlossen hatte, zurückzukommen und ihm zu helfen. Darauf würde George noch eine Ewigkeit herumreiten, wenn er sah, dass die Motorhaube noch offen war. Aber George war nicht da. Kein Mensch weit und breit. Der Parkplatz war eine Tundra voller Autos.

Blaze stieg aus und knallte die Motorhaube zu. Dann stieg er wieder ein, verharrte aber mitten in der Bewegung, als er die Hand nach dem Türgriff ausstreckte. Was war mit George? Sollte er zu der Kneipe rübergehen und ihn abholen? Die Stirn in tiefen Falten, saß Blaze mit gesenktem Kopf da. Die Innenbeleuchtung warf gelbes Licht auf seine großen Hände.

Weißte was?, dachte er und hob schließlich wieder den Kopf. Leck mich.

»Leck mich, George«, sagte er. George hatte ihn per Anhalter herkommen lassen, hatte sich ganz kurz mit ihm hier getroffen, nur um dann wieder abzuschwirren. Ließ ihn die Drecksarbeit machen, und es war wirklich nur ein saublödes Glück, dass Blaze einen Schlüssel gefunden hatte, also, leck mich doch, George. Soll er ruhig mal bei minus sechzehn Grad den Daumen rausstrecken.

Blaze zog die Tür zu, schob den Schalthebel auf D und fuhr vorwärts aus der Parklücke hinaus. Als er auf der richtigen Straße war, gab er ordentlich Gummi, und der Ford machte einen Satz nach vorn, brach auf dem festgefahrenen Schnee hinten aus und schlingerte hin und her. Er trat auf die Bremse, war plötzlich starr vor Angst. Was machte er da? Was dachte er sich dabei? Ohne George losfahren? Er würde keine fünf Meilen weit kommen, bis sie ihn schnappten. Wahrscheinlich schnappten sie ihn gleich bei der ersten Ampel. Er konnte nicht ohne George fahren.

Aber George ist tot.

Das war doch Affenscheiße. George war gerade noch da gewesen. Er war nur ein Bier trinken gegangen.

Er ist tot.

»Ach, George«, stöhnte Blaze. Er saß über das Lenkrad gebeugt da. »Ach, George, bitte sei nicht tot.«

So saß er eine ganze Weile da. Der Motor des Fords klang okay. Er klopfte nicht oder irgendwas, obwohl es so kalt war. Die Tankanzeige stand auf drei Viertel. Der Rauch aus dem Auspuff stieg im Rückspiegel auf, weiß und eisig.

George kam nicht aus der Kneipe. Konnte er auch gar nicht, weil er nämlich nie reingegangen war. George war tot. Schon seit drei Monaten. Blaze fing an zu zittern.

Nach einer Weile fing er sich wieder. Er fuhr los. Niemand stoppte ihn an der ersten Ampel, auch nicht an der zweiten. Den ganzen Weg aus der Stadt hielt ihn niemand an. Als er die Stadtgrenze von Apex erreichte, fuhr er etwa fünfzig Meilen pro Stunde. Manchmal geriet der Wagen auf vereisten Stellen leicht ins Schleudern, aber das beunruhigte ihn nicht weiter. Er steuerte einfach mit. Seit seinen Teenagertagen fuhr er schon auf vereisten Straßen.

Außerhalb der Stadt beschleunigte er den Ford weiter auf sechzig und ließ ihn dann einfach rollen. Die Scheinwerfer umklammerten die Straße mit hell leuchtenden Fingern und prallten von den Schneeverwehungen auf beiden Seiten strahlend zurück. Mann, da würde ein College-Junge aber Bauklötze staunen, wenn er mit seinem College-Mädchen zu dem leeren Parkplatz zurückkehrte. Sie würde ihn ansehen und sagen: Du bist ein Dummkopf, mit dir gehe ich garantiert nicht mehr, hier nicht her und nicht sonst wohin.

»Weder – noch«, sagte Blaze. »Wenn sie ein College-Mädchen ist, wird sie sagen: weder hierher noch sonst wohin.«

Dabei musste er lächeln. Das Lächeln veränderte sein ganzes Gesicht. Er schaltete das Radio ein. Rockmusik. Blaze drehte am Suchknopf, bis er einen Sender mit Countrymusic fand. Als er dann den Schuppen erreichte, sang er aus vollem Halse mit und hatte George völlig vergessen.

2

ABER AM NÄCHSTEN MORGEN erinnerte er sich wieder.

Das war der Fluch, wenn man ein Dummkopf war. Man wurde von Trauer immer überrascht, weil man sich die wirklich wichtigen Sachen nämlich einfach nie merken konnte. Das Einzige, was hängen blieb, war dummes Zeug. Wie zum Beispiel dieses Gedicht, das sie in der fünften Klasse bei Mrs. Selig auswendig lernen mussten: Unter dem weiten Kastanienbaum, steht des Dorfes Schmiede. Wozu sollte das gut sein? Wozu sollte es gut sein, wenn du dich dabei ertappst, wie du Kartoffeln für zwei schälst, und dir das Wissen sofort wieder eine satte Ohrfeige verpasst, dass du überhaupt keine zwei Portionen Kartoffeln schälen musst, weil nämlich der andere Typ nie wieder eine Knolle verputzen wird?

Tja, vielleicht war’s ja gar nicht Trauer. Vielleicht war dieses Wort nicht das richtige. Nicht wenn es weinen bedeutete und seinen Kopf gegen die Wand schlagen. So was machte man nicht für solche Typen wie George. Aber da war die Einsamkeit. Da war Schmerz. Und da war Angst.

George würde sagen: »Mein Gott, kannst du nicht endlich mal deine beschissene Unterwäsche wechseln? Die Dinger stehen ja schon von allein. Das ist ekelhaft.«

George würde sagen: »Du hast nur einen zugebunden, du Schwachkopf.«

George würde sagen: »Aaach, Scheiße, dreh dich um und ich stopf’s dir rein. Wie bei einem Kleinkind.«

Als er an dem Morgen, nachdem er den Ford gestohlen hatte, aufstand, saß George im anderen Zimmer. Blaze konnte ihn nicht sehen, wusste aber, dass er wie immer in dem kaputten Sessel saß, den Kopf so weit gesenkt, dass sein Kinn fast seine Brust berührte. Das Erste, was er sagte, war: »Du hast schon wieder Scheiße gebaut, Kong. Meinen herzlichsten Scheißglückwunsch.«

Als seine Füße den kalten Boden berührten, sog Blaze scharf die Luft ein. Dann schlüpfte er unbeholfen in seine Schuhe. Nackt bis auf die Schuhe rannte er zum Fenster und schaute hinaus. Kein Auto. Er seufzte erleichtert. Vor seinem Mund stieg eine kleine Wolke auf.

»Nein, hab ich nicht. Ich hab ihn in den Schuppen gefahren, wie du gesagt hast.«

»Du hast aber die Scheißspuren nicht verwischt, oder? Wieso stellst du eigentlich nicht gleich ein Schild auf, Blaze? HIER LANG ZUM GEKLAUTEN AUTO. Du könntest Eintritt nehmen. Wie wär’s damit, hä?«

»Ach, George …«

»›Ach, George, ach, George.‹ Jetzt geh raus und mach die Spuren weg.«

»Okay.« Er setzte sich in Bewegung Richtung Tür.

»Blaze?«

»Was?«

»Zieh dir zuerst deine beschissene Hose an, ja?«

Blaze spürte, wie sein Gesicht brannte.

»Wie ein kleines Kind«, sagte George. Es klang resigniert. »Eines, das sich rasieren kann.«

George wusste, wie er einem so richtig auf den Sack gehen konnte. Nur, am Ende war er dem falschen Kerl auf den Sack gegangen, zu oft und zu lange. Und so endete man dann eben als Leiche und hatte keinen schlauen Spruch mehr auf den Lippen. Jetzt war George einfach nur tot, und Blaze stellte sich seine Stimme nur vor, überließ ihm immer die guten Sprüche. George war tot, seit er in diesem Lagerhaus gewürfelt hatte.

Ich bin verrückt, dass ich auch nur versuche, das durchzuziehen, dachte Blaze. Ein Doofkopp wie ich.

Aber er zog seine Unterhose an (nachdem er sie vorher sorgfältig auf Flecken hin untersucht hatte), dann ein Thermo-Unterhemd, darüber ein Flanellhemd und zuletzt eine dicke Cordhose. Seine Arbeitsstiefel von Sears standen unter dem Bett. Der Army-Parka hing am Türknauf. Er machte sich auf die Suche nach seinen Fäustlingen und fand sie schließlich auf dem Regal über dem klapprigen Holzofen in seiner Wohnküche. Er holte seine karierte Mütze mit den Ohrenklappen und setzte sie auf, achtete darauf, den Schirm eine Idee nach links zu drehen – das sollte Glück bringen. Dann ging er hinaus und schnappte sich den Besen, der an der Tür lehnte.

Der Morgen war klar und bitterkalt. Die Feuchtigkeit in seiner Nase fing sofort an zu knistern. Ein Windstoß trieb ihm Schnee so fein wie Puderzucker ins Gesicht, sodass er zurückfuhr. War schon in Ordnung für George, Befehle zu geben. George saß drinnen am Ofen und trank Kaffee. So wie letzte Nacht, verschwand einfach, um sich ein Bier zu besorgen, ließ Blaze allein mit dem Auto zurück, sollte der sich doch was einfallen lassen. Und da wäre er jetzt noch, hätte er nicht das Glück der Dummen gehabt, die Schlüssel irgendwo zu finden, entweder unter der Fußmatte oder im Handschuhfach, er hatte vergessen, wo. Manchmal glaubte er, dass George kein so besonders guter Freund war.

Mit dem Besen verwischte er die Reifenspuren, verharrte vorher einige Minuten, um sie zu bewundern, bevor er richtig anfing. Wie das Profil sich an einigen Stellen reliefartig abhob und Schatten warf, perfekte kleine Dinger. War schon witzig, wie so kleine Dinge so perfekt sein konnten, und doch wurden sie von niemandem wahrgenommen. Er betrachtete alles so lange, bis er des Schauens müde war (kein George, der ihm sagte, er solle sich beeilen), und dann arbeitete er sich die kurze Zufahrt bis zur Straße hinunter, um die Reifenspuren zu verwischen. Während der Nacht war der Schneepflug vorbeigekommen. Er hatte die Schneedünen weggeschoben, die der Wind auf diesen Landstraßen machte, wo auf der einen Seite und der anderen nichts als offene Felder waren, und alle übrigen Spuren waren verschwunden.

Blaze trottete zurück zur Hütte. Ging hinein. Jetzt fühlte es sich drinnen warm an. Als er aus dem Bett gestiegen war, hatte es sich kalt angefühlt, aber jetzt fühlte es sich warm an. Auch das war komisch – wie sich das Gefühl für Sachen verändern konnte. Er zog Jacke, Stiefel und Flanellhemd aus und setzte sich in Unterhemd und Cordhose an den Tisch. Er schaltete das Radio ein und war überrascht, als nicht die Rockmusik herauskam, die George immer hörte, sondern gleich schwungvolle Country ertönte. Loretta Lynn sang, dass dein braves Mädchen unartig sein würde. George hätte gelacht und so was gesagt wie: »Klar, Schätzchen – bei mir darfst du unartig werden – direkt über meinem Gesicht.« Und Blaze hätte dann auch gelacht, aber tief in ihm drin machte ihn dieser Song immer ganz traurig. War bei vielen Countrysongs so.

Als der Kaffee heiß war, sprang er auf und schenkte zwei Tassen ein. In die eine kippte er Sahne und brüllte: »George? Hier ist dein Kaffee! Lass ihn nicht kalt werden!«

Keine Antwort.

Er starrte hinunter auf den »weißen« Kaffee. Er trank keinen Kaffee-mit, was sollte das also? Tja, was sollte das? Dann stieg irgendwas in seinem Hals auf, und fast hätte er Georges beschissenen weißen Kaffee quer durchs Zimmer gepfeffert, aber dann machte er das doch nicht. Er ging damit zur Spüle und kippte ihn stattdessen weg. So was nannte man Beherrschung. Wenn man ein großer Junge war, dann musste man das draufhaben, andernfalls geriet man in Schwierigkeiten.

Bis kurz nach dem Mittagessen lungerte Blaze in der Hütte herum. Dann fuhr er den gestohlenen Wagen aus dem Schuppen und hielt noch kurz vor der Treppe zur Küche an, um auszusteigen und Schneebälle auf die Nummernschilder zu schmeißen. Das war ganz schön clever. So würden sie kaum zu lesen sein.

»Was in aller Welt machst du da?«, fragte George aus dem Schuppen.

»Geht dich nichts an«, antwortete Blaze. »Du bist ja sowieso nur in meinem Kopf.« Er stieg in den Ford und fuhr raus auf die Straße.

»Das ist nicht besonders klug«, meinte George. Jetzt hockte er auf dem Rücksitz. »Du fährst in einem gestohlenen Auto durch die Gegend. Die Kiste ist nicht umlackiert, keine neuen Nummernschilder, nichts. Wo willst du hin?«

Blaze sagte nichts.

»Du fährst doch nicht nach Ocoma, oder?«

Blaze sagte nichts.

»O Scheiße, du fährst hin«, sagte George. »Leck mich am Arsch. Einmal musst du doch genug haben, oder?«

Blaze sagte nichts. Seine Lippen waren versiegelt.

»Jetzt hör mir mal zu, Blaze. Du drehst jetzt um. Wenn du geschnappt wirst, ist das Ding gelaufen. Komplett. Das ganze Geschäft.«

Blaze wusste, dass er recht hatte, dachte aber nicht daran, zu wenden. Wieso sollte George ihn dauernd rumkommandieren können? Noch im Tod hörte er nicht damit auf, Befehle zu erteilen. Klar, es war Georges Plan, das eine große Ding, von dem jeder Schmalspurganove träumte. »Mit dem einen Unterschied, dass wir es wirklich durchziehen können«, hatte er gesagt, allerdings normalerweise immer dann, wenn er besoffen war oder high, und nie so, als würde er wirklich daran glauben.

Die meiste Zeit hatten sie nur kleine Betrügereien durchgezogen, und meistens schien George auch ganz zufrieden damit zu sein, egal, was er sagte, wenn er einen sitzen hatte oder sich einen Joint reinzog. Vielleicht war das Ocoma-Heights-Ding für George nur ein Spiel oder das, was er manchmal einen »Hirnfick« nannte, wenn er Anzugtypen im Fernsehen über Politik reden hörte. Blaze wusste, dass George schlau war. Ob er auch Mumm hatte, da war er sich nie wirklich sicher gewesen.

Aber wo er jetzt tot war, welche Wahl blieb ihm denn da? Allein brachte Blaze es nicht. Als er einmal nach Georges Tod versucht hatte, den Herrenbekleidungsschwindel durchzuziehen, hatte er verdammt schnell die Fliege machen müssen, um nicht geschnappt zu werden. Den Namen der Lady hatte er sich aus den Todesanzeigen besorgt, genau wie George es auch immer machte, hatte mit Georges Sprüchen losgelegt, ihr die Kaufbelege gezeigt (im Schuppen gab’s einen ganzen Sack davon, und zwar von den besten Geschäften). Er sagte ihr, wie sehr er es bedauere, zu einem solch traurigen Zeitpunkt kommen zu müssen, aber Geschäft sei Geschäft, und er sei sicher, das werde sie doch verstehen. Sie sagte, ja, sie verstehe schon. Sie bat ihn in den Hausflur, wo er warten sollte, bis sie ihre Handtasche geholt hatte. Er kam überhaupt nicht auf die Idee, dass sie die Polizei rufen könnte. Wenn sie nicht zurückgekommen wäre und eine Kanone auf ihn gerichtet hätte, hätte er wahrscheinlich immer noch dagestanden und gewartet, bis die Bullen auftauchten. Sein Zeitgefühl war noch nie so besonders gewesen.

Aber sie kehrte mit einer Kanone zurück und richtete sie auf ihn. Es war so ein silbernes Ding für Frauen, mit kleinen Verzierungen an der Seite und einem Perlmuttgriff. »Die Polizei ist schon unterwegs«, sagte sie, »aber bevor die hier sind, möchte ich, dass Sie mir das mal erklären. Ich will wissen, welcher miese Kerl sich eine Frau als Opfer aussucht, deren Mann in seinem Grab noch nicht mal kalt ist.«

Blaze war es egal, was sie wissen wollte. Er drehte sich um, rannte aus der Tür, weiter über die Veranda und die Stufen zum Bürgersteig hinunter. Er konnte ziemlich gut rennen, wenn er erst mal in Fahrt war, aber das konnte dauern. Und die Panik machte ihn an diesem Tag noch langsamer. Wenn sie den Abzug gedrückt hätte, hätte sie ihm vielleicht eine Kugel in den Hinterkopf jagen oder ihm ein Ohr abschießen oder ihn auch einfach verfehlen können. Bei einem Ballermann mit so einem kurzen Lauf war das unmöglich zu sagen. Aber sie schoss nicht.

Als er wieder zu Hause war, stöhnte er auf vor Angst, und sein Magen war völlig verkrampft. Er hatte keine Angst vor dem Gefängnis, nicht mal vor der Polizei – auch wenn er wusste, dass sie ihn mit ihren Fragen verwirren würden, wie sie es immer taten –, aber es machte ihm Angst, wie leicht die Frau ihn durchschaut hatte. Als wär’s ein Klacks für sie. George hatten sie praktisch nie durchschaut, und wenn doch, dann wusste er das schon immer vorher und brachte sie beide rechtzeitig in Sicherheit.

Und jetzt das. Er wusste, dass es niemals gut gehen würde – und machte trotzdem weiter. Vielleicht wollte er ja wieder einfahren. Vielleicht wär das gar nicht mal so übel, jetzt wo George im Arsch war. Sollte doch ein anderer das Denken übernehmen und fürs Essen sorgen.

Vielleicht legte er es im Moment wirklich darauf an, geschnappt zu werden, wie er mit dieser heißen Karre mitten durch Ocoma Heights fuhr. Direkt am Gerard-Haus vorbei.

Im Kühlschrank des Neuenglandwinters sah der Besitz aus wie ein Eispalast. Ocoma Heights bedeutete altes Geld (das sagte George zumindest), und die Häuser waren eigentlich eher Anwesen. Im Sommer waren sie von riesigen Rasenflächen umgeben, die jetzt zu glasierten Schneefeldern geworden waren. Es war ein harter Winter.

Das Gerard-Haus war das beste von allen. George nannte es Early American Hot Shit, aber Blaze fand es schön. George sagte, die Gerards hätten ihr Geld mit Schiffen verdient, der Erste Weltkrieg machte sie reich, und der Zweite Weltkrieg machte sie zu Heiligen. Schnee und Sonne warfen ein kaltes Feuer von den vielen Fenstern. George sagte, es gebe über dreißig Zimmer. Als Stromableser der Central Valley Power hatte er die Vorarbeit geleistet. Das war im September gewesen. Blaze hatte den Transporter gefahren, der nicht richtig gestohlen, sondern eher ausgeliehen war – obwohl er vermutete, dass die Polizei das anders gesehen hätte, wären sie erwischt worden. Auf dem Rasen neben dem Haus spielten Leute Krocket. Ein paar davon waren Mädchen, Highschool-Mädchen oder vielleicht auch College-Mädchen. Sie sahen hübsch aus. Blaze schaute ihnen zu und spürte, wie er geil wurde. Als George wieder einstieg und sagte, er solle Gummi geben, erzählte Blaze ihm von den hübschen Mädchen, die inzwischen hinter dem Haus verschwunden waren.

»Hab sie gesehen«, sagte George. »Die halten sich für was Besseres. Die glauben, ihre Scheiße stinkt nicht.«

»Aber hübsch sind sie.«

»Das interessiert mich einen Scheißdreck«, sagte George übellaunig und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wirst du eigentlich nie scharf, George?«

»Scharf auf Babys wie die? Du machst wohl Witze. Und jetzt halt die Klappe und fahr zu.«

Als Blaze sich jetzt daran erinnerte, musste er grinsen. George war wie der Fuchs, der nicht an die Weintrauben rankam und jedem erzählte, sie wären sauer. Miss Jolison hatte ihnen diese Geschichte in der zweiten Klasse vorgelesen.

Es war eine große Familie. Da waren die alten Mr. und Mrs. Gerard – er war achtzig und konnte noch immer jeden Tag einen halben Liter Jack Daniel’s schlucken, sagte zumindest George. Es gab die mittleren Mr. und Mrs. Gerard. Und dann waren da noch die jungen Mr. und Mrs. Gerard. Der junge Mr. Gerard war Joseph Gerard III., und er war wirklich jung, gerade mal zwanzig. Seine Frau war eine Latina. George sagte, damit wäre sie dann wohl ein Spic. Blaze hatte gedacht, nur Italiener könnten Spics sein.

Etwas weiter die Straße hoch wendete er und fuhr noch einmal am Haus vorbei, fragte sich, was für ein Gefühl es wohl war, mit zwanzig schon verheiratet zu sein. Er fuhr weiter, nach Hause. Genug war genug.

Die mittleren Gerards hatten abgesehen von Joseph Gerard III. noch weitere Kinder, aber die spielten keine Rolle. Was jedoch zählte, war das Baby. Joseph Gerard IV. Großer Name für so ein kleines Baby. Er war erst zwei Monate alt, als Blaze und George im September ihre Stromablese-Nummer durchzogen. Damit wäre er dann jetzt – hm, es lagen eins-zwei-drei-vier Monate zwischen September und Januar – sechs Monate alt. Er war der einzige Urenkel des ersten Joe.

»Wenn du eine Entführung durchziehen willst, dann musst du ein Baby entführen«, sagte George. »Ein Baby kann dich nicht identifizieren, also kannst du es lebend zurückgeben. Es kann dir auch nicht an die Karre pissen, indem es versucht, abzuhauen oder Nachrichten zu schicken oder sonst irgendeine Scheiße. Ein Baby kann nur eines: rumliegen. Es weiß nicht mal, dass es entführt worden ist.«

Sie hatten in der Hütte vor dem Fernseher gesessen und Bier getrunken.

»Was meinst du, wie viel kann man aus denen so rausholen? «, fragte Blaze.

»Genug, dass du nie wieder einen Winter damit verbringen musst, dir beim Verkaufen von getürkten Zeitungsabos oder Geldsammlungen fürs Rote Kreuz den Arsch abzufrieren«, sagte George. »Na, wie klingt das?«

»Aber wie viel würdest du verlangen?«

»Zwei Millionen«, sagte George. »Eine für dich und eine für mich. Warum gierig sein?«

»Wer gierig ist, wird geschnappt«, sagte Blaze.

»Wer gierig ist, wird geschnappt«, stimmte George zu. »Das hab ich dir beigebracht. Aber was ist ein Handwerker wert, Blaze-a-rino? Was hab ich dir darüber beigebracht?«

»Seinen Lohn«, sagte Blaze.

»Ge-nau«, sagte George und leerte sein Bier. »Der Handwerker ist seinen Scheißlohn wert.«

Und hier war er jetzt also, fuhr zu der erbärmlichen Hütte zurück, in der er und George gehaust hatten, seit sie aus Boston in den Norden gekommen waren, und plante tatsächlich, die Sache durchzuziehen. Wahrscheinlich würden sie ihn erwischen, aber … zwei Millionen Dollar! Damit konnte man irgendwo hingehen, und es würde einem nie wieder kalt sein. Und wenn sie ihn erwischten? Schlimmstenfalls konnten sie ihn lebenslänglich in den Knast stecken.

Und in dem Fall würde ihm auch nie wieder kalt sein.

Als der gestohlene Ford wieder im Schuppen stand, erinnerte er sich tatsächlich daran, dass er die Spuren verwischen musste. Das würde George glücklich machen.

Er machte sich ein paar Hamburger zum Mittagessen.

»Willst du das wirklich durchziehen?«, fragte George aus dem anderen Zimmer.

»Hast du dich hingelegt, George?«

»Nein. Ich mach ’nen Kopfstand und hol mir einen runter. Ich hab dir eine Frage gestellt.«

»Ich werd’s versuchen. Hilfst du mir?«

George seufzte. »Schätze, das muss ich wohl. Ich hab dich ja jetzt am Hals. Aber, Blaze?«

»Was denn, George?«

»Verlang nur eine Million. Wer gierig ist, wird geschnappt.«

»Okay, nur eine Million. Willst du einen Hamburger?«

Keine Antwort. George war wieder tot.

3

ER BEREITETE SICH DARAUF VOR, die Entführung an diesem Abend durchzuziehen, je früher, desto besser. George hielt ihn zurück.

»Was hast du vor, Schwanzkopp?«

Blaze wollte sich gerade auf den Weg zum Auto machen. Jetzt hielt er inne. »Ich will’s durchziehen, George.«

»Was durchziehen?«

»Das Kind entführen.«

George lachte.

»Worüber lachst du, George?« Als ob ich’s nicht wüsste, dachte er.

»Über dich.«

»Warum?«

»Wie willst du ihn denn entführen? Verrat mir das mal.«

Blaze runzelte die Stirn. Was sein ohnehin schon hässliches Gesicht in das eines Trolls verwandelte. »So wie wir’s geplant haben, schätze ich. Aus seinem Zimmer raus.«

»Welches Zimmer?«

»Also …«

»Wie willst du reinkommen?«

Daran erinnerte er sich. »Eins von den Fenstern oben. Die haben so ganz einfache Riegel. Du hast das doch selbst gesehen, George. Als wir so getan haben, als wären wir von der Stromfirma. Weißt du nicht mehr?«

»Haste ’ne Leiter?«

»Also …«

»Wenn du den Jungen hast, wo tust du ihn dann hin?«

»Ins Auto, George.«

»Meine Fresse.« Das sagte George nur, wenn er mit seinem Latein am Ende war und ihm rein gar nichts anderes mehr einfiel.

»George …«

»Ich weiß, dass du ihn in das Scheißauto bringst. Ich hätte nie gedacht, dass du ihn huckepack nach Hause trägst. Ich meinte, nachdem du ihn hergebracht hast. Was machst du dann? Wo bringst du ihn unter?«

Blaze dachte über die Hütte nach. Er schaute sich um. »Also …«

»Was ist mit Windeln? Was ist mit Fläschchen? Und Breichen! Oder dachtest du, er ist zum Scheißabendessen mit ’nem Hamburger und ’ner Flasche Bier zufrieden?«

»Also …«

»Halt den Rand! Wenn du noch ein Mal ›also‹ sagst, muss ich kotzen!«

Blaze setzte sich mit gesenktem Kopf auf einen Küchenstuhl. Sein Gesicht fühlte sich ganz heiß an.

»Und mach endlich diese beschissene Musik aus! Diese Frau hört sich an, als würde sie mit ihrer eigenen Möse jodeln! «

»Okay, George.«

Blaze schaltete das Radio aus. Der Fernseher, eine alte japanische Kiste, die George auf einem Flohmarkt gekauft hatte, war kaputt.

»George?«

Keine Antwort.

»George, komm schon, geh nicht weg. Tut mir leid.« Er konnte die Angst in seiner Stimme deutlich hören. Er flennte ja fast.

»Okay«, sagte George, gerade als Blaze schon aufgeben wollte. »Ich sag dir, was du tun musst. Du musst ein kleines Ding durchziehen. Nicht so ein großes. Nur ein kleines. Der Tante-Emma-Laden an der Route 1, wo wir uns immer unseren Sprit geholt haben, der wäre wahrscheinlich okay.«

»Ja?«

»Hast du noch diesen Colt?«

»Unterm Bett, in einem Schuhkarton.«

»Den nimmst du mit. Und zieh dir einen Strumpf übers Gesicht. Sonst erkennt dich der Typ, der nachts da arbeitet.«

»Okay.«

»Du gehst Samstagnacht rein, kurz bevor sie zumachen. Sagen wir, so um zehn vor eins. Die nehmen keine Schecks, also müsstest du so zwei-, dreihundert Mäuse einsacken können.«

»Klar! Das ist super!«

»Blaze, eine Sache noch.«

»Was denn, George?«

»Nimm vorher die Kugeln aus der Kanone, okay?«

»Klar, George, das weiß ich doch, so machen wir’s doch immer.«

»So machen wir’s immer, genau. Zieh dem Typen eins über, wenn’s denn sein muss, aber sorg dafür, dass es bestenfalls auf Seite drei im Regionalteil landet, wenn die’s in der Zeitung bringen.«

»Genau.«

»Du bist ein Arschloch, Blaze. Und das weißt du auch, richtig? Du wirst das niemals schaukeln. Vielleicht wär’s besser, wenn sie dich bei dem kleinen Ding erwischen.«

»Wird nicht passieren, George.«

Keine Antwort.

»George?«

Keine Antwort. Blaze stand auf und schaltete das Radio ein. Beim Abendbrot hatte er schon wieder alles vergessen und deckte für zwei.

4

CLAYTON BLAISDELL JUNIOR kam in Freeport, Maine, auf die Welt. Drei Jahre später wurde seine Mutter von einem Lastwagen überfahren, als sie mit einer Einkaufstüte die Hauptstraße überquerte. Sie war sofort tot. Der Fahrer war betrunken und hatte keinen Führerschein. Vor Gericht sagte er, es tue ihm leid. Er heulte. Er sagte, er werde wieder zu den Anonymen Alkoholikern gehen. Der Richter verurteilte ihn zu einer Geldstrafe und sechzig Tagen Knast. Klein Clay bekam lebenslänglich bei Papa, der jede Menge vom Trinken verstand und nichts von den AA. Clayton senior arbeitete bei Superior Mills in Topsham, wo er die Sortiermaschine bediente. Kollegen behaupteten, ihn gelegentlich auch schon mal nüchtern bei der Arbeit gesehen zu haben.

Clay konnte bereits bei seiner Einschulung lesen und kapierte problemlos die zugrunde liegende Idee hinter zwei Äpfel plus drei Äpfel. Schon damals war er für sein Alter recht kräftig, und obwohl Freeport eine harte Stadt war, hatte er keinerlei Schwierigkeiten auf dem Schulhof, auch wenn er dort nur selten ohne ein Buch in der Hand oder unter den Arm geklemmt gesehen wurde. Sein Vater jedoch war noch kräftiger, und die anderen Kids fanden es immer höchst interessant, zu sehen, welche Körperteile bandagiert und an welchen Stellen wieder blaue Flecken waren, wenn Clay Blaisdell montags in die Schule kam.

»Es würde an ein Wunder grenzen, wenn er tatsächlich erwachsen wird, ohne vorher zumindest schwer verletzt zu werden. Wenn er ihn nicht sogar vorher umbringt«, meinte eines Tages Sarah Jolison im Lehrerzimmer.

Das Wunder geschah nicht. Eines verkaterten Samstagmorgens kam Clayton senior aus dem Schlafzimmer in der Wohnung im ersten Stock geschwankt, wo er mit seinem Sohn lebte. Clay hockte im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerboden, sah sich Zeichentrickfilme im Fernsehen an und futterte Cornflakes. »Wie oft hab ich dir eigentlich schon gesagt, du sollst diese Scheiße nicht hier drin essen?«, wollte Senior von Junior wissen, hob ihn hoch und warf ihn die Treppe hinunter. Clay landete auf dem Kopf.

Sein Vater ging runter, hob ihn auf, schleppte ihn nach oben und warf ihn gleich noch mal hinunter. Beim ersten Mal blieb Clay bei Bewusstsein. Beim zweiten Mal ging das Licht aus. Sein Vater ging runter, hob ihn auf, schleppte ihn hoch und sah ihn an. »Kleiner Dreckskerl von einem Schauspieler«, sagte er und knallte ihn wieder die Treppe hinunter.

»So!«, sagte er zu dem schlaffen Bündel am Fußende der Treppe, das sein inzwischen im Koma liegender Sohn war. »Vielleicht überlegst du’s dir jetzt zweimal, bevor du noch mal diese Scheiße ins Wohnzimmer schleppst.«

Leider dachte Clay nie wieder zweimal über irgendwas nach. Drei Wochen lang lag er bewusstlos im Portland General Hospital. Der für seinen Fall zuständige Arzt äußerte die Befürchtung, dass er bis zu seinem Tod in genau dieser Verfassung bleiben würde – ein Stück menschliches Gemüse. Aber der Junge wachte wieder auf. Leider war er nicht mehr ganz richtig im Kopf. Die Tage, an denen er mit Büchern unter dem Arm herumrannte, waren definitiv vorbei.

Die Behörden glaubten Clays Vater nicht, als er ihnen gegenüber beteuerte, der Junge hätte sich all diese Verletzungen bei einem einzigen Sturz die Treppe hinunter zugezogen. Auch glaubten sie ihm nicht, als er sagte, die vier noch nicht vollständig verheilten Zigarettenbrandwunden auf der Brust des Jungen wären Zeichen »irgend so einer komischen Hautkrankheit«.

Der Junge sah die Wohnung im ersten Stock nie wieder. Er wurde unter Amtsvormundschaft gestellt und wanderte aus dem Krankenhaus ohne Umwege direkt in ein Heim, wo sein elternloses Leben damit begann, dass ihm auf dem Spielplatz die Krücken von zwei Jungs weggetreten wurden, die anschließend gackernd davonrannten. Clay rappelte sich allein wieder auf und stützte sich auf seinen Krücken ab. Er weinte nicht.

Sein Vater protestierte halbherzig auf dem Polizeirevier von Freeport und weiter in verschiedenen Kneipen der Stadt. Er drohte damit, vor Gericht zu gehen, um seinen Sohn zurückzubekommen, was jedoch nie geschah. Er behauptete, Clay zu lieben, und vielleicht tat er das ja auch, wenigstens ein bisschen, aber wenn dem so war, dann gehörte seine Liebe zu der Sorte, die beißt und brennt. Der Junge war besser dran, wenn er außerhalb seiner Reichweite blieb.

Aber nicht viel besser. Das Hetton House in South Freeport war wenig mehr als eine erbärmliche Farm für Kinder, und Clays Kindheit dort verlief elend und unglücklich, selbst wenn es sich ein wenig besserte, als seine körperlichen Wunden verheilt waren. Da war er zumindest in der Lage, sich auf dem Spielplatz die übelsten Rabauken vom Leib zu halten; sich und den wenigen jüngeren Kindern, die zu ihm kamen und auf seinen Schutz bauten. Die Rabauken nannten ihn Schwachkopf und Troll und Kong, aber keiner dieser Namen machte ihm etwas aus, und er ließ sie in Ruhe, solange sie ihn in Ruhe ließen. Was sie meistens auch taten, nachdem er die schlimmsten von ihnen vermöbelt hatte. Er war nicht bösartig, aber wenn er provoziert wurde, konnte er gefährlich werden.

Die Kids, die keine Angst vor ihm hatten, nannten ihn wegen dieser plötzlich auflodernden Ausbrüche »Blaze«, und so kam er zu dem Namen, mit dem er sich fortan identifizierte.

Einmal bekam er einen Brief von seinem Vater. Lieber Sohn, stand da. Also, wie geht’s Dir. Mir geht’s gut. Arbeite jetzt oben in Lincoln als Holzfäller. Wäre gar nicht so übel, wenn die Sch**** mich nicht um die Überstunden behumpsen würden, HA! Ich besorg mir eine kleine Wohnung, und wenn’s so weit ist, hole ich Dich her. Also, schreib mir einen kleinen Brief und erzähl Deinem alten Pa, wie es Dir so geht. Kannst du ein Foto schicken. Unterzeichnet war der Brief mit In Liebe, Clayton Blaisdell.

Blaze hatte kein Foto, das er seinem Vater schicken könnte, hätte aber geschrieben – der Musiklehrer, der immer dienstags kam, hätte ihm dabei geholfen, da war er ziemlich sicher –, aber es stand kein Absender auf dem schmutzigen Umschlag, der mit der Adresse Clayton Blaisdell junior »Das Waisenhaus« in FREEPORT MAINE versehen war.

Blaze hörte nie wieder etwas von ihm.

Während seines Aufenthalts im Hetton brachte man ihn in mehreren Familien unter, jedes Mal im Herbst. Sie behielten ihn immer gerade lange genug, dass er bei der Ernte helfen und ihre Dächer und Vorgärten vom Schnee frei halten konnte. Wenn dann der Frühling kam, beschlossen sie, dass er doch nicht richtig zu ihnen passte, und schickten ihn zurück. Manchmal war’s gar nicht so übel, aber manchmal – wie bei den Bowies auf ihrer schrecklichen Hundefarm – war es ein Albtraum.

Als er und das Hetton House miteinander quitt waren, zog Blaze allein durch die Neuenglandstaaten. Manchmal war er glücklich, aber nicht so, wie er glücklich sein wollte, nicht so, wie andere Leute glücklich waren. Als er sich schließlich in Boston niederließ (mehr oder weniger, er schlug nämlich nie wirklich Wurzeln), geschah dies vor allem, weil er sich auf dem Land so einsam fühlte. Wenn er auf dem Land war, schlief er manchmal in einer Scheune und wachte mitten in der Nacht auf und ging hinaus und schaute zu den Sternen auf, und da waren so viele, und er wusste, sie waren schon vor ihm da gewesen und würden nach ihm immer noch da sein, und das war irgendwie schrecklich und gleichzeitig irgendwie wunderbar. Manchmal, wenn er trampte und wenn es auf November zuging, fegte der Wind um ihn herum und ließ seine Hosenbeine flattern, und dann trauerte er um etwas, das verloren war, wie zum Beispiel jenen Brief, der ohne Absender angekommen war. Manchmal schaute er im Frühling zum Himmel auf und sah einen Vogel, und das machte ihn glücklich, aber mindestens genauso oft fühlte es sich an, als würde irgendwas in ihm drin ganz klein werden und könnte jeden Moment zerbrechen.

Ist nicht gut, wenn ich mich so fühle, dachte er dann, und wenn doch, dann sollte ich mir lieber keine Vögel ansehen. Aber manchmal schaute er trotzdem zum Himmel auf.

Boston war schon in Ordnung, aber manchmal bekam er doch noch Angst. Es gab eine Million Menschen in der Stadt, vielleicht sogar mehr, und kein einziger interessierte sich auch nur einen Furz für Clay Blaisdell. Falls ihn überhaupt jemand anschaute, dann nur, weil er groß und kräftig war und eine Delle in der Stirn hatte. Manchmal hatte er ein bisschen Spaß, andere Male verspürte er einfach nur Angst. Er versuchte gerade mal wieder, sich in Boston zu amüsieren, als er George Rackley begegnete. Nachdem er George kennengelernt hatte, war es besser.

5

DER KLEINE TANTE-EMMA-LADEN hieß Tim & Janet’s Quik-Pik. Die meisten von den hinteren Regalen waren zum Bersten gefüllt mit in Pappkartons gestapelten Wein- und Bierflaschen. Eine riesige Kühltheke erstreckte sich über die gesamte Länge der rückwärtigen Wand. Zwei der vier Gänge waren für Knabberzeug reserviert. Neben der Kasse stand ein großes Glas mit eingelegten Eiern, es war beinahe so groß wie ein Kleinkind. Tim & Janet’s führte außerdem solche grundlegenden Artikel des täglichen Bedarfs wie Zigaretten, Binden, Hotdogs und Pornohefte.

Der Abendverkäufer war ein pickliger Kerl, der tagsüber die Außenstelle der University of Maine in Portland besuchte. Sein Name war Harry Nason, und er studierte im Hauptfach Viehzucht. Als der kräftige Mann mit der eingebeulten Stirn um zehn vor eins hereinkam, las Nason gerade ein Buch aus dem Paperback-Ständer. Es hieß Groß und hart. Der spätabendliche Andrang war vorbei, und es kamen nur noch vereinzelt Kunden. Nason beschloss, den Laden zu schließen und nach Hause zu gehen, sobald der kräftige Bursche seine Flasche oder sein Sechserpack gekauft hatte. Vielleicht würde er das Buch mitnehmen und sich bei der Lektüre einen von der Palme wedeln. Er überlegte gerade, dass die Stelle über den Wanderprediger und die zwei geilen Witwen dafür genau das Richtige wäre, als der kräftige Bursche ihm eine Pistole unter die Nase hielt und sagte: »Mach die Kasse leer.«

Nason ließ das Buch fallen. Jeder Gedanke ans Wichsen verschwand aus seinem Kopf. Er glotzte die Kanone an. Er machte den Mund auf, um irgendwas Intelligentes zu sagen. So was, wie’s im Fernsehen ein Typ sagen würde, der gerade überfallen wurde, sofern der Überfallene zufälligerweise der Held des Films war. Was dann aber rauskam, war nicht mehr als ein »Aaaa«.

»Mach die Kasse leer«, wiederholte der kräftige Bursche. Die Delle in seiner Stirn war furchterregend. Schien tief genug für einen Froschteich.

Harry Nason erinnerte sich – irgendwie erstarrt –, welche Verhaltensregeln sein Boss ihm eingetrichtert hatte, falls er überfallen werden sollte: keine großen Diskussionen mit dem Räuber. Gib ihm alles, was er haben will. Sein Boss war gut versichert. Nasons Körper fühlte sich mit einem Mal zart und verletzlich an, voller Öffnungen und Flüssigkeiten. Seine Blase entleerte sich, und er spürte, dass er sich jeden Moment in die Hosen scheißen würde.

»Mann, hast du mich nicht verstanden?«

»Aaaa«, bestätigte Harry Nason und drückte die KEIN-VERKAUF-Taste der Kasse.

»Steck das Geld in eine Tüte.«

»Okay. Ja. Klar.« Er fummelte an den Tüten unter der Theke herum und warf dabei die Hälfte auf den Boden. Schließlich bekam er eine zu fassen. Er klappte die Scheinklammer in der Geldschublade hoch und begann, das Geld in die Tüte zu stopfen.

Die Originalausgabe BLAZE erschien bei Scribner, New York

Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 03/2009

Copyright © 2007 by Stephen KingCopyright © 2007 der deutschen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

eISBN 978-3-641-02352-2

www.heyne.de

www.randomhouse.de

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