Queeres entdecken 2023 - Jochen Schropp - E-Book

Queeres entdecken 2023 E-Book

Jochen Schropp

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Beschreibung

»Queeres entdecken 2023« ist der dritte Sammelband des Litfests homochrom in Köln und bietet ein buntes Panorama aktueller, ausgewählt guter queerer Literatur. Im Herbst 2023 lasen 23 Autor*innen ihre abwechslungsreichen Texte beim 3. Litfest homochrom, einem von bloß fünf Festivals für LSBTIAQ-Literatur in Europa. Der Großteil der Lesungen ist auch als Videos und Podcasts veröffentlicht. Die Lesetexte von 15 dieser Autor*innen erscheinen in dieser Anthologie auf prallen 247 Seiten, darunter viele unveröffentlichte Kurzgeschichten, mehrere Gedichte sowie einige Roman- und Sachbuchauszüge. Mit einer Leselänge von zirka 20 Minuten sind die Texte ideal, um zwischendurch oder unterwegs von dir entdeckt zu werden – und um dir hoffentlich Lust auf mehr queere Literatur zu machen.

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Seitenzahl: 246

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Das 3. Litfest homochrom wird gefördert durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen

homochrom.de/litfest

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023 homochrom e.V.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autor*innen oder der jeweiligen Verlage.

Alle Rechte vorbehalten. / All rights reserved.

Gestaltung, Korrektorat & Herausgeber:

Martin Wolkner

Druck & Distribution: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN: 978-3-384-04949-0 (Taschenbuch)

ISBN: 978-3-384-04950-6 (gebundene Ausgabe)

ISBN: 978-3-384-04951-3 (E-Book)

Queeres entdecken 2023

Kurzgeschichten, Gedichte, Roman- & Sachbuchauszüge vom 3. Litfest homochrom

Inhalt

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

Vorwort

Jochen Schropp »Queer as f*ck«

Andreas Obster »Die Prüfung«

Maria Braig »Bis hierhin und dann weiter«

Sibylle Paraquin »Charming Pans«

Max Appenroth »Queer durch den Regenbogen«

Florian Veelmann »Eichenprozessionsspanner«

Poppy Lamour »fig – Yanis & Pierre: Wie alles begann«

Lady Rosewood »Mit allen Wortsinnen«

»Das Geschenk«

»Wanderung ins Leben«

Kira Marie Jockers »Die gesellschaftliche Kreativität hat nur für zwei Konstrukte gereicht«

»Nach dem Mann«

»Zuckerbrot und Peitsche«

»Patriarschat«

Mona Maijs »F*ck yeah, ein Kobold! Gedichte, die queeres Leben feiern«

Gabriel Gerling »Julien Lemaire (Sex und Sozialkritik I)«

Lian Stollenwerk-Gans »Dysfunktion, die«

Katja Kulin »Geliebte Orlando«

Siegfried Straßner »Wasserläufer in Cognac«

Lucia-Philtje Gerst »Die Königin«

Autor*innen

Queeres entdecken 2023

Bildnachweise

Queeres entdecken 2023

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

Jochen Schropp »Queer as f*ck«

Autor*innen

Queeres entdecken 2023

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Vorwort

Queere Literatur und die Menschen, die sie schreiben, zu feiern und ihnen zu ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen, die sie verdienen, aber viel zu selten erhalten, das war die simple Idee für das Litfest homochrom, welches im August 2021 zum ersten Mal in Köln stattgefunden hat.

Im Herbst 2020, also zu einer Zeit, als Videokonferenzen weltweit sprunghaft anstiegen, entdeckte ich die Online-Lesereihe #allabendlichqueer, die die Literatunten aufgrund der Beschränkungen mit viel Engagement ins Leben gerufen hatten (und nach wie vor veranstalten, aber nicht mehr jeden Abend). Das fand ich inspirierend – und mit einem Mal fiel mir, wie bereits 2009 im Filmbereich, eine queere Leerstelle auf, allerdings schien mir die im Literaturbereich noch viel größer, und sie klaffte dort nicht, weil in dem Jahr wegen des bösen C alles ausgefallen war.

Bis dahin hatte es queere Buchmessen in Frankfurt und Berlin gegeben, das wusste ich, zudem für knackig kurze Texte einige regelmäßige queere Poetry-Slams in verschiedenen Städten, auch in NRW, aber bis dato meines Wissens nicht in Köln. Für längere Texte, Romane wie Sachbücher, sah ich fast ausschließlich vereinzelte Lesetermine oder mal einen Themenabend, und für Kurzgeschichten scheint es generell kaum eine Bühne zu geben. Darum schlug ich vor, unsere Festivalerfahrung zu nutzen und neue Lesegelegenheiten zu schaffen. Bei meinen Recherchen stieß ich auf queere Literaturfestivals in den USA, die es schon seit rund 20 Jahren gibt, zudem mehrere jüngere in England, Neuseeland, Indien – und in Deutschland ziemlich einsam das Mainzer Festival QUEER gelesen, welches jedoch nur von 2015–19 stattgefunden hatte, 2020 aus anderen Gründen als den Ausgangssperren ausfiel, auch 2021 inaktiv blieb, sich aber 2022 wieder zurückmeldete. In NRW hatte es bis auf die Slams nichts dergleichen gegeben.

In diese Lücke hinein gründeten wir also ein neues Festival für queere Literatur, damit mehr davon vorgetragen und diskutiert werden kann, vor allem auch in einer Bandbreite und Vielfalt, die einzelne Veranstaltungen niemals abdecken könnten. Eigentlich war dieses Festival naheliegend, denn ich selbst habe seit meiner Jugend geschrieben, hatte aber wegen Studium und Festivalarbeit nie die Zeit gefunden, meine Werke richtig zu positionieren. Wie ich das erreichen könnte, davon hatte ich eh keine Ahnung, und nach zahlreichen Absagen war ich eingeschüchtert und glaubte nicht wirklich, dass meine Romane gut genug seien.

Deswegen bin ich froh, dass wir mit dem Litfest Nachwuchsautor*innen genauso selbstverständlich eine Chance und hoffentlich auch Mut geben. Manchmal braucht es nur einen Mensch, der an einen glaubt, und es gibt so viele Geschichten, die unabhängig von wirtschaftlichen Interessen ein offenes Ohr verdient hätten. homochrom kann zwar nur einigen wenigen davon eine Bühne bieten und muss selbst viel zu viele Absagen erteilen, was leider ebenfalls Frustration schürt, aber wir wünschen uns, dass das bisschen, was wir tun können, insgesamt als Bereicherung empfunden wird.

Queere Geschichten, ob erfunden oder real geschehen, sind schon immer der Schwerpunkt von homochrom gewesen und das Zusammenkommen, um ihnen zu lauschen, unsere treibende Kraft. Ins Leben gerufen hatte ich homochrom jedoch 2009 als monatliche Filmreihe, die fast die gesamten 2010er hindurch ohne auch nur einen Monat Unterbrechung ausgewählt gute queere Filme in Programmkinos in sechs der größten NRW-Städte zeigte. Aus den monatlichen Vorführungen entwickelte sich 2011 unser Filmfest in Köln und Dortmund, das viele Deutschlandpremieren aufführte und schnell zum zweitgrößten von zwei Dutzend Queerfilmfestivals in Deutschland heranwuchs.

Queere Filme bekam man 2009 ab und zu im Fernsehen zu sehen und längst sehr einfach, günstig und vielfältig auf DVD zu kaufen, doch die Filmreihe und das Filmfest homochrom waren etwas mehr als das: Sie brachten Menschen zusammen: Freunde, Fremde und – ja, tatsächlich – auch Paare. Wir zeigten in den fast zehn Jahren weit über 500 Filme, 500 künstlerische Werke, wahre und erfundene Geschichten mit sehr unterschiedlichen queeren Perspektiven aus aller Welt, eigentlich eine jede von ihnen geeignet, den eigenen Horizont zu erweitern. Unter den 320 Filmen im Festival waren seltene Perlen, die seitdem hierzulande oder global kaum oder nie wieder gesehen wurden. Grob überschlagen waren es insgesamt wohl gut 1.400 Termine, 1.400 willkommene Anlässe im gesamten Rhein-Ruhr-Gebiet, um sich zu verabreden, gemeinsam einen Film zu schauen und sich meistens hinterher auszutauschen über das Gesehene, eigene Gedanken und auch die eigene(n) Geschichte(n).

Obwohl unser Verein 2019 die Filmaufführungen weitestgehend eingestellt hat, blieb unser Interesse an allerlei Formen von queerer Geschichte und queeren Geschichten bestehen – und ebenso unser Bedürfnis, in Bewegung zu bleiben, etwas in Bewegung zu setzen, Kulturangebote zu schaffen, die unterhalten, verbinden, aufklären, berühren, zum Denken und Diskutieren anregen.

Direkt im Sommer 2019 starteten wir in Kooperation eine neue Veranstaltungreihe, die »Couchgespräche«. Seitdem laden wir kontinuierlich Zeitzeug*innen zu öffentlichen und fürs Publikum häufig kostenlosen Interviews ein, die wie beim Litfest meistens gefilmt und hinterher online verfügbar gemacht werden. Damit wollen wir passiv erlebte sowie aktiv mitgestaltete Geschichte festhalten, insbesondere jene in und um Köln herum. Manche Geschichten werden nicht alt, heißt es, aber die, die sie erzählen könnten, leider schon. Deswegen sollten sie, wenn sie für die Nachwelt nachvollziehbar bleiben sollen, rechtzeitig festgehalten werden, sei es auf Papier oder als Video.

Wie du an dieser Anthologie und den vielen Lesevideos siehst, machen wir beim Litfest Gebrauch von verschiedenen Medien, damit die Texte nicht nur für einen vergänglichen Moment und ein lokales Publikum vorgetragen werden, sondern auf verschiedenen Wegen zu anderen Zeiten und an anderen Orten zugänglich sind. Bei Auszügen aus Romanen und Sachbüchern sind dies eher Appetitmacher für die ganzen Werke, wobei auch diese Probekapitel dich hoffentlich gut unterhalten und dir einige Impulse geben. Was die im 3. Litfest vertretenen Langwerke angeht, die bereits bei Verlagen erschienen sind, wirst du bei Interesse zum jeweiligen gesamten Buch greifen. Auch dies ist einer der Gründe, weshalb diese Anthologiereihe nicht-kommerziell ausgerichtet und eine nur sehr geringe Marge zugunsten des homochrom e.V. und neuer Projekte angesetzt ist. Reich wird der Verein damit definitiv nicht. Aus diesem Grund gilt: Wenn du gut findest, was wir machen, und du möchtest, dass wir auch in Zukunft queere Projekte umsetzen, kannst (und solltest) du uns bitte eine Spende zukommen lassen, ob bloß 5 €, 50 € oder gerne auch 500 €, wenn du es dir erlauben kannst, denn nur dann sind wir in der Lage, die Eigenanteile für neue Projekte zu finanzieren. Danke!

Aber was hältst du denn nun eigentlich in den Händen? Wie der Titel unmissverständlich erklärt, lässt dich dieser Sammelband hoffentlich einige Entdeckungen machen. Die scheinbar ungeordnete Reihenfolge erklärt sich aus der Chronologie des Festivals, denn einige Texte waren dort thematisch zusammengestellt, sodass dies auch hier in der Anthologie beibehalten wurde. Wie oben erwähnt sind mehrere Auszügen aus Langwerken abgedruckt, zudem aber vor allem auch sämtliche Kurzgeschichten sowie erstmals lyrische Texte des Festivals. Diese Auswahl hatte sich aufgrund ihrer Themen aus der Vielzahl von Einreichungen für ein abwechslungsreiches Programm angeboten, aber wir sind auch allen anderen Autor*innen, die sich beworben haben, sehr dankbar.

Für deine Wertschätzung der hier vorliegenden Texte wird es wohl keinen Unterschied machen und auch uns ist der Veröffentlichungsstatus nicht wichtig, solange das Thema anspricht und der Schreibstil gefällt. Dennoch hat es sich in diesem Jahr ergeben, dass die Kurzgeschichten und Gedichte fast durchweg unveröffentlicht waren, du also ein Buch mit vielen frisches Neuheiten in den Händen hältst.

In einigen Texten werden zwischendurch Reizwörter und eindeutige Begrifflichkeiten benutzt, was in einer queeren Anthologie vermutlich zu erwarten ist und sich in den meisten Fällen schon vorher allmählich andeutet. Dennoch habe ich drei Texten die konkreten Hinweise »häusliche Gewalt« und »explizit« (also mit eindeutigeren, aber nicht pornografischen sexuellen Beschreibungen) vorangestellt, weil sich manche damit gar nicht erst beschäftigen mögen. Ich bin mir sicher, dass du deine Grenzen kennst und selbstverantwortlich nur so weit lesen wirst, wie du dich damit wohlfühlst.

Ich wünsche dir kurzweilige, spannende Unterhaltung mit den hier versammelten Texten von 15 der insgesamt 23 Autor*innen des 3. Litfests homochrom, und dass du vieles entdeckst, was dir gefällt, dich überrascht, bewegt und bereichert.

Martin Wolkner

Dortmund, 22.10.2023

Jochen Schropp »Queer as f*ck«

Muss man sich überhaupt noch outen? Zwischen Selbstzweifeln und Haltung

»Ich wusste schon mit vier, dass ich schwul bin!«, antwortete ich vor ein paar Jahren mal in einem Interview auf die Frage, wann ich denn ein Gefühl dafür hatte, dass ich auf Männer stehe. Ich muss sagen, dass ich gar nicht mehr so genau weiß, ob ich das wirklich schon in dem Alter umreißen und begreifen konnte. Aber möglich wäre es schon.

Schließlich machten meine Familie und ich in den Achtzigern oft Urlaub auf der Nordseeinsel Texel. Wir verbrachten meist einen Großteil des Tages am Strand. Wenn ich zwischendurch mal pinkeln musste, schlich ich mich dafür in die Dünen. Oft blieb ich anschließend noch eine Weile dort und beobachtete heimlich den dahinterliegenden Strandabschnitt, in dem sich ausschließlich Männer aufhielten. Zufälligerweise befand sich der »Schwulenstrand« wohl oberhalb unseres Lieblingsplatzes am Meer. Für mich hatte das damals noch überhaupt nichts Sexuelles, aber rückblickend wurde mir klar, dass ich Männer schon immer körperlich anziehender fand als Frauen.

Schon krass, dass ich dafür offensichtlich bereits als Vierjähriger ein Gespür entwickelt habe – auch wenn ich es damals natürlich nicht einordnen konnte.

Was ich hingegen in diesem Alter bereits wusste: Ich wollte gerne mit Puppen spielen. Ich hatte acht Barbies, außerdem Skipper (Barbies jüngere Schwester) und Ken, den Mann von Barbie. Ich war wahnsinnig stolz auf meine Puppensammlung und hegte und pflegte sie so gut ich konnte, während die Barbiepuppen meiner Schwester aussahen, als ob sie gerade aus dem Krieg zurückgekehrt wären.

Mein größter Stolz war allerdings Yvonne. Eine Puppe, die ich überallhin mitnahm und mit der ich auch auf Fotos posierte. Yvonne ist übrigens auch für den Titel des Podcasts »Yvonne & Berner« verantwortlich, den ich mit Felicia Mutterer moderiere. Ich liebte meine Puppe, Felicia wollte gerne ein Junge sein und nannte sich, in Anlehnung an ihre beiden Lieblingsmännervornamen Bernhard und Werner, kurzerhand Berner. Aber das nur am Rande.

Ich schämte mich nicht, wenn ich mit meinen Puppen spielte, sie frisierte und schminkte, aber ich spürte doch, dass es nicht das war, was sich für einen Jungen in meinem Alter gehörte. Dass mir das allerdings Probleme bereiten könnte, merkte ich erst in meiner Teenagerzeit, als ich immer öfter gehänselt wurde. Ich stelle mir noch heute manchmal die Frage, warum das eigentlich passierte. Natürlich hatte ich Freundinnen, mit denen ich sehr viel Zeit verbrachte – und die Jungs waren deshalb eben ein bisschen eifersüchtig, weil sie in die Mädchen verliebt waren, mit denen ich mich so gut verstand.

Nicht selten wurde ich deshalb auch beschimpft. Mal rief man mir Worte wie »Schwuchtel« hinterher, dann hieß es, dass ich bestimmt selbst ein Mädchen sei. Dabei schwang immer mit: Männer haben nur Männer als Freunde und stehen auf Frauen. Alles andere war unnatürlich und durch und durch mit Negativität behaftet.

DAS PROBLEM MIT TOXISCHER MÄNNLICHKEIT

Mir waren solche scheinbaren Grundsätze von klein auf fremd. Vermutlich auch deshalb, weil mein Vater nicht unbedingt dem typischen Männlichkeitsbild entsprach. Er nahm mich gerne in den Arm und kochte und putzte zu Hause ganz selbstverständlich. Aber wenn ich Freunde besuchte oder auf Kindergeburtstagen eingeladen war, musste ich immer wieder feststellen, dass er die Ausnahme war.

Wenn die Väter meiner Freund*innen von der Arbeit nach Hause kamen, herrschte gleich eine andere Stimmung. Sie waren oft schlecht gelaunt, legten die Füße hoch und ließen sich ein Bier bringen, beschwerten sich darüber, wie laut wir waren, und klopften einen dummen Spruch nach dem anderen. Allesamt Dinge, die ich so nicht von zu Hause kannte. Fürsorge oder Zärtlichkeit? Fehlanzeige.

Sobald ich ein derartiges Verhalten mitbekam, wurde mir ganz unwohl. Diese Art von Männlichkeit jagte mir eine ungemeine Angst ein und ich bekam sofort Bauchschmerzen. Nicht selten ließ ich mich kurz darauf von meinen Eltern abholen. Erst Jahre später verstand ich, dass das, was mir so große Probleme bereitet hatte, als toxische Männlichkeit bezeichnet wird. In den letzten Jahren hört man diese Bezeichnung immer öfter. Aber was heißt toxische Männlichkeit eigentlich genau?

Der Begriff beschreibt falsche Vorstellungen davon, wie sich Personen zu verhalten und zu fühlen haben, um in der Gesellschaft als männlich akzeptiert zu werden. Das bedeutet: nie Schwäche zeigen oder um Hilfe fragen, bloß nicht sensibel sein und keine Fehler zugeben. Stattdessen immer stark und rational agieren und natürlich sexuell allzeit bereit sein. Fleisch statt Gemüse, Fußball statt Pilates. Und so weiter und so fort.

Toxische Männlichkeit ist Gift. Für alle. Auch für Männer selbst. Denn sie leiden unter diesen Einschränkungen in Form von Depressionen, höheren Alkoholismusraten oder anderen Selbstgefährdungen. Dabei sind Männer komplexe Wesen. Mit unterschiedlichsten Gefühlen und Bedürfnissen. Männer sind Menschen! Sie dürfen weinen, sie dürfen Schwäche zeigen, sie dürfen auch keine Lust auf Sex haben und lieber kuscheln wollen. Sie dürfen sich die Nägel lackieren, Salat essen, Gewichtheben hassen und sich stattdessen lieber Synchronschwimmen ansehen. Und trotzdem sind sie ganze Männer! Denn Männlichkeit an sich ist nicht das Problem – sondern wie sie in der Gesellschaft definiert ist.

Auch auf mich färbte die toxische Männlichkeit der Väter meiner Freund*innen damals ab. Für mich stand gar nicht zur Diskussion, mich einfach so zu verhalten, wie ich mich eben fühlte, einfach ich selbst zu sein. Eine Zeit lang redete ich mir deshalb verzweifelt ein, dass ich bestimmt doch auf Frauen stehen würde, und versuchte, Frauen sexuell attraktiv zu finden. Bis ich 14 oder 15 war, hatte ich deshalb auch noch regelmäßig Freundinnen.

Es war ja auch so: Ich hatte schon Liebesgefühle für Mädchen. Wenn ich mich recht erinnere, fand ich Schauspielerinnen wie Sandra Bullock oder Meg Ryan toll, während mich ihre Kollegen eigentlich gar nicht so sehr interessierten.

Homosexualität war für mich praktisch auch gar nicht sichtbar. In dem Dorf, in dem ich aufwuchs, gab es keine offen schwulen Männer. Bis auf den »schwulen Metzger« unseres Supermarkts, der immer nur flüsternd so genannt wurde, auch wenn es eigentlich niemand anderes hätte hören können. Das suggerierte mir wiederum, dass »schwul« kein Wort war, das man laut aussprach. Umso aufregender war es für mich natürlich, als ich mit 15 Jahren in Gießen zum ersten Mal zwei Händchen haltenden Männern begegnete. Stundenlang folgte ich dem Paar heimlich durch die Stadt und war ungemein fasziniert von ihnen – auch, weil sie so normal auf mich wirkten.

PARTY IN THE USA

Mit 16 ging ich für ein Jahr nach Amerika. Die zwölf Monate gaben mir ein Gefühl von Gemeinschaft und Freiheit. Ich schrieb für die Schülerzeitung, ich sang im Chor, ich spielte in Musicals und Theaterstücken mit. Mit einem Mal waren da ganz viele künstlerische Elemente in meinem Leben und mit ihnen natürlich auch ganz viele neue interessante Menschen – und nicht wenige von ihnen waren ganz selbstverständlich bi- oder homosexuell.

Zu sehen mit was für einer Unbekümmertheit dort Kreativität, Toleranz und gleichgeschlechtliche Beziehungen gelebt wurden, öffnete mir die Augen. In Deutschland war ich der einzige Schwule an meiner Schule – dachte ich zumindest. Ganz im Gegensatz zur Redwood High School, auf die meine amerikanischen Freund*innen gingen und auf der ich mein 11. Schuljahr verbrachte. Diese Menschen und die Selbstverständlichkeit, mit der sie durchs Leben gingen, kennenzulernen, gab mir wahnsinnig viel Kraft. Aber zurück in Deutschland fiel ich in ein Loch. Denn war ich in Amerika von all diesen tollen Leuten umgeben, hatte ich in Deutschland plötzlich niemanden mehr, dem ich mich anvertrauen konnte.

Aber ich suchte mir Verbündete. Nach meiner Rückkehr aus den USA zog nämlich gerade das Internet in bundesdeutschen Haushalten ein, und ich entdeckte die Welt der AOL-Chaträume. Irgendwann verschlug es mich auch in einen Gay-Chat. Dort lernte ich Dirk aus Frankfurt am Main kennen, der nur ein wenig älter war als ich. Nachdem wir eine Weile geschrieben hatten, verabredeten wir uns das erste Mal zum Essen. Und was sich in den stundenlangen Chats schon abzeichnete, bestätigte sich auch im echten Leben: Wir verstanden uns super.

Zwar war unsere Beziehung nicht sexuell, sondern rein freundschaftlich, aber er war derjenige, der mir zum ersten Mal die schwule Szene näherbrachte. Dirk nahm mich mit ins Frankfurter Nachtleben und zeigte mir queere Clubs wie das »L.O.F.T. House«. Die ehemalige Papierfabrik auf der Hanauer Landstraße war in den späten Neunzigern einer der Treffpunkte für queere Menschen. Auf drei Etagen erstreckten sich gleich mehrere Tanzflächen und Bars, es lief House-Musik, alles war bunt und fröhlich, aber nicht wie in Berlin, wo man beim Betreten eines Clubs manchmal meint, gleich einen Herzinfarkt zu bekommen, weil alles so überwältigend ist. In Frankfurt fühlte ich mich einfach wohl. All das zu sehen, war wahnsinnig aufregend, weil ich mit einem Mal merkte, dass ich nicht alleine war.

Mit 17 ging ich in meinen Sommerferien noch mal für sechs Wochen nach Amerika und verbrachte Zeit mit den Freund*innen, die ich ein Jahr zuvor kennengelernt hatte. Die meisten gingen mittlerweile aufs College und führten gleichgeschlechtliche Beziehungen – für mich der Beweis, dass auch das funktioniert.

ZURÜCK IN DEUTSCHLAND

Zurück in Deutschland outete ich mich noch am Frankfurter Flughafen bei meiner damaligen besten Freundin Verena. Sie war im gleichen Jahr wie ich selbst als Austauschschülerin in den USA. Diese gemeinsame Erfahrung hatte uns zusammengeschweißt. Sie freute sich sehr über meine Ehrlichkeit und fühlte sich geehrt, dass sie die Erste in Deutschland war, die ich einweihte.

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Meine erste Vertraute! Nach und nach outete ich mich bei meinen engsten Freundinnen. Mich bei meinen Kumpels zu outen, bereitete mir Bauchschmerzen. Viele von ihnen waren, das brachte das Dorfleben so mit sich, Mitglied im Hand- oder Fußballverein – und der Umgang war, wie bei so vielen anderen männlich geprägten Sportarten, eher rau. Aber als ich ihnen offenbarte, dass ich auf Männer stehe, war das überhaupt kein Thema für sie. Einer der Jungs gratuliert mir bis heute jedes Jahr zum Geburtstag, obwohl wir uns schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen haben. Das weiß ich sehr zu schätzen. Danke, Markus!

All diese Erfahrungen gaben mir den Mut, mich einige Monate nach meiner Rückkehr schließlich auch vor meinen Eltern und meiner Schwester zu outen. Ich hatte ohnehin schon immer ein sehr ehrliches Verhältnis zu meinen Eltern. Ich musste sie nie anlügen und selten etwas Verbotenes tun, weil sie mir sehr viele Freiräume ließen.

Aber als ich dann im tiefsten Winter bei Schneeregen und vereisten Straßen an den Wochenenden ständig die rund 70 Kilometer nach Frankfurt am Main fuhr, fragte meine Mutter mich irgendwann dann doch, ob das denn wirklich notwendig sei. Für sie war nicht ganz klar, warum ich nicht wie meine Schulfreund*innen auch zum Feiern ins benachbarte Gießen fuhr, sondern mitten in der Nacht diese langen und in ihren Augen zu dieser Jahreszeit gefährlichen Fahrten auf mich nahm.

Ich dachte mir Ausreden aus, zum Beispiel, dass Gießen mir zu klein und zu bürgerlich sei. Natürlich war das Quatsch, aber ich hatte einfach Angst davor, ihr zu sagen, dass der Grund für meine Wochenendausflüge eben meine Homosexualität sei. Nachdem es deswegen mehrfach zu Streitereien gekommen war, beschloss ich, ihnen den wahren Grund meiner Ausflüge in die Großstadt zu offenbaren.

Ich plante mein Vorhaben nicht lange. Nachdem es am Wochenende wieder mit meiner Mutter zu Diskussionen gekommen war, besprach ich in der Schule mit meiner besten Freundin das weitere Vorgehen. Auf dem Nachhauseweg spielte ich die Situation noch ein letztes Mal durch, dann ließ ich die Bombe beim Mittagessen platzen.

Es gab Lasagne und auch wenn ich die meiner Mutter zu meinen Lieblingsessen zählte, brachte ich keinen Bissen runter.

»Du isst ja gar nichts, geht’s dir nicht gut?«, fragte meine Mutter irgendwann.

Erst druckste ich ein wenig herum, aber dann sagte ich einfach, was Sache war.

»Ich muss euch etwas sagen …

… Ich bin schwul.«

Meine Schwester war damals 15 und verstand noch gar nicht so richtig, was los war. Als ich es ihr später erklärte, fand sie es aber aufregend und spannend. Mein Vater sagte erst mal gar nichts. Meine Mutter schon.

»Wie, du bist schwul?«, fragte meine Mutter.

»Na ja, ich mag Jungs!«, sagte ich.

Ich war einerseits erleichtert, es endlich ausgesprochen zu haben, andererseits bebte mein ganzer Körper vor Aufregung. »Und deswegen fahren wir auch immer nach Frankfurt, weil wir da mit anderen schwulen und lesbischen Menschen feiern gehen. Da fühle ich mich verstanden.«

»Und wer erbt jetzt, wenn du keine Familie gründest?«, fragte meine Mutter.

Ich war verwirrt. Was hatte das denn jetzt mit meinem Schwulsein zu tun? Meine Mutter kann sich heute übrigens nicht mehr an den Satz erinnern. Mittlerweile kann ich diese Übersprungshandlung nachvollziehen. Ich hatte mich monatelang, wahrscheinlich unterbewusst sogar jahrelang, auf diesen Moment vorbereitet, während meine Eltern in diesem Augenblick das erste Mal von mir damit konfrontiert wurden.

»Was ist das denn für eine bescheuerte Frage. ›Wer erbt denn jetzt?‹ Papa ist Lehrer und du bist Arzthelferin, was haben wir denn groß zu vererben?«

Ich merkte, wie sich mir der Hals zuschnürte, und rannte auf mein Zimmer, Tränen der Enttäuschung in den Augen.

Für mich war diese Reaktion ihrerseits total absurd. Vielleicht muss man dazu sagen: Ich komme aus einer Mittelstandsfamilie. Meine Eltern hatten das Glück, dass sie ein Haus von meiner Großmutter mütterlicherseits geerbt hatten, weshalb bei meiner Mutter scheinbar der Gedanke aufkam, dass sie dieses Haus irgendwann auch mal an meine Schwester und mich weitergeben müssten.

Auch die Wochen danach waren schwierig. Meine Mutter machte mein Outing eher zu ihrer Sache. Ich hätte mich gefreut, wenn sie mich gefragt hätte, wie es mir nun damit geht. Aber für sie war in dem Moment wichtiger, ob und wem wir davon erzählen und was die Nachbarn sagen würden. Mich belastete und ärgerte das in dem Moment sehr, aber ich merkte auch, wie es in meiner Mutter arbeitete. Sie ging in die Buchhandlung, erklärte dort, dass ihr Sohn schwul sei, und bestellte sich Literatur von Eltern, meistens Müttern, deren Kinder sich ebenfalls geoutet hatten.

Anschließend stellte sie mir alle möglichen Fragen, die mich allerdings total überforderten. Denn vieles, was sie wissen wollte, hatte nichts mit mir zu tun, sondern bezog sich auf die Kinder der Mütter aus ihren Büchern. Zum Beispiel wollte sie wissen, ob ich mir denn zum Feiern nun auch Frauenkleider anziehen würde. Erst nach und nach verstand ich die Reaktionen meiner Eltern, die mit meinem Outing vor vollendete Tatsachen gestellt wurden.

Heute weiß ich, dass meine Mutter es nicht böse meinte. Ich hätte mir damals einfach mehr Empathie gewünscht, aber natürlich hatte auch meine Mutter bisher wenig Berührungspunkte mit dem Thema Homosexualität gehabt: Sie kam vom Land und wuchs in einem ganz kleinen hessischen Dorf in einem recht konservativen Elternhaus auf. Es wurde nur gearbeitet, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg. Mein Opa war damit beschäftigt, ein Bekleidungsgeschäft aufzubauen, weshalb meine Mutter die meiste Zeit bei ihren Großeltern aufwuchs. Und von denen erfuhr sie natürlich schon mal gar nichts über gleichgeschlechtliche Liebe.

DER SPÄTERE UMGANG MIT DEM OUTING

Aber auch als meine Mutter älter wurde, änderte sich das nicht großartig. Ich hatte nicht das Gefühl, dass meine Eltern bis dato überhaupt jemals Kontakt zu anderen homosexuellen Menschen als dem erwähnten »schwulen Metzger« hatten. Und dass seine Sexualität hinter vorgehaltener Hand besprochen wurde, gab mir wieder das Gefühl, dass einfach falsch war, wie er zu sein schien.

Mit Sicherheit existiert dieses Problem vor allem in kleinen Städten und Gemeinden, wo jeder jeden kennt und es dementsprechend besonders wichtig ist, was andere Menschen über einen denken. Weil eben gerne getratscht wird. Genau das bekam ich nach meinem Outing auch zu spüren, als eine der ersten Fragen, die im Anschluss daran seitens meiner Mutter geklärt werden mussten, war: Was um alles in der Welt sollen die Nachbarn denken?!

Ich muss sagen: Es würde mir einfach nie in den Sinn kommen, mir darüber Gedanken zu machen, was genau die Nachbarn in dieser Situation denken – und das, obwohl ich glaube, schon ein sehr rücksichtsvoller Mensch zu sein, der viel Wert darauf legt, gut mit seinen Mitmenschen klarzukommen.

Genau deshalb ist es mir auch so wichtig, den jungen homosexuellen Menschen, die sich vor ihren Eltern outen, zu zeigen, dass dieses Outing auch für ihre Eltern eine komplett neue Situation sein kann – und dass man ihnen deshalb vielleicht etwas großherziger, gnädiger und geduldiger entgegenkommen sollte. Man kann ihnen nicht zum Vorwurf machen, dass sie all diese Gedanken, die wir schon jahrelang mit uns herumgetragen haben, kurzfristig überfordern. Andererseits haben deine Eltern noch lange nicht das Recht, dir ungefiltert Dinge an den Kopf zu werfen!

Wenn ich meine Mutter heute darauf anspreche, nimmt sie oft eine Verteidigungshaltung ein und sagt: »Das habe ich nie gesagt!« Ganz egal, ob es jetzt um mich und meine Sexualität oder andere Dinge geht – Wie soll man auf so einer Grundlage eine Diskussion führen?

In der Schule machte mein Outing natürlich auch nach und nach die Runde. Anders als in den frühen Teenagerjahren, in denen ich zeitweise mit dem Schimpfwort »Tunte« gemobbt wurde, wurde es nun von meinen Mitschülern akzeptiert. Oder anders: Es wurde einfach nicht thematisiert. Ich wurde weder blöd angemacht, noch hatte ich sonst irgendwelche Nachteile. Meine Schulfreundinnen erzählten stolz von den spaßigen Frankfurter Partys und den spannenden liebenswerten Menschen, die sie durch mich kennengelernt hatten. Ich war plötzlich einen Schritt weiter als meine Mitschüler*innen, die immer noch in die mittlerweile in meinen Augen piefigen Dorfdiskos gingen. Ich hatte mich emanzipiert, selbst befreit aus der Angst.

Fragen an Miriam

Jochen: Miriam, Menschen der LGBTQIA*-Community müssen sich immer wieder aufs Neue outen. Warum ist das erste Outing das schwierigste?