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Am Freitag um 7.11 Uhr beschließt der achtjährige Quentin, Megaheld zu werden. Eine tollkühne Zeit beginnt! Er besteht seine ersten Prüfungen - und wettet übermütig mit seiner älteren Schwester: Zehn Heldentaten will er innerhalb eines Jahres vollbringen. Er bereitet einem traurigen Clown Lachtränen, kämpft gegen vermeintliche Außerirdische, hilft einer Schauspielerin aus der Patsche, bringt einen gestohlenen Diamanten zurück. Doch dann droht er zu versagen ... Sein Freund, der alte Walter, ist wieder mit von der Partie. Und die besten Ideen bekommt Quentin immer noch auf dem Lindenbaum. Aber kann der wirklich sprechen? Oder geht die Fantasie mit Quentin durch? Eine Heldenreise der besonderen Art vor der Haustür im Rheinland.
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Seitenzahl: 171
Veröffentlichungsjahr: 2022
Mit Bildern von Helen Karl
Ab 7 Jahren
© 2023 Undino Woitrowitz. Überarbeitete Auflage
Illustriert von: Helen Karl
ISBN Softcover: 978-3-347-77803-0
ISBN Hardcover: 978-3-347-77804-7
ISBN E-Book: 978-3-347-77805-4
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Originaltitel im Kapitel „Lachtränen für den traurigen Clown“: In der Weihnachtsbäckerei
Musik und Originaltext: Rolf Zuckowski
© Mit freundlicher Genehmigung MUSIK FÜR DICH Rolf Zuckowski OHG, Hamburg
Mein Dank gilt allen, die halfen, dieses Buch so spannend, lustig und wirklichkeitsnah wie möglich zu schreiben: den begeistert zuhörenden Kindern der Arnold-von-Wied-Schule und der Adelheidisschule, Larissa Bender, Ralf Engler, Alexandra Langmeyer, Peter Meyer, Tobias Rothenbücher sowie Ilona Germes und Paul Gerhard Weiß. Und natürlich dem Ersthörer und Stichwortgeber Fynn.
Für alle, die gerade groß genug sind
Inhalt
FebruarWeltretter im Unwetter
MärzMutproben für die Heldenweihe
AprilLachtränen für den traurigen Clown
MaiUnheimliche Begegnung am Kornfeld
Juni – Juli Ein Fußballheld, der keiner sein will
AugustDie verschwundene Schauspielerin
OktobervDer Diamant auf dem Schrottplatz
November – DezemberDer erste Glockenschlag
JanuarDer abenteuerlichste Abenteuerspielplatz aller Zeiten
AusklangDes Rätsels Lösung
Februar
Weltretter im Unwetter
Am Freitag um 7.11 Uhr beschloss Quentin, die Welt zu retten. Seine Familie saß nichtsahnend am Frühstückstisch. Quentin wartete mit leerem Teller neben dem Toaster. Seine ältere Schwester Nina mümmelte ihr Müsli, die Mutter nippte am Kaffee, der Vater blätterte in der Zeitung.
„Bei der Stadt suchen sie jede Menge neue Leute“, berichtete der Vater. „Der Nachwuchs fehlt.“
Die Mutter fragte Quentin: „Was willst du denn mal werden?“
Ohne zu zögern und sehr gelassen antwortete er: „Megaheld.“
Augenblicklich platzte aus Nina laut wieherndes Lachen. Sie warf sich in ihren Stuhl zurück und japste so stark nach Luft, dass der Vater ihr heftig auf den Rücken klopfte.
Belustigt fragte die Mutter Quentin weiter: „Wie kommst du denn darauf?“
„Ist doch klar“, erklärte Quentin verständnislos. „Megahelden werden immer gebraucht, in der Straße gibt es noch keinen, und Papa hat nicht so richtig das Zeug dazu.“
„Ach!“, grummelte der Vater. „Immer alle auf Papa.“
„Außerdem werde ich bald acht, und morgen ist Wochenende“, fügte Quentin hinzu. In diesem Moment schnippte eine crosse Scheibe Brot aus dem Toaster und landete direkt auf Quentins Teller. Begeistert riss er die Arme hoch und jubelte: „Es hat geklappt!“
„Ich bräuchte nachher im Garten ein paar Megahelden“, sagte die Mutter betont fröhlich. „Da könnt ihr euch beweisen.“
Quentin wusste, worum es ging. „Die letzte rote Beete könnt ihr rausziehen“, grinste er. „Ich habe was Größeres vor.“
Nach der Schule radelte Quentin zum Lindenbaum. Fast genau ein Jahr war es her, dass dort etwas höchst Sonderbares geschehen war: Der Baum hatte plötzlich zu ihm gesprochen. Er hatte ihm den Weg zum alten Walter gewiesen. Mit ihm hatte Quentin dann übers Jahr hinweg ein Abenteuer nach dem anderen erlebt. Bis Walter ihm vor drei Wochen eröffnet hatte, dass Walter selbst für den Baum gesprochen hatte. Über eine Sendeanlage mit Videokamera. Sehr seltsam nur: Einmal hatte der Baum etwas gesagt, als Quentin und Walter beide dort gewesen waren. Darüber war Quentin immer noch verwirrt. Konnte der Baum etwa doch selbst sprechen? Steckte ein Baumgeist in ihm?
So kletterte Quentin wieder den Stamm hoch und setzte sich auf die Bretter, die er sich in gut drei Metern Höhe über zwei fast waagerechte Äste gebunden hatte. „Einfach mal quasseln“, dachte Quentin. „Mal sehen, was passiert.“
„Morgen Nachmittag ist meine Geburtstagsfeier“, begann Quentin zu erzählen. Gelangweilt fügte er hinzu: „Meine Eltern wollen wieder eine Schatzsuche machen.“
Gespannt wartete Quentin, was geschehen würde.
Da sprach wieder die dumpfe Stimme.
„Holla, Bursche. Das ist schön.“
Quentins Herz begann, aufgeregt zu pochen. „Nee, ist doof. Schatzsuche ist was für Gummihosenpupser. Ich will Megaheld werden.“
Kurze Zeit war es still. Dann fragte die Stimme: „Und wenn die Suche super wär? Formidabler noch als alles, was du je gesehen?“
Quentin schüttelte den Kopf. „Kann ich mir nicht vorstellen.“
„Auch alte Männer mögen Schätze suchen“, lachte die Stimme aufmunternd. „Vielleicht macht Walter dir ’ne Extratour.“
Quentin horchte auf. „Prima Idee.“ Rasch hangelte er sich am Baum hinunter und schwang sich auf sein Rad.
Als Quentin bei Walters Haus ankam, fühlte er sich ein wenig wie damals, als er Walter noch nicht kannte. Es war ihm, als stünde er wieder am Anfang eines ganz besonderen Jahres. Er klopfte an die Tür, vor der er schon so oft gestanden hatte. Nichts geschah. Quentin spürte, wie sein Herz schneller und heftiger zu schlagen begann. Noch einmal wollte er klopfen, da öffnete sich die Tür. Da stand Walter in genau denselben Sachen, die er vor einem Jahr getragen hatte, als die beiden sich kennenlernten. Jeans, grau-rot kariertes Holzfällerhemd und auf dem Kopf ein Cowboyhut.
Walter lächelte. „Hallo, Quentin. Schön, dich wieder zu sehen.“
Quentin schaute ihn erwartungsvoll an, sagte aber nichts.
„Was führt dich zu mir?“, fragte Walter.
Quentin grinste. „Abenteuerlust.“
Walter nickte und grinste zurück. „Sehr gut. Komm rein. Was hast du vor?“
„Morgen ist meine Geburtstagsfeier“, erzählte Quentin und lief ins Haus. „Meine Eltern organisieren eine Schatzsuche. Die geben sich auch immer Mühe damit. Aber Schatzsuche ist baby.“
Walter wiegte den Kopf hin und her. „Kommt drauf an.“
„Ja, kommt drauf an“, meinte Quentin begeistert. „Wenn du die Schatzsuche machen würdest …“
Walter lachte. „Deinen Eltern kann ich aber nicht ins Handwerk pfuschen.“
„Warum nicht?“, fragte Quentin forsch. „Vielleicht kannst du eine … eine Abzweigung einbauen?“
Walter überlegte. Dann fragte er: „Was hast du denn für einen Geburtstag? Irgendein Thema?“
Mit ernster Stimme sagte Quentin. „Megaheld.“
Walter zog die Lippen nach vorne und die Augenbrauen nach unten und blickte nach oben. „Hm.“
Quentin kicherte. „Ja, denk nach!“
Dann lachte Walter kurz und zufrieden – so wie einer, der einen genialen Plan ausgeheckt hat. „Ha-haa!“ Er hielt seinen Mund an Quentins Ohr und flüsterte hinein.
Quentins Augen leuchteten auf. „Au ja! Das machen wir!“ Als er sich verabschiedete, mischte sich in seine Begeisterung ein seltsames Gefühl. Würde ihm die erste Prüfung als Megaheld bevorstehen?
Am Samstagnachmittag kamen Quentins beste Freunde und Freundinnen zu seiner Geburtstagsfeier. Alle hatten sich als Megahelden verkleidet. Quentin trug eine Gesichtsmaske und einen schwarzen Umhang. Nina hatte sich in einen neon-pinken Taucheranzug gezwängt. Die Mutter hatte einen Zitronenkuchen gebacken, der die Form eines düsengetriebenen Autos hatte, so groß wie ein Rutscheauto. Aus einer Waffelrolle konnte das Vehikel Schokopillen schießen.
Quentin hatte noch die Backen voll, da leitete seine Mutter die Schatzsuche ein. „Lasst uns gleich losgehen, es ist starker Regen angesagt“, drängelte sie. „Noch ist es trocken.“
Auf dem Gehweg fanden die Kinder dicke weiße Pfeile, mit Kreide aufgemalt. Nach ein paar Schritten fanden die Kinder im Gebüsch eine Dose mit einem Aufgabenzettel. Quentin las vor: „Nennt zwei Megahelden der Antike.“
Max verstand das nicht. „Hä? Was ist Antike?“
Roxana erklärte: „Bei den alten Griechen und Römern.“
Da glaubte Quentin, Bescheid zu wissen: „Asterix und Obelix!“ Die Mutter lachte.
Cem rief: „Herkules und …“
„Cäsar?“, warf Nina ein.
„Okay, angenommen“, rief die Mutter. Sie liefen weiter.
„Hier geht’s lang“, meinte Cem und zeigte auf einen dicken weißen Pfeil auf dem Boden.
„Nee, hier!“, widersprach Quentin. Er hatte einen roten Pfeil gefunden, der in eine andere Richtung wies.
Seine Mutter stutzte. „Komisch.“ Aber ehe sie noch mehr sagen konnte, folgten alle Kinder Quentin und den roten Pfeilen. Sie führten zu einem Mehrfamilienhaus. Dort zeigte am Klingelschild ein Pfeil aus rotem Klebeband auf den Namen Möller. Quentin klingelte und drückte die Tür auf, als der Summton zu hören war. Im Erdgeschoss öffnete sich eine Tür. Ein kräftiger Mann im Rollstuhl kurvte heraus. Er trug einen hautengen, dunkelroten Sportanzug, einen schwarzen Umhang und eine ebenso schwarze Maske über den Augen. Die Kinder staunten.
„Bist du Megaheld?“, fragte Quentin überrascht.
Herr Möller lachte herzlich. „Klar, bin ich. Na, Jungs und Mädels, ratet mal: Was kann ich Unglaubliches leisten? Drei Sachen stehen zur Auswahl. Erstens: Ich kann die Restmülltonne mit dem kleinen Finger hochheben. Zweitens: Ich kann den Geländewagen dort mit bloßen Händen auf die Seite kippen. Drittens: Ich kann einen Tisch mit den Zähnen hochheben.“
Die Kinder begannen zu tuscheln. „Das geht doch alles so was von gar nicht!“, meinte Roxana.
Max war ganz anderer Meinung: „Das kann der alles, der ist bestimmt superstark!“
Nina fragte nach: „Ist die Mülltonne leer?“
Der Mann grinste. „Die ist voller Luft.“
„Dann die Mülltonne mit dem kleinen Finger!“, riet Quentin. Die anderen Kinder stimmten zu.
Flink manövrierte sich der Mann im Rollstuhl zur Mülltonne am Wegrand. Er zog den rechten Ärmel hoch, streckte den kleinen Finger aus, schob ihn unter den Rand der Tonne und versuchte, die Tonne zu heben. „Hnngrrr …“, presste er hervor und verzerrte das Gesicht. Die Tonne blieb am Boden.
„Falsch geraten!“, erwiderte Herr Möller.
„Dann das Auto!“, vermutete Max. Der Mann fuhr zum Geländewagen an der Straße, beugte sich hinunter und versuchte, den Wagen anzuheben. Er wackelte, mehr nicht.
„Der kann ja gar nichts“, meinte Cem enttäuscht.
„Letzter Versuch“, grinste der Mann und rollte schwungvoll ins Haus zurück. Im Flur stand ein Beistelltischchen. Der Mann räumte das Telefon weg, das darauf stand, packte den Tisch mit den Zähnen und hob ihn langsam in die Höhe.
„Boah!“, rief Cem. Nina kreischte, die anderen Kinder machten große Augen, und Quentins Mutter klatschte Applaus.
Quentin war begeistert. „Coole Schatzsuche! Weiter geht’s!“ Die Meute verabschiedete sich von dem Nachbarn, der ihnen noch viel Glück wünschte.
„Quentin, was ist hier los?“, fragte seine Mutter irritiert. „Das hier hat sich doch bestimmt nicht Papa ausgedacht.“
„Warum nicht?“, lachte Quentin. „Ist doch voll cool!“
„Da lang“, sagte Cem und deutete auf einen dicken roten Pfeil auf dem Boden.
Sie liefen weiter. Ein junger schwarzgrauer Hund, eine Promenadenmischung, lief hinzu und bellte fröhlich. Ein paar Schritte lief er mit und beschnupperte die Partygesellschaft.
Nina beugte sich hinunter und streichelte ihn. „Ist der süß!“ Der Hund bellte noch einmal und lief dann weg.
Einige dicke Tropfen klatschten auf den Gehweg. Quentins Mutter schaute besorgt in den Himmel. „Es geht los. Und da hinten kommt eine richtige Regenwand.“
„Mindestens eine Station schaffen wir noch, Mama!“, rief Quentin fröhlich.
Die roten Pfeile führten zu einem Reihenhaus. „Bestimmt der nächste Megaheld“, meinte Max aufgeregt. Quentin klingelte. Die Tür öffnete sich. Vor den Kindern stand eine Frau in einem weißen Trainingsanzug und welligen roten Haaren. Die Kinder staunten und kicherten.
„Na hallo!“, begrüßte die Frau sie fröhlich. „Wen sucht ihr denn?“
„Dich!“, antwortete Quentin. „Was ist dein Rätsel?“
Die Frau verdrehte die Lippen und blickte nach oben. „Mein Rätsel … Was glaubt ihr, was ich kann?“ Sie grinste geheimnisvoll, beugte sich du den Kindern herunter und flüsterte: „1000 Kakteen versorgen? Fünf Hunde versorgen? Oder ganz allein vier Kinder versorgen?“
„1000 Kakteen!“, rief Nina.
„Dann schaut mal, wie viele ihr hier unten findet.“
Die Kinder liefen ins Haus. Überall standen Kakteen herum. Sie zählten durch. Dabei wuselte ein Cockerspaniel herum.
„55“, berichtete Nina enttäuscht.
Die Frau lächelte. „Ich weiß nicht genau, wie viele es sind. Aber es sind nicht mehr als 100.“
„Fünf Hunde hast du auch nicht – nur einen“, meinte Cem. Er zeigte auf den Cockerspaniel, der sich neben die Frau setzte.
„Stimmt“, bestätigte die Frau. Sie setzte die Finger an die Zähne und pfiff. Dann rief sie fröhlich ins Treppenhaus: „Ihr könnt jetzt runterkommen!“
Wie an einer Perlenkette aufgereiht liefen vier Mädchen die Treppe hinunter. Alle trugen einen weißen Trainingsanzug und hatten rote Haare, wie die Frau. Sie stellten sich der Größe nach nebeneinander und verschränkten die Arme vor dem Körper.
„Euch kenn ich aus der Schule!“, erinnerte sich Quentin. „Aber ich wusste nicht, dass ihr Schwestern seid.“
„Wir sind Superschwestern!“, meinte selbstbewusst die Älteste.
„Und hier gibt’s keinen Mann?“, fragte Cem.
„Nee“, erwiderte das kleinste Mädchen forsch, so als würde sie „Ätsch“ sagen. „Ist abgehauen.“
„Alle Achtung!“, sagte Quentins Mutter zu der Frau. „Wir müssen uns mal unterhalten.“ Dann wendete sie sich lachend den Kindern zu. „Schätzchen gefunden – lasst uns weitergehen, den Schatz suchen. Hoffentlich regnet es noch nicht zu stark.“
Die Schatzsucher verabschiedeten sich und liefen nach draußen.
Dichte, dicken Regentropfen klatschten auf den Gehweg.
„Kinder, das geht nicht mehr“, fand Quentins Mutter und schüttelte den Kopf. „Wir brechen ab. Laufen wir schnell nach Hause, damit wir nicht zu nass werden.“
Sie rannte los, die Kinder hinterher. Quentin schaute im Laufen nach dem nächsten roten Pfeil. „Total doof, jetzt zum Rückzug zu blasen!“, dachte er.
Er fiel zurück und folgte den Pfeilen in eine Nebenstraße. Die anderen liefen geradeaus weiter. Doch der Regen wurde zu stark. Die Pfeile verwischten, er konnte sie nicht mehr erkennen. Der Regen saugte sich in seine Jacke und seine Hose. An einer Bushaltestelle stellte er sich im Wartehäuschen unter.
„Wenn das aufhört, mache ich weiter“, beschloss er.
Aber es regnete unaufhörlich in Strömen. Er quetscht sich in eine Ecke des Wartehäuschens, um nicht noch nasser zu werden. Denn der Regen peitschte unter dem Dach her zu ihm.
In den prasselnden Regen mischten sich eilig stapfende Schritte. Ein etwa zwölfjähriges Mädchen rannte herbei und stellte sich zu Quentin ins Wartehäuschen. Nasse Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht. Außer Atem und verzweifelt fragte sie Quentin: „Ist hier ein Hund vorbeigelaufen?“
Quentin erinnerte sich an die Promenadenmischung, die kurz die Schatzsucher beschnüffelt hatte. „Ja, vorhin. So ein schwarzgrauer?“
„Genau, dass ist Pöpsi“, rief das Mädchen. „Er ist mein Ein und Alles, meine ganze Welt. Wir sind Gassi gegangen, und dann ist er weggelaufen.“
„Er lief vorhin in Richtung Wiese“, erinnerte sich Quentin. Er griff in seine Jackentasche und zückt sein Fernglas, das er immer dabeihatte. Auf der anderen Straßenseite war die Pferdewiese von Bauer Pesch. Der Bach, der die Wiese durchschnitt, war mittlerweile zum reißenden Strom angeschwollen. Quentin erschrak. „Da ist der Hund!“
Durchs Fernglas sah er den Hund, auf einem kleinen Hügel inmitten des tosenden Wassers.
„Wir müssen ihn retten!“, flehte das Mädchen. „Er kann ganz schlecht schwimmen!“
Starr vor Schreck standen Quentin und das Mädchen im Wartehäuschen. Was sollten sie nur tun? Unerbittlich stieg das Wasser immer höher. Bald würde es den Hund erreichen.
„Bist du ein Superheld?“, fragte das Mädchen und schaute auf Quentins Sachen. Doch Quentin fühlte sich jämmerlich – der Megaheldanzug allein und all seine Fantasien, was er Tolles leisten könnte, halfen ihm jetzt nicht weiter. Ziellos schaute er umher, um überhaupt etwas zu tun. Da fiel sein Blick auf eine Zinkwanne im Garten neben der Bushaltestelle. Sie war kleiner als eine gewöhnliche Badewanne und mit Gartengeräten gefüllt.
„Damit könnte es gehen!“, glaubte er. Er lief zum Gartenzaun, kletterte drüber und kippte mit einem kräftigen Ruck die Geräte aus.
„Was hast du vor?“, schrie das Mädchen gegen den prasselnden Regen an.
„Irgendwas!“, antwortete Quentin und schaute hastig im Garten umher. Sein Blick fiel auf eine große Bratpfanne, die er gerade aus der Wanne geleert hatte. Er griff die Pfanne, warf sie in die Wanne, schwang beides über den Zaun und kletterte zurück.
Rasselnd zerrte er die Wanne über die Straße und auf die Wiese. Der Regen hatte ihn schon komplett durchnässt. Beim Bach angekommen, schob er die Wanne aufs Wasser und kletterte hinein. Die Wanne schwankte bedrohlich, kippte aber nicht. Mit der Bratpfanne versuchte er zu paddeln und zu steuern. Aber die Strömung trieb ihn, wohin sie wollte. Geradewegs trieb er auf den Hügel mit dem Hündchen zu.
„Halt aus, ich komme!“, rief Quentin. Das Hündchen kläffte aufgeregt. Schon rumpelte die Wanne gegen den Hügel, der kurz davor war, komplett vom Wasser überspült zu werden. In höchster Not sprang der Hund in die Wanne.
Am Rande der Wiese quietschte das Mädchen vor Freude. „Du schaffst es!“
Aber Quentin trieb weiter auf dem Bach, drehte sich im Kreis, die Wanne schwankte. Quentin stieß einen Schrei aus. Er konnte das Gleichgewicht nicht mehr halten. Die Wanne kippte um und er fiel ins Wasser. Er versuchte noch den Hund zu greifen, aber er bekam ihn nicht zu fassen. Das Wasser schlug ihm ins Gesicht, er versuchte zu schwimmen, aber seine Kleidung zog ihn nach unten. Mit seinen Füßen konnte er den Boden berühren, aber die Strömung trieb ihn mit Kraft fort. Er schluckte Wasser und japste nach Luft.
Da riss ihn plötzlich etwas nach oben. Keuchend öffnete er die Augen – und schaute ebenso verdutzt wie glücklich ins Gesicht seines Vaters. Zwei Meter weiter stand Walter bis zur Hüfte im Wasser und nahm den Hund auf den Arm.
„Gerade noch mal gut gegangen, Megaheld!“, rief sein Vater halb erleichtert, halb vorwurfsvoll. Er trug Quentin auf die Wiese. Dort waren sie vor dem reißenden Wasser in Sicherheit.
„Bist du sauer, Papa? Weil ich Walter angestiftet habe, deine Schatzsuche umzuleiten?“
Der Vater schüttelte den Kopf. „Sauer bin ich nicht. Ich bin erschüttert, dass du nicht mit den anderen nach Hause gekommen bist und dann mit einer Nussschale auf den Wildbach ruderst.“
„Nächstes Mal lieber die Seenotrettung rufen!“, meinte Walter lächelnd. „Das hätte schlimmer kommen können.“
Vor seinem geistigem Auge erschien Quentin das Rheinische Grundgesetz an der Küchenwand. Gerade heute Morgen hatte diese Zeile gelesen, die jetzt besonders gut passte.
Es hätte noch schlimmer kommen können.
Et hätt noch schlimmer kumme künne.
Alle liefen zur Straße. Walter drückte dem Mädchen den Hund in den Arm. Im immer noch strömenden Regen war es kaum zu erkennen, aber Quentin sah, wie sie Freudentränen weinte.
„Danke, danke, danke!“, heulte sie und drückte den Hund an sich. „Du kleiner Ausreißer!“
„Sollen wir dich nach Hause bringen?“, fragte Walter.
„Nein, danke, ich wohne da vorne“, erwiderte das Mädchen. Vor Freude strahlend rief sie „tschüss!“ und lief mit dem Hund auf dem Arm davon.
„Kommt, ab nach Hause“, bestimmte Quentins Vater. „Wir haben uns eine heiße Zitrone verdient.“
Am nächsten Tag lief Quentin zum Lindenbaum und stieg nach oben auf seine Bretter. Nachdenklich sagte er: „Ich wusste gar nicht, dass ein Hund eine Welt sein kann.“
Nach einer Weile hörte Quentin wieder die dumpfe Stimme. „Jeder Mensch hat seine Welt – und jeder Mensch ist eine Welt.“
„Hä? Das verstehe ich nicht.“
„Auch du bist eine Welt“, erklärte die Stimme. „Für deine Eltern würde die Welt zusammenbrechen, wenn du nicht mehr da wärst.“
Das wollte Quentin nicht glauben. „Meinst du wirklich? Die schimpfen doch so oft mit mir.“
„Das ist so eine Art Umweltschutz“, meinte die Stimme verschmitzt. „Damit du als Welt gut gedeihst.“ Dann wurde die Stimme dunkler. „Auf der Wiese im reißenden Bach begabst du dich in große Gefahr.“
„Ich weiß. Es war sehr gefährlich. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Ich wollte doch den Hund retten.“
Sanft erwiderte die Stimme: „Mancher wird zum Helden, wenn er in unerwartetem Moment beherzt handelt. Weil er nicht anders kann – um eine Welt zu retten.“
„Toll!“, sagte Quentin und grinste zufrieden. „Also bin ich tatsächlich ein Megaheld.“
März
Mutproben für die Heldenweihe
Zwei Wochen nach Quentins waghalsigem Wellenritt saß die Familie am Frühstückstisch beieinander. Beiläufig steckte Quentins Vater eine Scheibe Brot in den Toaster. Er erinnerte sich: „Das war neulich echt mutig von dir, Quentin. Etwas zu mutig sogar.“ Er schaute Quentin in die Augen und mahnte: „Deine Ambitionen, Megaheld zu sein, hast du damit hoffentlich begraben.“
Gemächlich strich sich Quentin Honig auf sein Brot und antwortete: „Nö.“
Der Schreck steckte ihm noch in den Knochen. Er war unsicher, ob er noch Megaheld sein wollte. Aber dass sein Vater es ihm verbieten wollte, weckte seinen Trotz.
Nina meldete sich zu Wort. „Wenn du Megaheld sein willst, reicht eine Heldentat aber nicht. Du musst mindestens drei Mutproben bestehen.“
Der Vater wunderte sich. „Wer sagt das?“
Spitz antwortete Nina: „Ich.“
Selbstbewusst verkündete Quentin: „Ich bestehe so viele Mutproben, wie du willst.“
Nina überlegte kurz. „Dann … spring doch vom Lindenbaum, von deinen Brettern.“
„Klar, mach ich“, entgegnete Quentin gelassen und biss in sein Brot. „Mit links. Ich klettere sogar noch höher.“
Nun mischte sich die Mutter ein. „Unmöglich. Du brichst dir alle Knochen.“
Der Vater ergänzte unwirsch: „Das lässt du schön bleiben.“
Quentin blieb ungerührt. „Und was ist dann die dritte Mutprobe?“
Noch einmal dachte Nina kurz nach. Dann grinste sie. „Abends im Dunkeln lese ich dir auf dem Friedhof Gruselgeschichten vor. Mindestens 15 Minuten.“
„Abgemacht.“
„Wenn es dunkel ist, seid ihr bitte schön zu Hause“, forderte die Mutter. „Gruselgeschichten kann dir Nina auch im Garten erzählen, wo ihr das tote Meerschweinchen vergraben habt.“