Quicksand: Im Traum kannst du nicht lügen - Malin Persson Giolito - E-Book
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Quicksand: Im Traum kannst du nicht lügen E-Book

Malin Persson Giolito

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Beschreibung

Stockholm: Nach einem Blutbad an einem Gymnasium steht die Schülerin Maja Norberg als Schuldige vor Gericht. Ihre Freunde Dennis, Amanda und Sebastian, der Lehrer Christer, alle erschossen, von Maja. Wie konnte es dazu kommen, dass dieses einstmals so beliebte Mädchen zur Mörderin und zur meist gehassten Person Schwedens wurde? Und ist sie überhaupt schuldig?

Aus Majas Sicht wird in diesem faszinierenden Roman die Vorgeschichte des Verbrechens erzählt. Eine aufwühlende Lektüre.

Im Traum kannst du nicht lügen wurde 2017 mit dem namhaften Glass Key Award (Skandinavischer Krimipreis) ausgezeichnet - der prestigeträchtigsten Auszeichnung für nordische Kriminalromane. Die Autorin Malin Persson Giolito reiht sich damit in die Liste der erfolgreichsten und berühmtesten Schriftsteller Skandinaviens ein. Ebenfalls Preisträger waren u.a.: Henning Mankell, Stieg Larsson, Jussi Adler-Olsen, Jo Nesbø, Arnaldur Indridason, Leif G. W. Persson

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Seitenzahl: 558

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumDer KlassenraumHauptverhandlung in der Sache B 147 66 – Der Staat u. a. gegen Maria NorbergErste Verhandlungswoche, Montag – 1.Erste Verhandlungswoche, Montag – 2.Erste Verhandlungswoche, Montag – 3.Erste Verhandlungswoche, Montag – 4.Erste Verhandlungswoche, Montag – 5.Erste Verhandlungswoche, Montag – 6.Krankenwagen, Krankenhaus7.Hauptverhandlung in der Sache B 147 66 – Der Staat u. a. gegen Maria NorbergErste Verhandlungswoche, Dienstag – 8.Erste Verhandlungswoche, Dienstag – 9.Gefängnis, die ersten Tage10.11.12.Hauptverhandlung in der Sache B 147 66 – Der Staat u. a. gegen Maria NorbergErste Verhandlungswoche, Freitag – 13.Erste Verhandlungswoche, Freitag – 14.Erste Verhandlungswoche, Freitag – 15.Erste Verhandlungswoche, Freitag – 16.Sebastian und ich17.18.19.20.21.22.23.FrauengefängnisErste Verhandlungswoche, Wochenende – 24.Hauptverhandlung in der Sache B 147 66 – Der Staat u. a. gegen Maria NorbergZweite Verhandlungswoche, Montag – 25.Zweite Verhandlungswoche, Montag – 26.Zweite Verhandlungswoche, Montag – 27.Samir und ich28.29.30.31.Frauengefängnis, NachtZweite Verhandlungswoche, die Nacht zum Dienstag – 32.Hauptverhandlung in der Sache B 147 66 – Der Staat u. a. gegen Maria NorbergZweite Verhandlungswoche, Dienstag – 33.Sebastian und ich34.Hauptverhandlung in der Sache B 147 66 – Der Staat u. a. gegen Maria NorbergZweite Verhandlungswoche, Mittwoch bis Freitag – 35.FrauengefängnisZweite Verhandlungswoche, Wochenende – 36.Sebastian37.38.Hauptverhandlung in der Sache B 147 66 – Der Staat u. a. gegen Maria NorbergDritte Verhandlungswoche, Montag – 39.Sebastian40.Hauptverhandlung in der Sache B 147 66 – Der Staat u. a. gegen Maria NorbergDritte Verhandlungswoche, letzter Tag – 41.Dritte Verhandlungswoche, letzter Tag – 42.Dritte Verhandlungswoche, letzter Tag – 43.44.DankAnmerkungen

Über dieses Buch

»Die Luft ist grau und verschwommen vom Pulverrauch. Außer mir sind alle von Kugeln durchsiebt. Und ich habe noch nicht einmal einen blauen Fleck.«

Stockholm: Nach einem Blutbad an einem Gymnasium steht die achtzehnjährige Maja vor Gericht. Sie hat geschossen, und unter den Toten sind ihre beste Freundin Amanda, ihr Freund Sebastian und der Lehrer Christer. Wie konnte es dazu kommen, dass dieses einstmals so beliebte Mädchen zur meistgehassten Person Schwedens wurde? Und ist sie überhaupt eine Mörderin?

»Eine vielschichtige, unglaublich gut erzählte Geschichte.« HÅKAN NESSER

Über die Autorin

Malin Persson Giolito, 1969 geboren, wuchs in Stockholms Vorort Danderyd auf, dem Schauplatz des vorliegenden Spannungsromans. Sie hat in Uppsala Jura studiert und arbeitet seit einigen Jahren bei der Europäischen Kommission in Brüssel. Sie lebt dort mit ihrem Mann und ihren Kindern. Wegen des großen internationalen Erfolgs von IM TRAUM KANNST DU NICHT LÜGEN will sie sich nun komplett dem Schreiben von Romanen widmen. Sie erntete durchweg begeisterte Rezensionen, sowohl von den Kritikern als auch von den Lesern. Der Roman stand in Schweden wochenlang auf Platz 1 der Bestsellerliste. Er wurde zudem als Bester Kriminalroman Schwedens 2016 und mit dem Nordischen Krimipreis, dem Glasnyckel 2017 ausgezeichnet.

MALIN PERSSON GIOLITO

QUICKSAND

IM TRAUM KANNST DU NICHT LÜGEN

ROMAN

Aus dem Schwedischen vonThorsten Alms

BASTEI LÜBBE

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2016 by Malin Persson Giolito

Titel der schwedischen Originalausgabe: »Störst av allt«

Published by arrangement with Ahlander Agency

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn

Umschlaggestaltung: Thomas Krämer

Umschlagmotive: Cover art and Logo © Netflix, Inc., 2019. Used with permission.

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-4986-3

www.luebbe.de

www.lesejury.de

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Der Klassenraum

Neben der Tischreihe links liegt Dennis, der wie immer irgendein Werbe-T-Shirt, Discounter-Jeans und Turnschuhe mit offenen Schnürsenkeln trägt. Dennis kommt aus Uganda. Er behauptet, dass er siebzehn ist, aber er sieht aus wie ein fetter Fünfundzwanzigjähriger. Er besucht den technischen Zweig des Gymnasiums und wohnt in Sollentuna in einer Einrichtung für solche Leute wie ihn. Neben ihm ist Samir gelandet. Samir und ich gehen in dieselbe Klasse, weil es ihm gelungen ist, in das Spezialprogramm der Schule für internationale Wirtschaft und Gesellschaftswissenschaften aufgenommen zu werden.

Am Lehrertisch liegt Christer, Klassenlehrer und selbsternannter Weltverbesserer. Sein Becher liegt auf dem Schreibtisch, und Kaffee tropft auf seine Hose. Weniger als zwei Meter davon entfernt lehnt Amanda mit dem Rücken am Heizkörper unter dem Fenster. Vor ein paar Minuten noch war sie nichts als Kaschmir, Weißgold und Sandalen. Die Diamantohrringe, ein Geschenk ihrer Eltern zur Konfirmation, glänzen in der Frühjahrssonne. Man könnte meinen, dass sie mit Dreck beschmiert ist. Ich sitze mitten im Klassenraum auf dem Boden. In meinem Schoß liegt Sebastian, der Sohn des reichsten Mannes von Schweden, Claes Fagerman.

Die Personen in diesem Raum passen nicht zusammen. Solche wie wir begegnen einander normalerweise nicht. Vielleicht auf einem U-Bahnsteig, wenn die Taxifahrer streiken, oder in einem Speisewagen, aber nicht in einem Klassenraum.

Es riecht nach faulen Eiern. Die Luft ist grau und verschwommen vom Pulverrauch. Außer mir sind alle von Kugeln durchsiebt. Und ich habe noch nicht einmal einen blauen Fleck.

Hauptverhandlung in der Sache B 147 66Der Staat u. a. gegen Maria Norberg

Erste Verhandlungswoche, Montag

1.

Als ich das erste Mal einen Gerichtssaal von innen sah, war ich enttäuscht. Wir waren auf Exkursion mit der Klasse, und klar, ich wusste, dass Richter keine alten Knacker mit Lockenperücke und rotem Umhang waren und der Angeklagte kein Verrückter im Streifenanzug mit Schaum vor dem Mund und Ketten an den Füßen, aber trotzdem. Die Räumlichkeiten wirkten wie eine Mischung aus Krankenhaus und Konferenzzentrum. Wir fuhren in einem Reisebus dorthin, in dem es nach Kaugummi und Schweißfüßen roch. Der Angeklagte hatte Schuppen und Bügelfalten, und ihm wurde Steuerbetrug vorgeworfen. Abgesehen von unserer Klasse (und Christer natürlich) waren nur vier weitere Personen auf den Zuschauerplätzen. Es gab dort so wenige Plätze, dass Christer einen zusätzlichen Stuhl aus dem Flur holen musste, damit er sitzen konnte.

Heute ist das anders. Wir befinden uns in Schwedens größtem Gerichtssaal. Hier sitzen die Richter auf dunklen Mahagonistühlen mit hohen, samtbezogenen Rückenlehnen. Die Lehne des mittleren Stuhls ist höher als die der anderen. Es ist der Platz des Chefrichters, der Vorsitzender genannt wird. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Holzhammer mit lederbezogenem Griff. An jedem Platz schauen kleine Mikrofone aus dem Tisch. Die Wandverkleidung scheint aus Eiche zu sein und mehrere Hundert Jahre alt, also alt im positiven Sinn. Auf dem Boden zwischen den Sitzplätzen liegt ein dunkelroter Teppich.

Publikum ist nicht so mein Ding. Ich wollte nie die Lucia spielen oder an einem Talentwettbewerb teilnehmen. Aber dieser Saal ist voll besetzt. Und alle sind nur wegen mir hier, ich bin die Hauptattraktion.

Neben mir sitzen meine Anwälte aus der Kanzlei Sander & Laestadius. Ich weiß, Sander & Laestadius klingt wie der Name eines Antiquariats, in dem zwei verschwitzte Schwule in Seidenkimonos und Monokeln mit Petroleumlampen durch die Regale huschen und verschimmelte Bücher und ausgestopfte Tiere abstauben, aber in Wirklichkeit ist es Schwedens renommierteste Anwaltskanzlei, die sich auf Strafverteidigung spezialisiert hat. Normale Verbrecher haben einen einsamen, müden Pflichtverteidiger, mein Pflichtverteidiger dagegen wird von einem ganzen Stab aufgeregter Wannabes begleitet, die bis tief in die Nacht in einem superschicken Büro an der Skeppsbron arbeiten. Jeder von ihnen hat mindestens zwei Handys, und bis auf Sander selbst glauben sie alle, sie würden in einer amerikanischen Fernsehserie mitspielen, in der man chinesisches Essen aus Pappkartons schaufelt, weil man so wichtig und so beschäftigt ist. Keiner der insgesamt zweiundzwanzig Angestellten bei Sander & Laestadius heißt Laestadius. Derjenige, der so hieß, ist gestorben, wahrscheinlich an einem Herzinfarkt, weil er so wichtig und beschäftigt war.

Drei meiner Anwälte sind heute hier: Peder Sander, der Starjurist, und zwei seiner Mitarbeiter. Die jüngste von ihnen ist eine Tussi mit hässlichem Haarschnitt und einem leeren Loch in der Nase. Wahrscheinlich hat Sander ihr verboten, einen Ring in der Nase zu tragen (»dieses Altmetall kommt sofort weg«). Ich nenne sie Ferdinand. Ferdinand hält »liberal« für ein Schimpfwort und Atomenergie für lebensgefährlich. Sie trägt eine schreckliche Brille, mit der sie zeigen will, dass sie die Geschlechterordnung durchschaut hat, und sie verabscheut mich, weil sie glaubt, dass ich schuld am Kapitalismus bin. Bei unseren ersten Begegnungen hat sie mich behandelt, als wäre ich eine durchgeknallte Modebloggerin mit einer ungesicherten Handgranate in einem Flugzeug. Natürlich, natürlich!, sagte sie und wagte mich nicht anzuschauen, natürlich, natürlich! Mach dir keine Sorgen, wir sind hier, um dir zu helfen. Als hätte ich gedroht, alle in die Luft zu sprengen, wenn ich nicht sofort meinen biologisch-dynamischen Tomatensaft ohne Eiswürfel bekomme.

Der andere juristische Wasserträger ist ein Typ um die vierzig mit Bierbauch, Pfannkuchengesicht und einem Lächeln, das sagt: »Ich habe Filme zu Hause, ich bewahre sie in alphabetischer Ordnung in einem abgeschlossenen Schrank auf.« Pfannkuchen hat kurz geschorene Haare. Papa sagt immer, dass man sich auf Leute ohne Frisur auf keinen Fall verlassen kann, aber das hat er sich bestimmt nicht selbst ausgedacht, sondern aus einem Film geklaut. Mein Vater hat eine Schwäche für One-liner.

Als ich Pfannkuchen das erste Mal begegnete, landete sein Blick direkt unter meinem Schlüsselbein, er konnte seine dicke Zunge kaum im Mund halten und zischelte hingerissen: Mädchen, Mädchen, wie soll das gehen, du siehst viel älter aus als siebzehn. Wenn Sander nicht dabei gewesen wäre, hätte er bestimmt gekeucht. Oder gegeifert. Sein Speichel wäre von seinen Lippen auf die stramme Weste getropft. Ich hatte keine Lust, ihn darauf hinzuweisen, dass ich schon achtzehn war.

Heute sitzt Pfannkuchen an meiner linken Seite. Er hat seine Aktentasche und einen Rollkoffer voller Ordner und Akten mitgebracht. Den Rollkoffer hat er geleert, und die Aktenordner stehen jetzt vor ihm auf dem Tisch. Das Einzige, was er nicht ausgepackt hat, sind ein Buch (Make Your Case – Winning is the Only Option) und eine Zahnbürste, die aus einem der kleinen Fächer hervorschaut. Hinter mir, in der ersten Zuschauerreihe, sitzen Mama und Papa.

Als ich damals vor zwei Jahren auf dieser Exkursion war, hatte unsere Klasse den Stoff vorher durchgenommen, damit wir »den Ernst der Sache« verstanden und »den Erklärungen folgen konnten«. Ich glaube nicht, dass es geholfen hat. Aber wir hätten uns gut benommen, sagte Christer, als wir uns auf den Heimweg machten. Er hatte befürchtet, dass wir vielleicht zu kichern beginnen oder unsere Smartphones herausholen würden. Dass wir anfangen würden, Spiele zu spielen, oder mit dem Kinn auf der Brust einschliefen wie gelangweilte Reichstagsabgeordnete.

Ich erinnere mich an Christers todernste Stimme, als er erklärte (»Hallo, jetzt hört mal zu!«), dass man sich über Gerichtsverfahren nicht lustig mache, immerhin stehe das Wohl und Wehe des Menschen auf dem Spiel. Man sei so lange unschuldig, bis das Gericht verkündet habe, dass man schuldig sei. Das hatte er immer wieder gesagt. Samir lehnte sich zurück, als Christer sprach, wippte ein bisschen auf dem Stuhl und nickte auf diese Art, die der Grund dafür war, dass alle Lehrer ihn liebten. Ein Nicken, das sagte: Ich verstehe vollkommen, wir sind auf derselben Wellenlänge, ich habe dem nichts hinzuzufügen, weil alles, was du sagst, schon so klug ist.

Man ist unschuldig, bis das Gericht sagt, dass man schuldig ist. Was für eine seltsame Behauptung. Entweder ist man die ganze Zeit unschuldig, oder man hat es getan. Das Gericht soll doch herausfinden, wie es war, und nicht irgendetwas zur Wahrheit erklären. Dass die Polizei und die Staatsanwältin und die Richter nicht dabei waren und nicht genau wissen, wer was getan hat, bedeutet doch nicht, dass das Gericht sich im Nachhinein etwas ausdenken kann.

Das hatte ich damals auch zu Christer gesagt. Dass sich die Gerichte ständig irren. Dass Vergewaltiger immer wieder freigesprochen werden. Dass es überhaupt keinen Sinn hat, einen sexuellen Übergriff anzuzeigen. Denn selbst wenn die Frau von einem halben Flüchtlingslager vergewaltigt und ihr eine ganze Kiste Pfandflaschen zwischen die Beine geschoben wurde, glauben sie ihr nie. Aber das bedeutet nicht, dass es niemals passiert ist und der Vergewaltiger nicht getan hat, was er getan hat.

»So einfach ist das nicht«, sagte Christer.

Eine typische Lehrerantwort: »Sehr gute Frage …«, »ich weiß, was du meinst …«, »es ist nicht alles schwarz-weiß …«, »so einfach ist das nicht …«. All diese Antworten bedeuten nur das eine: Sie haben keine Ahnung, wovon sie reden.

Okay, Schwamm drüber. Aber wenn es schwierig ist herauszufinden, was richtig ist und wer lügt, wenn man es nicht sicher weiß, was macht man dann?

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass »die Wahrheit das ist, woran man sich entscheidet zu glauben«. Das klingt womöglich noch bescheuerter. Man kann selbst bestimmen, was die Wahrheit ist und was nicht? Dass dieselben Dinge wahr oder falsch sein können, je nachdem, wen du fragst? Und wenn wir jemandem vertrauen, dann können wir sagen, ja, so ist es, dann können wir »entscheiden, dass es wahr ist«? Wie kann man überhaupt auf eine derart idiotische Idee kommen? Wenn mir jemand sagen würde, dass er »sich entscheidet, mir zu glauben«, dann wäre mir sofort klar, dass er im Grunde alles für erstunken und erlogen hält, aber mir zuliebe das Gegenteil behauptet.

Meinem Anwalt Sander scheint das alles ziemlich egal zu sein. »Ich bin auf deiner Seite«, sagt er nur, und sein Gesicht sieht aus wie ein Thumbnail. Sander ist nicht so der aufgeregte Typ. Bei ihm ist alles entspannt und kontrolliert. Keine Wutanfälle. Keine Gefühle. Kein lautes Lachen. Wahrscheinlich hat er noch nicht einmal bei seiner Geburt geschrien.

Sander ist das Gegenteil von meinem Vater. Papa ist alles andere als der »coole Typ« (seine eigenen Worte), der er gerne wäre. Er knirscht mit den Zähnen, wenn er schläft, und steht auf, wenn er Länderspiele im Fernsehen schaut. Mein Vater wird wütend, regt sich über pedantische Kommunalbeamte auf, über den Nachbarn, der zum vierten Mal in derselben Woche im Parkverbot steht, über unbegreifliche Stromrechnungen oder Telefonverkäufer. Über den Computer, über Opa, den Grill, die Mücken, Schnee auf Bürgersteigen, über Deutsche, die am Skilift anstehen und über französische Kellner. Alles regt ihn auf, lässt ihn brüllen und schreien. Er knallt mit Türen und schickt Leute zum Teufel. Bei Sander dagegen ist das deutlichste Anzeichen dafür, dass er fuchsteufelswild ist, wütend bis an die Grenze des Wahnsinns, dass er die Stirn runzelt und mit der Zunge schnalzt. Dann verfallen alle seine Kollegen in Panik und beginnen zu stottern und nach Papieren und Büchern zu suchen, mit denen sie hoffen, ihn besänftigen zu können. Ein bisschen so, wie Mama es mit Papa macht, wenn er irgendwann nicht aufgebracht, sondern ganz still und ruhig ist.

Auf mich ist Sander nie wütend gewesen. Er hat sich nie über irgendetwas aufgeregt, das ich gesagt habe, oder ist sauer gewesen, weil ich etwas nicht gesagt habe, oder weil ich gelogen habe, und er hat es bemerkt.

»Ich bin auf deiner Seite, Maja.« Manchmal klingt er müder als sonst, aber das ist alles. Über »die Wahrheit« unterhalten wir uns nicht.

Im Großen und Ganzen finde ich es gut, dass Sander sich nur um das kümmert, was die Polizei und die Staatsanwältin bewiesen haben. Ich muss mir keine Gedanken darüber machen, ob er seinen Job wirklich gut erledigen will oder ob er nur so tut. Es ist, als hätte er alle Toten und alle Schuld und alle Angst eingesammelt und sie in Zahlen verwandelt, und wenn die Gleichungen nicht aufgehen, dann gewinnt er.

Vielleicht ist das der richtige Weg. Eins plus eins kann nicht drei sein. Nächste Frage, danke.

Aber mir hilft das natürlich nicht. Denn entweder ist etwas passiert, oder es ist nicht passiert. So ist es eben. Dieses ganze Drumherum-Geeiere ist etwas für Philosophen und (ganz offensichtlich) für den einen oder anderen Juristen. Konstruktionen. »So einfach ist das nicht.«

Aber Christer – ich kann mich genau daran erinnern, wie eindringlich er vor unserem Besuch bei Gericht auf uns eingeredet hatte, wie er alles versucht hatte, um uns zum Zuhören zu bewegen. Man ist so lange unschuldig, bis einen das Gericht für schuldig erklärt hat. Er schrieb es an die Tafel: Grundlegendes Rechtsprinzip. (Samir nickte.) Christer bat uns mitzuschreiben. Es abzuschreiben. (Samir schrieb mit. Obwohl er es kaum nötig hatte.)

Christer liebte alles, was kurz genug war, um es auswendig zu lernen und zu einer Frage umformulieren zu können. Die richtige Antwort gab zwei Punkte in der Arbeit, die wir zwei Wochen später schrieben. Warum nicht einen Punkt? Weil Christer fand, dass es Graubereiche beim Abfragen des Lernstoffs gab, dass man auch fast recht haben konnte. Eins plus eins ergibt zwar nicht drei, aber ich gebe dir die halbe Punktzahl, weil du mit einer Ziffer geantwortet hast.

Es ist also gut zwei Jahre her, dass wir mit Christer diese Exkursion ins Gericht gemacht haben. Sebastian war noch nicht dabei, er kam erst im letzten Schuljahr in unsere Klasse, weil er wiederholen musste. Ich hatte mich in der Schule immer wohl gefühlt, mit meinen Klassenkameraden und den Lehrern, die in unterschiedlichen Versionen seit der Mittelstufe an uns vorübergezogen waren: Jonas, der Chemielehrer, der zu leise sprach, sich an keinen einzigen Namen erinnerte und mit dem Rucksack vor dem Bauch auf den Bus wartete. Die Französischlehrerin Marie-Louise mit der Brille und der Pusteblumenfrisur. Sie lutschte ständig auf dem kläglichen Rest einer schwarzen Halspastille herum, bis ihr Mund so klein wurde wie eine Walderdbeere. Sport-Frigga sah mit ihrem praktischen Kurzhaarschnitt aus wie ein frisch lackiertes Schiffsdeck mit unklarer sexueller Identität, die Pfeife um den Hals, glatt rasierte, runde Waden und eingehüllt in den Geruch von Synthetiksocken und dem Schweiß anderer Leute. Die zerstreute Malin, unsere blondierte Mathelehrerin, immer unzufrieden und verspätet, zwei Tage in der Woche krankgeschrieben und mit einem Profilbild bei Facebook, dass sie zwanzig Kilo leichter und im Triangel-Bikini zeigte.

Und Christer Svensson. Engagiert auf die Wir-gehen-auf-die-Straße-und-sagen-unsere-Meinung-Art. Ordinär auf die Kartoffeln-in-der-Bratensoße-zermanschen-Art. Er glaubte, dass Rockkonzerte die Welt vor Krieg, Hunger und Seuchen retten konnten, und sprach mit dieser überenthusiastischen Lehrerstimme, die man eigentlich verbieten sollte, außer für den Fall, dass man einen Hund dazu bringen will, mit dem Schwanz zu wedeln.

Jeden Tag brachte Christer eine Thermoskanne selbstgebrühten Muckefuck mit in die Schule, in dem so viel Milch und Zucker war, dass es wie flüssiges Make-up aussah. Den Kaffee schenkte er in seinen eigenen Becher (»Papa ist der Beste«), den er mit in den Klassenraum nahm und während des Unterrichts immer wieder auffüllte. Christer liebte seine Routinen, jeder Tag wie der andere, das Lieblingslied auf Repeat. Wahrscheinlich aß er dasselbe Frühstück, seit er vierzehn war, eine Art Skilanglaufspezialität, so was wie Haferflocken mit Preiselbeerkompott und Vollmilch (»Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages!«), bestimmt trank er jedes Mal ein Bier mit Korn, wenn er seine Freunde (»Kumpels«) traf, aß jeden Freitag mit seiner Familie Tacos und ging in die Pizzeria in seinem Viertel (die Malblöcke und Buntstifte für die Kinder hatte) und teilte sich eine Flasche Rotwein mit seiner »Angetrauten«, wenn es etwas Großes und Wichtiges zu feiern gab. Christer hatte keine Fantasie, er machte Pauschalurlaub, würde niemals Koriander ins Essen tun oder in etwas anderem als Butter braten.

Christer war schon seit der zehnten Klasse unser Lehrer, und mindestens einmal die Woche beklagte er sich darüber, dass das Wetter so seltsam sei (»es gibt gar keine Jahreszeiten mehr«), und jeden Herbst darüber, dass die Läden immer früher ihre Weihnachtsdeko aufbauten (»bald steht ein geschmückter Weihnachtsbaum an der Skeppsbron, bevor die Ausflugsdampfer ihren Sommerbetrieb eingestellt haben«).

Er beklagte sich über die Boulevardpresse (»Warum lesen die Leute so einen Scheiß?«) und Let’s Dance, über den ESC und Big Brother (»Warum schauen sich die Leute so einen Scheiß an?«). Am allerwenigsten mochte er unsere Handys. (»Seid ihr etwa Rindviecher? Diese Chats, die ständig bimmeln und schellen, ihr könntet genauso gut eine Glocke um den Hals tragen … warum macht ihr so einen Scheiß?«). Jedes Mal, wenn er sich beklagte, sah er zufrieden aus, er fand sich jugendlich und »cool« (nicht nur Papa liebte dieses Wort) und betrachtete es als Beweis dafür, dass er uns Schülern besonders nahestand, wenn er »verdammter Scheiß« zu uns sagen konnte.

Nach jeder Tasse Kaffee schob Christer einen Beutel Snus unter seine Oberlippe, und wenn er fertig war, legte er ihn erst auf eine Papierserviette, bevor er ihn in den Mülleimer warf. Bei Christer musste alles sauber und ordentlich sein, sogar der Dreck.

Später, als der Prozess gegen den Steuerhinterzieher vorbei war und wir zurück zur Schule fuhren, war er zufrieden. Er fand, dass wir uns »gut benommen« hatten. Christer war immer nur »zufrieden« oder »besorgt«, niemals überglücklich oder stinksauer. Christer gab immer mindestens die halbe Punktzahl, wenn er den Lernstoff abfragte.

Christer legte sich hin, als er starb, mit den Armen um den Kopf und angezogenen Knien, ungefähr so wie meine kleine Schwester Lina, wenn sie ganz tief schläft. Er verblutete, bevor der Krankenwagen kam, und ich frage mich, ob seine Frau und seine Kinder der Meinung sind, dass das alles nicht so einfach ist und dass ich unschuldig bin, weil noch kein Gericht verkündet hat, dass ich schuldig bin.

Erste Verhandlungswoche, Montag

2.

Mama hat die Sachen gekauft, die ich heute trage. Genauso gut hätte ich die Streifenpyjamas der Dalton-Brüder anziehen können. Ich bin verkleidet.

Mädchen verkleiden sich eigentlich immer. Als hübsches Mädchen mit Durchblick oder als smartes, ernsthaftes Mädchen. Oder als unbekümmertes Ist-mir-doch-egal-wie-ich-aussehe-Mädchen, das Haar zu einem lässigen Zopf gebunden, mit einem bügellosen Baumwoll-BH und einem fast durchscheinenden T-Shirt.

Mama hat versucht, mich als ganz normales achtzehnjähriges Mädchen zu verkleiden, das hier gelandet ist, obwohl es gar nichts Schlimmes getan hat. Aber meine Bluse spannt über den Brüsten. Im Gefängnis habe ich zugenommen, und zwischen den Knöpfen sind kleine, runde Öffnungen zu sehen. Ich komme mir vor wie eine Verkäuferin, die sich einen Arztkittel übergezogen hat, um im Einkaufszentrum Probierpackungen mit Hautpflegemittel an die Leute zu verteilen. Glaub ja nicht, dass du jemanden täuschen kannst.

»Wie hübsch du bist, meine Süße«, flüstert Mama mir aus der ersten Sitzreihe zu. So macht sie es immer, wirft mit Komplimenten um sich, Müll, von dem sie erwartet, dass ich ihn sortiere. Erfundene Komplimente. Ich bin nicht »schön« und kann auch nicht »gut zeichnen«. Ich sollte auch nicht öfter singen und nach der Schule Theaterunterricht nehmen. Dass Mama so etwas behauptet, ist zutiefst beleidigend, weil es beweist, dass sie überhaupt keine Ahnung hat, worin ich wirklich gut bin oder wann ich tatsächlich hübsch bin. Meine Mutter interessiert sich nicht genug für mich, um mir ein ehrliches Kompliment machen zu können.

Unfassbar, wie wenig meine Mutter checkt. »Geh ruhig noch eine Weile raus, wenn du willst«, konnte sie in diesen letzten Monaten allen Ernstes sagen, wenn sie nicht einmal mehr Interesse dafür heucheln konnte, was ich den ganzen Tag gemacht hatte. Geh ruhig noch eine Weile raus? Ich war alt genug, wählen zu gehen oder in der Kneipe Alkohol zu bestellen. Ich darf seit drei Jahren legal ficken. Was stellte sie sich vor, dass ich machen sollte? Mit den Nachbarskindern Verstecken spielen? Eins-zwei-drei-ich-komme, atemlose Runden durch den Garten laufen, um immer wieder hinter demselben Busch, im selben Kleiderschrank, hinter demselben kaputten Sonnenschirm in der Garage nachzuschauen. »Hattet ihr Spaß?«, fragte sie, wenn ich zurückkam und meine Kleider nach Haschisch rochen. »Kannst du deine Jacke im Keller aufhängen, Schatz?«

Gestern Abend durfte ich mit Mama telefonieren. Ihre Stimme war heller als sonst. Es war die Stimme, die sie benutzt, wenn noch jemand anderes zuhört oder wenn sie nebenbei noch etwas anderes macht. Mama macht fast immer gleichzeitig noch etwas anderes, räumt auf, trägt Sachen rum, trocknet ab, sortiert. Sie ist ständig nervös, hibbelig. Das war sie schon immer, es liegt nicht an mir.

»Alles wird gut«, sagte sie. Mehrmals. Die Worte stolperten übereinander. Ich sagte nicht besonders viel. Hörte nur auf ihre zu helle Stimme. »Alles wird gut. Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.«

Sander hat versucht, mir zu erklären, was während der Verhandlung passieren wird, womit ich zu rechnen habe. Im Gefängnis habe ich einen Informationsfilm gesehen, in dem zum Fremdschämen schlechte Schauspieler einen Prozess nachspielten, in dem es um zwei Typen und eine Wirtshausschlägerei ging. Der Angeklagte wurde verurteilt, aber nicht in allen Anklagepunkten, sondern vielleicht so für die Hälfte. Als der Film vorbei war, fragte Sander, ob ich irgendwelche Fragen hätte. »Nein«, sagte ich.

Was mir von dem Steuerprozess, den wir mit der Klasse besucht haben, am deutlichsten in Erinnerung geblieben ist, war die Stille. Alle redeten leise, und alle anderen Geräusche wurden so größer – ein Räuspern, eine Tür, die ins Schloss fiel, ein Stuhl, der über den Boden scharrte. Hätte jemand vergessen, sein Handy auf lautlos zu stellen, jede eintreffende SMS hätte denselben donnernden Effekt gehabt wie damals, wenn im Kinosaal das Licht ausgeschaltet und das neue Surroundsystem demonstriert wurde. Und mitten in dieser Stille saß der Steuerhinterzieher und wischte sich die fettigen Haare aus der Stirn. Als der Staatsanwalt die Anklageschrift verlas, schaute er zu seinem Anwalt hinüber und schnaubte empört. Ich erinnere mich, dass ich ihn für eine totale Lusche hielt. Warum tat er so überrascht? Der Staatsanwalt und der Luschenanwalt sprachen nacheinander, lasen von ihren Blättern ab, sagten jede Sache zwei oder drei Mal und räusperten sich zu oft. Alles wirkte total gestört. Nicht, weil gar nichts so war »wie im Film«, sondern weil sich alle Beteiligten zu langweilen schienen, selbst der Verbrecher hatte offensichtlich Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Auch in der Wirklichkeit waren alle nur miserable Schauspieler, die ihre Texte nicht gelernt hatten.

Samir dagegen fand es überhaupt nicht grotesk. Er lehnte sich in seinem unbequemen Stuhl nach vorne, stützte die Ellenbogen auf die Knie und legte die Stirn in Falten. Das war seine beste Disziplin: zu zeigen, wie seriös er war und dass er ernste Angelegenheiten wirklich ernst nahm. Samir hielt diese Rumpelwichte in Polyesteranzügen für die faszinierendsten Redner, die er in einem Leben gehört hatte. Und Christer genoss es. Er genoss die Gerichtsverhandlung und den seriösen Samir. Samir brauchte nur selten den Mund zu öffnen, um Christer in den Arsch zu kriechen. Hinterher zogen wir ihn damit auf, Amanda und ich. Wir zogen ihn gerne auf. Aber Labbe klopfte ihm auf die Schulter, als wäre er sein jüngster Sohn und hätte das entscheidende Tor in einem Fußballspiel gemacht. »Samir hat alles gecheckt«, sagte Labbe, und Samir grinste. »Absolut alles.«

Als ich in die elfte Klasse ging, fühlte ich mich zu Hause noch wohl. Mama und ich unterhielten uns noch über andere Sachen als darüber, wann ich wieder zu Hause sein sollte. Mama war stolz auf mich, oder zumindest darauf, wie sie mich erzogen hatte. Sie gab mit ihren effektiven Methoden an, mit deren Hilfe sie mich so steuerte, dass ihr Leben möglichst einfach war. Sie erzählte etwa, dass ich mit vier Monaten schon die ganze Nacht durchschlief, dass ich »alles« aß und den Löffel schon selbst halten konnte, als ich das erste Mal feste Nahrung zu mir nahm. Dass ich ein Jahr früher in die Schule wollte, weil ich den Kindergarten so langweilig fand. Dass ich schon allein zur Schule gehen wollte, bevor ich acht Jahre alt war, und dass ich es »liebte«, allein und ohne Babysitter zu Hause zu bleiben. Sie sagte, dass sie mich zuerst auf ein Laufrad gesetzt hatte, bevor ich auf einem normalen Fahrrad fahren durfte, und dass sie sich deswegen nie bücken und den Gepäckträger festhalten musste, um mich im Gleichgewicht zu halten. Ich fing »tataa« einfach an zu radeln, und sie konnte in ihrem leichten Sommerkleid einfach nebenhergehen und in angemessener Lautstärke lachen.

Was Mama für mich tat, damit mein Leben einfacher wurde, ging aus diesen Geschichten niemals hervor, aber zu jener Zeit war sie fest davon überzeugt, dass ich allein deswegen so pflegeleicht und unproblematisch war, weil sie alles richtig gemacht hatte.

Hier und heute wird es ebenfalls still sein, nehme ich an. Aber nicht auf dieselbe Weise wie bei dieser Steuergeschichte. Die Luft wirkt zähflüssig durch all die wichtigen Personen, die darauf warten, dass wichtige Dinge passieren. Die Staatsanwältin und die Verteidiger haben eine Scheißangst davor, sich zu blamieren. Sogar Sander ist nervös, obwohl man es ihm nicht ansieht, wenn man ihn nicht kennt.

Sie möchten zeigen, was sie draufhaben. Als Pfannkuchen sich darüber ausließ, wie es seiner Meinung nach laufen würde, sprach er über »Quoten« und »unsere Chancen«, als wäre er mein Basketballtrainer und ich die Centerspielerin. Er wollte gewinnen. Erst als Sander mit der Zunge schnalzte, hielt sich Pfannkuchen geschlossen.

Der heutige Verhandlungstag beginnt damit, dass der Vorsitzende Richter die Anwesenheit überprüft. Er räuspert sich ins Mikrofon, die Leute hören auf, miteinander zu flüstern. Dann kontrolliert er, ob alle da sind, die da sein müssen. Ich brauche nicht den Arm zu heben und »hier« zu rufen, der Vorsitzende schaut mich einfach nur an und liest meinen Namen vor. Dann nickt er meinen Anwälten zu und liest auch deren Namen vor. Er spricht schleppend, aber nicht schläfrig, er ist so seriös, dass die Nähte in seiner hässlichen Robe jederzeit platzen könnten.

Der Richter heißt alle willkommen, und er meint es wirklich ernst damit. Ich sage nicht »Vielen Dank, schön, dass ich kommen durfte«, denn eine Antwort wird wohl kaum von mir erwartet, aber ich glaube, dass ich mich angemessen verhalte. Dass ich ungefähr so aussehe, wie ich aussehen sollte. Ich lächele nicht, ich weine nicht, ich bohre nicht mit dem Finger in irgendwelchen Körperöffnungen. Ich sitze einigermaßen gerade und versuche zu verhindern, dass die Knöpfe an meiner Bluse platzen.

Als der Vorsitzende Richter der Staatsanwältin sagt, dass sie beginnen könne, sieht sie dermaßen angespannt aus, dass ich zuerst glaube, sie würde aufstehen. Aber sie zieht nur den Stuhl näher an den Tisch heran, beugt sich zu dem kleinen Strohhalmmikrofon vor, drückt auf einen Knopf und räuspert sich. Nimmt sozusagen Anlauf.

Draußen im Warteraum der Verteidiger, in dem wir gesessen haben, bevor wir in den Saal gingen, erzählte Pfannkuchen, dass die Leute Schlange standen, um einen Platz im Gerichtssaal zu bekommen. »Genau wie bei einem Konzert«, sagte er, beinahe ein bisschen stolz. Sander sah aus, als wollte er ihm eine reinhauen.

Nichts in diesem Saal erinnert an ein Konzert. Ich bin kein Rockstar. Die Leute, die mich sehen wollen, sind keine durchgeknallten Groupies, sondern Aasfresser. Weil die Journalisten ihre Leser mit mir ködern wollen, riecht es nach Tod, und das erregt die Hyänen nur noch mehr.

Aber Sander wollte trotzdem, dass die Verhandlung öffentlich ist. Er hat darauf bestanden, dass die Medien und die Öffentlichkeit Zugang bekommen, obwohl ich so jung bin. Nicht, damit Pfannkuchen eine besonders coole Show abziehen kann, sondern »weil es von entscheidender Bedeutung ist, dass die Staatsanwältin die Berichterstattung nicht monopolisieren kann«. Das bedeutet wahrscheinlich so viel wie, dass er seine eigenen Leistungen ebenfalls gerne zeigen möchte, aber vielleicht meint er auch, dass meine Hater ihre Meinung ändern könnten, sobald sie »meine Version« der Geschichte hören. Sander irrt sich. Das wird keine Rolle spielen.

Sie lieben es, mich zu hassen. Sie hassen alles an mir. Genau wie bei einem Konzert? Dass Pfannkuchen sich jemals in der Nähe von lebendiger Musik aufgehalten hat, die nicht in die Kategorie Schlagerfestival fällt, ist kaum vorstellbar. Mein Tipp wäre, dass er Oldie-Sender hört und bei Werbesongs für das perfekte Familienauto mitsingt.

Vor neun Monaten, eine Woche, nachdem es passiert war, gab es Krawalle in Djursholm. Ein paar Jungs nahmen die U-Bahn nach Mörby, stiegen um in den Bus 606 und fuhren alle acht Stationen bis Djursholms torg. Um »es den Arschlöchern zu zeigen!« oder, wie es die Wortgewandten unter ihnen formulierten, »den verdammten Snobs«. Vorortkrawalle spielen sich normalerweise in den eher heruntergekommenen Heimatvierteln der Gangs ab, zwischen den Wohnsilos der Siebziger, den Jugendzentren mit ihren Ex-Junkies, die dort als »Sozialarbeiter« und »Streetworker« arbeiten, weil kein normaler Arbeitgeber sie mit der Kneifzange anfassen würde. Und wenn in der Zeitung steht, dass »die Vorstädte brennen«, dann sind damit tiefergelegte Schrottkarren mit Wunderbäumen und abgelaufener Zulassung gemeint und keine vollkaskoversicherten Leasingwagen, die der Firma gehören und sofort ausgetauscht werden, wenn auch nur der Seitenspiegel wackelt. Aber dieses Mal war es anders.

Drei Tage und Nächte lang herrschte totaler Krieg auf dem Marktplatz und rund um Sebastians Haus unten am Strandvägen. Am zweiten Abend waren fünfzig Leute an den Krawallen beteiligt. Sander hat es mir erzählt, er hat mir die Zeitungsartikel gezeigt.

Zerschlagene Schaufenster in den Boutiquen am Markt. Was haben sie dort mitgehen lassen? Eine Schalkragenbluse für jeden, eine Decke mit Schottenmuster oder eine Weinkaraffe aus Bleikristall? Und wohin gingen sie, als sie von der Fagerman-Villa verjagt worden waren? Weiter zu unserem Haus? Hatten sie es gefunden? Wenn man daran dachte, für wie wichtig es meine Mutter hielt, dass man den ersten Bettler, der sich mit seinem Becher und der verpissten Decke vor den Coop am Vendevägen setzte, »anständig grüßte, um ihm Respekt zu zeigen«, wie verhielt sie sich dann beim Anblick der Baseballschläger und Molotowcocktails? »Hallo zusammen. Wie geht’s? Schönes Wochenende noch.« Ich frage mich, was meine Mutter in den Tagen, in denen die Bereitschaftspolizei vor unserem Haus für Ordnung sorgen musste, zu ihnen sagte. »Alles gut bei Ihnen?«

In den Zeitungen, die Sander mir gezeigt hat, wird über das »Warum« spekuliert. Ob es damit zu tun habe, was Sebastian und ich »symbolisierten«, wofür wir »ein Ausdruck« seien und was das, was wir getan hätten, »ausgelöst« habe. Gab es diese Unruhen, weil das, was passiert war, so über die Maßen widerlich war? Wurden sie besonders wütend, weil wir zu reich waren und weil sie es nicht waren? Oder gab es diese Prügeleien nur, weil eine Horde kleiner Gangster einen Anlass brauchte, um sich zu prügeln (und weil die erste Liga im Juni Sommerpause hat)? Warum auch immer, hier werden Bandenmitglieder jedenfalls nicht hereingelassen.

Im Gerichtssaal befinden sich vor allem Journalisten. Viele von ihnen schreiben auf Laptops. Niemand darf fotografieren, denn es herrscht »Kameraverbot«, wahrscheinlich haben sie sogar ihre Handys abgeben müssen, bevor sie hereingelassen wurden, ein paar von den Journalisten halten jedenfalls ganz gewöhnliche Notizblöcke und Stifte in der Hand.

Ein armer Zeichner sitzt auch im Saal. Man könnte fast glauben, dass ich eine Dickens-Figur bin, ein verlaustes Mädchen, das den Galgen riskiert, oder eine Elvira Madigan aus einem alten Bänkellied. Traurig sind die Dinge wahrlich, die man heut’ besingen kann.1 Wir haben es in der Mittelstufe gesungen. Amanda musste natürlich weinen, sie war am allersüßesten, wenn sie weinte, ohne wirklich traurig zu sein (»betörend«), dann stand sie nämlich noch mehr im Mittelpunkt als sonst.

Amanda wird als meine beste Freundin bezeichnet. In den Zeitungen, im Fernsehen, in den Ermittlungsakten, sogar mein eigener Anwalt nennt sie so. Meine beste Freundin.

War Amanda die Person, mit der ich am meisten Umgang hatte, abgesehen von Sebastian? Ja. War Amanda die Person, mit der ich am häufigsten sprach, abgesehen von Sebastian? Ja. Steht sie auf ungefähr zweihundertsechzig meiner Facebook-Fotos neben mir? Habe ich mich während der ersten vier der sechs Monate, für die sie meine Handynutzung rekonstruiert haben, durchschnittlich zwei Stunden am Tag mit ihr über Snapchat unterhalten? Hat sie mich auf über hundert #bff-Posts auf Instagram getaggt? Ja. Ja. Ja.

Liebte ich Amanda? War sie meine allerbeste Freundin? Ich weiß es nicht.

Erste Verhandlungswoche, Montag

3.

Ich liebte es jedenfalls, mit Amanda zusammen zu sein. Wir waren fast immer zusammen. Wir saßen nebeneinander im Klassenraum und in der Mensa, wir machten zusammen die Hausaufgaben und schwänzten gemeinsam. Wir machten uns über Mädchen lustig, die wir nicht ausstehen konnten (»Ich will ja nicht gemein sein, aber …«), stiegen auf den Stepmills im Fitnessstudio ins Nichts. Wir schminkten uns gemeinsam, gingen zusammen shoppen, unterhielten uns stundenlang, chatteten ununterbrochen, lachten wie die Mädchen in den Filmen, wo die eine auf dem Bauch im Bett der Freundin liegt und die andere mit einem viel zu kurzen Nachthemd auf der Matratze steht, eine Haarbürste als Mikrofon benutzt und eine Playback-Show zu einem angesagten Song abliefert oder eine von den dummen Puten aus der Schule imitiert.

Wir feierten zusammen. Amanda wurde schnell betrunken. Es lief immer nach demselben Muster ab: kichern, lachen, tanzen, umfallen, noch ein bisschen lachen, sich auf ein Sofa legen, heiße Tränen vergießen, die ihr in die Ohren rannen. Kotzen, nach Hause gehen. Ich habe mich immer um sie gekümmert, es war nie anders herum.

Ich fand es schön, mit Amanda zusammen zu sein, sie ließ einen alles andere vergessen. In Amandas Gesellschaft kam es einem ganz selbstverständlich vor, dass es im Leben nur darum ging, so viel Spaß wie möglich zu haben. Und ihre Dumme-Blondine-Nummer war fast immer richtig unterhaltsam. Wenn man sie fragte, wie das Wetter wird, antwortete sie »Flipflop«. Oder »40 Denier«. Wenn es richtig kalt war, stellte sie fest, dass »ganz schlimmes Après-Ski« herrschte, und dann kam sie mit gefütterten Leggings, Moonboots und einer Daunenjacke mit Kaninchenpelzkragen in die Schule.

Amanda oberflächlich zu nennen wäre zu einfach. Klar, sie konnte ihr Taschengeld wohl kaum aufbessern, indem sie gelegentlich Leitartikel in einer seriösen Tageszeitung schrieb. Sie meinte, »Unterdrückung ist schlimm« und »Rassismus ist schlimm« und »Armut ist ganz schlimm«. Sie war eine positive Stammlerin. Sie verdoppelte alle Urteile. Super super gut, mega mega gemütlich und winzig winzig klein. (Letzteres ist wohl eher ein Verdreifachung?) Ihre Einstellung zu Politik und Gleichberechtigung oder zu jeder beliebigen anderen politischen Frage beruhten auf dreieinhalb Reportagen, die sie im Fernsehen gesehen (und bei denen sie geweint) hatte. Und als sie sich den Youtube-Clip ansah, in dem der fetteste Mann der Welt zum ersten Mal seit dreißig Jahren das Haus verließ, in dem er lebte, sagte sie: »Psst, jetzt nicht, ich schaue gerade Nachrichten.«

Am liebsten sprach Amanda über ihre Angst. Sie beugte sich vor und flüsterte, wie belastend diese Essstörungen und der Schlafmangel seien (»wirklich super super belastend«). Eine Zeit lang erklärte sie, dass sie alles Grüne und die Ziffer neun unbedingt vermeiden müsse, dass sie allen Bordsteinkanten ausweichen müsse (»also, ich mache das nicht bewusst, ich muss es einfach tun, weil ich fest daran glaube, dass ich sonst sterben werde, also richtig sterben, in echt«). Manchmal drehte sie die Lautstärke auf, wenn sie nicht die Reaktion bekam, die sie erwartet hatte. Sie tat so, als würde die Brandnarbe, die sie sich zugezogen hatte, als wir uns irgendwann zwischendurch einen Pfannkuchen backen wollten, von etwas ganz anderem stammen, von etwas, über das sie »lieber nicht reden« wolle. Die Idee war, dass die Leute glauben sollten, sie stamme von einem Selbstmordversuch. Dass ich die Wahrheit erzählen könnte, lag außerhalb ihres Erwartungshorizonts.

Aber es war nicht einfach so, dass sie log, jedenfalls nicht ausschließlich. Klar fand sie das Leben manchmal anstrengend. Und sie glaubte, dass Angst so etwas wäre wie die Sorge, den Bus zu verpassen, oder dass sie Bulimie hätte, weil ihr schlecht war, nachdem sie zweihundert Gramm Nussschokolade in weniger als zehn Minuten gegessen hatte.

Amanda war verwöhnt, keine Frage, von ihrer Mutter, von ihrem Vater, von ihrem Therapeuten und von ihrem Pferdepfleger. Aber es ging dabei nicht um Kleider und Luxusartikel. Es ging um etwas anderes. Gegenüber ihren Eltern, ihren Lehrern – gegenüber allen Autoritäten, inklusive Gott – verhielt sie sich nicht anders als gegenüber irgendwelchem Dienstleistungspersonal, etwa einem Rezeptionisten in einem Luxushotel. Sie erwartete, dass ihr in jeder Situation jemand zu Hilfe kommen würde, bei einem Pickel auf der Nase und einem verlorenen Ohranhänger genauso wie auf der Intensivstation und beim ewigen Leben. Die Frage, ob es Gott gab oder nicht, war uninteressant, aber selbstverständlich sollte er ihrem krebskranken Cousin helfen, weil er ihr so »super super leid tat« und er so »super super süß war, obwohl er eine Glatze hatte«. Sie hatte Mitgefühl mit allen Leuten, die Probleme hatten, aber sie fand es belastend, dass sie diesen Leuten nicht genauso leid tat.

Und sie war egozentrisch. Sie opferte so viel Zeit für die Pflege ihres mittellangen Haars, dass man glauben konnte, es ginge um ihre sterbenskranke Großmutter. Die Leute fanden sie nett. Aber sie war nicht wirklich nett. Sie fragte dich immer zwei Mal, ob du Milch in den Kaffee wolltest (»Bist du dir wirklich sicher?«), sodass du dir unweigerlich fett vorkamst. Sie sagte: »Ich wäre so gerne wie du, einfach ganz entspannt und ohne ständig darüber nachzudenken, wie man aussieht« und »du bist so unheimlich fotogen« und erwartete, dass man sich dafür bedankte, weil sie nicht verstand, dass man es als beleidigend empfunden hatte.

Klar, sie fand, dass Politik »super wichtig« war, aber ihr politisches Engagement ging nicht so weit, dass sie in eine Jugendorganisation eintreten, in ein Sommerlager fahren und gemeinsam mit vielen anderen Jugendlichen in kurzen Hosen Pfeile werfen wollte. Sie würde sich auch niemals die Haare schwarz färben oder eine Nerzfarm anzünden oder auch nur eine Reportage über das Ozonloch oder schrumpfende Korallenriffs lesen, und sie war politisch definitiv nicht ansatzweise so engagiert, wie es die Lehrer Samir unterstellten, weil der einen Vater hatte, der wegen seiner Ansichten verhaftet und gefoltert worden war.

Für Amanda drehte es sich beim Thema Politik darum, ob die Krankenkasse die Magenbypass-Operation bezahlen würde, die sie plante, um ihr Wunschgewicht von »ungefähr sechzig Kilo« zu erreichen. Das wäre nur »mehr als gerecht«, wenn man »bedachte, wie viele Steuern wir bezahlen«. Und mit »wir« meinte sie nicht ihre Mutter, denn das einzige Geld, mit dem ihre Mutter machen konnte, was sie wollte, war das Wechselgeld, das sie an der Kasse des ICA bekam, wenn sie Lebensmittel eingekauft hatte. Sie brachte es anschließend auf die Bank, für ihr »Schuhkonto«, wie sie es nannte. Amanda verdrehte die Augen, wenn sie von diesem Konto sprach, sie verachtete es, erzählte mir nur davon, um mir zu zeigen, wie dämlich sie ihre Mutter fand, und nicht, weil es ihr seltsam vorkam, dass ihre Mutter in den Herbstferien ganz spontan einen Flug in der Ersten Klasse und ein Luxushotel in Dubai für die ganze Familie buchen konnte, aber gleichzeitig ihr Kleingeld verstecken musste, damit sie sich ab und zu eine neue Jeans kaufen konnte, ohne vorher um Erlaubnis fragen zu müssen.

Wie Amanda zusammen mit ihrem Vater und dessen Geld zu einem »wir« wurde, und auf welche Weise sie selbst zu diesem volkswirtschaftlichen Erfolg beitrug, wurde nie so richtig klar.

Bei einer politischen Diskussion, die wir einige Monate vor den ganzen Ereignissen führten, kamen wir auf Che Guevara zu sprechen.

»Ich finde es total abstoßend, Kinder zu töten«, sagte Amanda. »Auch wenn ich mich nicht so besonders gut mit dem Nahen Osten auskenne.«

Samir saß schräg hinter ihr im Klassenraum, und sie musste erst einen Augenblick warten, bis er begriff, dass sie sich an ihn gewandt hatte.

»Ich hab schon begriffen, dass du die Amerikaner hasst«, sagte sie, als sie schließlich seine Aufmerksamkeit hatte.

Ich erinnere mich nicht, was Christer daraufhin sagte, sondern nur daran, wie Samir mich anschaute. Er schaute mir direkt in die Augen und nicht auf Amanda. Er fand, dass es mein Fehler war, dass Amanda keine Ahnung hatte, wer Che Guevara war. Und dass sie nicht zwischen Lateinamerika, Israel und Palästina unterscheiden konnte. Und dass sie glaubte, dass Samir grundsätzlich etwas gegen die USA hatte.

Klar. Amandas politisches Engagement bewegte sich eher auf Disney-Channel-Niveau, und manchmal fiel es ein bisschen schwer, sie super super entzückend zu finden. Wir unterhielten uns selten über Politik. Ich bekam Kopfschmerzen davon, und Amanda wurde sauer, weil sie spürte, wie offensichtlich es war, dass sie keine Ahnung hatte, worüber sie sprach.

Aber immer wenn ich auf ihrer Matratze lag und ihrer begeisterten Jetzt-sind-wir-in-diesem-herrlichen-Jugendfilm-in-dem-alle-in-ihre-offenen-Cabrios-hüpfen-ohne-vorher-die-Türen-zu-öffnen-Stimme so aufmerksam zuhörte, als wäre es Fahrstuhlmusik, dachte ich, dass sie und ich so verschieden waren, dass wir uns schon wieder ziemlich ähnlich wurden. Amanda tat so, als wäre sie engagiert, und ich tat so, als würde es mich nicht kümmern. Wir waren so gut darin, uns zu verstellen, dass wir alle täuschten, inklusive uns selbst.

Ob ich sie für blöd hielt? In den Ermittlungsakten ist eine SMS von Amanda an Sebastian dokumentiert. Sie schickte sie vier Tage, bevor sie beide starben. »Sei nicht traurig«, schrieb sie. »Bald ist dieser Frühling nur noch eine Erinnerung.«

Die Staatsanwältin ist bislang noch nicht auf Amanda zu sprechen gekommen. Sie hebt sie sich für ihr Crescendo auf. Stattdessen konzentriert sie sich auf Sebastian.

Sebastian, Sebastian, Sebastian. Sie wird noch tagelang von ihm sprechen, alle werden von ihm sprechen. Die ganze Zeit. Wenn irgendjemand in dieser ganzen Geschichte einem Rockstar gleichkommt, dann ist es Sebastian. Sander hat mir die Fotos gezeigt, die die Presse gefunden und veröffentlicht hat. Sebastians Schulfoto in Schwarz-Weiß hat es auf mindestens zwanzig Titelseiten geschafft, weltweit, inklusive dem Rolling Stone. Aber es gibt auch andere Fotos. Sebastian lächelnd mit der Zigarette im Mund, betrunken mit schweißgetränkter Stirn, stehend im Heck seines Boots, während wir auf dem Weg zu den Fjäderholmarna durch den Djurgårdsbrunnskanal fahren und ich schräg vor ihm sitze und meinen Kopf an ihn lehne. Es gibt noch eine Aufnahme von derselben Fahrt, auf der Samir an meiner Seite sitzt und in die andere Richtung schaut, weg von uns. Auf meiner anderen Seite sitzt Amanda, weiße Zähne, braune Beine, blaue Augen, jede Menge Haare, die in genau die richtige Richtung wehen. Dennis ist auf diesen Fotos natürlich nicht dabei. Aber es gibt auch Aufnahmen von Dennis in den Ermittlungsakten, Sebastian hatte ein paar auf seinem Handy, er mochte es, Fotos von ihm zu machen, wenn er voll war, ich weiß nicht, warum sie die nicht gefunden haben. Auf jeden Fall gibt es Aufnahmen von ihm mit Dennis, zusammen, beide breit, high, ausgeflippt. Sebastian sieht auf allen unheimlich gut aus. Dennis sieht aus wie Dennis.

Die Staatsanwältin wird vor allem über das sprechen, was Sebastian getan hat, weil sie behauptet, dass er alles, was er tat, mit mir zusammen getan hat. Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, mir das alles anzuhören. Aber es ist gefährlich, die Konzentration zu verlieren. Denn dann kommen die Geräusche.

Das Geräusch, als sie in den Klassenraum kamen und mich wegzogen, das Geräusch von Sebastians Schädel, der auf den Boden schlug, es klang hohl. Es dröhnt in mir. Sobald meine Aufmerksamkeit nachlässt, kommt es zurück. Ich drücke die Nägel in meine Handflächen, versuche von dort wegzukommen. Aber es nützt nichts. Ich kann es nicht loswerden. Mein Gehirn schleppt mich immer wieder in diesen verdammten Klassenraum zurück.

Manchmal träume ich davon, wenn ich schlafe. Wie es war, kurz bevor sie kamen. Wie ich die Hand gegen sein Blut drücke, er liegt auf meinem Schoß, und ich drücke, so fest ich kann. Die Blutung lässt sich nicht stoppen, so fest ich auch drücke. Als wollte man das Wasser zurückhalten, das aus einem Wasserschlauch spritzt, der sich aus seiner Befestigung gelöst hat. Wusstet ihr, dass Blut spritzen kann? Dass es unmöglich ist, es mit bloßen Händen aufzuhalten? Und Sebastian wird kalt, ich spüre es immer noch, nachts – immer und immer wieder –, wie seine Hände immer kälter werden. Es geht schnell. Und ich träume von Christers letzten Atemzügen. Sie klangen wie ein Abflussrohr, in das man Ätznatron geschüttet hat. Ich wusste nicht, dass man davon träumen konnte, wie sich die Haut eines anderen Menschen anfühlt und wie Geräusche klingen, aber man kann es, denn ich tue es ununterbrochen.

Ich versuche, die Leute nicht anzuschauen, die im Gerichtssaal sind, um mich zu sehen. Ich habe nicht einmal zu Papa geschaut, als ich hereinkam. Aber Mama hat nach mir gegriffen, als ich an ihr vorbeiging. Es war etwas in ihren Augen, das ich nicht kannte. Sie lächelte mir zu, legte den Kopf zur Seite und zog die Mundwinkel hoch, als wollte sie mich an das erinnern, was sie mir gestern am Telefon gesagt hatte. Ein Alles-wird-gut-Lächeln. Aber sie begann zu zittern, kurz bevor ich den Blick wieder von ihr abwendete, eine Mikrosekunde zu früh. Sie schüttelte etwas von sich ab.

Bevor all das passierte, war die größte Herausforderung, vor der meine Mutter je gestanden hatte, der Versuch, ohne Kohlehydrate zu leben. Sie nahm so schnell ab und wieder zu, dass man fast glauben konnte, es wäre ihr Beruf, und sie war wirklich stolz, als sie ihre Ernährung unter Kontrolle gebracht hatte. Jetzt sitzt sie hier. In den Ermittlungsakten steht fast alles. Nicht nur über diesen Tag. Über unsere Feste, was Sebastian tat, was ich tat. Über Amanda. Meine Mutter liebte Amanda. Sie liebte auch Sebastian, zumindest zu Anfang, aber das würde sie jetzt bestimmt nicht mehr zugeben.

Ich frage mich, ob Mama an »meine Geschichte« glaubt. Ob sie sich dafür »entscheidet«, daran zu glauben. Aber sie hat nichts darüber gesagt, und ich habe nicht danach gefragt. Wie sollte ich auch? Seit der mündlichen Haftprüfung vor neun Monaten habe ich Mama und Papa nicht mehr gesehen, und unsere Telefongespräche sind nicht gerade vertraulich gewesen.

Ist das nicht seltsam? Dass neun Monate vergangen sind, seit ich das letzte Mal mit Mama und Papa in einem Raum gewesen bin. Obwohl wir uns damals eigentlich auch nicht getroffen haben. Ich sah sie nur durch die Glaswand zwischen diesem klassenraumgroßen Verhandlungssaal im Untersuchungsgefängnis und den Zuschauerrängen, auf denen sie bestimmt eine Viertelstunde sitzen mussten, bevor der Richter erklärte, dass die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden werde, und sämtliche Zuhörer, inklusive Mama und Papa, nach draußen geschickt wurden.

In der mündlichen Haftprüfung heulte ich Rotz und Wasser. Ununterbrochen. Ich weinte schon, als ich in den Saal kam. Ich fühlte mich ungefähr so normal wie eine zwangsgefütterte Leberpastetengans, mir ging es genauso schlecht, und Mama und Papa sahen aus, als hätten sie Angst um ihr Leben.

Bei der mündlichen Haftprüfung trug Mama eine neue Bluse. Ich hatte sie vorher noch nie gesehen. Ich frage mich, als was sie sich an diesem Tag verkleidet hatte, als alles noch so unklar war. Bevor sie wusste. Ihr glaubt vielleicht, dass sie sich als Mutter verkleidet hatte, die wusste, die ganz sicher wusste, dass alles nur ein Fehler war und dass ihre Tochter nichts verkehrt gemacht hatte. Aber ich glaube, dass sie als Mutter verkleidet war, die alles richtig gemacht hatte, als Mutter, der man keine Vorwürfe machen konnte, ganz egal, was passiert war.

Die mündliche Haftprüfung fand drei Tage nach meiner Verhaftung statt, und ich wünschte mir, dass ich nicht so viel geweint hätte. Am liebsten hätte ich diese Glasscheibe zerschlagen, um Mama nach Sachen zu fragen, die gar keine Rolle spielten.

Ich wollte sie fragen, ob sie mein Bett gemacht hatte, nachdem ich zu Sebastian gegangen war. Tanja hatte freitags frei. War es so geblieben, wie es war, bis die Polizei gekommen war? Und dann? Was passierte danach? Hatte Tanja danach aufgeräumt, oder hatten Mama und Papa ihr verboten, in mein Zimmer zu gehen, so wie Eltern es machen, wenn ihr Kind gestorben ist. Das Zimmer dreißig Jahre lang unberührt lassen, genau so wie es war, als das Kind sie verließ?

Ich wollte, dass Mama und Papa es so gemacht hatten, ich wollte, dass sie mir sagten, dass alles genauso aussah wie zu dem Zeitpunkt, als ich aufgebrochen war, dass die Polizisten nichts verändert hatten, dass das Leben, mein Leben, das Leben davor, eingefroren, konserviert, in dicke Schichten aus Mumienbandage eingewickelt war. Wenn ich das hier überleben und nach Hause kommen würde, sollte mir alles bekannt vorkommen.

Aber das konnten sie mir nicht sagen. Und wahrscheinlich spielte es auch keine Rolle, ob Mama das Bett gemacht hatte oder nicht. Ich wusste, dass die Polizei das Haus durchsucht hatte, denn das hatten sie mir gesagt, als sie mich verhört hatten. Und sie hatten mir erzählt, dass sie meinen Computer beschlagnahmt und mein Telefon aus dem Krankenhaus mitgenommen hatten (ich musste alle meine Passwörter preisgeben, zu jedem Forum, zu jeder App, zu jeder Seite, auf der ich gewesen war), und als ich fragte, was sie noch alles hatten, sagten sie »das meiste … das iPad und Papiere und … Bücher, Bettwäsche, deine Kleidung von der Party«. »Was für Kleidung?«, hatte ich gefragt, und sie antworteten, als wäre das ganz normal und nicht im Geringsten seltsam. »Dein Kleid, deinen BH und deine Unterhose.«

Sie hatten meine dreckige Unterhose mitgenommen. Warum taten sie das? Ich wollte diese Glasscheibe zerschmettern und meine Mutter auffordern, mir alles zu erklären, denn Sander wollte ich nicht fragen. »Warum haben sie meine Unterhosen mitgenommen, Mama?« Das wollte ich sie fragen. Ich wollte mit Sander nicht über etwas reden, auf dem meine Ausflüsse klebten.

Und die Sachen, die sie dagelassen hatten, was hatten Mama und Papa mit ihnen gemacht? Das wollte ich auch wissen. Ich fragte mich, ob Tanja meinen Geruch aus all den anderen Kleidern auswaschen musste. Ich habe immer gedacht, dass sie die Wäsche gerne aufhängt. Die Knitterfalten herauszieht, die Nähte streckt, die Falten glättet. Die Pullis falsch herum aufhängt, sodass die Ärmel schlapp nach unten hängen, als hätten sie aufgegeben, ich-ergebe-mich, irgendwie. Und die Strümpfe paarweise, zwei Stück mit einer Wäscheklammer. Damit man sie nachher leichter sortieren kann.

Ich fragte mich, ob Tanja mich vollständig wegputzen durfte. Oder ob Mama am Morgen auf das Buttermesser starrte, das ich immer wegzuräumen vergaß, und dachte: Eben war sie noch hier. Jetzt ist sie weg.

»Mama!«, wollte ich schreien. Gerade heraus. Was passiert hier?

Aber es war ein Glasfenster im Weg. Und ich hatte mich kaum gesetzt, als der Richter auch schon alle Zuhörer hinausschickte. Ich bekam keine Antworten, stattdessen wurde ich in Untersuchungshaft genommen.

Eines Tages, lange bevor dies alles geschah, hatte ich Mama gefragt, warum sie mich nie irgendetwas Wichtiges fragte. »Was möchtest du denn, das ich dich frage?«, wollte sie wissen. Sie versuchte noch nicht einmal, es selbst zu erraten.

Heute dürfen sie und Papa sitzen bleiben. Sie haben reservierte Plätze – die »besten«, nehme ich an, ganz vorne in meiner Nähe (obwohl uns immer noch ein paar Meter trennen). Und Mama hat zugenommen. Sie ist immer noch als Mutter verkleidet, die nichts falsch gemacht hat, aber wer weiß, vielleicht musste sie ein bisschen frustessen? Hat fettige Pasta mit Butter, Käse und Ketchup in sich hineingestopft. Hat in schnellen Kohlehydraten geschwelgt. Angesichts dessen, was ich getan habe, hat sie eine Entschuldigung für alles, sogar fürs Zunehmen. Alle verstehen sie. Und verachten tun sie sie auch, egal ob sie schlank ist oder nicht.

Wenn Mama nervös wird, bekommt sie Flecken am Hals, und sie wird immer nervös, wenn sie erklären muss, was sie meint. Dann ist es unmöglich, sich auf das zu konzentrieren, was sie sagt, man muss einfach auf diese Halsflecken starren. Wahrscheinlich sagt Mama deshalb so selten, was sie denkt. Es ist zu riskant. Sie begnügt sich damit, Papa nach seiner Meinung zu fragen. Wenn er gute Laune hat, erzählt er es ihr. Und dann kann ein ganzer Abend vergehen, ohne dass sie sagt: »Wir reden nieee mehr miteinander.«

Dass sie sich darüber aufregt, dass man nicht genug mit ihr redet, und trotzdem niemals fragt, wie es einem geht, übersteigt meinen Verstand. Aber ich habe sie nie dafür gehasst, dass sie keine Ahnung hat. Ich hasse sie dafür, dass sie es so und nicht anders haben will. Und am meisten hasse ich sie, wenn sie mir sagt, was ich zu fühlen habe.

»Ich weiß, dass du dir Sorgen machst.« »Ich weiß, wie viel Angst du hast.« »Ich weiß, wie sich das anfühlt.«

Meine Mama ist ein Idiot. »Ich wünschte, ich könnte Majas Platz einnehmen.« Hat sie das gesagt? Nicht zu mir jedenfalls.

Erste Verhandlungswoche, Montag

4.

Oberstaatsanwältin Lena Pärsson redet und redet, mein Gott, wie sie redet. Sie hat zwei der ermittelnden Polizeibeamten dabei. Neben ihnen sitzen die Anwälte der Nebenkläger, sie sind hier, um Ansprüche auf Schadensersatz geltend zu machen. Sie haben ebenfalls jede Menge Ordner vor sich aufgebaut, eine kleine Minibibliothek. Im Gerichtssaal hängen zwei Großbildschirme, einer hinter mir an der Wand und der andere hinter ihnen. Im Augenblick sind darauf nur die Icons von ein paar Dokumenten zu sehen, es wirkt alles ein bisschen durcheinander, ein schlecht vorbereiteter Vortrag in Gesellschaftskunde.

Amandas Eltern dürfen nicht am Tisch der Nebenkläger sitzen. Auch die anderen Angehörigen nicht, sie sitzen unter den Zuschauern, glaube ich. Oder vielleicht im Übertragungssaal nebenan, in dem man der Verhandlung auf einem Großbildschirm folgen kann. Sie möchten bestimmt nicht im selben Raum sitzen wie ich.

Sander hat gesagt, dass die »Aufgabe« der Staatsanwältin darin besteht zu »erklären«, warum wir hier sind. Welche Taten sie mir vorwirft und warum sie auf die Höchststrafe plädiert.

»Angesichts deines Alters«, hat Sander mir gesagt, »solltest du nicht viel mehr bekommen als zehn Jahre.« Laut Gesetz kann man eine Person, die jünger ist als einundzwanzig Jahre, nicht zu lebenslanger Haft verurteilen. Aber wenn ich vierzehn Jahre bekomme, bin ich zweiunddreißig, wenn ich wieder draußen bin. Pfannkuchen hat mir erzählt, dass sowohl er als auch Sander ständig angerufen werden und Post bekommen. (Pfannkuchen ist stolz darauf, dass nicht nur Sander Hassbriefe bekommt, sondern auch er selbst, man hört es seiner Stimme an.) Er hat sogar von Leuten erzählt, die sich nachts auf unser Grundstück schleichen und Exkremente vor unsere Haustür werfen. Mama und Papa müssen sie mit dem Hochdruckreiniger wegspülen, bevor sie zur Arbeit gehen. Er sagte es mir, als Sander nicht dabei war.

Ich weiß es also. Diejenigen, die die Staatsanwältin bezahlen, die Steuerbürger, die normalen Leute, alle außer Sander und Mama und Papa, finden nicht, dass zehn oder vierzehn Jahre genug sind, sie wären nicht einmal mit lebenslänglich zufrieden, sie begnügen sich nicht damit, mein Leben zu zerstören, sie wollen, dass ich sterbe.

Sander hat gesagt, dass heute nicht so viel passieren wird. Aber als die Staatsanwältin die Namen der Opfer vorliest, höre ich jemanden weinen.

Darauf bin ich nicht vorbereitet. Lange bevor Oberstaatsanwältin Lena Pärsson zum Ende kommt, füllt sich der Saal mit dem Geräusch. Ein Mensch heult auf. Ist es Amandas Mutter? Das kann nicht sein, sie würde niemals so klingen. Vielleicht haben sie eine Mutter oder Großmutter von Dennis gefunden. Vielleicht haben sie sie hierher geflogen, damit sie hier zwischen den ganzen Weißbroten sitzen kann wie Queen Latifah beim Nobelpreiskonzert.

Sie klingt wie ein professionelles Klageweib. Eine Verrückte, die sich einen schwarzen Schal um den Kopf gewickelt hat und die Arme in die Luft wirft, in den Himmel starrt und sich direkt vor den Fernsehkameras aufbaut und lauthals schreit, weil jemand in einen Schulbus eingestiegen ist und sich selbst und fünfzig Kinder in die Luft gesprengt hat. Kann es sein, dass eine solche Frau hier sitzt? Würde sie durch die Sicherheitskontrollen kommen?

Eines ist sicher. Die Journalisten werden das Weinen schon in der nächsten Pause verkaufen. Sie werden davon berichten. Im Livechat und über Twitter. Sie werden erklären, wie es aussieht, wie es klingt, in höchstens einhundertvierzig Zeichen. Und alle meine alten »Schulfreunde« retweeten es direkt, fügen vielleicht noch ein weinendes Emoji hinzu, um zu zeigen, wie persönlich es ist, gerade für sie. Ich frage mich, wie viele von ihnen hier sind, sich stundenlang angestellt haben, um einen Platz zu bekommen, damit sie sich »den Erinnerungen stellen« können an das, was ihnen nicht zugestoßen ist.

Ich möchte das alles nicht hören, aber ich muss sitzen bleiben. Also drücke ich die Handflächen gegen die Tischplatte. Die Staatsanwältin redet und redet. Ich hoffe, dass sie langsam fertig wird. Sie sagt etwas über Amanda, etwas anderes über Samir, Dennis, Christer … Sebastian und seinen Vater. Der Vorsitzende Richter sieht nervös aus, er fingert an dem Hammer herum, der vor ihm auf dem Tisch liegt und glotzt einen der Justizwachtmeister an.