r//K - Bernhard Dechering - E-Book

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Bernhard Dechering

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Beschreibung

Es geht um die Suche nach Ordnung in einer Welt voller innerer und äußerer Widersprüche. Im Zentrum steht die Frage, ob Menschen wirklich sortierbar sind — oder ob genau das Menschliche im Chaos liegt. Zwischen Sozialtheorie, persönlicher Nähe und emotionalem Rückzug entsteht ein Roman über das Scheitern von Kontrolle und den Versuch, sich trotzdem zu orientieren. Ein Mann beobachtet Menschen und entwickelt ein Modell, um Nähe, Kontrolle und Widerstand messbar zu machen. Doch als ein Junge auftaucht, der sich dem Raster entzieht, beginnt die Theorie zu kippen — und mit ihr der Protagonist selbst. Was folgt, ist ein leiser Zusammenbruch, ein Rückzug aus Systemen, und eine poetische Rückkehr zur Welt. Das Buch erzählt von Beziehungen, Verlust, Erkenntnis — und vom langsamen Verlernen des Messbaren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 83

Veröffentlichungsjahr: 2025

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r // K

Der Versuch von Ordnung

Ein Roman von

Bernhard Dechering

© 2025 Bernhard Dechering

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

Bernhard Dechering, Oppelner Straße 2, 48268 Greven, Germany

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Vorwort:

Wir greifen manchmal nach Theorien wie nach Handläufen in einem dunklen Haus. Sie geben uns Halt — aber kein Licht.

Die folgende Geschichte beginnt mit einer Denkfigur aus der Biologie: der r/K-Theorie. Sie teilt Fortpflanzungsstrategien in Kontrolle und Risiko — und wurde lange als Raster für das Leben betrachtet, auch dort, wo sie nicht hingehört.

Dieses Buch nutzt das Modell nicht als Wahrheit, sondern als Versuch. Es fragt, was passiert, wenn jemand beginnt, Menschen wie Diagramme zu denken. Und ob Ordnung wirklich schützt — oder nur ersetzt, was fehlt.

Alles hier ist Fiktion. Die Fragen sind es nicht.

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Kapitel 1 – Sachverhalt ungeklärt

Das Licht im Büroflur war flach wie immer. Nicht dunkel, nicht hell – einfach vorhanden. Die Neonröhren surrten leise, als wollten sie Jo daran erinnern, dass sie noch da waren. Wie immer. Wie er.

Jo saß auf seinem gewohnten Platz im zweiten Stock des Ordnungsamts. Tisch A17. Zwischen einem verschlossenen Fenster mit schmutzigem Rahmen und einem grauen Aktenschrank, der bei jedem Öffnen klapperte wie ein Zahnarztbesteck. Auf dem Schreibtisch lag ein leicht fettiger Kaffeering, in dem sich das Bürolicht spiegelte wie ein trüber See. Die Luft roch vage nach Aktenstaub, alten Tonern und einem Reinigungsmittel mit Citrusnote, das nie wirklich sauber machte, aber sauber roch.

Er klickte sich durch einen Antrag auf Sondernutzung öffentlicher Fläche. Eine Frau wollte auf dem Gehweg vor ihrem Laden einen Klapptisch mit selbstgezogenen Kräutern aufstellen. Dill, Zitronenmelisse, „Heilige Petersilie“. Jo hatte nichts dagegen. Der Antrag war formal korrekt, die Maße stimmten, es gab keinen erkennbaren Grund zur Ablehnung.

Trotzdem klickte er auf Zurück an Antragsteller: Begründung unvollständig.

Er wusste nicht genau warum. Vielleicht war es das Wort „heilig“. Vielleicht das Format der PDF-Datei. Vielleicht einfach nur das Bedürfnis,

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zu spüren, dass er eingreifen konnte. Die Maustaste klickte mit einem dumpfen, fast nachgiebigen Knacken – wie ein altes Türschloss.

Ein leises Räuspern aus dem Nachbarbüro drang durch die dünne Wand. Frau Klein aus Abteilung 4B – sie hatte eine Stimme wie ein trockener Schwamm. Jo hörte, wie sie telefonierte, vermutlich wieder mit dem Bauamt, ihre Sätze pendelten zwischen entschuldigender Müdigkeit und behördlicher Entschlossenheit. „Da müssen wir aber zunächst das Formblatt 12b einreichen, Frau Kolb. Sonst kann das so nicht…“ Der Rest versickerte.

Das nächste Dokument lud langsam. Ein Umbettungsantrag. Grabstätte auf Feld 4, Reihe 17, solle auf Wunsch der Angehörigen in die Nähe des Brunnens verlegt werden – „damit die Verstorbene näher an den Lebenden ruht“, wie es handschriftlich hieß.

Jo starrte auf den Bildschirm. In ihm regte sich kein Widerspruch. Aber auch keine Zustimmung. Nur ein leises Grollen unterhalb der Aufmerksamkeit – wie immer bei Umbettungen. Der Wunsch nach Nähe war das Gegenteil von Ordnung. Nähe war nicht zu verwalten. Sie entglitt, sie verschob, sie stellte in Frage.

Er klickte auf Sachverhalt ungeklärt – Rückfrage an Friedhofsamt.

Ein dumpfer Ruck an der Tür, dann öffnete sie sich. Frau Meller trat ein – neue Kollegin, Mitte fünfzig, mit einer Tasche, die wie ein überladener Rettungsfallschirm wirkte. Ihre Stiefel quietschten leicht auf

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dem Linoleum, sie roch nach Minzbonbons und einem Hauch Parfüm mit Seifennote. Typ: freundliche Unruhe.

„Herr Jo…“ – sie blieb kurz stehen, weil sie nie wusste, ob sie ihn beim Vornamen oder beim Nachnamen nennen sollte. Und Jo hatte sie nie aufgeklärt.

„…also, ich sag’s jetzt einfach: Jo. Wissen Sie, worüber ich heute früh mit meinem Sohn gestritten habe?“

Jo hob den Blick, die Brille auf seiner Nase rutschte leicht.

Frau Meller wartete nicht auf Antwort.

„Über Biologie. Der hat jetzt im Unterricht so ein Thema… äh… r-K-Dings, irgendwie. Und er meint, wir wären K-Strategen. Nur weil wir ihn nicht auf jedes Konzert lassen! Können Sie sich das vorstellen? Jetzt wird man schon von seinem eigenen Kind biologisch beleidigt!“

Sie lachte. Ein helles, unförmiges Lachen, das trotzdem gut tat – wie wenn man sich verschluckt und danach klarer atmet.

Jo verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln. „r- und K-Strategen“, sagte er leise. „Das hatten wir damals auch. Ist eigentlich ganz interessant.“

„Aha!“, rief Frau Meller triumphierend. „Ich hab nur Bahnhof verstanden. Irgendwas mit Fortpflanzung, und dann hat er mir erklärt, dass wir wie... diese komischen Aliens, irgendwie wie in Star Wars, glaub ich – oder das mit der Zahl 42 und dem Handtuch. Ach, ist ja auch egal.

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Ach, ist ja auch egal. Jedenfalls meinte er, ich wäre ein Faultier, aber sein Vater ein Pinguin.“

Sie machte eine Pause, nahm einen Schluck aus ihrem Thermobecher, verzog das Gesicht. „Lauwarm. Wie immer.“

Dann: „Ich hab gesagt, er soll jetzt erstmal seine Hausaufgaben machen.“

Jo nickte.

Es war das erste Gespräch seit Tagen, das länger als drei Sätze dauerte. Und das war irgendwie schön.

Frau Meller ging wieder, ihre Tasche streifte die Türkante, hinterließ einen leichten Stoß im Rahmen. Jo blickte ihr nach. Dann wandte er sich wieder dem Bildschirm zu.

Ein Hinweis auf einen illegal aufgestellten Altkleidercontainer in der Blumenstraße. Er öffnete das Foto: ein verschwommener roter Blechklotz, schief aufgestellt, neben einem Hydranten. Jo schob den Fall in den Ordner Nachkontrolle, obwohl er wusste, dass niemand dort nachkontrollieren würde.

Es war 17:42 Uhr. Der Bildschirm summte noch leicht, als er den Kippschalter betätigte. Drei Minuten zu früh. Wie immer. Das war seine kleine Freiheit im Amt. Seine stille Rebellion.

Der Himmel über der Stadt war bleichblau, als hätte jemand versucht, den Tag sauber zu streichen. Jo ging zu Fuß. Das tat er manchmal, wenn er

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das Gefühl hatte, dass etwas an ihm vorbeiging, das er nicht benennen konnte. Der Asphalt unter seinen Schuhen war noch warm vom Tag, und irgendwo roch es nach heißem Metall und einem Anflug von Pommesfett.

Er nahm einen Umweg, vorbei an der Bibliothek, deren Fenster golden glühten. In einem Schaufenster blinkte ein LED-Schriftzug: „Schlüsseldienst & Gravur“. Daneben ein vergilbtes Pappschild mit dem Wort "Taschenlampen" in verblichener Schreibschrift.

Er bog in eine Seitenstraße ein. Reihenhäuser. Gärten. Der Klang von Alltag – das Klacken eines Gartenschlauchs, das Rufen eines Kindes, das dumpfe Dröhnen eines Fernsehers hinter einer angelehnten Tür. Dann blieb er stehen.

Links, auf einem akkurat geschnittenen Rasenstück, stand ein Mann mit Brille, Funktionsjacke und Stoppuhr. Neben ihm ein Junge – vielleicht sechs Jahre alt – der versuchte, mit geschlossenen Augen eine Balancierlinie entlangzugehen. Immer wenn er schwankte, machte der Vater eine Notiz. Kein Lächeln, kein Lob. Nur Statistik.

Jo blieb stehen. Nicht aus Neugier, sondern weil etwas in ihm stoppte.

Er erinnerte sich. Arbeitsblatt, Bio-LK. Diagramme. X-Achse: Anzahl Nachkommen. Y-Achse: Überlebensrate. K-Strategen. Langsame Fortpflanzung. Hohe Investition pro Individuum. Kontrolle. Selektive Umgebung. Maximierte Sicherheit.

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Das Kind bekam eine Birnenscheibe gereicht. Sie glänzte in der Sonne wie lackiert. Ein Feuchttuch raschelte, als der Vater die Hände des Kindes reinigte.

Jo ging weiter.

Ein paar Häuser weiter – ein anderer Klang. Kinderstimmen, ein Fahrrad, das scheppert, ein Mädchen, das barfuß über Kies rennt. Auf dem Balkon hing Wäsche, ein T-Shirt mit Glitzerprint, ein BH, ein Strampler. Der Geruch von warmem Waschmittel und Tomatensoße hing in der Luft. Niemand rief, niemand kontrollierte. Es war einfach da.

Jo blieb erneut stehen.

r-Strategen. Viele Nachkommen. Geringe Investition pro Individuum. Unberechenbare Umgebung. Flexibilität. Kurze Generationszyklen.

Jo wusste nicht, wie viele Kinder in diesem Haus wohnten. Sie wirkten wie ein Strom. Laut, unaufhaltsam, echt. Und er, Jo, stand davor wie ein Museumsbesucher. Mit einem Gefühl, das sich nicht einordnen ließ.

Als er zu Hause ankam, war es 18:09 Uhr. Er schloss die Tür auf, trat ein. Das Schloss hakte. Der Flur roch nach Karton, Teppich und Altbau.

Er zog die Schuhe aus, trat in die Küche, öffnete das Fenster. Die Abendluft war mild und trug den letzten Duft von Grillkohle und

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Rasenmäher mit sich. Dann setzte er sich an den kleinen Tisch, klappte sein Notizbuch auf – ein altes, mit karierten Seiten, an den Ecken leicht eingerissen – und schrieb:

r / K „Wiederentdeckt. Vielleicht nur ein Scherz der Erinnerung. Vielleicht aber auch der Anfang.“

Er unterstrich das Wort Anfang mit festem Strich. Dann legte er den Stift weg und starrte eine Weile ins Nichts. Das Brummen des Kühlschranks war das einzige Geräusch im Raum.

Er spürte das vertraute Ziehen in der Brust, diese kleine Unruhe, die kam, wenn alles zu ordentlich war. Zwischen Kaffeedunst und Dämmerung kippte etwas in ihm — nicht laut, nicht sichtbar. Aber tief genug, um sich in der nächsten Akte wieder zu zeigen.

Eine Vorahnung. Oder vielleicht nur der erste Riss im Raster.

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Kapitel 2 – Das Diagramm

Jo hatte den Teebeutel schon fünfmal wiederverwendet. Er roch leicht muffig, aber das war ihm egal. Die durchsichtige Tasse stand am Rand seines Schreibtischs, dort wo sich die Unterlagen nicht mehr türmten, sondern versickerten. Der Monitor summte, das System war wie immer träge, und die Heizung gluckerte in der Ecke wie ein alter Hund im Schlaf.

Es war Dienstag, aber es hätte auch ein Mittwoch oder ein Montag sein können. Im Ordnungsamt gab es keine Wochentage, nur Eingangsstempel.

Er saß an seinem Platz, ein brauner Drehstuhl mit einem schiefen Armlehnenpaar, und tippte lustlos an einem Antrag auf Sondernutzung öffentlicher Fläche für einen „mobilen Wildkräuterstand“. Die Formulierung des Betreibers war übermäßig blumig: „eine botanisch-sinnliche Erfahrung für Körper und Geist im urbanen Raum“. Jo schrieb ins interne Feld: „Beurteilung nach OGV §13 Abs. 2, mit Auflage (Müllentsorgung klären).“