Raben Ravanstreu - Katja Streit - E-Book

Raben Ravanstreu E-Book

Katja Streit

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Beschreibung

Entdecken Sie die Kraft eines fast vergessenen Märchens auf einer Reise durch Dunkelheit und Licht - eine Geschichte, die die Seele berührt! Gefangen in Trauer und Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und Arbeitslosigkeit, erinnert sie sich an ein Märchen, das sie oft von ihrer Großmutter gehört hat. Es war ein besonderes Märchen, das in ihrer Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurde und ihre letzte Erinnerung an bessere Zeiten war. Das Märchen handelte von einem jungen König namens Raben von Ravanstreu, geboren aus Schmerz, der Erste. Da ihre Großmutter schon lange tot ist, beschließt sie, das Märchen aufzuschreiben. Dabei entdeckt sie ihre Leidenschaft für das Tagebuchschreiben und hält von nun an all ihre Erlebnisse fest. Sie schreibt von ihrer Einsamkeit, von der großen, unbarmherzigen Stadt, in der sie lebt, und von ihrer Suche nach Arbeit. Eines Abends findet sie den Weg in ein seltsames Gasthaus, und die Ereignisse überschlagen sich.

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Prolog

Von lieblichen Klängen geweckt, öffnete die Prinzessin langsam ihre Augen. Sie fand sich in einer, ihr fremden, hohen, marmornen Halle wieder. Steinerne Säulen umrahmten einen Gang, der links und rechts von ihr in unendliche Weiten zu verlaufen schien.

Neben ihr lag ihr liebster Raben, eingebettet in weiche Kissen. Sie kniete sich über ihn, um ihn zu wecken. Sie küsste ihn und rüttelte ihn, aber was sie auch versuchte, er blieb regungslos.

Mit der Erkenntnis kamen die Tränen und mit den Tränen der Schmerz.

Sie wusste nicht, wie lange sie neben ihm kniete, bevor sie die Gestalt bemerkte, die ihr gegenüber stand, wohl erst, als diese mit sanfter Stimme zu reden begann.

„Mein Goldstück, dein Bräutigam ist tot, ebenso wie du. Ihr seid ermordet worden, von Menschen, die euer Glück und eure Liebe neideten. Von Habgier und Missgunst zerfressene Leiber, beschworen die Mächte der Finsternis, weil sie es nicht ertrugen, dass es Menschen gibt, die reinen Herzens sind und weil sie selbst in ihrer Angst gefangen sind. Sie planen die Welt in einen Kriegsschauplatz zu verwandeln.

Ich habe dich erweckt, da du meine letzte Hoffnung bist.

Raben war ein Dorn in den Augen seiner Feinde, darum belegten sie ihn mit einem Fluch. Er ist dazu verdammt, immer wieder aufs Neue geboren zu werden, mit dem gleichen Körper und in die gleiche Familie.

Mit jeder Geburt wird er bösartiger und machtbesessener, bis er so ist, wie die, die ihn verfluchten, um sich mit der Vollendung seiner Verwandlung, zu ihrem Regenten zu erheben.

Du alleine kannst ihn und damit die Liebe retten. Denn so kurz eure Verbindung auch währte, so war sie doch intensiver und reiner als alles, was es davor gab.

Ich bin die Göttin der Liebe, doch ich bin machtlos. Die Kälte und Finsternis setzten unmittelbar nach eurem Ableben ein und raubten mir den Großteil meiner Energie.

Angst und Hass regieren auf Erden. Die Menschen haben vergessen zu lieben.

Ich muss mich hinlegen und ruhen, meine Kräfte sparen, bis die Liebe wieder herrscht.

Wenn du willens bist, für deinen Liebsten zu kämpfen, so sei dir meines Schutzes gewiss. Viele Leben wirst du leben mit dem Ziel zurück zu erobern, was dir so grausam geraubt worden ist. Solltest du in dieser Zeit jedoch vergessen, weshalb du lebst, so bist du, die Welt und somit auch ich für immer verloren.

Deine Aufgabe ist schwer, begleitet von Qualen und Leid. Widerstände und Mauern werden dich oft genug in die Knie zwingen, doch die schlimmste Herausforderung werden deine eigenen Zweifel darstellen. Mit jedem Leben, das du lebst, wird deine Erinnerung schwinden und die Finsternis wird dich verführen, den Kampf aufzugeben.

Ich schenke dir in jedem Leben Träume, die dich erinnern werden und Menschen, die dich bei deiner Aufgabe begleiten. Aber höre, wenn deine Chancen vorbei sind, wirst du diese Melodie, die dich wach rief, hören und mit der Beendigung deines Lebens wird alles Leben vorbei sein. Überlege gut, ob deine Liebe stark genug ist diese Bürde zu tragen.“

Die Prinzessin betrachtete lange Zeit ihren Liebsten, bevor sie sich aufrichtete und zustimmend nickte.

Inhaltsverzeichnis

Raben von Ravanstreu

Die Realität?

Ein Meer aus Schmerzen und Erinnerungen

Ein Neubeginn folgt dem Ende

Jede Menge Arbeit

Viele und eine Begegnung

Die Chronik

Der Ausflug

Die Maske der Rose

Wechselspiel

Innere und äußere Unruhen

Die Melodie

Verbindung und Trennung

Das Erkennen

Was ist wahr?

Ein neues Ende

1. KAPITEL:

Raben von Ravanstreu

I

Der Donner groll drohend und immer lauter werdend. Blitze zuckten furchteinflößend bis tief zur Erde hinunter. Bäume ächzten vor Schmerzen, wenn ein Strahl sie traf und brannten kurz lichterloh auf, bevor sie von den herab stürzenden Wassermassen gelöscht wurden. Der Regen peitschte aus allen Richtungen über den Landstrich.

Die Gischt türmte sich über der See und die Wellen schlugen wuchtig und unkontrolliert über dem Land ein. Zurück ließen sie zerstörte Hütten und Boote.

Eine steinerne Burg stand einsam auf einem Hügelkamm und kämpfte gegen das Unwetter. Orkanböen bliesen tief in das Mauerwerk hinein und ließen die Festung bis in die Grundmauern erzittern.

Aus dem Inneren ertönte ein herzzerreißender Schrei und suchte sich den Weg durch das Unwetter, doch der gewaltige Donner schluckte ihn hinunter.

In den Händen ein Neugeborenes haltend, beugte sich der Regent über einen leblosen Körper und weinte gar bittere Tränen. Seine über alles geliebte Frau hatte ihre Augen für immer geschlossen, nachdem sie ihre letzten Kräfte mobilisiert hatte, um dem gemeinsamen Sohn das Leben zu schenken.

Sie hatten beide gewusst, dass sie die Anstrengungen der Geburt nicht überstehen würde. Die letzten Wochen vor der Entbindung hatte sie in ihrem Bett verbracht und man hatte täglich zusehen können, wie sie schwächer wurde und das Leben aus ihr wich.

Die Hebamme hatte beide gewarnt und ihnen angeboten das Kind abgehen zu lassen, um die Königin zu schützen und ihr Leben zu bewahren.

Sie hatte nichts davon hören wollen. Zu lange hatten sie sich einen Nachkommen gewünscht und nichts hatte sie von diesem Wunsch abbringen lassen. Immer wieder hatte sie gesagt, dass sie lieber ihr Leben lassen würde, als dieses Kind tot zu gebären.

Ihr Ehegatte, für den sie das wichtigste war, musste ihr diesen Wunsch gestatten.

Wenige Tage vor der Geburt hatte sie ihn zu sich rufen lassen und ihn gebeten, dass, was immer auch passieren möge, er diesem Kind die gleiche Liebe und Fürsorge zukommen lassen sollte, wie er ihr hatte zukommen lassen. Er sollte dafür Sorge tragen, dass ihr Sohn die beste Ausbildung genoss und ihm ein würdiger Nachfolger würde. Das war ihre letzte Bitte. Der König hatte unter heftigem Schluchzen sein Versprechen ihr gegenüber abgegeben, und so lagen sie kurz darauf eng umschlungen in den Armen des anderen und weinten, bis die Kissen von dem salzigen Wasser durch und durch getränkt waren.

Nun hielt er das schreiende Kind fest in seinen Armen und erneuerte am Totenbett sein Versprechen. Sein Sohn war das einzige, was ihm von seiner Liebe geblieben war und er sollte ihn immer daran erinnern, wie sehr er seine Gattin geliebt hatte.

Als der Sturm vorübergezogen war, wurde die Königin im Hof direkt unter seinem Schlafzimmer beigesetzt und der König pflanzte einen Apfelbaum an diese Stelle, um die Erinnerung an sie für alle Zeiten am Leben zu halten.

Nur einen Tag später wurde sein Sohn getauft. Er sollte Raben der I., geboren aus Schmerz, aus dem Geschlecht der Ravanstreu, genannt werden.

Sein Vorname bezog sich auf seine Haare, die glänzten wie das pechschwarze Gefieder eines Raben.

Ravanstreu war der Name der Burg auf der sie lebten. Sie wurde so benannt, da sich noch während der Errichtung ein Rabenpaar dort angesiedelt hatte, welches von da an jährlich wiedergekehrt war, um seine Brut dort aufzuziehen.

Raben gedieh prächtig und sein Vater schenkte ihm sein ganzes, verbliebenes Herz.

Mit den Jahren ähnelte der Junge immer mehr seiner verstorbenen Mutter und der König spürte, dass der Schmerz über ihren Verlust ihm täglich vor Augen geführt wurde, wenn er seinen Sohn sah. Das ließ ihn in eine tiefe Traurigkeit fallen und bald war er außerstande seine Regierungsgeschäfte weiter auszuführen.

Seine Ratsherren konnten den Zustand nicht dulden, sie fürchteten, dass er seine wenigen Untergebenen bald nicht mehr würde führen können. Sie schlugen ihm daher vor, sein heranwachsendes Kind bei einem Vetter in die Ausbildung zu schicken.

Schweren Herzens stimmte der König schließlich zu, den einzigen Sohn fortzugeben.

So verließ der Knabe Raben an einem schönen Sommertag die väterliche Burg, um ihr über viele Jahre fern zu bleiben. Damals ahnte er nicht, dass der Abschied von seinem Vater, ein Abschied für immer sein würde.

Der Vetter machte ihn zu seinem Knappen und bildete ihn zum Ritter aus. Bald schon musste er dabei feststellen, dass Raben sehr schnell von Begriff war und seine Übungen im Nu beherrschte.

Noch vor Abschluss der Ausbildungszeit, war Raben in allen Belangen eines Ritters vertraut und der Vetter konnte ihm nichts mehr beibringen.

Darum bot er ihm an, bei einem bekannten Fürsten in die Leere zu gehen.

Dieser war sehr belesen und vertraut mit allem theologischen Wissen. Dort hätte er die besten Voraussetzungen seinen Wissensstand zu erweitern.

Dem König wurde die entsprechende Kunde überbracht und er ließ im Gegenzug, über einen Boten, sein Einverständnis senden.

Bei dem Fürsten lernte Raben die hohe Kunst der Mathematik und alles über Theologie. Er saugte die Informationen regelrecht in sich auf und der Fürst stieß bald an die Grenzen dessen, was er dem jungen Prinzen beizubringen vermochte. Als im bewusst wurde, dass er ihm nicht mehr vermitteln konnte, schickte er Raben zu einem Verwandten, der in seinem Leben viel gereist war und andere Kulturen kennen gelernt hatte. Dies war die letzte Station von Raben. Innerhalb weniger Jahre hatte er genügend Wissen und Können angesammelt, um in seine väterliche Burg Ravanstreu zurück zu kehren und seinen Vater in den Amtsgeschäften zu unterstützen. Er war inzwischen zu einem stattlichen, jungen Mann herangereift.

Damit der König Zeit genug hatte, sich auf die Rückkehr seines Sohnes vorzubereiten, sandte er einen Boten, der seinem Vater Kunde bringen sollte.

Zwischenzeitlich hatte sich der Zustand des Königs zugespitzt. Der Weggang seines Sohnes hatte ihn in eine tiefe innere Einsamkeit gestürzt und nicht die gewünschte Genesung beschert. Schmerzlich hatte er erkennen müssen, dass er, nach seiner Frau, nun auch noch seinen Sohn verloren hatte. Es überkam ihn eine so massive Schwermut, dass er den Großteil des Tages nur noch im Schlafgemach oder vor dem Grab seiner verstorbenen Königin verbrachte. Die Belange seines Volkes interessierten ihn nicht mehr. Innerhalb weniger Jahre reagierte schließlich auch sein Körper auf das seelische Leid und führte ihn dem Siechtum zu. Bald war er nicht mehr in der Lage sein Bett zu verlassen und kurz bevor ihn die frohe Kunde ereilen sollte, dass sich sein Sohn auf dem Rückweg befand, verstarb er.

Raben galoppierte in vollem Lauf der Burg entgegen. Er konnte es kaum erwarten, seinen Vater wieder in die Arme zu schließen und ihm alles zu erzählen, was er gelernt hatte. Er stellte sich schon vor, wie sein Vater ein Bankett zu seiner Heimkehr gerichtet hatte und freute sich auf die Feier und die Gespräche.

Nachdem er den Burghof erreicht hatte, staunte er nicht schlecht darüber, dass niemand gekommen war, ihn zu begrüßen oder sein Pferd in den Stall zu führen.

Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen. Stattdessen wehten schwarze Fahnen von den Zinnen.

Er stellte sein Pferd notgedrungen selbst in den Stall und betrat, nachdem er es anständig versorgt hatte, noch völlig außer Atem, den Thronsaal, um seinen Vater zu überraschen.

Dunkelheit starrte ihm entgegen.

Am helllichten Tag waren alle Fenster abgedeckt und Stille herrschte in dem Raum, den er als einen Ort in Erinnerung hatte, in dem immer das Leben getobt hatte.

Schwerlich gewöhnten sich seine Augen an die Schwärze und nur langsam konnte er erfassen, dass der Thron seines Vaters leer war.

Wo waren er und all die anderen?

Aus vollem Hals schrie Raben seinen Namen, doch nur das Echo, welches von den Mauern widerhallte, antwortete ihm.

Er kehrte dem Saal den Rücken und schritt zurück in den Hof, dabei erblickte er Rauch in der Kapelle aufsteigen. Er war also doch nicht alleine! Vermutlich fand ihm und seiner gesunden Rückkehr zu ehren, gerade eine Zeremonie statt, dachte er hoffnungsvoll.

Wie er im Begriff war, dorthin zu eilen, öffnete sich die Türe der Kapelle und der Kaplan, begleitet von ein paar Wachmänner, die mit einer schweren Kiste auf ihren Schultern beladen waren, betrat den Hof.

Nun endlich verstand der junge Prinz, was los war. Er war zu spät gekommen. Sein Vater war tot und er hatte keine Gelegenheit mehr gehabt ihn zu sehen und ihn an sein Herz zu drücken.

Raben brach auf die Knie und Tränen ergossen sich über seinem Gesicht.

Wie hinter einem Schleier musste er mit ansehen, wie der Sarg seines Vaters, neben dem Grab seiner Mutter, in die Erde herabgesenkt wurde. 1

Hoch standen die Ähren und in goldenem Glanz, lächelten sie der Sonne entgegen.

Der See lag friedlich und die kleine Gemeinde, die sich im Schutze der Burg angesiedelt hatte, begann mit den Erntevorbereitungen.

Eine Woche war vergangen, seit der alte König begraben worden war und alles lief wieder seinen gewohnten Gang.

An diesem herrlichen Spätsommertag wurden die Krönungszeremonien für Raben von Ravanstreu abgehalten. Man hatte ihm keine Zeit für die Trauer gelassen, weil das vernachlässigte Volk dringend einen neuen Herrscher benötigte, dessen waren sich die Ratsherren sicher. Niemand fragte ihn, was er dabei empfand, es zählte nur, dass die Nachfolgeregelung schnell vollzogen worden war.

Mit traurigem Blick, ließ er die Prozedur über sich ergehen. Er wusste, dass die Aufgabe, die vor ihm lag, sein ganzes Wissen und Können abverlangte.

Er hatte so viel gelernt, in seiner Lehrzeit, doch vom Regieren wusste er nichts.

Er hatte keine Ahnung, wie er sein neues Amt antreten sollte, aber er hatte sich zum Ziel gemacht, ein guter Regent zu werden und seine Kraft zum Wohle seiner Untergebenen einzusetzen.

In den kommenden Jahren wuchs er mehr und mehr in seine Aufgabe hinein und schon innerhalb kürzester Zeit, eilte ihm sein guter Ruf voraus.

Im ganzen Land erzählte man sich von seinen gerechten Urteilen und seinen, dem Volke dienlichen, neuen Gesetzen. Es wurde berichtet, dass in seinem Reich immer die Sonne schien und nie der Hunger herrschte. Es rankten sogar Legenden um ihn, die verkündeten, dass er dem besonderen Schutz der Götter unterliegen würde, weil sein Reich von Unwettern verschont blieb und die Ernten immer reichlich waren, während in anderen Regionen verbitterte Armut herrschte.

Den Legenden Glauben schenkend, siedelten sich immer mehr Menschen im Schatten seiner Burg an und der Handel florierte.

Raben war ein gern gesehener Gast auf anderen Höfen. Man huldigte ihm auf zahlreichen Festen und jeder wollte teil haben an seinem Wohlstand.

Anfangs folgte der junge König noch gerne den Aufforderungen anderer Adeligen, zu deren Feierlichkeiten. Doch im Laufe der Zeit wuchs in ihm die Erkenntnis, dass ihnen wenig an einer persönlichen Beziehung zu ihm lag, sondern ihr Interesse einzig und alleine seinen Ländereien und seinem Reichtum galt und sie ihn gerne als Unterstützer ihrer Machtspiele gesehen hätten.

Sie baten ihn um Beistand im Kampf gegen Feinde und boten ihm zum Dank ihre Töchter an. Raben lehnte jedes Mal ab. Er begründete seine Entscheidung mit den Worten: ‚nur weil er wüsste, wie man eine Waffe führte, hieße das nicht, dass er dieses Wissen auch gebrauchen wolle. Er wäre aber gerne bereit als Schlichter der Streitigkeiten zu einem friedvollen Miteinander beizutragen‘.

Das wiederum war nicht im Sinne der Fürsten und Ritter und sie versuchten über allerlei Bestechungen, ihn von seiner Meinung abzubringen und somit auf ihre Seite zu ziehen.

Raben war diesem Ränkespiel bald überdrüssig und er entschied, den Einladungen nicht mehr Folge zu leisten. Ein schlechter Schachzug, wie er noch schmerzlich erfahren musste.

Der Schnee lag hoch und die kalte Luft hatte auch den letzten Winkel der Burg erreicht. Stille lag über dem Land. Nur im Thronsaal brannte ein hohes Feuer.

Die letzte Ratsversammlung des Jahres war einberufen worden und man debattierte hitzig über das Erreichte und was es im kommenden Jahr anzugreifen galt.

Es dauerte Stunden, bis alle Punkte auf der Tagesordnung besprochen worden waren und als man schon im Begriff war sich dem angenehmen Teil des Abends zuzuwenden, da erhob der Hofmarschall noch einmal das Wort und bedeutete, dass es einen letzten Punkt gäbe, der einer Klärung bedurfte.

Raben sah ihn erwartungsvoll an und der Hofmarschall fuhr ohne zu zögern fort.

Er erklärte, dass der König nun in dem Alter sei, da er sich eine Gemahlin suchen müsste um den Fortbestand seines Geschlechts zu sichern und es darum unbedingt ratsam wäre, die Brautsuche nicht länger aufzuschieben.

Das Volk würde ebenfalls von ihm erwarten, dass er ihnen eine Königin präsentierte und er müsse somit auch dem Willen des Volkes entsprechen, um nicht deren Unmut hervorzurufen.

Das war der Moment vor dem sich der junge König gefürchtet hatte. Er dachte an seine Mutter, die er nie hatte kennen lernen dürfen, da sie unter seiner Geburt verstorben war und an seinen Vater, der diesen Verlust nie verkraftet hatte. Er hätte sich gerne ein solches Schicksal erspart, doch er wusste, dass der Marschall Recht hatte.

Um wenigstens noch ein bisschen Zeit zu haben, willigte er unter der Voraussetzung ein, dass die Feierlichkeiten bis zum Sommer des kommenden Jahres warten sollten.

In dieser Zeit wollte er die Vorbereitungen treffen und ein dreitägiges Fest planen, bei dem er sich seine Zukünftige auswählen würde.

Die Anwesenden stimmten seinen Bedingungen zu und zum Jahreswechsel begannen die Vorbereitungen für das Fest.

Alle verfügbaren Boten wurden beauftragt, Einladungen an die nah und weit gelegenen Höfe auszusenden.

In ihrem Gepäck trugen sie ein Bild des jungen und gut aussehenden Herrschers, sowie einen Beutel voller Geld, der die Adligen, für die Unannehmlichkeiten der Reise zu seiner Burg, entschädigen sollten.

Händler aus dem ganzen Umland wurden gerufen, benötigte Waren zu besorgen.

Schausteller und Gaukler wurden auf die Burg geladen. Die Tage wurden länger, die Nächte kürzer und die Feier stand kurz bevor. Die kleine Gemeinde unterhalb der Burg und sogar die Bauern, aus der gesamten Region, unterstützen voller Vorfreude die Vorbereitungen, so gut sie konnten.

Ihre Häuser wurden neu gestrichen und ausgebessert, Banner mit dem Wappen des Königreichs gewoben und unter die Fenster gehängt und sogar die Straßen wurden von jeglichem Unrat und Fäkalien befreit.

Nächtelang nähten die Frauen an neuen Gewändern, die nur zu diesem Anlass getragen werden sollten, während die Männer ihre Werkstätten säuberten und das Werkzeug erneuerten.

Auch auf Ravanstreu herrschte ein reges Treiben. Die Stallungen wurden erweitert und die Burg erhielt einen Anbau, der die zahlreichen Gäste, entsprechend ihrer Stellung, angemessen beherbergen sollte.

Das Silber wurde poliert und neue Tische und Bänke gezimmert.

Täglich übten die angereisten Gaukler und Musikanten im Hof neue Kunststücke und Lieder.

An alles wurde gedacht. Vom Personal bis hin zum Silber war alles in ausreichender Menge verfügbar und geschult.2

Die Sommersonne brannte über dem Tal, der Himmel war strahlend blau und die Wiesen dufteten nach reifem Obst und Sommerblumen.

Der Weg zur Burg war mit Fahnen und Blumenzierrad herrlich geschmückt. Links und rechts am Rand standen die Untertanen verteilt. Wirklich jeder, der noch des Laufens mächtig war, hatte sich eingefunden, um ein Teil dieses besonderen Festes sein zu können und mitzuerleben, wie die geladenen Gäste ehrenvoll, der Burg entgegen ritten.

Sie jubelten den Ankömmlingen huldvoll zu, riefen Segenswünsche und warfen Blüten vor ihnen auf den Weg.

Im Burghof salutierten die Wachen in glänzenden Rüstungen. Zahlreiche Diener und Stallburschen standen bereit, um die Gäste zu begrüßen und in ihre Gemächer zu führen. Alle Aufmerksamkeit galt dem Wohle der Adligen und ihrem Gefolge.

Bis zum Abend trafen stetig neue Gäste ein, in froher Erwartung auf die Tage, die vor ihnen lagen.

Raben selbst, verbrachte den Tag der Ankunft zurückgezogen in seinen Gemächern. Er hatte sich vorgenommen, seine Gäste erst zum Beginn der Feierlichkeiten am Folgetag zu begrüßen. Zu viel war ihm der Tumult und zu groß die Sorge über die kommenden drei Tage.

Hätte er die Wahl gehabt, er hätte alles rückgängig gemacht.

Viele der Anwesenden hatten ihm schon früher eine Vermählung mit ihren Töchtern angeboten. Damals hatte er die Anträge noch abweisen können, da er nicht in das Spiel aus Macht und Intrigen eingebunden werden wollte. Und nun hatte er keine andere Wahl mehr, als eine der anwesenden Damen auszuwählen und somit mit einem der Fürsten einen Pakt einzugehen. Das, was nie sein Ansinnen gewesen war, wurde ihm nun aufgezwungen und er konnte sich nicht dagegen stellen.

Diese Bürde quälte ihn sehr.

Schneeweiße Wolken zogen sachte über den blauen Himmel. Eine leichte Brise schenkte den Menschen Erfrischung, während die Sommersonne am Himmel brannte.

Der Regent stand auf dem Balkon und begrüßte die im Hof versammelte Schar auf das Herzlichste.

Dankesworte über ihr zahlreiches Erscheinen strichen über seine Lippen und er wünschte ihnen allen ein paar erlebnisreiche und das Herz erfreuende Tage.

Dann hieß er die Feierlichkeiten für eröffnet.

Sofort begannen die Gaukler, die Gäste mit ihren Kunststücken zu erfreuen. Feuerkünstler spieen Feuerfontänen in die Luft, Messerschlucker brachten die Menge zum Staunen, indem sie ganze Schwerter in ihrem Rachen verschwinden ließen. Harlekine sorgten für wunderbare Lacher und eine Truppe aus Schaustellern hatte, diesem Fest zu Ehren, ein neues Theaterstück einstudiert, welches sie unter Jubeln vorführten.

Auf der Wiese bei der Burg, zeigten Ritter ihre Künste und trugen ein Turnier aus.

Überall war etwas für die Geladenen geboten und wer Hunger oder Durst verspürte konnte sich an langen Tafeln mit deftiger Kost und Wein den Gaumen verwöhnen lassen.

Der König hatte sich unter die Menge gemischt und war bald umringt von all den Jungfrauen, die darauf hofften, dass sie seine Gunst erobern konnten.

Höflich und galant sprach er mal mit der Einen, mal mit der Anderen, doch keine konnte sein Herz erfreuen.

Die Eine hatte einen zu großen Mund, die Andere zu kleine Ohren. Bei der einen wackelte der Kopf, bei der anderen setzte schon die Fäulnis ein. Mal waren sie ihm zu groß oder zu klein, zu dick oder zu dünn.

Und wenn eine dann doch optisch seinen Vorstellungen entsprach, wünschte er sich spätestens beim ersten Gespräch, er wäre geflohen. Entweder lispelte ihm Eine gar schrecklich entgegen oder sie stank gewaltig aus dem Mund.

Alles in allem war es ein frustrierendes Unterfangen, was er sich vorgenommen hatte und er sah sich schon an der Seite einer dieser Ungeheuer unglücklich den Tod herbeiwünschen, denn, egal wie sehr es ihn sträubte, entscheiden musste er sich nach drei Tagen. Seine einzige Aufgabe bestand nur noch darin, herauszufinden, welche der Damen das kleinste Übel darstellte.

Um ein wenig Luft zu bekommen stahl er sich unter einem Vorwand in die Kapelle und blieb dort eine Zeitlang alleine und verborgen sitzen, bis er wieder dazu in der Lage war, sich seiner Verantwortung zu stellen. Dort fand er für einen Moment den Frieden und die Ruhe, die er bitter benötigte, um seine Gedanken neu zu sortieren.

Beim Hinausgehen hatte er sich entschieden, seine Gespräche mit den Vätern der Jungfern fortzusetzen. Die Töchter konnten bis zu Abend warten.

Ein abwechslungsreicher Tag ging vorüber und der Abend begann mit einem großen Bankett. Unmengen an Fleisch und Gemüse wurden verschlungen und mit viel Wein nachgespült. Es wurde gelacht und gegrölt, getanzt und der Heiterkeit gefrönt.

Nur Raben saß stillschweigend am Kopfende und überlegte sich, welche Tanzpartnerin er sich zuerst wählen sollte und mit wie vielen er das Tanzbein schwingen musste, bevor der Abend vorbei war.

Ein Diener riss ihn aus seinen Grübeleien, indem er ihm die Kunde übermittelte, dass ein weiterer Gast eingetroffen wäre, der darauf wartete, von ihm empfangen zu werden.

Ein Ausdruck der Erleichterung trat in sein Gesicht. Wer auch immer das sein sollte, er würde ihn für einen kurzen Moment von seinen quälenden Gedanken befreien und darum befahl er, den Gast unverzüglich herein zu bitten.

Die Türe zum Saal öffnete sich und mit der Anmut einer Katze trat ein Wesen herein, das sofort die Blicke aller Anwesenden auf sich richten ließ.

Rotbraun gelocktes, offenes Haar bedeckt zierliche Schultern und leuchtete wie eine frisch gepellte Kastanie. Ein langes, samtenes Kleid umschmeichelte einen grazilen Körper und ein scheues Lächeln, über vollen Lippen, legte eine besondere Ausstrahlung über ein blasses Gesicht.

Wer auch immer die Dame war, die so verspätet eintrat, sie war ohne Zweifel die schönste Frau, die Raben je gesehen hatte. Diese und keine andere sollte seine Königin sein, das wusste er in diesem Moment.

Die Worte der Entschuldigung, für das späte Erscheinen, klangen wie Musik in seinen Ohren und öffneten die Pforten zu seinem Herzen. Sofort erhob er sich und bot ihr einen Platz neben sich. Wieder ertönte ihr melodiöser Singsang, noch einmal vernahm er eine schüchterne Entschuldigung, gefolgt von der Bitte, sie in ihr Gemach bringen zu lassen, da die Anstrengungen der langen Anreise, sie sehr erschöpft hätten. Eine leichte Röte erschien dabei auf ihrem hellen Antlitz.

Verzaubert von ihrem Anblick und ihrer Stimme, schickte er augenblicklich seinen besten Diener an, sie auf ein Zimmer zu bringen und ihr jeden Wunsch zu erfüllen, den sie hatte.

Kaum, dass sie den Saal verlassen hatte, überkam Raben eine zuvor nie gekannte Schwermut. Alles verschwamm vor seinen Augen und in seinen Gedanken war er bereits am nächsten Abend, den er sehnlichst herbeiwünschte.

Gerade als das Fest seinem Höhepunkt entgegen lief, verließ er, ungesehen von den anderen, den Raum, um alleine zu sein. In dieser Nacht sollte er keinen Schlaf finden.

Schleppend und äußerst qualvoll für den armen König, rannen die Minuten des nächsten Tages.

Vergeblich hatte er versucht seine Schönheit zu finden. Weder in der Burg, im Garten noch im Hof, konnte er sie entdecken. Sie war wie vom Erdboden verschluckt und nur die Bestätigungen seines Hofstaats, dass sie am Morgen noch gesichtet worden war, brachte ihm eine kleine Erleichterung.

So verstrich ein wolkenverhangener Tag und als der Abend nahte, schien es, als ob Raben um Jahre gealtert war.

Zur Belustigung der Gäste, sollte der Abend mit einem Maskenball beginnen. Welch herrlicher Anblick muss es gewesen sein. Schön verzierte und nur die Augen bedeckende Masken bei den Damen, dazu harmonisch abgestimmte, edle Gewänder.

Im Gegensatz hierzu, den ganzen Kopf bedeckende, fratzenhafte Masken wilder Tiere, bei den Männern und dazu ein, über die Schultern gelegtes, echtes Fell oder einen, mit Fasanenfedern geschmückten Wams.

Gut gelaunt genoss ein jeder das Ratespiel um seine Person. Und ein jeder war bemüht, sein Gegenüber durch gezielte Fragen zu enttarnen.

Auch der König reihte sich in der Runde ein. Er hoffte dadurch, hinter einer der Masken, seine Angebetete wieder zu finden. Es stellte sich jedoch schwerer heraus, als er vermutet hatte.

Mutlos, erschöpft von der Fragerei, und enttäuscht über seinen Misserfolg, beschloss er etwas frische Luft zu schnappen.

Der Wind hatte sich gedreht und blies kräftige Böen über das Land. Die wenigen Sterne am Firmament kündigten von dem herannahenden Regen.

Still und verlassen lag der Hof und von dem Lärm im inneren der Burg war kaum etwas zu hören.

Gedankenverloren schlenderte Raben in Richtung des elterlichen Grabsteins. Dort, unter dem Apfelbaum, bemerkte er eine Gestalt. Fast schien es als wollte sie sich vor ihm verstecken. Darum rief er sie direkt an.

Eine Frau, in einem Kleid, das sogar in der nahenden Dunkelheit funkelte, wie die Sterne am Himmel, trat aus dem Schatten des Baumes hervor und grüßte höflich, aber scheu.

In der Hoffnung, nun endlich die Gesuchte gefunden zu haben, ging er auf sie zu und begann ein Gespräch.

Je länger sie sich unterhielten, desto vertrauter wurden sie sich und innerhalb kürzester Zeit war es ihnen, als ob sie sich schon immer gekannt hätten.

Immer fröhlicher wurden ihre Gespräche, immer häufiger erschallte ihr Lachen.

So vertieft waren sie, dass sie beide beinahe den alles entscheidenden Moment der Enthüllung vergessen hätten.

Hand in Hand eilten sie zurück in den Saal, in dem die anderen bereits einen großen Kreis gebildet hatten.

Der Reihe nach nahm jeder seine Maske ab. Gelächter und Ausrufe des Erstaunens wechselten sich ab oder überschnitten sich, wenn man erfasste, wer sich unter der einzelnen Maske verborgen hatte und mit wem man den Abend verbracht hatte.

Schließlich waren der König und seine Begleiterin an der Reihe. Wie glücklich waren beide, als sie sich gegenseitig erkannten. Sofort umarmten sie sich und genossen die Nähe des anderen.

Als die Musik zum nächsten Tanz einsetzte, schien sie nur für sie zu spielen. Nichts nahmen sie mehr um sich herum wahr. Zu ihrem großen Unglück, denn sonst wären ihnen vielleicht die Blicke und das grimmig wirkende Geflüster der Umstehenden aufgefallen.

Das goldene Licht der Morgensonne strömte zu den Fenstern herein, als die letzte Melodie verstummte. Nach und nach waren alle zu Bett gegangen. Nur die zwei Liebenden blieben zurück in inniger Umarmung. Der neue Tag begann und wo immer man Raben sah, seine Prinzessin war stets bei ihm.3

Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Mauern. Gelegentlich zuckte ein Blitz über den Himmel und erhellte die Burg auf unnatürliche Weise.

Raben eröffnete den Abend mit einem Segensspruch. In der rechten Hand hielt er seinen Krug und in der Linken, die Hand seiner Liebsten.

Mit froher Stimme sprach er zu der Menge und konnte dabei gerade noch den heran grollenden Donner übertönen.

‚Seine Suche sei nun vorbei und seine Erwählte noch in diesem Jahr seine Braut‘.

Es folgten Jubel und die besten Glückwünsche für das junge Paar. So glaubten die beiden zumindest.

Der Tanz setzte ein, Raben und die Prinzessin bewegten sich in der Mitte des Saales, während die anderen Adeligen einen Kreis um sie herum bildeten.

Immer enger wurde der Kreis, immer näher kamen sie dem Paar, bis er den Schmerz spürte. Entsetzt und angstvoll blickte er in die Augen seiner Liebsten. Auch sie suchte seinen Blick, doch nur für einen kurzen Moment, dann sackte sie in seine Arme und beide stürzten zu Boden.

Das schallende Gelächter dröhnte wie die tosende See, in den Ohren der beiden Verletzten, bevor sie das Bewusstsein verloren.

Just in diesem Moment, riss der Sturm alle Früchte und Blätter vom Apfelbaum und ließ ihn kahl zurück.4

1 Ein tiefer Seufzer und ein kräftiger Schluck aus der Wodka Flasche, dann fuhr mein Großmutter fort.

2 Die Wodkaflasche war schon zur Hälfte geleert und die Wangen meiner Oma strahlten in einem sanften Rot, doch ihre Stimme war immer noch klar und ihre Worte deutlich.

3 Eine Träne im Auge und den letzten Schluck Wodka noch auf der Zunge, so leitete meine Großmutter den dritten Abend ein.

4 Von starken Weinkrämpfen begleitet, denen ich mich jedes Mal aufs Neue anschloss, beendete meine Oma das Märchen mit den Worten: „Oh hätten sie ihr Unglück nur kommen sehen, sie hätten uns so viel Leid erspart. Nun warten wir darauf, dass irgendwann ein Paar, mit ihrer Liebe beseelt, die Welt errettet.“

2. KAPITEL:

Die Realität?

II

Nach dem Tod meiner Großmutter, hatte ich mir fest vorgenommen, die Geschichte zu Papier zu bringen, damit sie für alle Zeiten ein fester Bestandteil in unserer Familie sein würde. Ich schob es immer wieder auf.

Viele Jahre sind vergangen, seit ich das Märchen zum letzten Mal aus dem Mund meiner Oma vernommen habe. Eine lange Spanne voller Einsamkeit, Desillusion und dem täglichen Kampf ums Überleben.

Viele Narben am Körper und vor allem am Herzen habe ich davon getragen, und nur die Erinnerung an die Güte meiner über alles, geliebten Großmutter, hält mich am Leben. Sie ist es, die mir noch heute Kraft schenkt, wenn die Grausamkeit der Welt über mich hereinbricht und mich in die Knie zwingt.

Aber auch die schönste Erinnerung verblasst einmal, egal wie sehr man versucht ist, sie festzuhalten.

Vor gut zwei Monaten verlor ich meinen Job. Die erfolglose Suche nach einer neuen Arbeitsstelle stürzte mich in tiefe Depressionen. Ich verkroch mich in meiner Wohnung, hielt die Läden geschlossen und ging nur auf die Straße, wenn mein Kühlschrank leer war.

In meinem Bett fand ich Ruhe. Ich konnte die Augen schließen, wenn das Licht zu grell war; Ich konnte weinen, wenn mich Trauer überkam; Aber vor allem konnte ich mich in eine Traumwelt zurückziehen und diese Welt konnte mir niemand nehmen. Immer tiefer sank ich hinein in meine Tagträume, immer ferner wurde die Realität. Oder war die Realität auch nur ein unliebsamer Begleittraum, der immer dann auftrat, wenn die Blase drückte oder der Durst brannte?! Was war wahr?

In meiner Gedankenwelt war ich die Heldin, die viele Abenteuer zu bestehen hatte und doch immer siegreich war. In meiner Fantasie war die Welt grün und die Sonne lachte immer. In meiner Einbildung gab es so etwas wie Liebe unter den Menschen. – Ja in meinen Träumen war alles so, wie in dem Märchen von Raben Ravanstreu.

Plötzlich viel es mir wieder ein und ehe ich mich versah, saß ich an meinem Computer und schrieb es endlich auf.

Ich habe der verblassenden Erinnerung einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Doch ehrlich gesagt macht es mich nicht glücklicher die Geschichte nun schwarz auf weiß vor mir zu haben, ganz im Gegenteil, ich fühle mich noch niedergeschlagener, in Anbetracht der trostlosen Realität. Ich werde mich wohl wieder unter mein Laken verkriechen, dort bekomme ich nicht mit, wie es unaufhörlich weiter regnet und das Geschrei meiner Nachbarn ist gedämpft...

Nachtrag:

Heute Nacht plagte mich ein merkwürdiger Alptraum. Ich war in einem Raum aus Glas. Mir gegenüber stand ein fremdartig gekleideter Mann. Er starrte mich unentwegt an. Ich trat auf ihn zu, mit dem Drang ihn zu umarmen, doch er wehrte mich ab, und sogleich schob sich eine Glaswand zwischen uns. Ich schrie und flehte ihn an, die Wand zu zerschlagen, aber er rührte sich nicht. Enttäuscht und wütend wendete ich mich ab. Im Gehen drehte ich mich noch einmal um, unscharf waren die Umrisse seiner Gestalt hinter der Glaswand, er war kaum noch zu erkennen, bis auf eine einzelne Träne, die deutlich sichtbar, seine Wange herunter lief. An meinen eigenen Tränen erwachte ich.

Nicht mal mehr meine Nächte schenken mir Frieden und Freude, ich spüre wie ich kurz davor bin durchzudrehen. Soll es immer so weitergehen? Gibt es denn gar keine Chance dem ganzen Übel zu entkommen? Mein Körper ist überspannt und meine Nerven liegen blank. Ich tappe weiter im Dunkeln, so sehr ich auch versuche, meine Gedanken zu ordnen um einen Ausweg zu finden. Hilflosigkeit und Untätigkeit machen mich aggressiv. Ich könnte schreien, mein Inventar zusammenschlagen oder einfach nur weglaufen. Doch wohin, es ist nirgends besser. Kann dieser blöde Regen nicht endlich aufhören und die Sonne sich zeigen, und wenn meine Nachbarn noch ein paar Minuten länger schreien, zeige ich sie an oder noch besser, ich erschieße sie. – RUHE!

Ich muss hier raus und zwar auf der Stelle...

Was für ein Gefühl. Ich bin hinaus gegangen, um der Leere, der Kälte und der Einsamkeit zu entfliehen. Ruhelos, wie ein hungriges Tier auf der Jagd, bin ich durch die Straßen der Stadt geschlichen. Ich fand graue Baugiganten und Straßen so breit wie Flüsse. Mir kamen Menschen mit einem leeren oder grimmigen Ausdruck entgegen. Ich sah Jugendliche die Autos aufbrachen und eine Polizei, die dafür bezahlt wurde wegzusehen. Unfälle, Überfälle, Mord, alles war dabei, doch nichts hatte meinen Hunger stillen können oder dieses flaue Gefühl nehmen, welches mich fast dazu zwang, mich aus meinem Körper zu lösen um endlich Ruhe zu finden. Während ich lief, verkrampften meine Glieder immer mehr, unkontrollierte Zuckungen durchfuhren mich schauerartig und hielten mich in der Realität, dieser verdammten Realität, die ich so hasste. Ich musste vorwärts, immer vorwärts. Je weiter ich kam, desto mehr verschwand mein Bewusstsein, bis nur noch ein Körper übrig blieb der von seinen Instinkten geleitet wurde.

Ich erwachte wieder, weil mir die Beine schmerzten und sich meine Blase meldete. Als ich mich umsah, um mich zu orientieren erschrak ich förmlich. Das, was ich um mich herum erblickte, war nicht mehr die Stadt meiner Albträume, nein es war der Außenbezirk.

Wie um alles in der Welt war ich dorthin gekommen? Die Strecke zu Fuß zurückzulegen, hieße, über mehrere Stunden gelaufen zu sein.5

Auch diese Gegend zeichnete sich durch graue Wohnblöcke aus, doch im Gegensatz zu der Stadt, fanden sich hier immer wieder einzelne Grünflächen, die einen gezielten Kontrast zum Grau bieten sollten. Hier zahlten die Mieter mehr als das Dreifache an Miete, für ein bisschen mehr Farbe. Verrückte Welt. Für etwas das in weiter Vorzeit als selbstverständlich und Lebensnotwendig erachtet wurde, musste man heute zahlen, damit man wenigsten 10 m2 als sein Eigen betrachten konnte. Die Natur hatte es uns zum Geschenk gemacht und wir verkauften es. Niemand hat das Recht, das Land das er bewirtschaftet, sein Eigen zu nennen, denn auch er hat nur Nutzungsrecht auf Lebenszeit. Ich glaube, hätte die Natur den Charakter des Menschen schon früher erkannt, sie hätte ihm nie die Chance gegeben so weit zu gehen. Der Mensch ist kein Wirtschaftler, er ist ein Zerstörer!

Mein Drang nach einer Toilette verstärkte sich immer mehr. Verzweifelt schaute ich mich nach einer Möglichkeit um diesen Zustand zu ändern.

Einem glücklichen Zufall hatte ich es zu verdanken, dass direkt vor mir ein besonders hässliches Exemplar dieser Baugiganten stand, welches sich Gasthof schimpfte. Als ich meinen Weg zur Eingangstür aufnahm, spannte ich mich unbewusst an, denn ich wusste, dass Städter hier nicht sehr gerne gesehen waren und ich bemerkte noch vor dem Durchqueren der Pforte, wie mich die Anwohner abschätzig anstarrten.

Eine Tür, noch eine Tür, eine Treppe! Dahinter Gelächter und Musik. Zögerlich stieg ich die Stufen hinab. Was sollte mich am unteren Ende erwarten?

Ein Mann stand vor einem Vorhang hinter dem die Geräusche erklangen und betrachtete mich eindringlich. Ich befürchtete schon, er würde mir den Einlass verweigern, doch schließlich zog er den Vorhang zur Seite und forderte mich mit einer einladenden Geste auf, einzutreten.

Ich schritt in eine andere Welt, so glaubte ich zumindest. Schon fast hysterisch, suchte ich den Weg zu den WCs, nicht wirklich auf die Menge achtend.

Erleichtert und schüchtern betrat ich bald darauf den Saal.

Zweidutzend Augen sahen mich freundlich an und helle Stimmen riefen mich näher heran. Sofort wurde mir ein Stuhl gereicht, man sah ich war vom Regen ganz durchweicht.

„Ein Grog von innen, das Handtuch von außen, schützen vor Kälte und Regen dort draußen“, sprach der Kellner und reichte mir beides.

„Wenn euch der Hunger quält, so seid nicht schüchtern, sondern sagt mir euer Begehr. Ganz gleich was ihr euch wünscht, wir kochen es für euch ganz frei.“

Wo war ich hier, wie klang sein Reden? War das die Traufe nach dem Regen? War ich in einem Irrenhaus zugegen? „Ihr wisst es noch nicht, keine Sorge, wenn ihr euch entschieden habt, so hebet einfach nur die Hand und ich eile zu euch ganz gewandt.“

Kaum war der Kellner weggetreten, konnte ich den ganzen Raum ersehen. An der Decke strahlten Leuchter von uralter Pracht, in ihrer Gesamtzahl waren es acht. Doch war es trotz alledem nicht grell, maximal hell und warm. Mit purpurnem Samt überzogen, standen an jedem Tisch Sessel oder Bänke, nein dies war keine normale Schänke.

Eine Stimme flüsterte in mein Ohr, „sei willkommen in unseren Reihen, deine Suche soll nun zu Ende sein. Lange haben wir auf dich gewartet. Wir wussten wo du warst und konnten dich doch nicht rufen, nun endlich kamst du hinab zu diesen Stufen und dein und somit unser aller Schicksal kann sich erfüllen. Deinen wahren Namen will ich noch nicht nennen, denn du musst dich selbst erkennen, doch können wir dir dabei helfen.“

Entgeistert und erschrocken, ob der Worte, sah ich ins Gesicht des Redners, um den Wahnsinn darin zu entdecken. Es konnte nicht anders sein, ich musste in einer Art Psychiatrie stecken. Der Mann war zweifelsohne nicht ganz bei Verstand, es war jedoch kein Wahnsinn, den ich darin fand. Heiterkeit und Wärme strahlten aus seinen Augen, ich spürte meinen Blick sich an ihm fest saugen.

Langsam fasste ich Vertrauen, ließ zu wie sie mich beäugten und lauschte ihren Reden. Mit der Zeit ertappte ich mich dabei, wie ich dachte, dass es doch nichts Schlimmes sei, hier zu bleiben. So wohl hatte ich mich seit Jahren nicht mehr gefühlt, so viel Aufmerksamkeit noch nie erhalten. Hier konnte ich tatsächlich einmal abschalten. Ihr Interesse an mir schien ehrlich, schon fast begehrlich. Wissen wollten Sie alles über mein Leben und mein zukünftiges Streben. Sogar meine Träume konnten sie erahnen, sich einen Weg zu meinen Sehnsüchten bahnen. Ich ließ es zu!

Stunden verrannen, doch wurde es nicht spät. Benebelt war ich und in Glut, endlich einmal anderen zu erzählen, was mich berührte, ohne mich dafür zu schämen. Vielleicht gaben sie mir Drogen, vielleicht lag es am Wein, belanglos war es, ich fühlte mich hier daheim.

Der erste Redner sprang plötzlich auf. Er verschwand hinter einer Wand und da bemerkte ich, es war ein Vorhang und keine Wand, der sich nun öffnete. Dahinter stand ein Spinett, vorher nur durch Erzählungen bekannt.

Stille strömte durch die Menge, selbst das Geräusch des Atmens verstummte, als der erste Ton durch die Reihen summte. Was leise begann, schnell zu einem Orkan anklang und doch so herrlich melodisch, melancholisch und irgendwie bekannt, in mein Gehör eindrang. Das Lied berührte meine Seele, die Laute ließen mein Innerstes erklingen. Langsam begann ich, die Töne in mich einzusaugen, aufzunehmen und mit mir zu verflechten. Die Melodie floss in mich und wurde zu mir und ich zu ihr. Wir verschmolzen! Rhythmisch bewegte sich mein Haupt, ein Zittern überströmte meinen Körper. Eines wurde mir klar, etwas wurde wahr, eine Erinnerung suchte den Verstand, suchte die Öffnung in der Wand. Das Lied war mir sehr wohl bekannt, auch wenn ich noch nicht ganz verstand, woher und warum. Es spielte keine Rolle mehr, sein Erklingen berührte mich sehr und erschrak mich doch, auch wenn ich nicht wusste warum und immer noch nicht weiß. Ich versank in seinen Wellen, konnte kaum noch etwas sehen, meine Augen schlossen sich, mein Körper wiegte sich mein Bewusstsein schwand.

Ich erwachte in meinem Bett...

III

Draußen regnet es! Während ich diese Zeilen schreibe frage ich mich, ob das alles nur ein weiterer Traum war. Ich habe weder die kleinste Erinnerung an den Heimweg noch weiß ich, wie ich in mein Bett gekommen bin.

Wenn man lange Zeit einsam ist, kann einem das Bewusstsein manchmal Streiche spielen. Vielleicht war mein Wunsch nach Wärme und Geborgenheit zwischenzeitlich so stark verankert, dass mein Unterbewusstes mir diesen Traum als Trost geschickt hat.

Ich zünde mir eine Zigarette an und betrachte mein Appartement. Die Wände sind weiß und kahl. Wie gerne würde ich ein Bild aufhängen, um das Weiß etwas freundlicher zu gestalten. Leider verbietet der Mietvertrag das Aufhängen von Bildern. Schon eine kleine Beschädigung der Wand kann zu einer Kündigung führen. Wie kleinkariert müssen wir Menschen sein, dass eine saubere Wand vor dem Befinden des Menschen steht.

In jeder Ecke steht eine Pflanze. Pflanzen sind meine Lieblinge. Ich hege und ich pflege sie, denn sie schenken mir Freude, wenn ich sie betrachte.

Mein Blick bleibt am Boden hängen. Direkt neben der Eingangstüre stehen meine Schuhe. Ihr Anblick lässt mir einen Schauer über den Rücken jagen. Ihr Leder ist komplett durchgeweicht und die Sohlen verdreckt. Ich bin aufgestanden um sie näher zu betrachten und musste dabei feststellen, dass das Profil stark abgelaufen ist.

Eine innere Unruhe zwingt mich einen Blick auf die Kalenderanzeige meiner Uhr zu werfen, Schwindel überkommt mich, weil ich feststellen muss, dass ich einen kompletten Tag verpasst habe.

Habe ich tatsächlich so lange geschlafen? Allmählich frage ich mich, ob es wirklich so gut gewesen ist, den Gästen aus der Kneipe zu vertrauen. Ich trete vor den Spiegel und betrachte meinen Körper sehr genau, suche nach Blutergüssen, Striemen oder sonst einem Indiz für eine Gewalttat an mir, finde glücklicherweise nichts. Erleichterung!

Über all den Fragezeichen in mir schwirrt ununterbrochen eine Aussage durch meinen Kopf: „... erkenne dich selbst...“ und dazu summt die Melodie. Was hat der Fremde Vertraute damit gemeint? Woher will er wissen wer ich bin? Und wie soll ich mich erkennen? „Erkenne dich selbst“, ich dachte immer, ich würde mich kennen, was meint er nur, ich verstehe es nicht.