Rabenauge - Sabine D. Jacob - E-Book

Rabenauge E-Book

Sabine D. Jacob

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Beschreibung

Rabenvögel belagern das Herrenhaus Trinale. Nur unter dem Einsatz seines Lebens gelingt es Jeremy, sich und seinen Cousin Nolan aus dem alten Gemäuer zu befreien. Getrieben von Rachegefühlen begibt sich Jeremy auf die Jagd nach dem Raben, der ihm kurz vor ihrer Rettung ein Auge entrissen hat. Woher aber rührt der Hass der Vögel? Die Antworten liegen in der Vergangenheit und sind ganz anders, als der Leser vermutet. Vor der Kulisse Cornwalls verwebt Rabenauge Spannung und Unterhaltung zu einem fesselnden Roman, der den Leser unversehens in seinen Bann zieht.

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RABENAUGE

Thriller von

Sabine D. Jacob

Alle Rechte, insbesondere auf digitale Vervielfältigung, vorbehalten.

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Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.

Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbilds ist nur mit Zustimmung des Verlags möglich.

Die Namen und Handlungen sind frei erfunden.

Evtl. Namensgleichheiten oder Handlungsähnlichkeiten sind zufällig.

www.verlag-der-schatten.de

Zweite (überarbeitete) Auflage 2020

© Sabine D. Jacob

© Coverbilder: depositphotos I_g0rZh, breakermaximus, membio, [email protected]

Covergestaltung: Shadodex – Verlag der Schatten

© Bilder: Clipdealer (Rabe auf Ast), Fotolia (fliegende,

stehende Raben), depositphotos Farinosa, AlphaBaby (Rabe mit Auge)

Lektorat: Verlag der Schatten

© Verlag der Schatten, 74594 Kressberg-Mariäkappel

printed in Germany

ISBN: 978-3-946381-87-7

Rabenvögel belagern das Herrenhaus Trinale.

Nur unter dem Einsatz seines Lebens gelingt es Jeremy, sich und seinen Cousin Nolan aus dem alten Gemäuer zu befreien.

Getrieben von Rachegefühlen begibt sich Jeremy auf die Jagd nach dem Raben, der ihm kurz vor ihrer Rettung ein Auge entrissen hat.

Woher aber rührt der Hass der Vögel?

Die Antworten liegen in der Vergangenheit und sind ganz anders, als der Leser vermutet.

Vor der Kulisse Cornwalls verwebt Rabenauge Spannung und Unterhaltung zu einem fesselnden Roman, der den Leser unversehens in seinen Bann zieht.

Inhalt

Teil I

Prolog

1. Kapitel

London

2. Kapitel

3. Kapitel

Trinale

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Helen

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Trinale

Teil II

26. Kapitel

Jeremy

27. Kapitel

28. Kapitel

Helen

29. Kapitel

30. Kapitel

Jeremy

31. Kapitel

Nolan

32. Kapitel

Helen

33. Kapitel

Jeremy

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

Trinale

Epilog

Autorenvorstellung

Danksagung

Teil I

Prolog

Die Geschichte beginnt vielleicht schon hier mit Zelma, die die Raben malt. In sich gekehrt sitzt sie mit durchgedrücktem Rücken auf dem hölzernen Hocker mit den zerkratzten Beinen vor der Staffelei. Aus ihrem hochgesteckten Haar lugt eine schwarze Strähne hervor, die ihr ab und zu ins Auge weht.

Mit gekrauster Stirn rückt ihr Kopf näher an das Bild heran. Sie fixiert eine bestimmte Stelle, greift nach dem kleineren Pinsel und streicht ein helles Grau in die sich auftürmenden Wolken.

Verbissen versucht sie durch das Malen des Himmels den Kopf freizubekommen und nicht an das Grauen zu denken, das sich hinter den Mauern des alten Herrenhauses verbirgt.

Ihre Pinselstriche werden hastiger und kürzer. Immer mehr Schwarz mischt sie in das Weiß auf ihrer Palette. Sie atmet flach, aber heftig.

Zorn erfüllt plötzlich ihr Gesicht. Dann greift sie den Pinsel wie ein Messer und sticht ihn in die Leinwand. Kraftvoll reißt sie ihn nach unten. Ratsch!

Kurze Zeit später stopft sie die Fetzen der Leinwand in sich hinein, bemüht ihre Schreie zu unterdrücken.

1. Kapitel

London

Jeremy ließ sich in den tiefen Velourssessel fallen. Eine Haarsträhne klebte auf seiner schweißnassen Stirn. Er nestelte an den Manschettenknöpfen mit den Strasssteinen. Vor Kurzem waren es noch Brillanten gewesen. Mit einem inbrünstigen »Scheiße!« löste er sie und schmiss sie in die Zimmerecke. Sein weißes Oberhemd hing halb aus der Hose, und er zerrte so hastig an seiner Krawatte, dass die oberen Knöpfe des Seidenhemdes abplatzten. Heftig hieb er mit der Faust auf die Lehne. Dann langte er nach dem benutzten Glas auf dem Tisch neben sich und schenkte es sich randvoll mit Whisky. In einem Satz spülte er die in der Kehle brennende Flüssigkeit hinunter.

»Alles weg!«, fluchte er, stellte das Glas hin und griff sich an die Schläfen. Seine Penthouse-Wohnung, seine Autos … Nichts gehörte mehr ihm. Nur ein unüberschaubarer Berg von Schulden und eine stetige Bedrohung für Leib und Leben waren ihm geblieben.

Heute hatte er das Gefühl gehabt, einen Lauf zu haben, eine Glückssträhne. Er wusste, dass es seine letzte Chance gewesen war, noch etwas von den Verlusten der vergangenen Jahre wettzumachen. Für die Spielbank reichte es ja schon lange nicht mehr. Bliebe nur das Internet. Dort vermisste Jeremy jedoch das anrüchige Flair.

Vor einem Jahr war er an die illegale Spielgemeinschaft geraten, die sich stets in einem abgedunkelten Hinterzimmer eines Londoner Pubs traf. Das spärliche Mobiliar wurde beherrscht von einem mit grünem Filz bespannten Kartentisch. Dahinter stand ein weiterer Tisch für das Würfelspiel.

Zigarettenrauch zog durch den Raum. Sie trübten den Blick auf den laufenden Fernseher. Pferde stampften dort lautlos ihre Hufe in den Sand der Rennbahn. An den Wänden hingen Glücksspielautomaten. Ihre Lichter flackerten im Rhythmus einer Dreiklangmelodie aus enervierendem Gedudel, das nur unterbrochen wurde, wenn man sie mit Münzen fütterte. Jeremy vermutete, dass dies die Spielsüchtigen, zu denen er sich nicht zählte, antrieb, immer mehr Geld hineinzustopfen.

Hier, in dieser Gesellschaft von Kleinkriminellen und Spielern, fühlte er sich wohl. Alle hatten eine wenig erfolgreiche Spielerkarriere aufzuweisen und sie suchten das Gleiche wie er: das schnelle Geld. Hier zu spielen hatte einen hohen Reiz, da alles von Uhren bis hin zu Autos gesetzt werden konnte. Niemand fragte nach der Herkunft der Ware.

Jeremy war zu Ohren gekommen, dass Cogan – berühmt-berüchtigt aufgrund zwielichtiger Geschäfte – in diesem Laden neben dem heiß geliebten Collie seines Sohnes sogar die Unschuld seiner Tochter eingesetzt und verloren hatte. Als er die vernichtende Blackjack-Karte erhielt, lachte er und brüllte: »Da hab ich sie zum zweiten Mal verloren, meine Jungfräulichkeit! Bin wahrscheinlich der Erste, dem das geglückt ist!« Dabei wedelte er mit seinem Zigarrenstumpen durch die Luft und lud alle Anwesenden zu einer Lokalrunde ein, die er auf die nächste Karte setzte. Skrupel waren hier nicht an der Tagesordnung.

Solche Einsätze gingen natürlich weit über das hinaus, was Jeremy bieten wollte. Was ihn reizte, war das Umfeld. Zur Spannung, die das Glücksspiel mit sich brachte, kam der Kick, dass ihn jemand aufs Kreuz legen oder die Polizei auftauchen und sie allesamt hochnehmen könnte.

Jeremy gefiel diese Gangstersprache. Sie war anders als die, die ihm auf den Eliteinternaten beigebracht worden war. Heute redete kein Mensch mehr so. Die Zeit der Gentlemen aus den Filmen der Fünfzigerjahre war lange vorbei. Hier in der illegalen Spielhölle konnte er diese Vorliebe dennoch ausleben, denn hier ging es äußerst diskret zu.

Bis zu einem gewissen Punkt. Das hatte er heute Abend zu spüren bekommen.

Jeremy deckte gerade seine letzte Karte beim Blackjack auf, als Halfpound Wood eintrat. Mit aufgerollten Hemdsärmeln und einer erloschenen Selbstgedrehten im Mundwinkel trat er dicht an Jeremy heran.

»Jeylo, alter Freund! Läuft’s gut?« Er legte ihm die Hand auf die Schulter.

Jeremy versuchte, sich zu erheben.

Halfpound Wood verstärkte seinen Griff. »Bleib nur sitzen.« Mit der freien Hand stützte er sich auf dem Tisch ab und beugte sich zu Jeremy hinunter. »Jeylo, du hältst mich schon seit zwei Wochen hin«, fuhr er im gelangweilten Tonfall fort. »Weißt du, wie müde mich das macht? Wie wäre es, wenn du mir die Kohle jetzt gibst, und wir vergessen die Geschichte?«

Jeremy verrenkte sich auf dem Stuhl. In seiner Position war es schwer, überlegen zu wirken. Er wollte daher zumindest seiner Stimme einen festen Klang geben. »Du hast gesagt, den Rest bis zum Fünfzehnten. Das sind noch zwei Wochen.«

Halfpound Wood schürzte die Lippen, als überlege er. Er nahm die Hand vom Tisch, richtete sich wieder auf und polierte seine Fingernägel am Revers. Interessiert sah er sich das Ergebnis an und kaute auf seinem Zigarettenstummel herum. »Hab’s mir anders überlegt. Gib mir jetzt, was du bei dir hast, und bis morgen Abend lässt du den restlichen Zaster rüberwachsen oder ich komme dir anderweitig entgegen. Hast du mich verstanden?« Seine behaarte Hand ballte sich zur Faust und er schloss kurz die Augen. Typen wie Jeremy raubten ihm den letzten Nerv. Das Leben hatte ihnen von Anfang an so viel Puderzucker in den Arsch geblasen, dass sie auf ewig süße Jüngelchen blieben. Die echten Härten des Lebens – wie die Mutter, die sich jeden Abend zudröhnte, bevor sie auf den Strich ging, oder der Vater, der das Zeitungsgeld aus einem herausprügelte – kannten sie nicht. Halfpound Wood schaute Jeremy an und zischte: »Los jetzt, Kohle!« Amüsiert bemerkte er das Zucken um dessen Augen und fühlte sich bestätigt. Er kannte die Menschen. Milchgesichter wie Jeylo brauchten nur ein bisschen Druck und schon drehten sie am Rad. Letzten Endes langweilten sie Halfpound dennoch gewaltig, da sie nicht wirklich kämpften.

»Komm schon, Wood.« Jeremy wand sich unter seinem Griff. »Unsere Abmachung war doch klar.«

Halfpound Wood ließ ihn endlich los, trat einen Schritt zurück und legte seine Fingerspitzen auf den Brustkorb. »Es ist ja nicht meine Kohle, die du geliehen hast. Frag Cogan, ob er dir noch mal Aufschub gewährt. Aber, ein guter Rat von mir, ich würde es lieber lassen. Er ist nicht gut auf kleine Schisser wie dich zu sprechen, die sich nicht an die Termine halten.«

Obwohl die Situation bedrohlich war, begann Jeremy sich selbst als Darsteller in einem dieser Gangsterfilme zu sehen. Überrascht stellte er fest, dass ihm die Situation Spaß bereitete. Schnell visualisierte er, wie Humphrey Bogart in so einem Fall reagieren würde.

Er stand auf, drehte sich zu Halfpound um, legte eine Hand auf dessen Schulter und wollte gerade einen brillanten Satz von sich geben, als dieser seinen Plan mit nur einer Geste zunichtemachte, indem er die Schulter zurückzog und das Kinn anhob. Jeremy war schlank und hochgewachsen, doch Halfpound, von Natur aus grobschlächtig, überragte ihn um Haupteslänge.

Okay, dann eben nicht auf diese Art. Jeremy würde eine andere Strategie fahren müssen. »Wood, Kumpel, wie lange kennen wir uns? Ich hab doch immer mein Wort gehalten. Am Fünfzehnten hast du die Penunze. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

Was hatte er da gesagt? Jeremy spürte, dass er sich um Kopf und Kragen redete. Niemals würde er die achtzig Riesen in zwei Wochen aufbringen können. Aber das Wort Penunze gefiel ihm. Er hatte bisher nur noch nie Gelegenheit gehabt, es zu benutzen.

»Hallo, Schwachkopf, jemand zu Hause? Schluss mit dem Theater. Morgen will ich das Geld haben«, sagte Wood, packte ihn am Kragen und zog ihn dicht vor sein Gesicht, sodass Jeremy seinen whiskygeschwängerten Atem riechen konnte. »Und jetzt verschwinde von hier!«

Jeremy blickte sich nach Beistand suchend um, aber alle anderen waren in ihr Spiel vertieft. Keiner interessierte sich für Jeremys Ärger.

Als er Luft holte und zu einer Antwort ansetzte, schoss eine Faust auf sein Gesicht zu. Dann fand er sich auch schon auf dem Straßenpflaster in der Gosse wieder.

Dort blieb Jeremy noch eine Weile liegen. Er wusste nicht, was er nun tun sollte. Noch einmal hineinzugehen käme einer Wahnsinnstat sehr nahe. Wood abzufangen und erneut um Aufschub zu bitten hätte bestimmt den gleichen Effekt.

Während ihm klar wurde, wie viel Glück er gehabt hatte, stemmte er sich auf die Knie. Andere Schuldner waren schon mit abgetrennten Gliedmaßen wieder zu sich gekommen, hatte er sich sagen lassen.

Dann zeigte die Filmspule: The End. Und der Abspann sagte: Willkommen in der Wirklichkeit, Jeremy!

Am besten wäre es, er würde sich die Kugel geben, überlegte er jetzt. Vielleicht gab es aber noch einen anderen Ausweg. Er musste nur seine Gedanken zur Raison bringen.

Im Bad warf er einen Blick in den Spiegel. Auch wenn er sich fühlte wie ausgespuckt, gefiel ihm, was er sah. Er befeuchtete seine Handflächen und strich sich das kurz geschnittene Haar nach hinten. Dass er sich gestern Abend vor seinem Tête-à-Tête mit Halfpound Wood noch rasiert hatte, sah man nicht mehr. Er fuhr sich mit der Hand über sein markantes Kinn. Seine blauen Augen im Spiegel erwiderten seinen Blick gelassener, als er es vermutet hätte. Die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln verliehen ihm ein spitzbübisches Äußeres, weshalb es für ihn ein Leichtes war, andere Menschen für sich zu gewinnen. Er wirkte viel souveräner, als er sich meistens fühlte. Sein schauspielerisches Talent hatte er über die Jahre bis zur Perfektion ausgebaut.

Zurück im Wohnzimmer nahm er noch einen Schluck Whisky, bevor er zum Telefon griff und den einzigen Menschen anrief, der ihm in dieser Situation noch helfen konnte – sein Cousin Nolan.

Der gute, gelassene, ehrenwerte Nolan würde ihm das Geld ohne großes Gesums geben. Das war eine Sache der Familienehre!

2. Kapitel

»Hallo? Wer ist da?«

Jeremy atmete erleichtert auf, als endlich abgehoben wurde. »Nolan, guten Abend, hier spricht Jeremy. Ich habe so lange nichts von mir hören lassen. Da dachte ich …«

»Oh, Jey, wie gut, dass du anrufst.«

Es rauschte in der Leitung. Die Verbindung war schlecht. Das lag sicherlich an dem Sturm, der sich draußen zusammenbraute. Jeremy konnte die folgenden Worte nur zum Teil verstehen.

»… hier los ist. … gefährlich … komme … keinen Fall …«

Nolans Stimme klang hektisch. Er redete wie ein Wasserfall. Dennoch drangen nur Wortfetzen an Jeremys Ohr.

»Nolan«, rief er in den Hörer. »Nolan, ich kann kaum etwas verstehen. Was hast …«

Nolan ließ sich nicht unterbrechen. »… sind da. Alles ist schwarz. Wenn du …«

Tuut-tuut-tuut. Die Verbindung wurde unterbrochen.

Beunruhigt goss sich Jeremy noch einen Whisky ein und befühlte die Beule an seinem Hinterkopf. Sein rechtes Ohr war zudem geschwollen. Heftig schüttelte er den Kopf, um das Taubheitsgefühl dort zu vertreiben.

Nolans Stimme hatte aufgebracht geklungen. Die Worte waren regelrecht aus ihm herausgebrochen. Angespannt tippte Jeremy auf die Wahlwiederholungstaste. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er die Wähltöne in der Leitung hörte.

»Die von Ihnen gewählte Nummer ist vorübergehend nicht erreichbar«, vernahm er die Stimme vom Band. Er unterbrach die Verbindung und versuchte es erneut.

»Die von Ihnen gewählte Nummer ist vorübergehend nicht erreichbar.« Kurz fragte sich Jeremy, ob Nolan die Leitung absichtlich blockierte. Vielleicht erahnte er den Grund seines Anrufs. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass Jeremy seinen Cousin nach Geld fragte. Irgendetwas hatte aber in Nolans Stimme gelegen, das Jeremy stutzig machte.

Er hob einen der Manschettenknöpfe vom Boden auf und drehte ihn zwischen den Fingern, während er überlegte. Das geschliffene Glas reflektierte das Licht der Deckenstrahler. Jeremy kniff die Augen zusammen, und das Licht brach sich in allen Farben des Regenbogens.

Übelkeit stieg plötzlich in ihm auf. Rasch nahm er noch einen Schluck Whisky.

Auf einmal wurde ihm klar, was in Nolans Stimme gelegen hatte: Angst! Er hatte furchtsam geklungen. »… komme … keinen Fall …«, hatte er gesagt. Was bedeutete das? Er, Nolan, würde auf keinen Fall kommen? Aber Jeremy hatte ihn nicht eingeladen. Er wusste auch von keiner Festivität, zu der sie beide eingeladen worden wären. Die Reaktion ergab keinen Sinn.

Aufgewühlt wählte Jeremy erneut die Nummer. Er musste mit Nolan sprechen. Er brauchte das Geld. Dringend!

»Die von Ihnen gewählte Nummer ist vorübergehend …« Jeremy legte auf und warf den Manschettenknopf, den er noch immer nervös zwischen den Fingern drehte, auf die dunkelblaue Couch, bevor er das Telefonamt anrief. Eine Stimme teilte ihm mit, dass zurzeit alle Plätze belegt seien, und überließ ihn mit der Bitte um Geduld einer Dreiklangmelodie in der Warteschleife.

Gereizt legte er auf. Gleich morgen Früh würde er sich auf den Weg machen und die gut zweihundert Meilen, die London von Trinale trennten, hinter sich bringen.

Er musste Nolan persönlich sprechen – von Angesicht zu Angesicht. Das vergrößerte seine Chance, an das Geld zu kommen. Nolan war mehr als gut betucht, und, seit er allein lebte, dankbar für jeden Besuch. Nebenbei würde Jeremy ein nettes Wochenende verbringen.

Da Halfpound Wood nicht wissen konnte, wo Jeremy sich aufhielt, würde er ihn dort auch nicht so schnell finden. Zwar riet ihm eine leise Stimme zur Vorsicht, er ignorierte sie aber. Alles war besser, als hier zu hocken und zu brüten.

Dachte er.

3. Kapitel

Trinale

Die Südwestküste Englands war für Jeremy die schönste überhaupt. Immer wieder zog sie ihn in ihren Bann und verleitete ihn zu dem inneren Schwur, öfter hierherzukommen. Das Zusammenspiel von Licht, Wasser und Felsen gab dem Landstrich stets ein neues Gesicht. Stundenlang war er hier schon spazieren gegangen, ohne sich sattsehen zu können. Die Klippen aus grauem Stein reflektierten die Sonnenstrahlen stets in einem Maße, dass es in den Augen blendete. Weiße Gischt klatschte unermüdlich auf die Felsen und verlieh ihnen bizarre Formen.

Heute war Jeremy mit seinen Gedanken bei Nolan. Mindestens fünfmal hatte er gestern Abend noch versucht ihn zu erreichen. Ohne Erfolg. Heute Morgen hatte er es, bereits bar aller Hoffnung, erneut versucht. Abermals erfolglos. In aller Herrgottsfrühe hatte Jeremy daher seine Sachen gepackt und war in den Aston Martin, der ihm im Grunde schon nicht mehr gehörte, gestiegen. Auch seine Golfausrüstung hatte er mitgenommen. Nolan liebte Golf, und Trinale verfügte über einen großzügig angelegten Golfplatz. Er bot das geeignete Umfeld für diese Art von Gespräch.

Die Strecke von London an die Südwestküste fuhr Jeremy ohne Pause mit heruntergelassenem Dach, damit der Fahrtwind seine Gedanken klären konnte.

Heute Morgen hatte er sich mit einem Kaffee begnügt. Sein Magen war deshalb leicht verstimmt.

Er hob einen Arm in die Luft und stemmte ihn gegen den Fahrtwind, um die unangenehme Erinnerung an den gestrigen Abend zu verdrängen.

Als Nieselregen einsetzte, der schon bald in heftigen Regen übergehen sollte, schloss er das automatische Verdeck.

Unterwegs gönnte er sich nicht einmal einen Kaffee, wie er es sonst gern tat. Seine Barschaft betrug nämlich nur noch dreißig Pfund – ein Witz im Vergleich zu dem, was er sonst bei sich hatte.

Die letzten Scheine hatte ihm Wood, wie er sich wieder erinnerte, noch aus der Tasche gerissen, bevor er ihm unmissverständlich klargemacht hatte, dass seine Anwesenheit nicht länger erwünscht sei und er sich um seine finanziellen Probleme kümmern solle.

Jeremy rieb sich die Stirn. Es war so widerlich, wenn sich die Gedanken im Kreis drehten und ihm am Ende doch immer wieder seine jetzige Situation offenbarten.

Das Bild des Straßenpflasters stieg in ihm auf. Er sah die zerfetzten Ellbogen seines Jacketts vor seinem inneren Auge, und er schwor sich, alles daranzusetzen, das Geld zurückzuzahlen. Nie wieder würde er sich dann mit dem Gesindel einlassen. Mit der Begleichung seiner Schulden wäre der Moment gekommen, sich endgültig vom Glücksspiel zu verabschieden.

Nachdrücklich, wie um es sich selbst zu bestätigen, nickte er und schaltete das Radio ein. Mit den neu gefassten, guten Vorsätzen fühlte er sich gleich besser.

Am späten Vormittag erreichte er die Auffahrt zum Herrenhaus Trinale, das Mitte des achtzehnten Jahrhunderts im kornischen Stil erbaut worden war. Zusammengesetzt aus großen grauen Quadern besagte die Legende, man habe für den Bau nur drei Nägel benutzt. An die hätten die Erbauer ihre Jacken gehängt, wenn ihnen von der Schlepperei warm geworden war. Alles andere sei ursprünglich aus Stein gewesen, sogar die Bettstätten.

Das Gestein bildete feste Mauern, denen auch das stärkste Unwetter nichts anhaben konnte. Als Kind hatte Jeremy sich häufig an die Nordwand gestellt, den Kopf in den Nacken gelegt und nach oben geschaut, wo der Dachüberstand ihn drohend überragte. Ihm kam es immer so vor, als würde er gleich bersten und auf ihn herabstürzen. Er schaffte es jeweils nur für ein paar Sekunden, hochzuschauen. Dann nahm die Furcht überhand und Schwindel übermannte ihn. Bis sich das Gefühl, in einem Karussell zu sitzen, gelegt hatte, blickte er stets auf seine verstaubten Füße, die barfuß in hellblauen Sandalen steckten. Wenn sich das Schwindelgefühl gelegt hatte, schaute er wieder hoch und wettete mit sich selbst, ob er diesmal länger durchhalten würde.

Bis heute hatte dieses alte Gemäuer seine anziehende Wirkung auf ihn nicht verloren. Noch immer war es so, als wolle ihn das Haus zu einem Spiel animieren, dessen Ausgang für Jeremy ungewiss war.

In Trinale fühlte er sich geschützt und sicher. Von außen wirkte das Haus auf ihn stets bedrohlich.

Die Zufahrt zum Herrenhaus markierte ein großes schmiedeeisernes Tor. Meistens übersah er es und fuhr beim ersten Mal daran vorbei, da die dorthin führende Landstraße rechts und links von hohen Hecken gesäumt war, wie sie für diesen Landstrich Englands typisch waren, die jeglichen Blick versperrten.

Heute drosselte er sein Tempo, um nicht erneut daran vorbeizurauschen. Einerseits wäre es ihm lieb gewesen, die Fahrt hätte noch einige Stunden gedauert, damit er sich dem peinlichen Gespräch noch nicht stellen müsste. Andererseits hatte er keine Zeit zu verlieren. In seinem Magen verspürte er deshalb ein Unwohlsein, das nicht nur vom fehlenden Frühstück herrührte.

Behutsam lenkte er den Wagen durch die offen stehenden, mannshohen Flügel des schmiedeeisernen Tors, fuhr aber dahinter rechts ran, stellte den Motor ab und öffnete das Verdeck des Austins wieder.

Der Blick, der sich ihm bot, war vertraut und doch so ganz anders, als er ihn in Erinnerung hatte.

Tief hängende Wolken zogen über den Himmel, gingen ineinander über und bildeten eine geschlossene Decke. Jeremy registrierte, dass der Wind sich gelegt hatte, der in heftigen Böen eben noch den Regen gegen die Windschutzscheibe geschlagen hatte.

Vor ihm wand sich die Zufahrtsstraße wie ein Eidechsenschwanz. Beidseitig des Weges standen Kopfweiden, die offenbar seit Längerem nicht mehr beschnitten worden und trotz des weit fortgeschrittenen Sommers kaum belaubt waren.

Die Blöcke, aus denen Trinale erbaut war, waren aus dem ältesten Gestein der Welt geformt, das es nur in Schottland gab. Hohe Rundbogenfenster, eingelassen in das Mauerwerk, schienen den Betrachter eher auszugrenzen, als willkommen zu heißen. Verborgen hinter der Front, schlossen sich rechts und links Flügel an, die den Garten vor den bisweilen heftigen Winden schützten.

Dort blühten mediterrane Bougainvilleas neben mannshohen Farnen. Die Gärtner hatten wahre Kunstwerke vollbracht, da alles den Anschein von natürlichem Wachstum vortäuschte. Tatsächlich aber benötigte jedes Pflänzchen seinen Raum, und jeder Angriff der nächstgelegenen Pflanzen musste rechtzeitig erkannt werden.

In Gedanken wanderte Jeremy die verschlungenen Wege dieses Gartens entlang, während er den Wagen startete und die Einfahrt hochfuhr.

Wasserspiele, Kneippbecken, hohe Hecken und winzige Blumenrabatten harmonierten umgeben von schützendem Mauerwerk in stiller Eintracht.

Jeremy fuhr bewusst langsam und genoss den Anblick. Mit den vier Türmen, die sich vorn wie hinten rechts und links erhoben, wirkte das imposante Gebäude schwerfällig und unverrückbar.

Irritiert bemerkte er, dass der Rasen, der das Herrenhaus umgab, stellenweise vergilbt war, als ob er unter Trockenheit gelitten hätte. Dem widersprach jedoch das Unkraut in den sonst so gepflegten Rabatten. An einigen Stellen standen die Brennnesseln mannshoch. Sie ließen den anderen Pflanzen dort immer weniger Platz und reckten ihre Blätter lustvoll dem Himmel entgegen.

Nolan liebte seine Beete. Noch nie hatte Jeremy sie in einem derart vernachlässigten Zustand gesehen. Auch die asphaltierte Zufahrtsstraße sah milchig grau und nicht mehr schwarz aus.

Eine seltsame, fast greifbare Ruhe schwebte über der Szenerie, und die Stille schlich sich an – bedrohlich wie ein Schattenmonster.

Jeremy horchte angestrengt, vernahm aber keinen Laut. Er hörte weder Vogelgezwitscher noch Blätterrauschen, nichts. Verdutzt schaute er zum Haus und es kam ihm vor, als würde es ihn erwarten. Schwarz blickten die blinden Fenster in seine Richtung.

Ein Schatten strich plötzlich über das Auto hinweg, und er zuckte zusammen.

Es war nur ein Vogel.

4. Kapitel

Die Asphaltstraße mündete in ein Rondell, das an der rechten Seite einige mit Kopfsteinpflaster befestigte Parkbuchten bereithielt. In der Mitte thronte eine blattlose Trauerbuche mit ausladendem grauen Geäst. Sie war umgeben von einem Bodendecker, der offensichtlich unter Schneckenfraß litt.

Jeremy stieg aus dem Wagen und runzelte die Stirn. Es roch leicht muffig. Er kannte diesen Geruch von früheren Besuchen auf Trinale. Damals reichten ihm die Treppenstufen in der Eingangshalle noch bis an die Knie. Seine kleinen Hände konnten die Streben des Geländers nur knapp umklammern, während er die endlos scheinende Treppe in die obere Etage erklomm. Dort hingen im Winter stockfleckenübersäte Daunendecken auf einer Leine. Sie dienten den Kindern als beliebtes Versteck. Erst als seine Hände die Holme des Geländers umfassen konnten, begriff Jeremy, dass die Bettdecken als Versteck ungeeignet waren, da zwar sein Oberkörper unsichtbar wurde, seine Beine aber unten herausschauten.

Er erinnerte sich gut daran, wie spannend es unter diesen Decken war. Er hielt das Leinen mit den Händen immer von seinem Gesicht weg und sog die Luft tief ein – gleichzeitig bemüht nicht durch die Nase zu atmen, um den Ausdünstungen zu entkommen. Die feuchte Luft war knapp unter den Daunendecken, und der muffige Geruch verstärkte den Eindruck, nicht genug Sauerstoff zu bekommen und zu ersticken. Je länger Jeremy darauf wartete, gefunden zu werden, umso schneller schlug sein Herz, umso tiefer wurde die ihn umfangende Dunkelheit und umso heißer wurde ihm. Dann kam der Moment, an dem er es nicht mehr aushielt, die verschossenen rosafarbenen Decken auseinanderschob und wie ein Taucher an der Wasseroberfläche einige tiefe Atemzüge nahm, bevor er wieder unter dem wolkigen Deckenberg verschwand.

Der Anflug eines Lächelns kräuselte kurz Jeremys Lippen, dann lenkte ihn ein weiterer Geruch ab. Unwillkürlich zog er sein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. Der beißende Ammoniakgeruch hatte sich aber schon in seinen Schleimhäuten festgesetzt.

Irritiert schaute er sich um. Er konnte nicht erkennen, woher der Gestank kam. Jeremy schob es auf den Klärteich, der hinter dem Herrenhaus lag.

Er stieg die vier von einem Portal überdachten Steinstufen hoch, bis die große zweiflügelige Eichentür vor ihm aufragte. Sie war übersät von winzig kleinen Einkerbungen. Das war ihm vorher nie aufgefallen. Mit den Fingerkuppen strich er darüber.

Ein schmiedeeiserner Raubvogelkopf von der Größe einer Kanonenkugel war an der Tür befestigt. Ein Ring, der durch den Schnabel führte, diente als Türklopfer. Jeremy hob die Hand und wollte ihn betätigen, als die Tür einen Spalt aufgerissen wurde, eine Hand ihn am Arm packte und hereinzerrte.

Der Schreck fuhr Jeremy in alle Glieder. Die Hand zur Faust geballt schoss er herum. Im letzten Moment bremste er sich. »Du meine Güte, Nolan! Verdammt, du hast mich ganz schön erschreckt«, entfuhr es ihm.

Nolans Hand zuckte vor und presste sich auf Jeremys Mund. »Still! Nicht hier! Hier ist es nicht sicher!«, raunte er und zog den Kopf zwischen die Schultern. Sein Blick huschte hektisch durch die große Eingangshalle, die von einem breiten Treppenaufgang beherrscht und nur spärlich von eindringendem Tageslicht erhellt wurde. »Ruhig! Kein Wort mehr jetzt! Komm mit!« Hastig drehte Nolan sich um. Er zog Jeremy am Ärmel mit sich, und der stolperte halb blind nach dem Tageslicht draußen hinter ihm her.

Nolan bugsierte ihn zur Bibliothek. Hier war es ebenfalls dämmrig. Nur mühsam gewöhnten sich Jeremys Augen an das schummrige elektrische Licht, das eine grünbeschirmte Tischlampe im Raum verteilte. Deckenhohe Regale, vollgestellt mit Büchern, zogen sich an den Wänden entlang. Ledergebundene Folianten und alte Bibeln standen ganz oben. Einige waren quergestellt, weil die Höhe der Regalfächer nicht ausreichte. Weiter unten befanden sich dicht an dicht weitere Bücher mit zum Teil bereits verblasster Schrift auf den festen Einbänden. In den unteren Regalen lagen kreuz und quer Taschenbücher, daneben stapelweise GEO-Zeitschriften.

Nolan schloss leise die Tür und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Jeremy erschrak, als er ihn genauer betrachten konnte. Ihr letztes Treffen lag zwar schon ein halbes Jahr zurück, in dieser Zeitspanne schien Nolan aber um mehr als fünf Jahre gealtert zu sein. Sein unrasiertes Gesicht wirkte so fahl, als würde es das Sonnenlicht vermissen. Das ehemals blauschwarze Haar lag ungepflegt auf dem Hemdkragen auf und war von grauen Strähnen durchzogen. Seine Schultern hingen schlaff herab, und er nestelte an seinen Fingernägeln, die an vielen Stellen bereits blutig rote Ränder aufwiesen.

Nolan schüttelte langsam den Kopf und sagte verzweifelt: »Du hättest nicht kommen dürfen! Das hab ich dir doch ausdrücklich gesagt! Warum hast du nicht auf mich gehört?«

Entsetzt starrte Jeremy ihn an. War Nolan jetzt auch ein Opfer von Schwermut oder Wahnsinn geworden wie seine Frau?

Unmittelbar breitete sich in Jeremy Mitleid aus und ein Schuldgefühl, weil er sich so lange nicht gemeldet hatte.

Nolan war seit etwa einem halben Jahr verwitwet. Seine Frau Zelma, die schon als junges Mädchen nur in Schwarz herumgelaufen war, hatte sich von den Klippen gestürzt und so ihrem Leben ein Ende bereitet.

Nolan sprach von einem Fluch, der über der Familie der Verblichenen lastete. Sie war die elfte Frau verteilt über vier Generationen, die aus Schwermut ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte. Immer noch trauerte er um sie, ihre Zartheit und ihr ätherisches Wesen.

Jeremy erinnerte sich ungern an sie. Sie war ihm immer unheimlich gewesen. Leise wie ein Gespenst war sie stets plötzlich aufgetaucht, immer in Schwarz gekleidet und im Aussehen an Morticia Addams erinnernd. Leider hatte Zelma nichts von deren Humor, wohl aber die Schönheit, die bei Männern unweigerlich Beschützerinstinkte wachrief. Die mit schwarzem Kajal betonten grünen Augen waren von Wimpern umrahmt, die so lang wie die Beine einer Schnake waren. Sie wirkten in ihrem ansonsten blassen Gesicht wie unergründliche Seen. Jeremy wusste nie, was sich hinter Zelmas glatter Stirn abspielte. Das verunsicherte ihn.

Lebhaft in Erinnerung waren ihm ihre Begrüßungen. Ohne einen spürbaren Widerstand legte sie ihre zarte weiße Hand in seine. Es fühlte sich jedes Mal an, als ob er ein feuchtes Spültuch halten würde. Nach diesem körperlichen Kontakt musste er stets an sich halten, um sich nicht die Finger am Hosenbein abzuwischen.

Ansonsten wusste er von ihr nicht viel. Er freute sich nur mehr, wenn sie einen Raum verließ, als wenn sie ihn betrat.

Zelma schien gar keinen Einfluss auf ihre Umgebung nehmen zu wollen, und doch konzentrierte sich alles auf sie, sobald sie eintrat.

Der Umgang mit ihr hatte etwas von dem mit einer Schwerkranken – Gespräche wurden leiser geführt, Diskussionen sofort unterbrochen und man hüstelte kurz in die vorgehaltene Hand, um die verlegene Stimmung zu überbrücken, die zeitgleich mit ihr eintrat.

Nolan war es, der ihre Kleidung am Rand der Klippen fand. Sie selbst hatte sich dem Meer anvertraut, wie sein Cousin es nannte. Das war die Umschreibung, die sich in Zelmas Familie eingebürgert hatte, wenn sich wieder ein derartiges Unglück ereignete.

Es klang so harmlos, als ob Zelma – auf einem Felsen sitzend – dem Meer von irgendwelchen Sorgen, die sie plagten, erzählt hätte.

Für Jeremy waren diese Worte unpassend. Sie verbrämten die Tatsache, dass Zelma sich umgebracht hatte. Und sie entbanden die Menschen davon, über ihre Motive zu grübeln. Versuchte man es dennoch, führte das zwangsläufig zu einem gedanklichen Schulterzucken. Die Formulierung, dass sie sich dem Meer anvertraut hatte, verhinderte nämlich das Aufsteigen von Bildern vor dem inneren Auge, die zeigten, wie die Abscheulichkeit des Todes einen Körper deformierte und zerfraß, der leblos im Meer trieb.

Die Trauer um Zelma hatte tiefe Furchen in Nolans Gesicht gegraben. Sicherlich ging er täglich in die alte Familiengruft, in der sich der leere Sarg befand.

Nach der Beisetzung hatten sie ein kurzes Gespräch miteinander geführt. Jeremy erinnerte sich noch gut daran.

»Ich fühle mich schuldig. Ich wusste, wie sehr sie leidet. Es war mir aber nicht möglich, sie zu halten. Mit mehr Verständnis vielleicht oder einem anderen Arzt …« Nolans Schultern zuckten unter den unterdrückten Schluchzern.

»Nolan, du hast sicher alles für sie getan.« Hilflos legte Jeremy eine Hand auf seinen Rücken.

»Genau das ist der Punkt. Das habe ich nicht!«, schrie er Jeremy an. Schleimiger Speichel spritzte diesem auf das Revers.

Er reichte Nolan ein Taschentuch mit der Bitte, sich zu beruhigen, aber der packte ihn am Schlafittchen und zog sein Gesicht dicht vor seines.

»Was hat sie so weit getrieben? Die Liebe zu mir? … Nein!«, beantwortete er seine Frage selbst. »Etwas anderes stand zwischen uns.« Dann flüsterte er: »Jeremy, Schwermut ist ein hartes Los. Sie ist ansteckend. Es ist, als tauche ein Maler seinen Pinsel in Grau und ließe den Frühling und mit ihm alle Hoffnung verschwinden.«

Jeremy konnte ihm nichts entgegnen.

Die Hilflosigkeit Nolans Trauer gegenüber war es auch, die ihn seitdem von einem Kontakt abgehalten hatte.

Er schlug sich die Hand vor den Mund, während er Nolan anstarrte und versuchte, das sich ihm heute bietende Bild in Einklang zu bringen mit dem Mann, den er kannte wie einen Bruder.

Es waren nicht nur die Haare, die ungepflegt wirkten. Nolan sah aus wie jemand, der seinen Körper schon eine ganze Weile sträflich vernachlässigte.

Plötzlich nahm Jeremy auch hier den muffigen Geruch wahr, der ihm bereits draußen aufgefallen war. So hatte es damals in dem Bunker gerochen, in dem sie als Kinder gespielt hatten. Er lag ein paar Gehminuten entfernt an einem Bach im Wald, der noch zum Grundstück gehörte. Dunkel, feucht und kühl war es dort gewesen. Jeremy konnte sich gut daran erinnern, wie ängstlich sie ihn in jedem Frühjahr betraten.

Das Gruseln, das sie dort stets mit der Leichtigkeit von Spinnweben ergriff, war hier und jetzt jedoch zigmal stärker. Und es verwandelte sich in ein unterschwelliges Grauen.

Mit eingefallenen Wangen und rot geränderten Augen, die tief in den Höhlen lagen, blickte Nolan Jeremy an, bevor er in den schweren Ohrensessel sank und die Hände vor das Gesicht schlug.

Jeremy räusperte sich. Seine Kehle war ganz trocken. »Nolan!« Er trat an ihn heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sie zuckte unter verhaltenem Schluchzen. »Die Verbindung war schlecht, ich konnte kaum etwas verstehen. Dann war sie plötzlich komplett unterbrochen. Aber jetzt bin ich ja hier und alles wird gut, du wirst …«

»Nichts wird gut!«, fiel Nolan ihm ins Wort. »Gar nichts wird gut. Jetzt bist du auch ein Gefangener! Du kannst es noch nicht verstehen, aber ich werde – ja, ich muss – es dir zeigen. Es ist sowieso aussichtslos. Komm!« Er legte die Hände auf die ledernen Sessellehnen und erhob sich schwerfällig. Sein zerknittertes Hemd war verschwitzt, seine Hose viel zu weit. Er sah aus wie ein seniler, verwahrloster Mann und verströmte den scharfen Geruch von altem Schweiß.

Eine schwere Gemütserkrankung hatte ihn fest im Griff. Davon war Jeremy überzeugt. Die Trauer und die Einsamkeit schienen ihren Tribut zu fordern. Er würde ihn, sobald er seine Angelegenheiten geregelt hatte, hier herausholen und in eine gute Klinik bringen. Für den Moment würde er alles tun, was Nolan wollte, um ihn nicht unnötig aufzuregen, und einen günstigen Moment abwarten, um ihn nach dem Geld zu fragen. Dann würde er weitersehen.

5. Kapitel

Nolan schritt durch den Raum zur Fensterfront auf der Ostseite des Anwesens.

Erst jetzt registrierte Jeremy, dass die Fenster von innen komplett mit Latten vernagelt waren. Offensichtlich stammten die Bretter von der Deckenverkleidung. Holzspäne, uralter Staub und zerrissene Spinnweben lagen auf dem Teppich. Nur ein Astloch von der Größe einer Murmel erlaubte den Blick nach draußen.

Nolan trat näher an die Lattenkonstruktion. Er schloss ein Auge und blickte mit dem anderen durch das helle Oval. »Ich dachte es mir! Komm und sieh es dir selbst an!« Hastig drehte er sich zu Jeremy um, wobei er ihn drängend zu sich heranwinkte. »Schau, wie sie dasitzen und lauern. Jetzt sind es wieder sehr viele. Jeden Tag, jede Nacht warten sie. Sie warten und warten und warten.«

Jeremy schob sich irritiert an ihm vorbei. Zögernd beugte er sich vor.

Nolan griff ihm in den Nacken und presste seinen Kopf an das Holz, sodass es unsanft auf seiner Stirn scheuerte. »Schau und sag, ob du es auch siehst!«, forderte er und drückte Jeremy ungeduldig mit der anderen Hand auf den Rücken.

»Ich mach ja schon.« Jeremy entwand sich ihm, bevor er unwillig sein Gesicht dem Astloch näherte. Wie Nolan schloss er ein Auge, um besser hindurchsehen zu können. Mit dem anderen fokussierte er das Unglaubliche, das er da draußen zu sehen bekam.

Unbewusst wich alle Muskelspannung aus seinem Gesicht. Sein Unterkiefer klappte herunter und er holte hörbar Luft. Sein Herz setzte für einen Schlag aus, und seine Pupille weitete sich ungläubig. Sein Gehirn schien nicht imstande zu begreifen, was es da sah.

Hunderte von schwarzen Vögeln hatten sich dort draußen niedergelassen. Der Rasen war dunkel, die Kopfweiden auf dieser Seite des Grundstücks sahen aus wie geteert und gefedert. So weit er schauen konnte, war alles schwarz. Es war unglaublich!

»Was ist das?«, fragte Jeremy und erkannte seine eigene Stimme, die sich zu einem fiependen Falsett zusammenzog, nicht wieder. Er drehte sich um, räusperte sich und wiederholte: »Was um alles in der Welt ist das?«

»Rabenkrähen! Lateinisch: corvus corone corone.« Nolan hielt den Blick starr auf Jeremy gerichtet. »Erst waren es nur einige wenige. Aber es werden immer mehr. Immer mehr.«

Jeremy schluckte und vernahm einen leisen Klicklaut in seiner Kehle. Dann spähte er wieder hinaus. Immer noch weigerte sich sein Verstand, dieses Bild zu akzeptieren. Er räusperte sich erneut und hüstelte. In der vorherrschenden Stille, die nur hier und da von einem leisen, entfernten Krächzen unterbrochen wurde, klang es wie Donnergrollen.

Sofort fuhren die Köpfe der Krähen herum, und – er wollte schwören, dass es so war – blickten zu ihm.

Als könnten sie ihn sehen, durchbohrten ihn ihre eisgrauen Blicke, und er hatte das Gefühl, dass sie auf sein Räuspern mit deutlicher Unruhe reagierten. Sie trippelten auf der Stelle, hoben die Flügel an, blickten aber weiterhin alle, tatsächlich alle, in sein Auge, das schreckensstarr durch das splitterige Holz stierte.

Eine Gänsehaut jagte Jeremys Rücken hinab, und die Härchen auf seinen Armen richteten sich auf.

Plötzlich schoss eine Art schwarzer Ball auf ihn zu. Mit nach vorn gerichteten Krallen knallte einer der pechschwarzen Vögel gegen die Scheibe. Ein Riss bildete sich an der Aufprallstelle. Er vergrößerte sich knisternd, als die Krähe sich an der Fensterbank festklammerte, aggressiv krächzte und begann, auf die Scheibe einzuhacken.

Entsetzt zuckte Jeremys Kopf zurück. Abwehrend hob er die Hände und trat einen Schritt nach hinten.

Die Männer sahen den Vogel zwar nicht, hörten aber umso deutlicher sowohl die Krallen, die auf der steinernen Fensterbank kratzten, als auch die wütenden Schnabelhiebe, die die Fensterscheibe attackierten.

Nach einer Weile verstummte das Geräusch.

Hatte die Krähe ihren Platz verlassen und sich wieder zu den anderen gesellt? Oder lauerte sie darauf, dass sich ein ungeschütztes Auge in der Öffnung zeigte, um es dann sofort zu attackieren?

»Das war eine eindeutige Warnung an dich, mein Freund«, sagte Nolan.

»Glaubst du wirklich, die wissen, dass wir uns in diesem Raum befinden?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Nolan. »Bereits seit vielen, vielen Wochen beobachten sie jeden meiner Schritte. Zu Beginn waren es nur sehr wenige, und ich habe mir nichts dabei gedacht. Als es immer mehr wurden, fühlte ich mich schon fast verfolgt, und ich wechselte alle paar Stunden den Raum, um mich vor ihnen zu verstecken, aber es ist hoffnungslos. Sie sind die reinsten Stalker! Seit gestern verschanze ich mich hier. Ich glaube, die ersten Tiere haben mich nur bespitzelt und meine Gewohnheiten ausspioniert.«

Entgeistert sah Jeremy ihn an. »Es sind Vögel, Nolan! Du sprichst von ihnen, als könnten sie denken oder sogar überlegt handeln.«