Rabenfee - Gero Siebeneich - E-Book

Rabenfee E-Book

Gero Siebeneich

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Beschreibung

Ein Hilferuf aus einer anderen Welt erreicht die schottische Küste und bringt das Leben der Familie Grand aus dem Gleichgewicht. Die in einer alten Sprache verfassten Zeilen, wonach eine mächtige Frau sowie ein eigenwilliger Zauberstab den Weg in die Welt der Menschen fanden, geben Rätsel auf, die nicht nur die Grands in ihren Bann ziehen. Während die Frauen der Familie, allen voran die vierzehnjährige Kheira, der Lösung langsam näher kommen, hat die Nachricht längst ihren Weg zu denen gefunden, die den Herrscherstab um jeden Preis an sich bringen wollen.

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Sammlungen



Für Pina,

dem neugierigsten, fantasievollsten

und großartigsten Patenkind,

das sich ein Geschichtenerzähler wünschen kann.

Inhaltsverzeichnis

Schottische Nordküste, Frühsommer 2014

Avalon

Die Zeremonie

Victoria

Regia

Die Flaschenpost

Der Experte

Crazy Kitty

Hadrianswall (372 n. Chr.)

Mystique

Spey Bay

Erkenntnis

Der Überfall

Die Flucht

Die Beute

Die Zauberinsel

Vermisst

Kennenlernen

Ein Freund

Der Bote

Callanish

Die Verbannten

Das Leben auf Avalon

Der Rat der Weisen

Die Entscheidung

Abschied

Epilog

Schottische Nordküste, Frühsommer 2014

Kheira überquerte die Küstenstraße am einzigen Zebrastreifen von Lossiemouth. Drüben angekommen setzte sich die Mischlingshündin, die sie an der Leine führte auf den Hintern und schaute erwartungsvoll über die Schulter nach dem Mädchen, das nur wenige Schritte hinter ihr war. „Ja, ich mach dich sofort los. Du kannst es mal wieder kaum erwarten.“ Nervös rutschte der Hund auf den Hinterläufen hin und her und sobald Kheira die Leine vom Halsband gelöst hatte, genügte ein Kopfnicken von ihr und Easy schoss wie ein Pfeil in die Dünen und war gleich drauf verschwunden. Die vierzehnjährige Schottin kannte das Ritual und wusste, dass sie ihre Freundin am Strand wiedersehen würde. Easy hatte ihren Namen nicht von ungefähr, wenngleich die junge Hündin ihr gutes Benehmen vor allem Kheiras Vater verdankte, der viel Zeit mit ihr beim Hunde-Training verbracht hatte. Aber sie war schließlich ein schottischer Hund und der brauchte nach Kheiras Meinung auch seine Freiheiten.

Es war ein typischer Dienstagnachmittag. Ihre Mutter, die zwei Jahre nach der Geburt ihres kleinen Bruders Collin wieder halbtags in ihrem Beruf als Hebamme arbeitete, war dann bei den jungen Müttern im Umland zur Nachsorge. Collin wurde währenddessen von Grandma Elisabeth, die in einer Nebenstraße ein kleines Reihenhaus bewohnte rührend umsorgt und Kheira durfte nach dem Lunch mit dem Hund raus, bevor die Hausaufgaben ihre Aufmerksamkeit verlangten.

Als sie die Dünen durchquert hatte, schlug ihr der Wind hart ins Gesicht. Obwohl bereits Juni, waren Wetterkapriolen hier oben an der schottischen Nordküste keine Seltenheit. Grandma pflegte zu sagen: „Wem das Wetter hier nicht gefällt, der wartet halt zwanzig Minuten.“ Elisabeth war eine kluge alte Dame, die meist Recht behielt. Durch den stetigen Wind angetrieben, wechselten sich helle und dunkle Wolkenbänder mit sonnigen Abschnitten rasch ab.

Kheira zog sich die Kapuze ihrer Jacke tief ins Gesicht und spähte unter dem Fellrand nach dem Hund. Easy war am Strand immer völlig ausgelassen und tollte zwischen dem hier reichlich vorhandenen Strandgut, das vom Meer angeschwemmt wurde herum. Dabei entging ihren wachen Augen und ihrer vorzüglichen Nase nichts von Interesse, und Dinge, die einer näheren Untersuchung bedurften, schleppte sie an oder wenn die Sachen zu schwer waren, führte sie Kheira hin, damit sie näher in Augenschein genommen werden konnten. Mal waren es Auftriebskörper die sich von Fischnetzen gelöst hatten und die im seemännischen Fachjargon „Flottholz“ heißen. Ein andermal brachte sie ein lackiertes Holzbrett mit einer Aufschrift in einer fremden Sprache, die Kheira nicht entziffern konnte. Dann stellte sie sich vor, dass es sich um ein Brett mit dem Namenszug eines kleinen Fischerbootes handelte und sie fragte sich, wie dieses wohl in einem fernen Land zu Schaden gekommen war. Häufig kam Easy mit Salzwasser gebeizten Knüppeln an und wenn ein besonders schöner dabei war, dann war der für Grandma, die damit ihren Kräutergarten einzäunte zum Schutz vor den Nachbarskatzen, wie sie sagte. Die krummen Stöcke gaben dem Gärtchen hinterm Haus seinen besonderen Charme, wobei selbstverständlich alle wussten, dass der Zaun für die Stubentiger der Nachbarn keine echte Herausforderung darstellte.

Die Teemischungen und Tinkturen aus Omas Kräutergarten fanden im Ort reichlich Abnehmer. Sie halfen zum Beispiel als Aufguss bei Atemwegserkrankungen oder als Salbe, auf offene Wunden aufgetragen. „Früher war das noch eine andere Zeit, pflegte Grandma zu sagen. Da ist man nicht wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt gegangen. Als ich jung war, gab es hier oben nur sehr wenige Ärzte und außerdem waren die Kenntnisse in Naturheilkunde unter den Frauen der Gegend weit verbreitet. Diese wurden traditionell von der Mutter an die Tochter weitergegeben.“ Elisabeth lag diese Tradition sehr am Herzen und so wunderte es nicht, dass ihre Mutter Mary ebenfalls ein wandelndes Lexikon in Kräuterkunde war und auch Kheira durch die beiden Frauen eine umfassende Ausbildung in diese Richtung genoss.

Plötzlich tauchte Easy in Kheiras eingeschränktem Sichtfeld auf. Heute hatte sie ihre Spürnase offenbar im Stich gelassen. Was da vor dem Mädchen in den Sand fiel war eine handliche Colaflasche aus Kunststoff, der Salzwasser und Sonne bereits übel zugesetzt hatten. Das ehemals durchsichtige Plastik war milchig geworden und das ursprünglich rot-weiße Firmenetikett war fast ganz ausgeblichen. Die Buddel war zu. Der noch im Original-Rot erkennbare Schraubverschluss saß auf der Flasche.

Easy stand da, spitzte die Ohren und legte den Kopf in Erwartung des gleich beginnenden „Hol-und-Bring-Spiels“ leicht schief. Kheira bückte sich und hob die Colaflasche auf. Sie war leer. Als sie zum Wurf ausholte, schlug etwas innen gegen den Flaschenhals, nicht sehr fest aber dennoch deutlich wahrnehmbar. Noch in der Wurfbewegung nahm sie das Tempo raus und ließ den Arm sinken. Easy, die sich bereits einige Meter in die vermeintliche Flugrichtung der PET-Flasche entfernt hatte, bremste ihren Lauf so abrupt, dass ihre Pfoten den Sand hoch in die Luft wirbelten. Irritiert und mit offenem Maul blieb sie stehen, während Kheira mit der freien Hand über die Colaflasche strich und nach einer durchsichtigen Stelle suchte. Am Flaschenboden, der sich nach innen wölbte wurde sie fündig. Drinnen lag ein zusammengerolltes bräunliches Papier, welches in der Mitte von einem geflochtenen Faden zusammengehalten wurde. An der Stelle, wo sie den Knoten vermutete, befand sich ein Siegel.

Eine Flaschenpost.

Avalon

Whistle saß am Ufer und blickte aufs Wasser. Er sah zu seinen Stellnetzen unweit der Flussmündung hinüber. Vielleicht würde sich heute eine schmackhafte Meerforelle oder gar ein Lachs darin verfangen, womit er seinem alten Meister Hora und Nala eine Freude bereiten konnte. Er diente dem Alten bereits seit vielen Jahren und musste nun mit ansehen, wie der sich zunehmend zurückzog. Der kleine Kobold wiegte den Kopf hin und her und summte dabei eine traurige Melodie.

Alles begann aus dem Ruder zu laufen, nachdem der Zauberstab des Meisters in die Welt der Menschen zurückgekehrt war. Es waren keine guten Zeiten auf Avalon – keine guten Zeiten.

Zu der Zeit, als die Götter der Römer und Christen über Britannien kamen wie eine Flut, verlor der alte Glaube immer mehr an Bedeutung. Als die Macht der alten Götter zusehends schwand, zogen sich Druiden, Magier, Priester und Feen mit ihren Helfern auf die Insel Avalon zurück. Für lange Zeit blieb die verborgene Pforte zwischen der Welt der Menschen und der „Anders-Welt“, wie die Apfel-Insel Avalon auch genannt wurde, für die Eingeweihten geöffnet. So verlief das Leben auf Avalon lange Zeit in geordneten und ruhigen Bahnen. Als dann der alte Glaube vollends aus der Welt der Menschen verschwunden war und die Pforte über Jahrhunderte nicht mehr genutzt wurde, traf der Rat der Zwölf die Entscheidung, die letzte bekannte Passage, die Avalon mit der Welt der Menschen verband, zu versiegeln. Damit wollte man für alle Zeiten beide Welten schützen, indem man sie voneinander trennte.

Der Termin für die Zeremonie wurde für das bevorstehende Beltane-Fest angesetzt, an dem nach keltischem Brauch die Vermählung von Himmel und Erde mit leuchtenden Feuern gefeiert wurde. Die Pforte, die es zu schließen galt lag am See, der das zentrale Heiligtum von Avalon bildete. Er wurde von einem Quell genährt, dessen Wasser seit Anbeginn der Zeit unter der Insel ruhte und der hier an die Oberfläche trat. Der Bach, den der See speiste, schlängelte sich gefällig durch die Wiesen und mündete in der Nähe von Whistles Stellnetzen ins Meer.

Die Zeremonie

Es war ein sonniger Morgen. In der Welt der Menschen schrieb man das Jahr 1837. Der Herrin vom See kam die Aufgabe der Zeremonienmeisterin zu. Die schlanke Frau trug zu diesem Anlass ein weißes bodenlanges Kleid, das bis zum Hals geschlossen war. Ihr langes blondes Haar wurde an der Stirn von einem goldenen, mit Edelsteinen besetzten Diadem zusammengehalten und umschmeichelten weiter unten ihre geraden Schultern. In den Händen hielt sie ein Gebinde aus Wiesenblumen und Farnen. Visca, ihren Zauberstab, der zu den „Großen Fünf" gehörte, trug sie an dem goldbestickten Gürtel, der um ihre Hüften lag.

Dahinter schritten die vier weiteren Stabträger:

Hora, der Herr der Zeit, mit Regia dem Herrscherstab,

Wetgel, Meister des Wassers, mit seinem Zauberstab Aquilla,

Lumen, der Meister des Lichtes, mit Lux und

Meister Latex mit Salix, dem Weidenstab, der auch der Biegsame genannt wurde.

Dann kamen die gewählten Vertreter des Rates, sieben an der Zahl. Sie trugen allesamt die ihnen als Würdenzeichen verliehenen Halsketten mit dem Wappen Avalons. Auf den runden Anhängern war ein Apfelbaum abgebildet, in dessen Mitte sich das Hexagramm als Symbol der Alchemie befand. Die überlappenden Dreiecke symbolisierten die Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde.

Ihnen schlossen sich die übrigen Druiden, Priester und Feen an. In einiger Entfernung folgten Handwerker und Gehilfen. Am Ende des Zuges beobachteten die auf die Insel Verbannten misstrauisch die Prozession, die ihr Schicksal für immer besiegeln sollte.

Es war an Nimue, der Herrin vom See, zu Ehren der alten Götter die überlieferten Gesänge anzustimmen. Sie schritt zwischen den knorrigen Obstbäumen, die hier zeitgleich blühten und Früchte trugen hindurch, denn auf Avalon existierten keine Jahreszeiten. Das Gras unter ihren Füssen glitzerte feucht vom Tau, denn der Tag war noch jung. So näherte sich der Zug dem Wasser.

Die Pforte befand sich im knietiefen Wasser am Ufer des Sees, aus dem sie ihre Magie bezog. Sie war unsichtbar und bestand aus einem Energiefeld, das den Durchgang in die Welt der Menschen ermöglichte. In der Vergangenheit hatten zwei große Steinsäulen, die später entfernt worden waren ihre Abmessungen, angezeigt. Heute war sie nur mit geübtem Auge zu erkennen, denn das Wasser schimmerte dort ein wenig heller als anderswo.

Zur Zeit der ersten Götter gab es noch weitere Passagen zwischen den Welten. Doch die kannte heute niemand mehr und sie waren nicht für jedermann zugänglich gewesen, sondern den Göttern vorbehalten.

Die Prozession hielt am Ufer. Nur Hora und Nimue gingen ein Stück in den See hinein. Dann trat Hora an die Pforte und hob den Herrscherstab, so dass ihn alle sehen konnten. Er fasste Regia mit beiden Händen und führte ihn senkrecht vor die Brust. Die Augen hielt er dabei geschlossen. Seine Lippen bewegten sich leise. Am Ufer wartete man gespannt darauf, was nun geschehen würde, denn dem Einsatz von einem der Großen Fünf - mit Ausnahme von Nimues Heilerstab - konnte man nur selten beiwohnen.

Als der Piktenpriester die Augen öffnete, hob er den Stab ein wenig an und stieß ihn in die Pforte hinein.

Es folgte eine Explosion, wie sie niemand erwartet hatte. Viele der Umstehenden wichen erschrocken zurück. Regia übertrug die Erschütterung auf die Hand seines Herrn. Der ließ notgedrungen den Stab los und taumelte zurück. Sein Gesicht war aschfahl. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß.

Wie versteinert blickte er auf die Szene, die sich ihm bot. Die Pforte wurde instabil, sie vibrierte an den Rändern und diese Schwingungen setzten sich im Wasser fort. Die durch den Zauber herbeigeführte Reaktion war viel heftiger, als beabsichtigt. Was hier geschah, hätte nicht passieren dürfen. Es bildeten sich untypische Wellenmuster und bald war der gesamte See in Bewegung. Unmittelbar vor der sich unter unerträglichem Kreischen langsam schließenden Pforte hatte sich ein Strudel gebildet, der schnell an Durchmesser zunahm.

Regia trieb an der Wasseroberfläche. Er war bereits in eine kreisförmige Bewegung übergegangen und drehte sich nun um seine eigene Achse, wodurch er weiter ins Zentrum des Strudels geriet.

Sie stand links von Hora im knietiefen Wasser und war der Pforte näher als alle anderen. Voller Entsetzen hatte sie die Reaktion des alten Priesters beobachtet, der nun paralysiert seinem Zauberstab nachsah. Sie musste retten, was noch zu retten war.

Als der Herrscherstab auf seiner immer kürzer werdenden Reise um das Zentrum des Strudels in ihre Nähe kam, versuchte sie danach zu greifen, doch sie konnte ihn nicht erreichen. Also machte sie einen Schritt nach vorne um ihn nach einer weiteren Runde seiner Umlaufbahn dem immer stärker werdenden Sog zu entreißen. Ihre Finger verfehlten Regia nur um Haaresbreite.

Anstrengung und Enttäuschung pressten einen kehligen Laut über ihre Lippen. Beim nächsten Mal musste es gelingen, sonst war er für immer verloren. Als sie sich streckte und dabei notgedrungen ihr Körpergewicht auf das vordere Bein verlagerte, spürte sie, wie der Boden unter ihren Füßen nachgab, um sich dem Strudel hinzugeben.

Sie warf Hora einen letzten Blick zu, nicht erschrocken, eher erstaunt und versank in den Wassermassen.