Rabenherz und der mysteriöse Mord von Einsiedeln - Carole Enz - E-Book

Rabenherz und der mysteriöse Mord von Einsiedeln E-Book

Carole Enz

0,0

Beschreibung

Eine Zeitreise nach Einsiedeln offenbart Margarethe das ganze Ausmass der Tragödie, die sich am eigentlichen Tag ihrer Geburt abgespielt hat: ein ungelöster Mordfall! Und dieser entpuppt sich als Startschuss für ein rasantes Abenteuer durch turbulente Zeiten. Dreh- und Angelpunkt ist das altehrwürdige Kloster Einsiedeln. Geheimagenten dreier Weltmächte verfolgen Margarethe und ihre Freunde Leon, Seraina und Rudy bis nach Salzburg, um an den Plan für eine Geheimwaffe zu gelangen, der im Kloster versteckt sein soll. Unfreiwillig mit dabei: Nervtöter Gerry. Derweil sitzen die Raben Plonk und Corvina beim Einsiedler Meinrad fest und können nicht helfen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 300

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Prolog

1 Hinter dicken Mauern

2 Eine Geburt und zwei Schüsse

3 Beten und Arbeiten

4 Kloster unter Beschuss

5 Ein ungelöster Mordfall

6 In grosser Bedrängnis

7 Unter französischer Fuchtel

8 Meinrad und sein Rat

9 Das Amulett

10 An der Quelle

11 Nackte Tatsachen

12 Erzwungene Retraite

13 Die Zahl der Jakobsmuschel

14 Drei Agenten, vier Freunde und ein Geheimpapier

15 Das Dilemma

16 Ein neuer Anlauf

17 Das Übel an der Wurzel packen

18 Zur richtigen Zeit am falschen Ort

19 Abenteuer in Salzburg

20 Wo sich Viren und Phagen gute Nacht sagen

21 Endstation auf Chinesisch

22 Zwei fast aussichtslose Fälle

23 Zwei gefiederte Engel für Meinrad

Epilog

Anhang (Historische Fakten, Dank,Literaturverzeichnis, Autorinnen-Portrait)

In memoriam Jimmi Rabenherz, unserem treuen Rabenherz-Fan, dessen Begeisterung für Plonk buch stäblich unter die Haut ging.

Prolog

Die werdende Mutter verkrampft sich, im Bett liegend, und krallt sich verzweifelt am Arm ihres Gatten fest, als drohe sie zu ertrinken. Ihr schmerzverzerrtes Gesicht, ihre vor Angst aufgerissenen Augen und ihr schwerer Atem zeugen von ihren Qualen. Beruhigend spricht der Ehemann auf seine Frau ein, obwohl in ihm ebenfalls eine dunkle Panik hochkriecht. Zudem bohren sich ihre Fingernägel schmerzhaft in die Haut seines kräftigen Unterarms. «Ruf… die Ambu…», röchelt Marianne Gygax mit erstickter Stimme, und ihr Mann Heinrich streichelt sanft mit der rechten Hand ihre schweissgebadete Stirn.

Das Paar wollte eben gerade den Tag beginnen, als bei Marianne die Wehen eingesetzt haben. «Vergiss die Ambulanz. Dafür ist es zu spät,… die Fruchtblase ist ja schon geplatzt. Das Kind kommt… jetzt…», antwortet Heinrich in beinahe wissenschaftlichem Tonfall, um seine eigene Angst zu bändigen. Der junge Biologe schiebt alle Bedenken zur Seite und fügt mit fester Stimme hinzu: «Ich habe schon einer Kuh, einem Pferd und zwei Ziegen beim Gebären geholfen. Das kriegen wir hin.» Marianne lacht gequält, Heinrich fährt fort: «Gut atmen und nur pressen, wenn die Wehen kommen. Sobald das Kind den Kopf herausstreckt, kannst du mit dem Pressen aufhören. Die Kontraktion des Geburtskanals reicht dann aus…» Marianne schreit herzzerreissend, besinnt sich dann aber der Worte ihres Gatten und presst zeitgleich mit den nächsten Wehen. Die Tortur wird dadurch nicht weniger schlimm, doch sie hat das Gefühl, etwas tun zu können – auch wenn es ihr vorkommt, als würde es sie zerreissen. Zudem beschert ihr die Vorfreude auf das Kind neue Kraft, und sie presst aus Leibeskräften. Und siehe da, nach einigen Minuten, die der Gebärenden wie Stunden vorkommen, erscheint schon das Köpfchen des Kindes, ein Wesen, so verschrumpelt wie eine Dörrzwetschge.

Heinrich windet sich aus Mariannes Klammergriff heraus und wendet dem Kind seine volle Aufmerksamkeit zu, denn das kleine Wesen steckt noch zur Hälfte im Mutterleib. Er legt seine kräftigen Hände sehr geschickt um das winzige Wesen und zieht ganz sachte an Kopf und Schultern des Neugeborenen, so dass es mit einem Flutschen auf die von Fruchtwasser und Blut getränkte Matratze zu liegen kommt. Im nächsten Moment schreit das Neugeborene los – seine Lungen können sich so entfalten. Dann entnabelt er sein Kind geschickt mit einem zuvor desinfizierten, sehr scharfen Japanmesser.

Marianne atmet erschöpft und erleichtert zugleich auf. Sie ist lediglich mit dem Oberteil ihres Pyjamas bekleidet, das pitschnass ist vom Schweiss. Heinrich starrt mit Tränen in den Augen auf das hilflose Geschöpf in seinen Armen, dann begibt er sich zum Kopfende des Bettes und legt das Neugeborene in die Arme seiner Frau. Das Baby schaut zum Entzücken der Eltern mit grossen Augen neugierig in die Welt, in die es gerade hineingeboren wurde.

Glücksgefühle durchströmen die Mutter, und der ganze Schmerz ist vergessen. Marianne lächelt schwach und raunt: «Maximilian!» – Heinrich räuspert sich und grinst: «Die Ärzte haben sich beim Ultraschall geirrt. Es ist ein Mädchen! Und… wir haben gar keinen Namen für ein Mädchen…» – Marianne schaut ihren Mann verdattert an und erwidert: «Dann soll sie Margarethe heissen, wie deine Grossmutter, die du so gern hattest und die mich so herzlich in der Gygax-Familie willkommen geheissen hatte.» – Heinrich kullert eine Träne die linke Wange hinunter, denn es rührt ihn zutiefst, dass Marianne dem Töchterchen den Namen jener Frau geben will, die ihn wie eine Mutter grossgezogen hat, weil seine leiblichen Eltern gestorben waren. Leider ist diese gute Frau vor rund acht Monaten, im Januar 2004, von ihnen gegangen. Sie kann dieses freudige Ereignis wohl allenfalls als Schutzengel begleitet haben – Marianne glaubt, die Präsenz eines solch kraftvollen Geistwesens während der ganzen Geburt gespürt zu haben.

Marianne dreht ihr Töchterchen leicht, um der Kleinen das Finden einer Brustwarze zu erleichtern, damit das Neugeborene eine erste stärkende Milchration einnehmen kann. In diesem friedlichen Moment ertönt ein gewaltiger Knall wie aus einem Gewehr – und das in einer sonst so stillen Gasse gleich in der Nähe des Klosters Einsiedeln. Die frischgebackenen Eltern blicken sich verdattert an, das Töchterchen beginnt vor Schreck zu schreien, und Heinrich hastet zutiefst besorgt zum Fenster.

Als der junge Vater hinausschaut, sieht er, wie ein blonder Mann in einem schwarzen Anzug aus einer ziemlich klobigen Pistole einen zweiten Schuss abfeuert – auf eine Frau – und dies morgens in einer ruhigen Wohngegend von Einsiedeln. Die Angeschossene stürzt stumm zu Boden und bleibt reglos auf der gepflasterten Gasse liegen. Blut sickert unter dem Opfer langsam der Strasse entlang zu einem Schachtdeckel. Heinrich erbleicht. Der Schütze schaut zu ihm herauf. Die Blicke der beiden Männer treffen sich. Heinrich sackt der Blutdruck zusammen, und er muss sich am Schlafzimmerschrank festhalten. Gut, haben dessen Türen dicke Zierleisten. Heinrichs Herz rast, und Marianne fragt mit zitternder Stimme: «Was ist… los?» – Stille, erdrückende Stille folgt auf die zwei Schüsse.

Nach einer halben Ewigkeit, wie es der jungen Familie vorkommt, verschafft sich der Mörder rücksichtslos und gewaltbereit Zugang zur kleinen Wohnung. Die Eheleute sind wie gelähmt vor Schreck und Margarethe heult los, als der Mann in Schwarz ins Schlafzimmer stürmt und seine Waffe, eine alte sowjetische Tokarew der 1930er Jahre, auf Mutter und Kind richtet. Heinrich ist der Ohnmacht nahe, weiss aber, dass er seine Familie verteidigen muss. Das Adrenalin, das jetzt ihn ihm hochschiesst, drückt seinen Blutdruck wieder hoch, und er macht ein paar Schritte auf den Mann zu, der seine Familie bedroht. Heinrich zückt ein kleines Klappmesser, das er während seiner Doktorarbeit in freier Natur oft benutzt hat und immer bei sich trägt. Er betätigt den Verschluss, der sogleich die Klinge freigibt, die kurz aufblitzt. Wie ein Schwert hält er das offene Messer in seiner rechten Faust. Der kaltblütige Killer verzieht keine Miene – respektive, Heinrich kann wegen der Sonnenbrille im Gesicht des bleichen Fremden keine nennenswerte Regung bei seinem Kontrahenten erkennen. Dafür erfassen Heinrichs Augen eine silberne Halskette, an der ein Amulett in Form von Rabenkrallen hängt.

In diesem Moment landet ein Rabe auf dem Sims des Schlafzimmerfensters. «Kraaaa, kraaaa, kraaaa!», kräht der Gefiederte eindringlich. Und ein zweiter Rabe gesellt sich zum rufenden Tier. Da senkt der Bewaffnete die Pistole und spricht mit eindrücklicher Bassstimme: «Meinrads Raben beschützen also das Baby! Ich werde euch verschonen, weil ich nicht enden will wie die Mörder des Benediktinermönchs Meinrad, die von dessen Raben verfolgt und der Justiz übergeben wurden. Unter folgenden Bedingungen lasse ich euch leben: Ihr verschwindet sofort von hier. Und als Geburtstag von Rabenherz gebt ihr dem Zivilstandsamt keinesfalls den heutigen Tag, nicht den 24., sondern den 21. September an. Ihr wart seit drei Tagen nicht mehr hier, ihr habt nichts gesehen und nichts gehört. Sollte jemand von euch der Polizei etwas anderes sagen, werde ich euch finden und töten.» – Gerade, als er seinen letzten Satz beendet hatte, schlagen die Glocken der Klosterkirche Einsiedeln acht Mal dumpf und nachhallend in den beginnenden Tag hinein.

* * *

1Hinter dicken Mauern

«Das muss ein Alptraum sein!», jammert Leon. «Meine Haare sind weg, diese Kutte juckt fürchterlich, und obendrein ist Mäg verschwunden!»

Wie ein Tiger geht er auf und ab in der winzigen Zelle, deren schiesssschartenartiges Fenster vergittert ist. Die Türe ist verriegelt, und nur ein kleines Guckloch erlaubt einen Blick nach draussen. Durch diesen <Spion> schaut ein blau-graues Augen-paar hinter Gläsern herein zu dem Beklagenswerten. «Für die ersten drei Punkte kannst du nichts, aber den Arrest hast du dir selbst zuzuschreiben!», bemerkt eine vertraute Stimme tadelnd. «Du hast gewütet wie ein… na ja, wie ein Löwe eben!»

Fauchend reagiert der Angesprochene auf den Vorwurf: «Ru, was denkst du denn? Ich war eben gestresst! Stell dir vor, du erwachst… unter diesen Umständen!» – «Weiss ich; mir geht es genauso, falls du das vergessen hast!», erinnert ihn sein Gegenüber. «Meinst du, ich finde es lustig, dass ich plötzlich eine Glatze habe und nicht weiss, was aus meiner Raina geworden ist?» Nachdenklich fährt er sich über seinen Hinterkopf. «Wobei eine solche Tonsur eigentlich noch ganz praktisch ist!» Seufzend quittiert Leon diese Feststellung: «Sonst geht’s dir noch gut? Was soll an einer Glatze praktisch sein? Und das sieht sicher voll bescheuert aus!» Rudy überlegt einen Augenblick, dann entgegnet er eiskalt analysierend: «Praktischer als deine Löwenmähne ist sie auf jeden Fall, ausserdem sollst du nicht toll aussehen, sondern dich auf geistige Genüsse konzentrieren, auf das Gebet, die Andacht! Du als angeblicher Buddhist solltest doch der Meditation zugetan sein! Die wilden Haare lenken nur ab und machen unnötigen Aufwand!» – «Du hast ja Recht, die Eitelkeit, vanitas, das grosse Laster der Welt… bloss, wenn Mäg mich so sieht! Aber wo ist sie nur? Und Rai?» Traurig blickt Leon aus seinen leuchtendgrünen Augen durch das Guckloch hinaus in die blau-grauen Augen seines unterdessen besten Freundes, die beruhigend auf ihn wirken – ruhig wie ein Bergsee. Rudy dagegen nimmt Leons Augen wahr wie das wilde Meer – unbezähmbar, getrieben, voller Energie und Lebenslust. Kurz irritiert ihn dieser Gedanke, da er normalerweise nur seiner Freundin Seraina tief in die Augen blickt und keine Gedanken an die Seelenfenster anderer Menschen verschwendet. Allein, dieses Guckloch erlaubt nur den Blick auf einen beschränkten Ausschnitt des Gesichtes, und so schenken die Männer einander ungewohnt tiefe Blicke.

Als das Leon bewusst wird, nimmt er Zuflucht zu seinem gewohnten Ritual: Wenn es zu gefühlvoll wird, klopft er einen Spruch. Nur will ihm gerade kein treffender einfallen. Stotternd fängt er an, da kommt ihm Rudy zuvor: «Bilde dir bloss nicht ein, dass du mich hypnotisieren könntest, Leo! Auch nicht mit deinem zauberhaften Augenaufschlag!» Völlig baff reagiert Leon nicht gleich, sondern ist sprachlos. Dann bricht er in Gelächter aus: «Ru, du bist einmalig! Wenn du mir so tiefe Blicke aus deinen blauen Augen schickst, könnte ich mich glatt verlieben!»

«Blau-grau, wenn ich bitten darf!», korrigiert Rudy, wird dann aber wieder ernst: «Scherze nicht mit solchen Dingen, in Klöstern herrschen andere Gesetze! Hier gilt das Keuschheitsgelübde! Auch unter Männern!» – «Keuschheit! Auch das noch!», seufzt Leon. «Das überlebe ich nicht!» – «Solange Mäggy nicht da ist, musst du es wohl oder übel überleben», gibt Rudy zu bedenken. «Aber ich frage mich, wo Raina und Mäggy sind!»

Leon erinnert sich wie durch einen Nebel: «Wir standen doch erst noch zu viert in der Klosterkirche von Einsiedeln, und Plonk wartete draussen. Wir wollten eine Kerze anzünden; also Mäg wollte das, für ihren kranken Grossvater, aber dann…» – «Dann landeten wir hier. Und du benahmst dich so unmöglich, dass sie dich gleich in die Arrestzelle verfrachtet haben», fasst Rudy zusammen. «Und sieh dich vor, am Ende wirst du noch gezüchtigt! Das tun sie nämlich mit unbelehrbaren Klosterbrüdern!»

Leon reisst seine Augen weit auf. «Das würdest du aber doch nicht zulassen, mein lieber Ru, oder?» Ernst reagiert dieser: «Nein… wenn ich überhaupt ein Wörtchen mitzureden habe.»

* * *

Fassungslos stehen Margarethe und Seraina unter einem vergoldeten Himmel aus goldenen Wolken, auf welchen Engel sitzen, als wäre nichts geschehen. Unbeschwert tummelt sich das Himmelsvolk unter Deckengemälden von Christi Geburt und dem Abendmahl. Manche der geflügelten Himmelsboten turnen an den Orgeln auf den Emporen herum, andere spielen Trompete. Die Statuen wirken so vergnügt und lebendig, dass sich die Mädchen in einem Traum wähnen. «Was zum Geier ist jetzt gerade passiert?», wundert sich Seraina. «Dieser seltsame Nebel… es hat mich gerade geschaudert! Und wo sind unsere Männer?»

«Sie standen doch gerade noch hinter uns», spricht Margarethe langsam, während sie ihren Blick durch den mit Besuchern überfüllten Kirchenraum schweifen lässt, in der Hoffnung, dass Leon und Rudy gleich wieder auftauchen. Vielleicht haben sie sich einen der seitlichen Altäre angesehen oder sind ganz nach vorne zum Chor spaziert, wo die Chorherren jeweils für den Gottesdienst jenseits des Gitters hinter dem Altar auf ihren hölzernen Stühlen sitzen. Allein, sie sieht weder den einen noch den anderen ihrer Freunde. Beunruhigt blickt sie sich nervös im <irdischen> Bereich der grossen Kirche um, dann wendet sie ihre Aufmerksamkeit erneut dem prunkvoll verzierten <Himmelszelt> zu, von welchem rosarote und weisse Engel herabblicken – als hoffte sie, die Himmelsbewohner könnten ihr mitteilen, wo sich ihre Liebsten befinden.

Der Kirchenraum ist so dicht geschmückt, dass die Betrachterinnen sich in einer anderen Sphäre wähnen; sie fühlen sich wahrhaftig emporgehoben ins Himmelszelt, wo Heilige und Engel auf den Wolken sitzen und feiern. Aber die Beklemmung ist stärker als die Verzauberung, und die Furcht um ihre Freunde mischt sich erneut mit Verwunderung. Verwirrt murmelt Seraina: «Warum zum Geier sind so viele Engel rosa?» – «Warum ist die Madonna schwarz?», kommt prompt die Retourkutsche von Margarethe, und beide Mädchen sehen sich in die Augen. Sie wissen nicht, ob sie weinen sollen vor Verzweiflung über das Verschwinden ihrer Freunde oder lachen sollen über die Absurdität ihrer Bemerkungen.

«Ich verstehe wirklich nicht, was passiert ist», sinniert Margarethe. «Soeben habe ich doch noch die Kerze für Opa angezündet und war darum einen Moment lang abgelenkt…» – «…und ich war in die Betrachtung der schwarzen Madonna vertieft», gesteht Seraina und kann auch jetzt ihren Blick fast nicht von der prachtvoll gewandeten Statue der Mutter Gottes mit dem Christkind im Arm lassen. Sie ist selbst überrascht, wie stark sie diese berühmte und faszinierende Figur anzieht. «Die ist, glaube ich, schwarz, weil die Klosterkirche mehrmals gebrannt hat», spricht sie. – «Aber dann wäre sie doch nicht so regelmässig gefärbt», gibt Margarethe zu bedenken. «Ich habe mal irgendwo gelesen, sie sei schwarz vom Weihrauch.» Als sie das bemerkt, muss sie unwillkürlich husten. – «Kein Wunder, die räuchern hier ja wie die Weltmeister!», stellt Seraina fest mit Blick auf einen Klosterbruder, der ein Weihrauchfässchen schwenkt, aus welchem stark duftender Wohlgeruch entströmt wie eine Rauchwolke. Seraina muss niesen. «Weihrauch erzeugt bei mir Heuschnupfen!», entschuldigt sie sich und sucht fieberhaft nach einem Taschentuch, bis ihr Margarethe ein Päckchen reicht. Beide mustern die dunkle Frauenstatue mit dem ebenso schwarzen Baby im Arm eindringlich. Sie strahlt Ruhe und Zuversicht aus, und im Angesicht der bewunderten doppelten Heiligenstatue werden die Mädchen von Ehrfurcht erfasst.

Seraina atmet geräuschvoll durch ihre verschnupfte Nase ein und hofft, auf diese Weise die Atemwege freizukriegen. Leider kann ihr auch die Maria nicht verraten, wo sich ihr geliebter Rudy im Augenblick befindet, obwohl Seraina in Gedanken diese Frage an die Heilige richtet. Margarethe seufzt: «Es kommt mir vor wie ein Filmriss. Das riecht mir ziemlich verdächtig nach…» – «…Weihrauch», beendet Seraina den Satz ihrer Freundin, welche trotz ihrer Beunruhigung lachen muss: «Zeitreise!»

«Aber wohin und weshalb?», stellt Seraina die Frage, die beide beschäftigt. – «Und vor allem: Wieso ohne uns?», doppelt Margarethe nach. – «Scht!», zischt eine ältere Frau und schickt den Mädchen einen grimmigen Blick. Obwohl sie sich flüsternd unterhalten, erregen die beiden Mädchen die Aufmerksamkeit der anderen Kirchenbesucher, die tief in ihre Andacht versunken sind und sich durch das Geflüster gestört fühlen. Seraina fasst Margarethe am Ellenbogen, um ihr zu signalisieren, dass sie besser hinausgehen, und letztere nickt zustimmend.

Als sie gerade die Kirche verlassen wollen, fällt Margarethes Blick auf eine Statue hoch über einem Altar, die in einem Sonnenstrahl glänzt, der durch das Kirchenfenster fällt. «Schau mal, diese Frau da oben trägt ein Schwert!», staunt sie. Auch Seraina blickt empor und stutzt: «Ist es eine Frau… oder ein Engel? Die sehen ja manchmal ziemlich androgyn aus.» – «Wie auch immer», winkt Margarethe ab, «in Zeiten von LGBTQ spielt das doch keine Rolle mehr. Könnte dieses schwerttragende Wesen die Zeitreise unserer Herzbuben verursacht haben? Aber da müsste doch ein Rabe im Spiel sein!» – «Sogar zwei Raben!», entgegnet Seraina, und Margarethe kapiert sofort: «Genau, die beiden Wappentiere von Einsiedeln.» Seraina nickt: «Dann hat es doch mit Vögeln zu tun. Ausserdem sieht das Schwert da oben eher aus wie eine überdimensionierte Feder.»

Weitere Zischlaute weisen die Freundinnen darauf hin, dass die andächtigen Kirchenbesucher sich auf den bevorstehenden Gottesdienst einstimmen wollen und durch das aufgeregte Getuschel der jungen Frauen irritiert sind. Als sie durch die Glastüre in den Windfang schlüpfen, der zur Eingangspforte führt, greift Seraina nach einer dort auf einem Gestell zum Verkauf aufgelegten Broschüre über die schwarze Madonna und wirft eine Münze in die Spendenurne.

Sobald die beiden Freundinnen aus dem Kirchentor treten, werden sie geblendet von einem Sonnenstrahl, und ein Krächzen erinnert sie daran, dass der Rabe Plonk vor der Klosterkirche auf sie gewartet hat. Margarethe sucht ihren Zögling mit ihren Augen und gewahrt zuerst eine eindrückliche Erscheinung in Überlebensgrösse genau vis-à-vis der Türe: einen Mann, der ein Schwert oder einen Degen trägt. Die Sonne leuchtet auf seine goldglänzende Waffe. Auf dem Kopf des marmornen Waffenträgers gurrt eine Taube.

Geblendet vom Sonnenlicht, braucht Margarethe einen Augenblick, um ihren Raben zu finden: Hoch oben auf dem Dachfirst hat er sich neben anderen Statuen verborgen. Die Augen der Vogelmutter gewöhnen sich erst langsam wieder an die Helligkeit nach dem schummrigen Kirchenraum, in welchem es trotz der goldenen Pracht düster war. Sie wendet sich erneut zu Seraina um und gewahrt aus dem Augenwinkel einen Mann in einem schwarzen Anzug. Und dieser Mann ist definitiv aus Fleisch und Blut, keine Statue, denn er macht sich mit einer Nagelfeile an seinen Nägeln zu schaffen. Dazu benutzt er eine kleine ausklappbare Feile an einem Schweizer Taschenmesser, das er am Schlüsselanhänger trägt – wie das auch Margarethe tut als waschechte Schweizerin. Um den Hals des Unbekannten hängt eine silberne Kette, an der ein Amulett in Form von Rabenkrallen baumelt. Warum dieser Mensch sie plötzlich interessiert, wird ihr erst klar, als Plonk erneut krächzt.

* * *

Rudy erwacht auf einer harten Unterlage. Sein Rücken schmerzt, und ihm ist kalt. «Wieso kratzt mein Pyjama so, und wieso ist die Matratze so bretthart? Habe doch extra eine aus diesem Raumfahrer-Schaumstoff gekauft, der auf Druck und Wärme reagiert und nachgibt», stöhnt er leise und wird von lautem Zischen zurechtgewiesen. Überrascht zuckt er zusammen und bemerkt, dass sich noch andere Schläfer in dem gleichen Raum befinden. Ohne Brille kann er nicht erkennen, wie viele Leute zugegen sind, und er tastet nach seinem Nachttisch, welcher jedoch nicht existiert – stattdessen kriegt er etwas Seltsames, Unförmiges zu fassen, was sich plötzlich bewegt und… niest! «Hatschi!», macht der Schläfer neben Rudy, und dieser zuckt erneut zusammen und zieht seine Hand hastig zurück, die er offensichtlich auf der Nase des Schlafenden platziert hatte. Angewidert wischt Rudy seine Finger an seinem Schlafgewand ab und bemerkt irritiert, dass dieser Vorgang weh tut: «Was trage ich da für ein furchtbar kratziges Ding?», wundert er sich und sieht an sich herab – ohne Brille ein schwieriges Unterfangen. Tastend stellt er fest, dass er eine Art Kutte trägt in einer im Dunkeln undefinierbaren Farbe – und nichts darunter. Das ist ihm furchtbar peinlich und unangenehm, zumal der grob gewobene Stoff auf der nackten Haut kratzt und er ihn also nicht einmal ausziehen kann. Endlich findet er seine Brille, die er neben seiner Bett-statt auf den Boden gelegt hatte, und er setzt sie sich auf die Nase, um den Durchblick zu bekommen. Im schummrigen Morgenlicht, das durch schmale Fensterluken fällt, sieht er auch mit Brille nicht besonders viel.

Mindestens zwanzig weitere Männer liegen auf Betten, die eher wie Pritschen in einem alten Gefängnis anmuten, wie man es aus Filmen kennt – oder wie ein Massenlager in Klassenlagern. Die meisten schnarchen; alle tragen ungewohnte Frisuren, welche Rudy sofort als Mönchs-Tonsuren erkennt: Auf dem Kopf sind die Haare zur Glatze geschoren, und übrig bleibt nur ein Ring rund um den Kopf. «Fast wie ein Heiligenschein», schiesst es Rudy durch den Kopf. Er fasst sich selbst an ebendiesen und ist nun wenig überrascht, dass auch er eine kahle Stelle hat und einen Haarring. «Oh Mann, Leo hat Recht, das sieht sicher nicht schlau aus!», denkt er und erinnert sich jetzt, dass er am Vorabend noch mit Leon eine Unterhaltung zum Thema Frisuren hatte. Jetzt dämmert es ihm, dass es kein böser Traum war, sondern dass er sich offenbar wirklich in einem Kloster befindet. Wo, hat er bisher nicht herausfinden können, da die Klosterbrüder schweigsam sind – dem Stillschweigen verpflichtet, wie Rudy annimmt. «Leo mit seiner grossen Klappe ist natürlich voll ins Fettnäpfchen getreten, und zwar mit beiden Füssen!», denkt Rudy und weiss nicht, ob ihn dieser Gedanke amüsiert oder beunruhigt. Er beschliesst, nachzusehen, wie es seinem Freund geht. Als er sich langsam aufrichtet, keine Pantoffeln oder Schuhe findet und daher barfuss zur Türe schlurft, spricht ihn jemand an: «He!» Rudy wendet sich um und entgegnet: «Was ist?» – «Zu früh ist es für die Morgenandacht, schlafet weiter, Bruder!», flüstert ihm der Mönch zu, ein älterer, hagerer Mann mit Hakennase. – «Aber ich… muss mal!», erfindet Rudy eine Ausrede und stellt dabei fest, dass er in der Tat ein dringendes Bedürfnis verspürt. Der Klosterbruder nickt und weist in die Ecke, wo Rudy eine Ansammlung von seltsamen, grossen Töpfen erblickt… Nachttöpfe! Der Anblick widert ihn an. Das erklärt auch den unangenehmen Geruch im Schlafsaal. «Ich würde gerne ein bisschen frische Luft schnappen», erklärt er dem anderen. Dieser schüttelt den Kopf: «Verschlossen ist die Türe bis zur Morgenandacht.» Rudy schaudert es: Auch er ist gefangen!

* * *

Leon wälzt sich unruhig auf dem harten Boden. Er hat die ganze Nacht kein Auge zugemacht. «Das ist doch einfach ein Alptraum!», jammert er vor sich hin. «Und meine Haut ist ganz wund von der rauen Kutte! Wäre es hier nicht so kalt, würde ich sie sofort ausziehen!» Der körperliche Schmerz und die Müdigkeit machen ihm zu schaffen; noch mehr allerdings belastet ihn, dass er nicht weiss, wo seine Mäg ist. «Wie sind wir nur in diese blöde Situation geraten? Und warum?», hadert er mit dem Schicksal. Er ärgert sich über sich selbst, dass er am Vortag so überreagiert und die anderen Mönche verärgert hat. Rudy hat Recht: Er hat Glück gehabt, dass er nicht mit der Geissel gezüchtigt wurde! «Im Kloster waren sie früher nicht zimperlich!», weiss er und erinnert sich auch an Berichte von Margarethe, welche schon mehrmals durch die Zeit gereist und dabei auch im Kloster gelandet war. Dass Klöster Horte des Gebets, der Einkehr und der Gottesverehrung waren, wusste Leon schon, und dass sie für Menschen, die sich von der Welt zurückziehen und Wissen erwerben wollten, überdies eine Oase der Ruhe und Erkenntnis sein konnten, hatte er auch erfahren: «Für Rudy und andere Nerds ist doch so ein Kloster perfekt!» Aber auch wenn Leon früher mit dem Gedanken geliebäugelt hatte, Zeit in einem buddhistischen Kloster zu verbringen, so lebt er mittlerweile ganz und gar im Jetzt, in der Gegenwart, mit seiner Margarethe, und er ist mit seinem Leben zufrieden und im Einklang.

Jedoch ist dieses Gleichgewicht empfindlich gestört worden! Dabei wollten sie doch nur die schöne Klosterkirche von Einsiedeln besuchen – Einsiedeln, eine Stadt, die ihr Interesse auch deshalb geweckt hat, weil das Wappen zwei Raben trägt und weil sie im Zusammenhang mit ihrer letzten Zeitreise-Mission in Rapperswil immer wieder auf eine Beziehung zu Einsiedeln gestossen waren. Reine Neugier hat sie hergetrieben, und plötzlich finden sich Rudy und Leon in einem Mönchskloster wieder, weg von ihren Freundinnen, und wissen weder, was sie hier sollen, noch, wie sie von hier wieder fortkommen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, hat sich Leon bereits eine halbe Stunde nach ihrer unfreiwilligen <Landung> so viel Ärger eingehandelt, dass der Klostervorsteher ihm Arrest verordnet hat. «Super gemacht, Leoboy!», tadelt er sich selber.

«Was hatte ich eigentlich Schlimmes gesagt?», versucht er sich zu erinnern. «Ich hatte vielleicht den einen oder anderen Spruch geklopft… irgendwas mit der Unbefleckten Empfängnis… aber in einem katholischen Kloster ist damit wohl nicht zu spassen! Zumal wir vermutlich nicht mehr im Januar 2023 sind.» Er beschliesst, Rudy zu fragen, was dieser unterdessen in Erfahrung gebracht hat. «Wo bleibt nur Ru? Soll mal endlich kommen, der Penner!» Der Gefangene hofft, dass sein Freund es irgendwie schafft, ihn zu befreien.

2Eine Geburt und zwei Schüsse

Als Margarethe erwacht, liegt sie in einer Seitengasse auf dem harten Pflaster. Seraina liegt neben ihr, ist aber noch nicht ansprechbar. Da vernimmt Margarethe zwei hallende Schüsse. Sofort ist sie hellwach. Kurz zögert sie. Soll sie nachsehen oder lieber nicht? Es könnte ja gefährlich sein! Doch ihre Neugier obsiegt, sie wagt ein paar Schritte vorwärts und schielt um eine Häuserecke. Da sieht sie eine Frau am Boden liegen. Margarethe erschrickt. Kurz blickt sie zurück und nimmt wahr, dass sich Seraina rührt. Weil die Luft rein ist und Seraina wohl allein zurechtkommt, eilt sie zur fremden Frau und bemerkt erst jetzt das viele Blut, das über das Pflaster rinnt. Margarethe erbleicht und erstarrt vor Schreck, als sie die Schusswunden in der Brust der liegenden Person sieht. Sie möchte schreien, doch kein Laut entweicht ihrer Kehle.

Als sich Margarethe wieder einigermassen in Griff hat, blickt sie um sich wie ein gehetztes Reh. Sie stellt fest, dass sie noch immer in Einsiedeln ist, denn die hohen Türme der Klosterkirche überragen die Häuser. Sie bückt sich zur liegenden Person und will gerade Seraina herbeirufen, da bemerkt sie, dass die offensichtlich leblose Frau mit der rechten Hand etwas krampfhaft umklammert hält. Vorsichtig zieht Margarethe den Fetzen Papier aus deren Faust. Zitternd fühlt sie danach den Puls der Liegenden am Handgelenk, doch da ist kein Pochen zu spüren – folglich muss die fremde Frau tot sein. Margarethe erschaudert, blickt sich gehetzt um und beeilt sich, zurück zu Seraina zu gelangen.

«Was ist…?», fragt eine noch verwirrte Seraina, als Margarethe total aufgeregt zu ihr zurückkehrt und etwas von einer Toten stottert. Jetzt ist Seraina auf einen Schlag hellwach, doch Margarethe hält sie zurück, gerade als die angehende Ärztin sich aufmachen will, zur liegenden Person zu eilen. «Die ist tot, das hab sogar ich feststellen können, da ist nix mehr zu machen, aber schau dir das Papier da mal an, das ist irgendwie… gruselig», meint Margarethe und zeigt ihr mit zittrigen Fingern das Zettelchen aus der Hand der Toten. Darauf ist eine Rabenkralle gekritzelt. Margarethe ist es mulmig zumute. – «Warum hast du so Schiss vor diesem Kindergekritzel? Die Tote in der Gasse finde ich viel beunruhigender…», findet Seraina, noch etwas benommen. – «Weil es aus der Hand… einer Toten stammt. Und weil der… Mann vorhin, als Plonk ge… gekrächzt hat, ein Amulett aus… aus ebendieser Rabenkralle um den Hals trug», stammelt Margarethe und fügt hinzu: «Irgendwie habe ich das Gefühl, dass dieses Symbol mehr zu bedeuten hat. Irgendwie kommt es mir auch bekannt vor. Vielleicht, weil ich es oft in meinen Träumen, also in meinen Alpträumen gesehen habe. Da ist amigs ein böser Mann in Schwarz, der mich töten will… auch der trägt so einen Anhänger…» – «Träume sind Schäume, sagt Rudy», moniert Seraina und seufzt, weil sie für einen kurzen Moment ihren Freund vermisst. Dann aber besinnt sie sich darauf, dass sie als angehende Ärztin einem Gewaltopfer in jedem Fall helfen muss. Trotz Margarethes Einwände eilt Seraina ihrerseits zur Liegenden und untersucht sie eigenhändig. «Eindeutig tot», murmelt Seraina, von Demut erfasst. Doch ihr bleibt keine Zeit, sich weiter mit der Toten zu befassen, denn im nächsten Moment wird sie von Margarethe gepackt und weggezerrt.

* * *

Bevor die Polizei am Tatort eintrifft, haben sich die völlig verstörten Mädchen weit genug von der Toten entfernt. Sie ahnen zudem schon, dass sie in einer anderen Zeit gelandet sind. Für eine Aussage bei der Polizei muss man sich ausweisen – nach einem Zeitsprung könnte das zu einer ziemlichen Verwirrung beitragen.

Auf dem Platz vor dem Kloster Einsiedeln fragen sie eine ältere Passantin nach dem Datum. Diese meckert: «Die jungen Leute heute! Es ist der 24. September 2004!» – Margarethe erbleicht, denn vor drei Tagen soll sie laut Geburtsurkunde geboren worden sein. Und in einem anonymen Schreiben, das sie kürzlich in der Post vorgefunden hatte, machte jemand sie darauf aufmerksam, dass etwas mit diesem Datum nicht stimmte.

Margarethe versucht, die seltsamen Geschehnisse zusammenzufassen, und Seraina hört ihr gespannt zu: «Mein Geburtstag ist angeblich nicht mein Geburtstag. Und ein Mord am selben Tag wurde nie aufgeklärt. So jedenfalls formuliert es der, der mir den seltsamen Brief geschrieben hat. Wir sind also nach dem Zeitsprung genau hier gelandet, um herauszufinden, wer die junge Frau getötet hat und wann ich wirklich geboren wurde…» – Seraina seufzt und sinniert: «Also wenn du mir noch sagen kannst, WO GENAU du geboren worden bist, dann könnten wir einfach hingehen und nachfragen.» – Margarethe stutzt: «… genau… hier… in Einsiedeln. Ich glaube sogar, die damalige Wohnung meiner Eltern war hier ganz in der Nähe. Sie haben mir mal das Haus gezeigt. Meine Mama meinte, sie seien noch am Tag meiner Geburt zu ihren Eltern gezogen.» – «Dann hat sie dir nicht die Wahrheit gesagt», mutmasst Seraina, und Margarethe reagiert säuerlich: «Geht’s noch? Meine Mama lügt nicht!» – «Wenn dem so wäre, was macht denn dein Papa da neben einer Ambulanz? Jetzt steigt er vorne ein», kommentiert Seraina eine Szene, die sich gerade auf der anderen Seite des Klosterplatzes abspielt. Margarethe blinzelt hinüber und erkennt gerade noch ihren Vater, der einfach nur viel jünger aussieht.

* * *

Nachdem die Ambulanz davongefahren ist, schauen sich die Freundinnen konsterniert an. Margarethe ist total verblüfft, und Seraina meint augenzwinkernd: «… du kommst wie die Jungfrau zur Waage… oder so ähnlich.» – «Hä? Was? Wieso? … ach, du meinst… Hey, das ist kein Beweis, dass ich heute, am 24. statt am 21. September geboren wurde. Vielleicht hat meine Mama lediglich einen Schwächeanfall gehabt», grübelt Margarethe darüber nach und ist noch nicht bereit, ihr Sternzeichen zu wechseln. Zudem begreift sie nicht, weshalb ihre Eltern ein falsches Datum angeben sollten. Irgendwie passt das weder zu ihrer akribisch genauen Mutter noch zu ihrem wissenschaftlich arbeitenden Vater. Aber Seraina doppelt nach: «Aber warum sagte sie dir dann, dass sie gleich nach der Geburt zu den Grosseltern, äh gell, mütterlicherseits, gezogen sind? Da sind sie ja grad gewesen, deine Eltern, am andern Ende des Klosterplatzes, und du auch, sogar doppelt, als Baby im Krankenwagen und als Erwachsene neben mir!» – «Wir haben nur meinen Papa gesehen!», kontert Margarethe. – «Schon, aber warum steigt er vorne in den Krankenwagen ein, wenn nicht deine Mama mit dir hinten drin steckt?», treibt es Seraina in Rudy-Manier auf die Spitze, da stöhnt Margarethe auf: «Gopfridstutz, ich kann es einfach nicht glauben, dass mir meine Eltern einen Bären aufgebunden haben!» – «Wir müssen das Rätsel um diesen Bären lösen und auch deinen Löwen finden! Und meinen Rudy-Wolf obendrein auch!», seufzt Seraina.

* * *

«Aber wie kann man ein Geburtsdatum fälschen, wenn man am Tag der Geburt ins Spital fährt?», grübelt Margarethe weiter, als sie mit Seraina zusammen auf Schleichwegen ihr Elternhaus aufsucht, ohne von der Polizei angehalten zu werden. Es wäre nämlich überaus problematisch, falls sie sich jetzt ausweisen müssten, denn gemäss der Identitätskarten der Mädchen ist Margarethe erst drei Tage alt und Seraina aktuell noch gar nicht auf der Welt.

Margarethe wiederholt ihre Frage, weil ihre Freundin gar nicht zugehört hat. Seraina ist so sehr damit beschäftigt, die Briefkästen nach den Namen von Margarethes Eltern abzusuchen, dass sie nur ein «Hä?» von sich gibt. Als angehende Ärztin hat sich Seraina mit einigen Fragen rund ums Kinderkriegen beschäftigt, weil sie kürzlich einen Schnuppertag in der Geburtsabteilung am Universitätsspital machen durfte. «Bei einer Hausgeburt ist die Hebamme für die Meldung der Geburt zuständig. Wenn keine da war, sind es die Eltern. Dein Vater kann dem Zivilstandsamt jedes Datum nennen, Voraussetzung ist nur, dass er es innerhalb von drei Tagen tut», erklärt Seraina, streicht mit der Hand ein paar schwarze Strähnen aus dem Gesicht und fügt hinzu: «In deinem Fall war das gut möglich: Falls du am 24. September geboren wurdest, kann er den 21. September ganz legal als Geburtsdatum eintragen lassen. Das Spital mischt sich da nicht ein, denn nur bei einer Spitalgeburt meldet das Krankenhauspersonal ein Kind an.» – Margarethe macht grosse Augen und grummelt: «Du bist langsam echt wie Rudy, wenn du wie ein Lexikon redest. Hast du das auswendig gelernt oder eben grad im Internet nachgeschaut?» – Seraina grinst und winkt ab, dann zeigt sie auf einen Türrahmen: «Du hattest Recht, hier haben deine Eltern gewohnt. Neben dem vierten Klingelknopf steht M.&H. Gygax, das sind sie doch.» – Margarethe staunt noch mehr: «Kannst du das von hier aus lesen? Hast du Sperberaugengläser in deinem Brillengestell?» – Seraina lacht und zieht beide Augenbrauen hoch, was Margarethe wiederum schmerzlich an ihren Leon erinnert. Seraina meint keck: «Klar, bin doch auch ein Cyborg wie mein Liebster! Ach quatsch, die neue Brille gleicht meine Hornhautverkrümmung optimal aus. Hmm, und du siehst es nicht von hier aus? Vielleicht brauchst du bald auch eine Brille…» – Margarethe verzieht das Gesicht, geht aber nicht darauf ein.

Weil die beiden Mädchen sehr nahe am Tatort sind und der Polizei verständlicherweise nicht begegnen wollen, klingeln sie aufs Geratewohl bei zwei Mietern – und tatsächlich macht jemand auf. Schnell drücken sie die schwere Eingangstür auf und treten hastig ein. «Wie hast du dich so schnell in den Gässchen zurechtgefunden, Mäg? Du warst doch ewig nicht mehr hier», fragt jetzt Seraina leicht überrascht. – Margarethe zuckt mit den Achseln und erwidert: «Es stand ja im Brief, dass Verbrechen und Geburt etwas miteinander zu tun haben, also musste das Haus ganz in der Nähe sein. Ich habe einfach nur kombiniert…» – «Elementar, mein lieber Watson, also eigentlich Mrs. Watson», scherzt Seraina und bleibt abrupt stehen. Mit der rechten Hand greift sie nach hinten an Margarethes rechte Schulter und flüstert: «Stopp, da ist jemand.» Sofort bleibt auch Margarethe mitten auf der ersten Treppe wie angewurzelt stehen.

«Wer ist da?», erhebt sich eine piepsige, heisere Stimme im Treppenhaus. Die Fragende ist wohl eine ältere Frau, die zuoberst wohnt, mutmasst Margarethe und raunt Seraina ins Ohr: «Sag: Post für Gygax.» Seraina kichert. «Was ist so lustig daran?», fragt Margarethe erstaunt, da erklärt Seraina: «Das kitzelt brutal im Ohr, wenn du mir in die Lauscher pustest.» Margarethe grinst und ruft stattdessen selber hinauf, dass ein Paket für Gygax da ist. Oben scheint die Tür wieder geschlossen zu werden. Die Luft ist rein.

Die beiden Mädchen steigen vier Treppen hoch bis zum Stockwerk, wo gemäss Türschild Margarethes Eltern wohnen. Und siehe da, die Tür ist nicht verschlossen – vermutlich eine Nachlässigkeit aufgrund des Schocks nach den schrecklichen Vorfällen. Die Freundinnen treten mit einem mulmigen Gefühl ein.

Verstohlen und auf leisen Sohlen inspizieren sie die Räumlichkeiten, die aus einer winzigen Küche, einem noch kleineren Bad und zwei eher grossen Zimmern bestehen. Alles wirkt alt, aber liebevoll erhalten und stellenweise fachgerecht renoviert. Ein Balkon fehlt. Im Schlafzimmer finden die Mädchen eine blutverschmierte Matratze vor. Margarethe dreht sich fast der Magen um. Seraina bückt sich unbeirrt hinunter, um mit dem rechten Zeigefinger die Konsistenz des Blutes zu untersuchen. «Das ist frisch. Eine Geburt muss eben gerade hier stattgefunden haben. Du bist definitiv heute geboren – am 24. September, und nicht am 21., wie du immer gedacht hast.» – Margarethe seufzt und legt mit einem Augenzwinkern nach: «Dass ich keine Jungfrau mehr bin, war ja eh schon klar… seit ich Leon kenne…»

3Beten und Arbeiten