Rabenschwarze Seelen - Petra Gockeln - E-Book

Rabenschwarze Seelen E-Book

Petra Gockeln

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Beschreibung

Schräge Morde, skurrile Täter! Es kann überall passieren. Ob im Ruhrpott oder anderswo. Ein gut durchdachter Plan läuft aus dem Ruder. Alles geht schief. Das Chaos regiert. Und dann nimmt das Unheil seinen Lauf! Egal, ob Vorgesetzter, Nachbar, Ehegatte, Tiefkühllieferant oder Tierretter – alle beißen hier ins Gras. Lassen Sie sich von kreativ meuchelnden Missetätern überraschen, die mal absichtlich, mal versehentlich, aber immer mit Humor diverse Mitmenschen oder sich selbst unter die Grasnarbe befördern.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ironman

Auf‘m Gasometer

Jürgens Reise

Schlechtes Karma

Spinne am Morgen

Surprise, Surprise

Des Pudels Kern

Love on the rocks

Selbst ist der Mann

Paradiesgarten

Streuselkuchen

O du fröhliche

Überraschungs-Ei

Reden ist Silber …

Das letzte Gefecht

Über die Autorin

Impressum

Edition Paashaas Verlag

Autor: Petra Gockeln Originalausgabe Mai 2018

Covermotiv: Pixabay / privat Covergestaltung: Michael Frädrich © Edition Paashaas Verlag, Hattingen, www.verlag-epv.de Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-023-9

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Rabenschwarze Seelen

Schräge Mordgeschichten

aus dem Ruhrpott und anderswo

Für einen kleinen Hund mit großem Herz

und noch größeren Ohren

Er zeigt mir, wie ich mein Leben verbringen sollte:

mit gutem Essen, langen Waldspaziergängen,

spontanen Nickerchen, ausgelassenem Toben und

selbstvergessenem Spielen

Vorwort

Es kann überall passieren. Ob im Ruhrpott oder anderswo. Situationen entwickeln spontan eine überraschende Eigendynamik. Ein gut durchdachter Plan geht plötzlich richtig schief. Fassungslos steht man vor den traurigen Überresten des einstmals perfekten Konstrukts – falls man noch stehen kann!

Aber auch, wenn wir keine Pläne machen und einfach friedlich vor uns hinleben wollen, kann das Leben uns übel mitspielen.

Genau so geht es den Menschen in meinen skurrilen Kurzgeschichten. Es läuft immer anders als geplant.

Lassen Sie sich von meinen kreativ meuchelnden Missetätern überraschen, die mal absichtlich, mal versehentlich, aber immer mit Humor diverse Mitmenschen oder sich selbst unter die Grasnarbe befördern.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen und hoffe, dass Sie heute keine weiteren Pläne haben.

Petra Gockeln

Ironman

„Gehse inne Stadt Wat macht dich da satt Ne Currywurst Kommse vonne Schicht Wat schönret gibt et nich Als wie Currywurst“

Jasmin summte die Melodie von Herbert Grönemeyers Ohrwurm leise vor sich hin, als sie die Haustür aufschloss. Sie dachte an ihren Onkel Jürgen aus Bochum. Als kleines Mädchen hatte sie ihn oft besucht. Und jedes Mal ging er mit ihr zur Pommesbude. Aber nicht zu irgendeiner Pommesbude, sondern zu Dönninghaus. Dort gab es die leckerste Currywurst der Welt.

„Komm‘, Jasminchen“, hatte Onkel Jürgen immer gesagt, „Gezz krisse ma wat Vanünftiges zu essen.“

“Jasminchen“ war mittlerweile siebenundzwanzig Jahre alt – aber Currywurst aß sie immer noch gern, und natürlich am liebsten bei Dönninghaus im Bermudadreieck in Bochum.

Onkel Jürgen war schon lange tot. Er hatte viele Jahre als Hauer auf der Zeche Prosper Haniel in Bottrop gearbeitet. Als Kind lauschte Jasmin fasziniert seinen Geschichten. Geschichten von Kameradschaft, Zusammenhalt und ehrlicher Arbeit – aber auch von Enge, Hitze, Dreck und Katastrophen.

Lungenkrebs, der Todesengel vieler Bergleute, beendete Onkel Jürgens eigene Geschichte früher als geplant und nahm ihn mit auf die letzte Fahrt, als er einundvierzig Jahre alt war. Jasmin erinnerte sich dunkel an die Beerdigung und an den uniformierten Bergmannschor, der am Grab sang. Besonders beeindruckend fand Jasmin damals die schwarzen Kappen der Sänger mit den Federbüschen.

Eine dröhnende Stimme riss Jasmin aus ihren Gedanken.

„Wat is dat denn, Fräulein? Wo kommse denn gezz ers her? Du solls dich auf Stellen bewerben und hier nich die ganze Nacht duach de Gegend eiern!“

Jasmin zuckte zusammen. Da saß ihr Opa, der olle Sack, doch tatsächlich im Halbdunkel im Wohnzimmer! Vor Schreck fiel ihr das Tütchen mit den eben erst gekauften Ecstasypillen aus der Hand. Fluchend suchte sie auf dem Boden danach.

„Wat krooste denn da rum?“, wollte ihr Opa wissen.

„Mann, lass mich in Ruhe. Ich bin erwachsen und kann machen, was ich will.“ Jasmin hatte endlich ihre Pillen wiedergefunden.

„Könntesse, Fräulleinchen, wennze nich noch hier wohnen würdes …“, keifte ihr Opa zurück. „Deine Mutta placht sich jeden Tach bei Aldi ab un du hängs nur faul rum oder bis auffe Rolle. Also wenn ich dein Vatta wär‘ …“ „Bist du aber nicht, also halt dich da raus!“ Jasmin verdrehte die Augen. „Und bald habe ich sowieso eine neue Stelle und dann ziehe ich aus.“ Sie lief die Treppe hinauf in ihr Zimmer und knallte die Tür zu.

Der Alte ging ihr mächtig auf den Eierstock! Sie hatte nicht die Absicht, eine Arbeit anzunehmen. Es lief doch auch so ziemlich gut. Sie konnte ausschlafen, abhängen und abends, wenn ihre Mutter von der Arbeit kam, gab es warmes Essen. Danach ging es ab nach Bochum ins Kulturzentrum Langendreer oder in andere Szene-Lokale. Ein Auto brauchte Jasmin nicht. Die Straßenbahnverbindung zwischen Bochum und Hattingen war gut. Jasmin war eigentlich zufrieden. Nur Opa nervte in letzter Zeit besonders. Er schien es tatsächlich ernst damit zu meinen, dass sie sich eine Stelle suchen solle. Immer wieder schnitt er das Thema im Beisein ihrer Eltern an. Und ganz langsam schien ihnen aufzufallen, dass sie mittlerweile siebenundzwanzig Jahre alt war und sich durchfüttern ließ.

Jasmin lebte mit ihren Eltern in einem kleinen Reihenhaus in Hattingen. Ihr Vater arbeitete als Einkäufer bei einem großen Stahlhändler und ihre Mutter war Kassiererin. Sie lebten ein ganz normales Familienleben. Am Wochenende unternahmen sie Ausflüge in die Elfring-hauser Schweiz, ins Felderbachtal oder spazierten auf dem Leinpfad an der Ruhr entlang. Ab und zu leisteten sie sich einen Urlaub in der Türkei oder in Griechenland.

Doch dann änderte sich die Lage. Opa zog zu ihnen ins Haus. Oma war überraschend gestorben. Sie hatte in Bochum-Linden eine Straßenbahn übersehen. Die Glocke der Straßenbahn hatte zwar laut geschrillt, als Oma auf die Schienen lief, doch Oma hatte ihr Hörgerät leider nicht eingeschaltet. Drei Monate später war Opa bei ihnen eingezogen. Er fühlte sich einsam in seiner Wohnung. Da er trotz seiner zweiundachtzig Jahre noch recht rüstig war und ein Pflegeheim für ihn nicht in Frage kam, beschloss er, zu seiner Tochter und ihrem Mann zu ziehen. Jasmin musste kurzfristig ins Gästezimmer umsiedeln und Opa bekam Jasmins großes Zimmer. Jasmin war stinksauer, sagte aber nicht viel, weil ihr bewusst war, dass sie eigentlich nur vom guten Willen ihrer Eltern lebte und selbst nichts zum Familieneinkommen beisteuerte. So lange sie ihr gemütliches Bett und ihren großen Plasma-Fernseher hatte, war alles in Ordnung.

Zumindest halbwegs, denn früher hatte sie tagsüber ihre Ruhe. Nun wanderte Opa schon morgens durchs Haus. Im Gegensatz zu Jasmin war er bereits um sieben Uhr fit. In den letzten Monaten war Jasmin oft durch Opas lautstarke Aktivitäten aus dem Tiefschlaf gerissen worden. Meist war sie gerade erst eingeschlafen, da polterte Opa bereits gut gelaunt und fröhlich pfeifend durchs Haus.

Wenn sie – wie viele andere Menschen in ihrem Alter – einer geregelten Arbeit nachgegangen wäre, dann hätte der Alte von ihr aus gern früh durch die Gegend eiern und randalieren können. Aber sie hatte sich zu Hause ihre eigene Komfortzone geschaffen. Und die wollte sie behalten.

Jasmin hatte die Gesamtschule besucht und eine Lehre als Schreinerin angefangen. Doch nach einem Jahr wurde ihr gekündigt, da sie Probleme mit der Pünktlichkeit hatte. Bis spät in die Nacht war Jasmin im Bermudadreieck in Bochum unterwegs auf der Suche nach ihrer großen Liebe, die sich aber einfach nicht finden lassen wollte. Morgens hing sie dann verschlafen und schlechtgelaunt über einem Werkstück. Das schaute sich der Schreinermeister nicht lange an. Zumal sie in diesem Jahr ordentlich an Gewicht zugelegt hatte. In ihrer Latzhose war kein Platz mehr für den Zollstock und andere Werkzeuge.

Nun lebte Jasmin schon zehn Jahre vom guten Willen ihrer Eltern. Es gab zwar immer wieder die eine oder andere Diskussion hinsichtlich ihrer Lebensweise, aber dann tat Jasmin so, als würde sie sich Stellen in der Zeitung ansehen und erzählte etwas von diversen Bewerbungen.

Jasmin war lesbisch. Sie wusste immer schon, dass sie anders war. Aber was genau anders war, begriff sie erst mit vierzehn Jahren, als sie sich unsterblich in eine Klassenkameradin verliebte. Ihre Liebe wurde nicht erwidert. Jasmin litt. Schokolade half ihr beim Überwinden der Krise. Sie verfasste Gedichte und nahm zu. Die Jahre vergingen. Mittlerweile war Jasmin erfahren in gleichgeschlechtlichen Liebesdingen. Zu Hause hatte sie sich noch nicht geoutet. Sie hatte keinen Bock auf Diskussionen, die zu nichts führen würden. Ihre Eltern wunderten sich zwar, dass Jasmin so oft abends unterwegs war und nie einen Mann mit nach Hause brachte, aber Jasmin erzählte etwas von einer lustigen Clique, mit der sie um die Häuser ziehen würde und dass ihr das im Moment vollkommen reichen würde.

Sie trug ihre Haare mittlerweile sehr kurz und kleidete sich recht männlich. Ihre Mutter versuchte, ihr in Gesprächen von Frau zu Frau ab und zu Ratschläge hinsichtlich ihrer Frisur oder ihrer Kleidung zu geben. Sie hatte ihr sogar schon einmal Puder, Lippenstift und Wimperntusche in ihr Zimmer gelegt, aber Jasmin hatte es ignoriert.

Ihre Mutter hakte nicht weiter nach, sondern akzeptierte, dass ihre Tochter wohl eher der herbere Typ Frau war. Ihr Opa allerdings war da anders. Er blickte sie immer so merkwürdig von der Seite an und schien sich seine eigenen Gedanken zu machen. Ob er sie vielleicht beim wilden Knutschen mit einer Freundin vor der Haustür gesehen hatte? Das wäre ihm durchaus zuzutrauen, da er zu den unmöglichsten Tageszeiten auf den Beinen war.

Jasmin hockte in ihrem Zimmer. Sie dache über Opa nach. Er hatte früher – wie viele Hattinger – auf der Henrichshütte gearbeitet. Dort wurde seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Eisenerz verhüttet. Doch 1987 wurden die Hochöfen der Henrichshütte nach einem erbitterten Arbeitskampf mit der Duisburger Thyssen Stahl AG stillgelegt. Andere Betriebe des Werkes folgten. Nach langem Ringen gab es zumindest einen Sozialplan und Förderprogramme. Viele Mitarbeiter konnten woanders eingesetzt werden oder gingen in Rente. Aber Opa gehörte nicht zu ihnen. Er war plötzlich arbeitslos. Er bewarb sich bei anderen Unternehmen. Doch da er damals bereits fast fünfzig Jahre alt war, fand er keine neue Arbeit. Jasmin wusste das alles so genau, weil ihre Eltern sich früher oft über dieses Thema unterhalten hatten. 1987 war Jasmin zwar noch nicht auf der Welt, aber das Thema “Henrichshütte“ kam in ihrer Familie immer wieder auf den Tisch. Die Henrichshütte gehörte einfach zu Hattingen. Und nicht nur Opa, sondern viele Hattingen Familien waren damals betroffen. Die Hütte war früher der größte Arbeitgeber in Hattingen. Die Auswirkungen der Schließung waren in vielen Familien lange Zeit Gesprächsthema. Auch Jasmin kannte die ganze Geschichte.

Ihre Gedanken kehrten zurück in die Gegenwart. Schweres Schicksal hin oder her, der Alte brauchte eine Lektion. Er wiegelte ihre Eltern immer mehr gegen sie auf. Bei jeder Gelegenheit erwähnte er, dass Jasmin ein gesunder junger Mensch sei, der einer Arbeit nachgehen und auf eigenen Füßen stehen sollte. Aber wie sollte diese Lektion aussehen? Jasmin hatte keine Idee.

Ein paar Tage später lag Jasmin noch müde von ihrem Ausflug nach Bochum im Bett, als sie in der Küche Stimmen hörte. Oh nein, dachte sie. Heute war wieder Sonntag. An diesem Tag kam immer Opas alter Freund Ötte auf einen Frühschoppen vorbei. Die beiden waren ehemalige Arbeitskollegen und hatten viel zusammen erlebt. Sie trafen sich meist so gegen zehn und hockten dann bis ein Uhr zusammen in der Küche. Dann gab es Mittagessen. Ötte aß meistens mit und verabschiedete sich anschließend.

Die beiden waren schon gut in Fahrt. Man hörte das Ploppen der Bierflaschenverschlüsse und lautes Lachen. So ein Mist. Jasmin musste runter in die Küche. Sie hatte Kaffeedurst und Hunger. Die beiden alten Säcke würden sie sicher wieder zuquatschen. Aber es half nichts. In ihrem ausgeleierten T-Shirt und der schlabbrigen Jogginghose machte sie sich auf den Weg nach unten. Die Treppenstufen knarrten unter ihrem Gewicht.

„Da kommt ja unser Sonnenschein“, frotzelte ihr Opa, als Jasmin mit mürrischem Gesichtsausdruck und mit wirr vom Kopf abstehenden Haaren in die Küche kam.

„Fresse“, knurrte Jasmin und holte eine Tasse aus dem Schrank. „Boah, watten Scharmbolzen“, meinte Ötte.

Jasmin schwieg und fummelte an der Kaffeemaschine herum. Sie wollte eigentlich nicht hören, was die beiden Rentner erzählten. Da sie jedoch ihr Handy und ihre Kopfhörer nicht mit in die Küche genommen hatte, bekam sie das Gespräch gezwungenermaßen mit.

Heute ging es wieder einmal um die Henrichshütte, den ehemaligen Arbeitsplatz von Opa und Ötte. Zuerst wurde über ein paar Ex-Kollegen gelästert.

„Weisse noch, der Kurti?“, meinte Opa. „Der wollte imma hoch hinaus und dann isser doch nur Rangierer bei der Werksbahn geworden. Wir waren imma schön im Warmen – obwohl et ja seeehr warm am Hochofen war – aber bessa, als wie draußen als Rangierer bei Wind und Wetter den ganzen Tach hin- und herzurennen.“

„Ja nee, und den Job hatter auch nich lange gemacht. Dat weiss ich noch. Der is irgendwann zur Müllabfuhr gegangen“, ergänzte Ötte. „Dat war aber auch nich viel besser. Da isser dann bei Scheißwetter hinter dem Müllwagen hergerannt.“

„Laber, Laber, Laber“, dachte Jasmin. „Wen interessiert das?“ Immer noch müde und schlecht gelaunt suchte sie nach der Butter. Es schien keine mehr da zu sein. Auf Margarine hatte Jasmin keinen Bock. Irgendwo musste doch noch ein Paket Butter zu finden sein. Sie wühlte im Vorratsschrank. Die beiden Rentner plauderten weiter.

Jetzt war der Arbeitskampf im Jahr 1987 das Thema. Opa und Ötte ließen das Drama rund um die Schließung der Henrichshütte erneut aufleben. Als Thyssen damals verlauten ließ, dass die Hütte geschlossen werden sollte, waren die Menschen fassungslos. Dort arbeiteten mehrere Tausend Hattinger. Doch nach dem ersten Schock gingen die Arbeiter zusammen mit der IG Metall auf die Barrikaden. Was die beiden Alten da erzählten, ließ Jasmin an ein kleines gallisches Dorf denken, das sie aus Comic-Heften kannte.

„Weisse noch, Ötte, wie wir damals protestiert haben? Kannse dich noch an unser Dorf des Widerstands erinnern? Wie wir den Parkplatz der Hütte blockiert haben mit unseren Zelten? Und die ganzen Diskussionsrunden? Mann, dat war ne Aktion!“ Opa hatte richtig Farbe im Gesicht beim Erzählen.

„Ja klar, dat weiss ich noch. Und die große Demo am Tach vor der wichtigen Sitzung in Duisburg. 15.000 Hattinger auf der Straße! Dat wa ein Bild“, erwiderte Ötte. „Und vorher die Sternmärsche, die Mahnwachen und die Menschenkette – 5000 Stahlarbeiter standen rund ums Werk – da wa richtich wat los.“ Ötte nahm einen großen Schluck Bier aus der Flasche. „Und selbs nach der Entscheidung zur Schließung ging unser Kampf weiter. Wir haben nich einfach resigniert.“

Jasmin wollte eigentlich nicht hinhören. Sie suchte im Kühlschrank die Milch.

„Und weisse noch, wie unsere Frauen mitgeholfen haben? Die haben gekämpft wie die Löwinnen mit ihrer Fraueninitiative. Sogar nen Hungerstreik haben die gemacht. Und dat, wo meine Mia so vafressen wa.“ Auch Opa nahm einen großen Schluck aus der Bierflasche.

„Jau, ich weiß. Und von wegen Frauen. Weisse noch, die Eisenkerls? Die vielen Kawenzmänner aus Stahl, die dieser polnische Künstler – wie hieß er noch? Fratschi-Dingenskirchen – inne Henrichshütte als Leihgabe aufgestellt hat, als Hattingen 600 Jahre alt wurde? Ich glaub, dat wa so 1996. Riesige Stahlkolosse mit Pillermann. Die Frauen waren begeistert. Meine Erna auch. Später wurden drei vonne Eisenkerls vor der Hattinger Stadtmauer aufgestellt – zur Erinnerung an den Kampf der Stahlarbeiter.“

„Jau, weiss ich“, entgegnete Ötte und machte die nächste Bierflasche auf. „Aber weisse auch, dat meine Mia und noch n paar Frauen nachts losgezogen sind, umme Pillermänner abzuschrauben? Ich musste ihr noch nen großen Schraubenzieher aus meiner Werkzeugkiste geben. Die Pillermänner waren auf ne Eisenplatte geschweißt, die an allen Seiten einfach nur mit ner dicken Schraube befestigt wa. Die brauchte man nur loszudrehen. Und zack – wa der Pillermann ab. Der Künstler wa kurz voam Durchdrehen. Musste imma wieda neue Pillermännekes machen un festschrauben.“ Opa grinste. „Irgendwann war man et leid. Dann wurden die Pillermann-Platten angeschweißt. Seitdem is Ruhe.“

„Ja klar“, grinste Ötte. „Würde ja auch auffallen, wenn nachts Frauengruppen mitte Schweißgeräte anne Stadtmauer unterwechs wären.“

Jasmin hatte sich mittlerweile eine Tasse Kaffee eingeschüttet und ein Butterbrot geschmiert. Eigentlich wollte sie schon längst wieder nach oben gegangen sein, aber das Gespräch wurde interessant. Sie konnte sich ihre kleine alte Oma Mia nicht als Penis-Diebin vorstellen. Sie war ihr immer so ernst und korrekt erschienen.

„Un ich weiß noch, dat sich viele aufgerecht haben, dat man so naturgetreue Pillermänner so einfach öffentlich gezeicht hat“, meinte Ötte. „Manchmal, wenn ich morgens anne Stadtmauer vorbei ging, hatte man den Eisenkerls kleine Strickmützen über die entscheidenden Stellen gehängt oder sie hatten plötzlich Unterhosen an.“

„Jau, stimmt. Dat habbich damals auch gesehen“, stimmte Opa zu.

„Weisse wat, Ötte, ich glaub, zwei vonne Eisen-Ömmesse stehen gezz hier unten im Keller. Ich habse damals mitgenommen als Erinnerung an meine Mia. Dat war schon ne ungewöhnliche Frau.“ Opa bekam feuchte Augen.

„Wat, echt?“, fragte Ötte mit Begeisterung in der Stimme. „Du has zwei vonne Pillermänner hier im Keller? Is ja n Ding.“ Ötte hob seine Bierflasche. „Komm, lass uns anstoßen. Auf Hattingen und die Frauen!“

Jasmin hatte ihr Brot aufgegessen, schüttete sich noch eine Tasse Kaffee ein und machte sich auf den Weg nach oben. Durch die Zimmertür hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die von einem Brunch zurückkam. Sie hatte auf dem Nachhauseweg Frikadellen und Pommes von der Bude mitgebracht, weil sie heute keine Zeit gehabt hatte, das Mittagessen zuzubereiten.

„Frikadellen gehen immer“, hörte sie die Stimme von Opa.

„Un Pommes Schranke“, stimmte Ötte zu.

Jasmin lief schnell wieder nach unten, um sich ihre Portion abzuholen. Der Gedanke an eine warme Frikadelle ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Zwei Wochen später, nachdem Opa seine Tochter im Beisein seiner Enkelin mehrfach darauf hingewiesen hatte, dass sie eine Schmarotzerin an ihrer Brust nährte, hatte Jasmin eine Idee, wie sie sich an Opa rächen konnte. Es war ein harmloser Plan, aber sie würde sich langsam steigern. Sie plante, Opas Lieblingsbier durch die alkoholfreie „FUN“-Version zu ersetzen. Diesen kleinen Zusatz Fun auf dem Etikett könnte Opa sicher nicht lesen, und wenn, würde er den Begriff wahrscheinlich nicht kennen. Er würde sich jedoch wundern, warum er so viel Bier trinken konnte, ohne dass sich eine Wirkung zeigte.

---ENDE DER LESEPROBE---