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Viele Akteure in Zivilgesellschaft und politischer Bildung neigen dazu, die autoritäre und verkürzte Logik der Deradikalisierung zu übernehmen, welche derzeit das Erbe der Extremismusdoktrin antritt. Es ist eine Doktrin, die Radikalität als Bedrohung eines guten Zusammenlebens und Radikalisierung als beinahe universelle Chiffre für das Böse betrachtet. Die vermeintlich befriedende Kraft der Deradikalisierung versucht jene, die auf ihrem Verlangen nach einem ganz anderen Ganzen beharren, zu bändigen. Fördermittellogiken, Sachzwänge, die Notwenigkeit von Bündnispartner*innen und nicht zuletzt Repression hindern sie daran, aufs Ganze zu gehen. Dabei ist Radikalität unerlässlich, um ein gutes Leben für alle überhaupt erst möglich zu machen. ›Radikal‹ ist eine Kritik der bestehenden Verhältnisse, wenn sie sich nicht nur an der Oberfläche abarbeitet, sondern nach Ursachen sucht – und eine Praxis verfolgt, die auf die Beseitigung dieser Ursachen ausgerichtet ist. Daher rufen die Herausgeber*innen: »Radikalisiert euch!« – im Alltag, im Aktivismus, in der Kritik. Aktivist*innen, in linken Projekten Beschäftigte, kritische Wissenschaftler*innen und Sympathisant*innen verschiedener sozialer Bewegungen diskutieren in diesem Sammelband, wie die Deradikalisierungslogik kritisiert und emanzipatorische Radikalisierungsprozesse in Gang gesetzt werden können. Mit Beiträgen von Felix Klopotek, Lukas Holfeld, Krisis, Katze und Fliege, Michel Raab, Julika Bürgin, Sarah Schulz, Hanna Poddig, Maria Neuhauss, Soli-Asyl Thüringen, Markus Beinhauer und Karl Meyerbeer.
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Seitenzahl: 269
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ausgehend von einer Kritik am verkürzten Denken und der autoritären Stoßrichtung von Deradikalisierungsansätzen arbeitet das Institut für Radikalisierungsforschung beim Bildungskollektiv Biko zu der Frage, wie sich emanzipatorische Radikalisierungsprozesse begreifen und in Gang setzen lassen.
Institut für Radikalisierungsforschung beim Bildungskollektiv Biko (Hg.)
Radikalisiert euch!
Beiträge zu radikaler Theorie und Praxis
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Institut für Radikalisierungsforschung beim Bildungskollektiv Biko (Hg.):
Radikalisiert euch! Beiträge zu radikaler Theorie und Praxis
1. Auflage, Oktober 2023
eBook UNRAST Verlag, Januar 2024
ISBN 978-3-95405-180-9
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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Umschlag: Felix Hetscher, Münster
Satz: Andreas Hollender, Köln
Radikalisiert euch!
I. Radikalität und Radikalisierung
Institut für Radikalisierungsforschung beim Bildungskollektiv BikoThesen zu Radikalität und Radikalisierung
Felix KlopotekAbschied vom Immediatismus – Versuch, die Theorie des Linksradikalismus historisch zu verstehen
Ernst LohoffKrise der Arbeit – Krise der Demokratie
Gespräch mit Lukas Holfeld über »Kunst, Spektakel & Revolution« und über radikale ÄsthetikRadikal ist die Suche nach der Form
Liedtexte von Katze und Fliege
II. Deradikalisierung als Neuauflage der Extremismusdoktrin
Sarah SchulzGeschichtspolitik, juristische Traditionslinien und ihre Bedeutung für Extremismusprävention
Julika BürginBildungsarbeit gegen Radikale
Michel RaabAlles Gute kommt von unten – Radikale Strömungen in der Geschichte Sozialer Arbeit
III. Radikalität in Bewegung
Hanna PoddigSystem change not climate change – Gedanken zu (Pseudo-)Radikalität und Klima-Bewegung
Maria NeuhaussFrauen am Limit – Eine radikale Perspektive auf die geschlechtliche Arbeitsteilung
Melanie HochstedtGrenzen und Möglichkeiten radikaler Solidarität in der Praxis des Netzwerkes Soli-Asyl Thüringen
Interview mit Rosa und DinoRepression als Deradikalisierungsinstanz
IV. Radikalität im Alltag
Philipp MilliusRadikale Solidarität in Zeiten der Depression
Markus Beinhauer und Karl MeyerbeerWie radikal bleiben?
Die Beiträger*innen und Herausgeber*innen
Anmerkungen
»Radikalisiert euch!« war Titel einer Tagung und einer Veranstaltungsreihe des Instituts für Radikalisierungsforschung beim Bildungskollektiv Biko zur Notwendigkeit linksradikaler Kritik und der Bedeutung von Radikalität – der linker Bewegungen und Kämpfe sowie der eigenen.
Unser Interesse am Thema stand und steht dem, was in der breiten Öffentlichkeit als Radikalität oder (pädagogisierend und prozesshaft betrachtet) als Radikalisierung verhandelt wird, diametral entgegen. Aus dieser Perspektive der breiten Öffentlichkeit werden, wie in der Extremismustheorie, durch das Analogsetzen verschiedener Radikalismen linke, emanzipatorische Bestrebungen mit der menschenverachtenden Ideologie und Praxis von Nazis gleichgesetzt. Die Zustimmung zu menschenverachtenden Aussagen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft wird ebenso ausgeblendet wie bestehende Ungleichheiten innerhalb von Gesellschaft und die Gewaltförmigkeit des Staates. Dass im Zuge von Deradikalisierungsprogrammen emanzipatorische Kämpfe sowie Bestrebungen, die bestehende Einrichtung der Gesellschaft zu überwinden, delegitimiert werden, ist oft gewollt oder wird zumindest in Kauf genommen. Denn Radikalität wird hier als Bedrohung eines guten Zusammenlebens gesehen. Wir zielen mit diesem Sammelband darauf, das Gegenteil zu zeigen: Radikalität ist nötig, um ein gutes Leben für alle überhaupt erst möglich zu machen.
Radikalität bedeutet, eine Kritik der bestehenden Verhältnisse zu leisten, die sich nicht nur an der Oberfläche abarbeitet, sondern nach Ursachen für bestehendes Leid und Unglück sucht; und eine Praxis zu verfolgen, die auf die Beseitigung dieser Ursachen ausgerichtet ist. Deswegen sagen wir: »Radikalisiert euch!« – im Alltag, im Aktivismus, im Ringen um eine radikale Kritik, die praktisch werden muss, im Beharren auf dem Verlangen nach einem ganz anderen Ganzen, in der Abgrenzung zum Bestehenden mit dem Ziel seiner Überwindung. Dazu einen Betrag zu leisten, ist das Anliegen dieses Sammelbandes.
Die hier abgedruckten Texte sind zum Teil aus Beiträgen der genannten Veranstaltungen oder als Reflexionen darauf entstanden. Sie haben unterschiedliche Schwerpunkte, Zugänge und theoretische Rahmungen. Das führt dazu, dass hier unterschiedliche Textsorten versammelt sind, die sich an manchen Stellen auch in ihren Inhalten widersprechen. Im besten Fall ergänzen sie sich gegenseitig darin, eine Kritik der Deradikalisierung zu leisten, radikale Kritik und Praxis zu reflektieren und zu befördern sowie den Begriff von Radikalität zu schärfen.
Im ersten Teil wird eine inhaltliche Bestimmung des Begriffs Radikalität vorgenommen. Herausgestellt wird, warum und wie sich – historisch, kapitalismuskritisch, gesellschaftspolitisch und gleichzeitig als Ausdruck von Subjektivität sowie ästhetisch und praktisch – Radikalität formuliert.
Vorangestellt sind 13 Thesen zu Radikalität. Die Thesen sind Ausdruck der im Laufe des letzten Jahres geführten Diskussionen des Instituts für Radikalisierungsforschung beim Bildungskollektiv Biko, die die Entstehung des Sammelbandes begleiteten. Sie sollen einen Begriff von Radikalität schärfen und die anderen im Sammelband veröffentlichten Beiträge rahmen. Ebenso sind sie als Anstoß und Beitrag zu einer Diskussion um Radikalität zu verstehen. Grundlage der Thesen ist ein materialistisches Verständnis von Gesellschaft. In ihnen wird die Notwendigkeit radikaler Theorie und Praxis aufgezeigt, die darauf zielt, die (Re-)Produktionsverhältnisse des gesellschaftlichen und politischen Lebens in den Blick zu nehmen, als Ursache für Leid zu kritisieren und zu überwinden. Darauf aufbauend widmen sich die Thesen der Frage, welcher Mittel und Strategien es dafür bedarf. Dabei ist Radikalität Ausdruck von radikaler Subjektivität einerseits und prägt andererseits das Denken der Subjekte. Sie verharrt nicht in Subjektivität, sondern zielt auf die Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung und darauf, sich zu verallgemeinern. Die Widersprüche, die in den Thesen zum Ausdruck kommen, sind auch darauf zurückzuführen, dass in ihnen unterschiedliche Perspektiven der Autor*innen verhandelt werden. Sie sind aber ebenso Ausdruck der gesellschaftlichen Widersprüche, in denen wir uns bewegen und die derzeit eine Grenze für radikales, diese Widersprüche aufhebendes, Denken und Handeln darstellen.
Während sich die Thesen also daran abarbeiten, wie Radikalität aktuell zu fassen wäre, zeigt Felix Klopotek durch Rekurs auf ein verdrängtes Erbe des Linksradikalismus, wie sich dieses tradiert hat und in anderer Form wiederkehrt: In der Tradition Lenins, Praxis als die Konsequenz wahrer Theorie gepaart mit dem aus seiner Notwendigkeit begründeten unbedingten Willen zur Aktion zu verstehen, wird Linksradikalismus zu einer Frage der Haltung, ihre Theorie zu einer Anleitung zur Praxis bzw. richtigen Technik. Statt Theorie als eine Reflexion gesellschaftlicher Praxis zu verstehen und darauf rückzubeziehen, verkommt sie zum Gegenteil, wird hypostasiert, Metaphysik. Die Theorie-Praxis-Einheit verlagert sich ins Feld des Geistes, oder aktuell und spezifischer: wird eine Frage von Sprachpolitik, die in letzter Instanz der Praxis entzogen bleibt. Der Text will zu einem Nachvollzug der Genese des Linksradikalismus anregen, um »den Blick dafür zu öffnen, wie sich angemessener über Radikalität reden ließe«.
Dass die Art, in der man heute in der Öffentlichkeit von Radikalisierung bzw. von Autoritarismus als vermeintlichem Ausdruck derselben redet, nicht traditionsvergessen ist, wohl aber über ihre Ursachen hinwegtäuscht, zeigt Ernst Lohoff. Zu Unrecht begreife man Autoritarismus als Gegensatz zu Demokratie. Vielmehr hat die Demokratie eine ökonomische Grundlage, die den Autoritarismus aus sich selbst hervorbringt. Der Text stellt aus Perspektive der Wertkritik einen Zusammenhang zwischen Demokratie und Kapitalismus her und weist die falsche Abgrenzung von Autoritarismus und Demokratie zurück. Gezeigt wird, dass die liberale Demokratie ihre Grundlage in der zentralen Stellung der Arbeitskraft im Gesamtproduktionsprozess hat. Im Finanzkapitalismus verliert die Arbeitskraft eben diese zentrale Stellung und mit ihr der weiße Arbeitsmann. Als Folge des Verlustes des Vorteils innerhalb des Konkurrenzverhältnisses im Kapitalismus beginnt er, sich autoritär gegen die liberale Demokratie zu richten. Schlussfolgern ließe sich, dass, wem es um die Prävention menschenverachtender Einstellungen und Praxen geht, es um eine grundlegende Veränderung unserer (Re-)Produktionsverhältnisse und politischen Formen des Zusammenlebens gehen müsste, statt durch Deradikalisierungsprogramme eben das Gegenteil zu leisten.
Dem bereits bei Felix Klopotek beschriebenen Problem, dass die Einheit von Theorie und Praxis der Praxis (doppelt) entrückt ist, wo sie ins Feld des Geistes verlagert wird, gehen wir am Beispiel von Kunst im Interview mit Lukas Holfeld weiter nach. Er vertritt die These, dass Kunst für das Bürgertum zur imaginären Ersatzsphäre wurde, in der sie als halb-revolutionäre Klasse alle Widersprüche und subjektiven Verheerungen bearbeiten konnte, zu deren Lösung sie in der Realität nicht in der Lage ist. Eine radikale Ästhetik hätte daher das Problem der Revolution in den Mittelpunkt zu rücken. Das muss nicht unbedingt politische Kunst oder AgitProp heißen, im Gegenteil: Holfeld fordert eine Reflexion auf die (künstlerische oder im weiteren Sinne ästhetische) Form, die ihm in der radikalen Linken zu oft fehlt.
Abschließend sind im ersten Teil des Sammelbandes fünf Liedtexte von Katze und Fliege abgedruckt. Sie sind ein Beispiel künstlerischen Ausdrucks subjektiver Radikalität. Die Lieder (und Texte) wurden verfasst in Vorbereitung auf den musikalischen Abschluss der Tagung »Radikalisiert euch« 2021 in Erfurt. Sie sprechen aus der Lebenswelt ostdeutscher Linksradikaler und greifen verschiedene Fragen auf, die auch im Band verhandelt werden. Es geht um die eigene Wirkungslosigkeit, die Frage, was Radikalität denn nun heißen soll, das Leiden der Subjekte und die falsche Gegenüberstellung von Momenten von Lust und Freude im Hier und Jetzt und radikaler Subjektivität: »Ihr wollt nur die Wurzel. Ich will den Kern – Nagt ihr nur an der Wurzel. Ich ess’ die Beeren.«
Während im ersten Teil die meisten Texte die herrschenden Verhältnisse (nicht zuletzt die aktuelle Form politischer Willensbildung, die parlamentarische Demokratie) aus einer radikalen Position heraus kritisieren, zeigen die Texte im zweiten Teil, wie Deradikalisierung und Extremismusprävention in aktuellen politischen Auseinandersetzungen darauf zielen, autoritäre Verschiebungen im Rahmen des Bestehenden zu bewirken – und wie eine Reaktion auf diesen autoritären Trend aussehen könnte. Wir sehen diese beiden Blickwinkel als Ergänzung: Auch, wenn unser Ziel die Aufhebung aller Verhältnisse ist, in denen Menschen ausgebeutet und unterdrückt leben, sind immanente Kritik und damit verbundene Kämpfe bedeutsam. Sie schaffen oder erhalten die Grundlage für weitergehende Anstrengungen. Es geht hier zum einen darum, erkämpfte Möglichkeitsräume (man könnte sie auch Errungenschaften nennen) zu verteidigen, zum anderen um die Frage, wie sich die Bedingungen der Möglichkeit weitgehenderer Veränderungen verbessern lassen. Entsprechend ist der bürgerliche Staat – im ersten Teil Gegenstand der Kritik – hier eher Ausgangspunkt einer Kritik an (autoritären, illiberalen) Diskursen und Konzepten von Extremismusprävention und Deradikalisierung in drei konkreten Themenfeldern: juristischer Diskurs, politische Bildung und Soziale Arbeit.
Sarah Schulz unternimmt eine rechtshistorische Einordnung des Begriffs ›wehrhafte Demokratie‹, der regelmäßig auch von (links)liberaler Seite genutzt wird, um zu begründen, wieso es angemessen sei, gegen Radikale vorzugehen. Der Begriff wurde von nationalkonservativen Juristen mit NS-Vergangenheit in den 1950er-Jahren der BRD als Konzept entworfen – was zu der paradoxen Situation führt, dass ein Konzept, das vordergründig (oder: angeblich) dazu dienen soll, die Demokratie zu schützen, auf Gegner der Demokratie zurückgeht. Von den Verfechter*innen des Konzepts wird dieses Paradox durch eine spezifische Deutung der Weimarer Republik gelöst: Diese sei nicht an zu wenig Demokratie eines noch monarchistisch geprägten Staatsapparats gescheitert, sondern an zu viel Demokratie, zu vielen Parteien, zu vielen offenen Fragen, zu viel Debatte im Parlament. So erschließt sich eine Logik, der zufolge ein Staat illegitimes Handeln auch dann einschränken und bekämpfen muss, wenn es nicht gegen Gesetze verstößt: die Gegner*innen des Status quo müssen unterdrückt werden, um demokratische Prozesse möglich zu machen. Begründet wird dies mit einem Rechtsverständnis, demzufolge es überrechtliche Grundsätze (Gott oder die Moral) gäbe, die schon vor dem Gesetz Geltung hätten – womit sich begründen lässt, »politische Freiheitsrechte und formale Gleichheit für alle durch den Verweis auf Höherwertiges« einzuschränken[1]. Da sich das Höherwertige juristisch nicht bestimmen lässt, übernehmen hier andere Instanzen. Der Verfassungsschutz bestimmt in der wehrhaften Demokratie, welche Ziele und Motivationen legitim sind. Radikale Motivationen und Ziele können somit staatlicherseits angegriffen werden, schon bevor es zu konkret strafbaren Handlungen gekommen ist – ein Zusammenhang, der auch im folgenden Text für das Feld der politischen Bildung diskutiert wird.
Deradikalisierung als Strategie ist als Reaktion auf Islamismus entstanden und wird derzeit auf andere als problematisch verstandene Orientierungen ausgedehnt (rechts, links, das Leugnen von Corona). Der politischen Bildung wird, so Julika Bürgin, zunehmend die Aufgabe zugeschoben, präventiv die Prozesse zu stoppen, in denen Extremismus entsteht. Radikalität funktioniert in diesem Feld durchweg als Fremdbezeichnung und Delegitimierung: Radikal ist, was illegitim ist, und umgekehrt. Entsprechend bleibt (wie bei der zugrundeliegenden Extremismusdoktrin) unklar, was die verschiedenen Radikalismen miteinander verbindet. Ideologien der Ungleichheit (Rassismus, Antisemitismus, etc.) bleiben unverstanden, im Kern geht es darum, eine Gefahr für die herrschende Ordnung zurückzuweisen. Dadurch werden soziale Konflikte stillgestellt, Menschenfeindlichkeit wird als ordnungspolitisches Problem verhandelt und nicht-staatstragende Positionen werden delegitimiert. Diese Zielbestimmung hat weitreichende Folgen für pädagogische Konzepte, weil somit an die Stelle prinzipiell ergebnisoffener und welterschließender Bildung eine tendenziell überwältigende Demokratieerziehung tritt. Diese Art der Demokratieerziehung soll verhindern, dass Radikalität, welche Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse in den Blick nimmt und darauf zielt, sie zu überwinden, Ziel und Inhalt von (Selbst-)Bildungsprozessen sein kann.
Die Frage, welche Bedeutung Radikalität für sozialen Wandel in gesellschaftlichen Teilbereichen haben kann, diskutiert Michel Raab im folgenden Text am Beispiel der Sozialen Arbeit. Sozialarbeiter*innen bewegen sich immer in Widersprüchen: Zum einen haben sie die Aufgabe, soziale Ordnung herzustellen, indem abweichendes Verhalten kontrolliert und sozial erwünschtes gefördert wird. Zum anderen geht es darum, Selbstbestimmung zu ermöglichen. In Deutschland hat sich dieses Doppelmandat von Hilfe und Kontrolle in mehreren Zyklen als Kompromiss zwischen verschiedenen Interessengruppen herausgebildet: zwischen ›Klassenkampf und Sozialreform‹ in den 1920er-Jahren, zwischen ›Autonomie und Integration‹ im Nachgang der 1968er-Revolte, zwischen ›Nutzer*innenorientierung und Verwaltung‹ heute. Der Text zeigt, dass die fortschrittlichsten Aspekte Sozialer Arbeit (Empowerment, Parteilichkeit, Partizipation, Selbstorganisierung) in der Vergangenheit von radikalen sozialen Bewegungen eingefordert und z.T. erkämpft wurden. Dadurch wird deutlich, dass Radikalität auch da, wo sie ihre Ziele nicht durchsetzen kann, wichtig ist, um sozialen Wandel zu befördern. Bei Sozialer Arbeit im Auftrag von Deradikalisierungsprogrammen wird dem entgegen nur noch eine Hälfte des Doppelmandats (die Kontrolle) ausgeübt. Der Text endet mit der Forderung an linke Sozialarbeiter*innen, auch in Zeiten schwacher sozialer Bewegungen in beruflichen Konflikten nicht zynisch zu werden, sondern in den Institutionen Sozialer Arbeit Möglichkeitsräume für Emanzipation zu finden und zu erweitern – was natürlich bedeutet, den Deradikalisierungsauftrag zurückzuweisen und radikaleren Akteur*innen nicht in den Rücken zu fallen. Dass starke soziale Bewegungen u.U. gar keine Soziale Arbeit brauchen, weil ihnen andere Formen, ihre Anliegen zu vertreten, offenstehen, bleibt unbeleuchtet. Eben darum geht es im dritten Teil.
In den Thesen zu Beginn des Sammelbands kritisieren wir eine »halbierte Radikalität«, die sich nur in der Theorie manifestiert. Im dritten Teil des Bandes geht es um die Frage, wie Radikalität in Bewegungen funktionieren kann. Vor dem Hintergrund des widersprüchlichen Verhältnisses von Theorie und Praxis verhandelt Maria Neuhauss in ihrem Text, wie der Anspruch, dass es ums Ganze geht, in konkreten Kämpfen Ausdruck finden sollte. Die Texte von Melanie Hochstedt und Hanna Poddig sind direkte Reflexionen radikaler politischer Praxis. Sie haben gemein, dass sich für sie Radikalität weniger an der Anzahl von Rauchtöpfen und martialischen Parolen auf der Demo bemisst als an den vertretenen politischen Inhalten, an der unversöhnlichen Opposition zum kapitalistischen Nationalstaat und dem bewussten Übertreten und Umgehen von Gesetzen, wo sie der Unterdrückung von Menschen dienen. Rosa und Dino beschäftigen sich daraufhin mit den Folgen der Übertretung von Gesetzen und zeigen, dass hier Radikalität eine klare solidarische Haltung begründet.
Maria Neuhauss hält in ihrem Text fest, dass sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte die Situation von Frauen in unserer Gesellschaft erheblich verbessert hat. Doch trotz der Erfolge auf rechtlicher Ebene und den mit Zugang zu Berufstätigkeit verbundenen Verbesserungen gibt es ein Fortbestehen ökonomischer Benachteiligung von Frauen. Dass Frauen neben Berufstätigkeit weiterhin vorwiegend für Sorgearbeit zuständig sind, führt zu einer Überlastung von Frauen. Diese Zuständigkeit ist laut Maria Neuhauss keine überwindbare Hürde auf dem Weg des gesellschaftlichen Fortschritts, sondern Teil einer sich durch kapitalistische Verhältnisse stets reproduzierenden hierarchischen Geschlechterordnung. Für die Abschaffung von Geschlechterverhältnissen brauche es demnach einen radikalen Feminismus, der »auf die Wurzeln zielend« die gesellschaftlichen (Re-)Produktionsbedingungen in den Blick nimmt.
Hanna Poddig nimmt in ihrem Text, basierend auf Erfahrungen und Analysen aus der Umwelt- und Klimagerechtigkeitsbewegung, eine kreisende Begriffsbestimmung radikaler politischer Praxis vor. Das strategische Übertreten von Gesetzen, auch mit militanten Aktionen, ist für sie wichtiger Bestandteil radikaler politischer Praxis. Deutlich wird aber auch, dass sich Radikalität nicht in Aktionsformen oder im szenetypischen Auftreten erschöpft, sondern aus einer Vielfalt von Aspekten zusammensetzt. Im Zentrum stehen für Hanna Poddig Ehrlichkeit und eine klare, unbequeme Haltung: Sie fordert, eine ehrliche Bewegung solle tun, was sie sagt, und sagen, was sie tut. Als unbequem betrachtet sie eine klare, unversöhnliche Haltung gegenüber dem Staat und der bürgerlichen Gesellschaft sowie eine inhaltliche Fundierung. Pointiert zeigt sie auf, wie je nach Zusammenspiel dieser Faktoren auch unspektakuläre Aktionsformen wie das Verteilen von Flyern Ausdruck radikaler Praxis sein können. Einige ihrer Überlegungen, u.a. die Frage, wie sich Radikalität mithilfe solidarischer Strukturen verstetigen lässt, werden später im Text von Markus Beinhauer und Karl Meyerbeer aufgegriffen. Darüber hinaus beschäftigt sie sich mit den Fallstricken und Spaltungspotenzialen in der der Umwelt- und Klimagerechtigkeitsbewegung und betont die zentrale Rolle, die radikale Akteur*innen innerhalb dieser Bewegungen einnehmen.
Dass es auch gute Gründe gibt, der von Hanna Poddig eingeforderten Ehrlichkeit in der Kommunikation nach außen Grenzen zu setzen, zeigen Rosa und Dino, wenn sie im Interview darüber sprechen, was Repression ist und welche Ziele sie verfolgt. Dass die dadurch erfolgende Abschreckung und Einschüchterung Deradikalisierung bewirkt, stellen auch sie heraus. Repression ist – so beschreiben sie – eine Reaktion des Staates auf das Infragestellen seines Gewaltmonopols, lässt sich aber, so wie sie ausgeübt wird, nicht erschöpfend daraus erklären. Das wird deutlich am rassistischen und sozialchauvinistischen Charakter von Repression. Repression hat außerdem eine politische Motivation hinsichtlich der Frage, wer wie schwer verfolgt und bestraft wird. Die Losung »Betroffen sind Einzelne, gemeint sind wir alle« stellt eben das heraus: dass Repression nicht (nur) einzelne Gesetzesverstöße ahndet, sondern (auch präventiv und abschreckend) gezielt gegen linke Organisationen und Bewegungen im Gesamten vorgeht, wenn diese die bestehende Ordnung infrage stellen – und das auch da, wo deren Praxis ohne spektakuläre Aktionsform auskommt.
Eine Politik, die ganz ohne Spektakel eine klare und unversöhnliche Haltung zum bürgerlichen Staat zum Ausdruck bringt, diskutiert auch Melanie Hochstedt in ihrem Text: Es geht um das Verhindern von Abschiebungen durch das Verstecken von Geflüchteten. Die theoretische Erkenntnis von Ernst Lohoff – dass man sich auf die zivilisierende Funktion des bürgerlichen Staates nicht verlassen kann – wird hier unmittelbar und erfahrungsgesättigt klar. Der Kampf gegen Abschiebungen geschieht beim Netzwerk Soli-Asyl auf Basis gemeinsamer Organisierung von Geflüchteten und weißen Deutschen, eine Zusammensetzung, die sich für Melanie Hochstedt auch aus der aktuellen Schwäche selbstorganisierter Geflüchtetenkämpfe in Thüringen ergibt. Die im Text genannten Voraussetzungen für das Gelingen dieser Praxis sind ähnlich wie die, die auch bei Hanna Poddig diskutiert werden: verbindliche und kontinuierliche Selbstorganisation, finanzielle Unabhängigkeit, eine klare Haltung sowie die Bereitschaft zu Selbstreflexion und -veränderung im Prozess. Als ›radikale Solidarität‹ wird die Praxis bezeichnet, die Exekution von Gesetzen, die das Leben von Menschen in Gefahr bringen und zur Aufrechterhaltung imperialer und kapitalistischer Verhältnisse globaler sozialer Ungleichheit dienen, zu verhindern. Auch die Widersprüche, die dabei auftauchen, werden im Text diskutiert. So ist es vor dem Hintergrund sehr ungleicher Ausgangsvoraussetzungen nicht leicht, auf Augenhöhe zu agieren: Unterschiedliche (materielle) Ressourcen und Sicherheiten beeinflussen, wer sich wie umfangreich und in Konsequenz auch maßgebend einbringen kann. Nur wenn es gelingt, aus diesen Differenzen neue, solidarische Beziehungsformen zu entwickeln, stärkt das die Bewegung – womit schon der Lebensbereich angesprochen ist, um den es im vierten und letzten Teil des Sammelbands geht: der Alltag.
Der vierte Teil stellt die Frage nach dem Stellenwert von Radikalität im Alltag. Wer im Alltag radikal sein möchte, bewegt sich in Widersprüchen, die nur gesellschaftlich aufgehoben werden können. Die Vorschläge, die hier diskutiert werden, bewegen sich zwischen (kollektiver) Selbstveränderung, neoliberaler Selbstoptimierung und Sturheit, zwischen Klarheit und Pragmatismus. Jede Alltagspraxis geschieht vor dem Hintergrund des Wissens um die hohe integrative Kraft des Kapitalismus, dem es gelungen ist, so viele progressive Ansätze zu vereinnahmen. Das soll angesichts der Dringlichkeit der Frage nach Veränderung nicht darauf hinauslaufen, dann eben nicht zu versuchen, Radikalität auch im Alltag zu leben. Das heißt aber auch, sich stets nicht nur die Frage zu stellen, wo Anpassung statt Radikalität gelebt wird, sondern auch zu fragen, wo vermeintlich bessere Formen des Zusammenlebens repressiv werden. Der letzte Teil bezieht sich damit am stärksten auf die Frage nach veränderten Beziehungsweisen, mit denen auch die Thesen enden. Radikalität wird hier stärker als in den anderen Teilen aus einer subjektiven Perspektive verhandelt.
Der erste Text dieses Teils diskutiert den Alltag politischer Kämpfe im Feld Antirassismus und schließt damit gut an den vorherigen an. Philipp Millius diskutiert ebenfalls die Frage, wie sich unter sehr ungleichen Ausgangsvoraussetzungen Begegnungen auf Augenhöhe herstellen lassen, das zentrale Thema seines Textes ist aber der Umgang mit der in der Situation angelegten ständigen subjektiven Überforderung in dieser Lage. Der Autor hat vor diesem Hintergrund eine Depression entwickelt und schreibt den Text entlang von Notizen aus einem Klinikaufenthalt. Die Fragestellung, die sich durch den Text zieht, ist: Wie können wir unter Bedingungen der Ungleichheit und Erschöpfung füreinander da sein? Philipp Millius schlägt vor, die erschöpften Genoss*innen »weiter [zu] nerven«, um Isolation und Verzweiflung nicht überhand nehmen zu lassen. Eine genaue Bestimmung (die Antwort auf die naive Frage: Wie geht denn das?) kann natürlich nicht erfolgen – die Verweise auf Empathie, Sensibilität, offene Kommunikation und ständige Reflexion machen deutlich, dass die Gefahr neoliberaler Selbstoptimierung hier in der Luft liegt. Trotzdem ist die Forderung, die Sorge umeinander in die alltäglichen politischen Beziehungen zu holen, eine Antwort auf die Frage nach radikaler Subjektivität und Verbundenheit, die schon in den Thesen auftaucht und hier wieder aufgegriffen wird.
Abschließend umreißen Markus Beinhauer und Karl Meyerbeer ausgehend von den eigenen Biografien, was nötig ist, um auch mit Gicht und Altersdiabetes radikal zu bleiben. Als bedeutsam dafür, nicht dem (materiellen und ideellen) Normdruck nachzugeben, zeigen sich hier verlässliche Strukturen im Alltag und ein politisches Umfeld. Aber auch gesellschaftliche Großtrends scheinen eine Rolle zu spielen, wie der Vergleich der für viele relativ abgesicherten Jahre am Ende der BRD und der unsicheren Verhältnisse in den 2000er-Jahren zeigt. Der Text schließt ebenfalls an Themen aus den Thesen an, nicht zuletzt an die Frage, wie Haltung entsteht und wie sich Rahmenbedingungen schaffen lassen, um auch entsprechend zu handeln.
Die Frage der Militanz wird in verschiedenen Texten behandelt. Hannah Poddig fordert eine Haltung, bei der man sich nicht vom bürgerlichen Staat die Formen politischer Auseinandersetzungen vorschreiben lässt, Melanie Hochstedt beschreibt eine Form politischer Praxis, die das Grenzregime unabhängig von Fragen der Legalität angreift, indem das Netzwerk Soli-Asyl versucht, Abschiebungen zu verhindern. Bei Julika Bürgin kommt die Frage implizit vor, da sie kritisiert, wie das Paradigma der Extremismusprävention darauf abzielt, politische Auseinandersetzungen auf den Rahmen des derzeit politisch Legitimen engzuführen. Die Frage, welche Rolle dabei Gewalt spielt, wird nicht explizit verhandelt – abgesehen davon, dass staatliche Gewalt bei vielen Beiträgen eine relevante Rahmenbedingung darstellt. Diese Leerstelle hat vielleicht etwas damit zu tun, dass Militanz innerhalb der radikalen Linken gerade keine große Rolle spielt und noch viel seltener außerhalb von Nischenpublikationen überhaupt darüber diskutiert wird. Das ist gewiss auch ein Effekt erfolgreicher Deradikalisierungs- und Integrationsprozesse. Polemisch gesagt: Das Milieu, das vor 30 Jahren überlegt hat, welche Verhältnisse man zerschlagen, wo man mal wieder was kaputt machen müsste, stellt heute einen Projektantrag oder gibt Sammelbände heraus.
Der letzte Text des Sammelbandes endet mit dem Befund, dass wir angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Situation nicht drumherum kommen, radikale Theorie und Praxis zu entwickeln, zu leben und nach Möglichkeiten der Verallgemeinerung zu suchen. Wir stimmen dem Befund zu und hoffen, mit dem Sammelband einige Wegweiser für die weitere Suche danach geben zu können.
Die Herausgeber*innen
I.RadikalitätundRadikalisierung
Institut für Radikalisierungsforschung beim Bildungskollektiv Biko
Statt nur oberflächliche Phänomene zu beschreiben oder Symptome anzuprangern, zielt Radikalität darauf, ursächliche (also: wesentliche) Zusammenhänge zu ergründen und die Ursachen für Missstände zu beseitigen. Radikalität grenzt sich damit sowohl von oberflächlichen Analysen wie auch von reformistischen Handlungsstrategien ab.
Radikale Kritik besteht darauf, dass es gesellschaftliche Ursachen für Diskriminierung, Ungleichheit und Leid gibt, die erkannt und abgeschafft werden müssen. Radikale Kritik braucht also einen Begriff von Gesellschaft, sie geht davon aus, dass es eine Gesellschaft gibt, nicht nur eine Summe von Teilen (Individuen, Interaktionen, Diskurse, Institutionen, etc.).
Der bürgerliche Staat ist im Kapitalismus die Form, in der diese Teile miteinander und mit dem Ganzen politisch vermittelt und verwaltet werden. Deswegen ist der bürgerliche Staat Gegenstand radikaler Kritik und Praxis, nicht Adressat.
Geht es um rechte Politiken und Akteur*innen, wird der Begriff Radikalisierung/Radikalität meist im Sinne von Übersteigerung genutzt. Ideologien der Ungleichheit sind aber nur eine, bei Nazis eben übersteigerte, Verarbeitungsweise dessen, was in der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft normal ist – Konkurrenz, Ausbeutung und Enteignung. Insofern sind Rassismus und Sexismus gerade nicht radikal, sie zielen nicht auf Beseitigung von Ursachen sozialer Probleme.
Eine vulgärmaterialistische Kritik, die das Besondere zugunsten eines abstrakten Universalismus geringschätzt, konkretes Leiden objektiviert und Erfahrungen nur als Beleg für feststehende Konzepte nutzt, ist genauso verkürzt wie eine voluntaristische Weltanschauung, die nur Erfahrungen von Betroffenen anerkennt und Theoretisierungen ablehnt. Auf eine andere Ebene übertragen: Die Ursachen für soziale Tatbestände lassen sich weder auf die Gesellschaftsstruktur noch auf den Willen der handelnden Subjekte reduzieren, zu begreifen ist vielmehr, wie beides ineinandergreift. Radikale Kritik zielt in diesem Sinne darauf, die falschen Gegensätze von Voluntarismus und Strukturdeterminismus aufzuheben. Radikale Kritik ist materialistisch in dem Sinne, dass nicht Ideen, sondern menschliches Tun (vor dem Hintergrund sozialer Strukturen, aber nicht auf diese reduzierbar) entscheidend für soziale Prozesse ist: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen« (Marx).
Radikalität ist auf die Aufhebung bestehender, Leid verursachender Verhältnisse bezogen. Es geht darum, den Kapitalismus und alle Verhältnisse, in denen Menschen ausgebeutet und unterdrückt leben müssen (Geschlechterverhältnisse, Rassismus, …), zu zerstören. Dafür ist eine Verbindung von Theorie und Praxis notwendig – was keinesfalls bedeutet, dass eine unmittelbare (und zeitnahe) Anwendung theoretischer Konzepte immer möglich ist. Wir stehen derzeit sogar vor der Situation, dass eine Aufhebung so weit entfernt scheint, wie nur irgend denkbar, was im aktuellen Zeitfenster viel zu oft nur eine halbierte, weil rein gedankliche Radikalität ermöglicht. Trotzdem denken wir: Diese halbierte Radikalität geht am Kernproblem (das konkrete Leid in der Welt, die es verursachenden Verhältnisse und die Notwendigkeit ihrer Aufhebung) vorbei.
Das Leiden der Subjekte ist die Bedingung für die subjektive Herausbildung von Radikalität, genauer: die Reflexion, dass die Organisation von gesellschaftlicher (Re-)Produktion so eingerichtet ist, dass sie uns Glück und Selbstverwirklichung versagt. Das Prinzip der Herrschaft, dass Menschen ihre Möglichkeiten und Bedürfnisse nicht verwirklichen können, impliziert, dass sie leiden. Dieses Leid ist nicht zufällig, sondern es ist systematisch in der Form der bestehenden Gesellschaft angelegt.
Gleichzeitig hat Radikalität im Leiden ihren Grund. Gäbe es dieses Leid nicht, wäre ein Umsturz nicht notwendig. Weil es dieses Leid gibt, denken wir über die Überwindung dieser Gesellschaftsform nach. Die meisten Menschen leiden an den bestehenden Verhältnissen und wissen um dieses Leid: Es ist Gegenstand von Alltagsgesprächen, bestimmt Beziehungen, verlangt nach Kompensation und wird in kulturindustriellen Produkten thematisiert und verarbeitet. Aber in den meisten Fällen wird dieses Leid nicht auf gesellschaftliche Verhältnisse zurückgeführt, sondern bleibt als individuelles Unglück isoliert. Wenn wir die Überwindung des Bestehenden angehen wollen, sind wir gut beraten, wenn wir nicht auf moralische Größen jenseits der konkreten Menschen abzielen – die Zukunft, die Menschheit, Gott, das Gute, das Ideale –, sondern wenn wir das Leid selbst zum Ausgangspunkt nehmen. Über das Leid zu sprechen, es auf seine materiellen Bedingungen zurückzuführen, es mit Erfahrung und begrifflichem Wissen zu verbinden, es aus seiner individuellen Isolation in eine kollektive Bearbeitung zu überführen, heißt: das »Leiden beredt werden zu lassen« (Adorno).
Radikalität ist ausgerichtet auf die Überwindung eines Zustandes, der Leid produziert. Sie ist sich nicht Selbstzweck, sondern will die Überwindung des Leids befördern. Leid als gesellschaftlich verursacht zu erkennen, eröffnet die Perspektive darauf, dass es anders sein kann, indem die gesellschaftlichen Ursachen von Leid als geworden und veränderbar erkannt werden. In der an Abwesenheit von Leid orientierten Kritik des Bestehenden scheint außerdem die Möglichkeit der Veränderung hin zum Besseren dadurch auf, dass es dieses Bessere negativ antizipiert.
Gleichzeitig ist radikales Denken und Handeln bereits der Versuch, die Welt ergreifend zu ändern, und schafft bzw. bewahrt die Bedingungen für Veränderung, indem durch sie hindurch Gedanken, Praxen und partielle Freiräume entwickelt werden, die in ihrer historischen Spezifik insofern als radikal gelten können, als dass sie nicht der überwältigenden Kraft des Bestehenden preisgegeben werden oder ihr anheimfallen. Schließlich bezeichnet Radikalität jene Formen der herrschaftsfreien gesellschaftlichen Vermittlungen, die es zu entwickeln gilt.
Instrumentelle Vernunft beschreibt ein bestimmtes Verhältnis von (erkennendem) Subjekt und (zu erkennendem) Objekt. In ihr wird alles dem Imperativ der Beherrschung der Natur zum Zwecke ihrer Anwendung unterworfen. Die Welt ist unterteilt in Ursache und Wirkung, obliegt der Kontrolle und Kalkulierbarkeit und alles, was dem nicht entspricht, wird ausgeblendet. Mit der instrumentellen Vernunft ist somit Herrschaft das Prinzip des Denkens und aller Beziehungen zu den Dingen und unter den Menschen.
Zudem löscht instrumentelle Vernunft die Qualitäten der Dinge aus, indem sie zum Zwecke der Formalisierbarkeit von deren Besonderheiten abstrahiert. Das Wissen über sie ist Technik, nämlich das Wissen darüber, wie man die Dinge (und auch die Menschen bzw. deren Arbeit) ausnutzt. Mit der Qualität der Dinge werden auch alle Eigenschaften der Dinge abgeschnitten, die nicht vermittels des identifizierenden Denkens in sie hineingelegt werden, die nicht im Begriff aufgehen. Es wird nichts Überschießendes, Zufälliges, der formalen Logik sich Entziehendes mehr geduldet. Im instrumentellen Denken hat nichts Platz, das sich nicht kalkulieren und nutzbar machen lässt, das über das Bestehende hinausweisen kann.
Radikales Denken reflektiert darauf und macht das zum Gegenstand von Kritik, um die Erinnerung daran wachzuhalten, dass es Qualitäten von Dingen und Menschen gibt, die über ihre Nutzbarmachung zur Naturbeherrschung hinausgehen. Im radikalen Denken setzt sich das Subjekt des Denkens anders mit Welt in Beziehung, als es die Imperative des instrumentellen Denkens erfordern, und weist somit auch über das Bestehende hinaus.
Radikales Denken ist negativ als Kritik und Absage an das Positive. Es entzieht sich der Vereindeutigung und einer Anpassung an das Bestehende. Es ist außerdem insofern negativ, als dass aus dem Nachdenken über die schlechten Zustände die Einsicht auf die Notwendigkeit der Umwälzung folgt – also die Aufhebung dessen, was ist. Radikales Denken ist also auf die Abschaffung im Sinne der Aufhebung des Bestehenden gerichtet. In dieser Negativität, dem Streben nach Negation bzw. dem geteilten Interesse, Herrschaft schlechthin abzuschaffen, haben radikale Kämpfe ihre gemeinsame Grundlage. Radikales Denken ist keine nur bestimmte Interpretation der Welt, sondern überschreitet das Bestehende in den Begriffen und im Denken und zielt darauf, die Welt zu verändern – oder zumindest in Zeiten der Überwinterung mit Brüchen und (Gegen-)Entwürfen die Hoffnung und Einsicht in die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung aufrechtzuerhalten.
Eine grundlegende Kritik an den bestehenden Verhältnissen beinhaltet eine Kritik am Gewaltmonopol des Staates, eine radikale Praxis hält sich offen, es zu missachten, und ist damit tendenziell immer in Konflikt mit der Staatsgewalt. Trotzdem ist Radikalität selbst nicht notwendig gewalttätig, in der Geschichte gibt es zahllose Beispiele für gewaltfreie Radikalität: Sitzblockaden, Streiks und sozialer Ungehorsam können an der richtigen Stelle weitaus radikaler sein als Pflastersteine. Und auch wenn Pflastersteine hier und da helfen können, ist ein Spektakel der Überbietung, in dem Steineschmeißen zu Ritual und Selbstzweck wird, oft wenig radikal.
Unser Gegenüber widmet sich mit viel Zeit und Geld der Aufgabe, Deradikalisierungsstrategien zu entwickeln. Und hat oftmals Erfolg – nicht nur, weil die Repression siegt, sondern auch, weil sich radikale Ansätze einbinden lassen und dadurch harmlos werden. Welche Radikalität am Ende diejenige sein wird, die sich nicht hat einhegen lassen, können wir erst in der Rückschau wirklich bestimmen. Relativ sicher scheint uns aber, dass es für eine gesellschaftsweite Perspektive viele Radikale braucht, dass die Radikalität also verallgemeinert werden muss, um die Verhältnisse umzuwerfen.
Insofern stehen wir vor der Aufgabe, radikale Kritik und Praxis so zu formulieren und zu praktizieren, dass sie sich ausbreiten kann. Abstrakt bestimmt ist es dafür nötig, Anknüpfungspunkte zu finden, mit denen wir eine radikale Kritik so formulieren können, dass sie nicht oberflächlich wird, aber trotzdem unsere Nachbarinnen, Kollegen oder Verwandten ergreift, sodass eine kollektive Radikalität entsteht.