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Seine Augen waren das erste, das ich bewusst wahrnahm. Eisblau und strahlend. Aber auch mit einem schmerzerfüllten Glanz. Er atmete schwer. Das Licht der Eingangsbeleuchtung warf Schatten auf sein Gesicht. Dennoch kam es mir seltsam vertraut vor. »Zauberin!«, hauchte er. »Bitte?« »Hab ich dich also gefunden, Zauberin«, sagte er leise und stand schwerfällig auf.
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Seitenzahl: 816
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Bisher von Alexandra Bogott-Vilimovsky erschienen:
Das Band der Seelen – Mythen und Märchen ISBN 978-3-7494-2890-8
Das Band der Seelen – Schicksalswege ISBN 978-3-7494-8279-5
Das Band der Seelen – Ceanloch'eigh ISBN 978-3-7519-9612-9
Der Weihnachtsvampir ISBN 978-3-8334-6861-2
Der Weihnachtsvampir, Alicia ISBN 978-3-7481-0036-2
Der Weihnachtsvampir, Sonnenhexe ISBN 978-3-7504-2339-8
Weitere Romane sind in Vorbereitung.
Erinnere dich …
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Teil I
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Teil II
Kapitel 13
Kapitel 14
Teil III
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Teil IV
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Teil V
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Teil VI
Kapitel 28
Teil VII
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Teil VIII
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Teil IX
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Teil X
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Teil XI
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Teil XII
Kapitel 59
Kapitel 60
Myth Creatures
Namensverzeichnis, alphabetisch
DANKSAGUNG
Die Autorin
Buchempfehlung
Als ich noch kleiner war, legten meine Eltern klassische Musik auf, dann hockten wir uns auf dem Boden vor dem Plattenspieler hin und lauschten der Musik. Und wir erzählten uns Geschichten, die zu der Musik passten. Geschichten von wundersamen Elfen, Trollen, Einhörnern und Drachen. Wir malten Landschaften mit unserer Phantasie. Wir erschufen Städte, Schlösser und Königreiche. Und wir träumten von fernen Ländern und von unermesslichen Schätzen.
Aus einem Schulaufsatz von Raelynn Feuer, neun Jahre alt.
***
Die großen Prunkbauten der Ringstraße zogen an mir vorbei. Ich ließ meinen Blick über die Gehsteige und Bäume wandern. Wien. Ich liebte diese Stadt. Manchmal hasste ich sie auch. Doch die meiste Zeit meines Lebens hatte ich sie geliebt.
Musik dröhnte aus den Kopfhörern in meinen Ohren und hielt die Unwirklichkeit dieser Szene aufrecht. Das Schriftstellerseminar hatte mich wieder in die Welt der Fantasie katapultiert. Ich überlegte, wie so oft schon, was vor zehn Jahren passiert war.
Was hatte zu dieser massiven Schreibblockade geführt? Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass davor etwas Gutes war. Etwas Wahres. Aber die Erinnerung daran verschwamm in einem grauen Nebel.
Nicht zum ersten Mal stellte ich mir die Frage: Wer bin ich eigentlich?
»Raelynn ist doch kein österreichischer Name«, hatte eine Kursteilnehmerin bemerkt. Nein, Raelynn ist kein österreichischer Name. Meine Mutter war in Schottland verliebt. In die Natur und die Wildnis und die wunderbar klingenden Namen. Deshalb nannte sie mich Raelynn. Ich seufzte leise und betrachtete mein Spiegelbild in der Scheibe der Straßenbahn. Ich war nun Mitte dreißig. Grün-graue Augen blickten unter schwarz getuschten Wimpern hervor. Die langen, dunkelroten Haare hatte ich wie immer im Nacken zu einem Knopf gerollt.
Ich fühlte mich in meinem stark übergewichtigen Körper nicht wohl. Ich hatte aber auch nicht die Kraft, daran etwas zu ändern. Vielleicht, weil ich tief in mir wusste, dass es einmal anders gewesen war.
Vor dem Nebel in meiner Erinnerung.
Vor der Krankheit.
Vor …
Ich war auch nicht immer allein. Jedoch konnte ich mich nicht daran erinnern, mit einem Mann zusammen gewesen zu sein. Aber ich hatte das Gefühl, dass es ein Mann gewesen war. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Immer wieder tauchte das Bild eines Löwen in diesen Gedanken auf. Vielleicht hatte ich deshalb ja in der Schreibübung über einen Löwen geschrieben.
Oder, die Übung hatte den Löwen in meine Gedanken gebracht.
Auf jeden Fall war er irgendwann wichtig für mich. Er war für einen Teil meines selbst immer noch wichtig.
Die Straßenbahn hielt und ich stieg aus. Atmete die frische Luft ein. Der Mai war immer schon mein Lieblingsmonat gewesen. Nicht nur, weil ich im Mai Geburtstag hatte. Es war einfach ein schöner Monat: Nicht mehr so kalt wie der Winter, aber auch noch nicht so heiß wie der Sommer.
Ich ging zum Bus und ignorierte die Blicke der Menschen.
Ich wusste, was sie sahen. Und ich wusste, was sie dachten:Da ging eine ganz in schwarz gekleidete dicke Frau mit schweren Schritten die Straße entlang.
Sie sahen nicht die unzähligen Diäten, die ich schon hinter mir hatte. Sie sahen nicht die Krankheit, die mir Bewegungen fast unmöglich machte.
Sie sahen nur eine willensschwache Verliererin.
Und an den meisten Tagen der vergangenen Jahre hatte ich ihnen recht gegeben.
Ich stieg in den Bus und setzte mich ans Fenster. Metal-Musik trommelte in mein Hirn. Mit dieser Musik und mit der Gothic-Kultur an sich versuchte ich, mich von den anderen abzugrenzen. Versuchte, unnahbar zu werden. Versuchte, alle abzuwehren, die mir vielleicht nahekommen könnten.
Hinter dieser Fassade lebte ich. Und ein Teil von mir hatte sich längst damit abgefunden, als verschrobene Alte, umgeben von unzähligen Katzen, in einer einfachen Wohnung zu sterben.
Aber der andere Teil wollte herausfinden, was geschehen war. Immer wieder kramte ich die alten Geschichten hervor, die ich geschrieben hatte. Doch ich schaffte es nicht, wieder abzutauchen. Einzutauchen in eine Welt voller Elfen, Drachen und Einhörner.
Und ja, auch Männern, die ihre Frauen abgöttisch liebten.
Seelengefährten …
Irgendetwas in meinem Inneren klingelte bei diesem Gedanken. Aber ich bekam es nicht zu fassen.
Ein Mann setzte sich schwungvoll auf den Sitz neben mir und sah mich anklagend an, weil ich so viel Platz brauchte. Ich sah das aus dem Augenwinkel und ignorierte es. Wie immer. Harte Bässe hämmerten die Unterhaltungen im Bus fort. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden und es regnete leicht. Tropfen klatschten an die Scheibe und liefen in verrückten Bahnen daran hinunter.
Der Schreibkurs förderte Bilder zutage, die ich nicht zuordnen konnte. Ich freute mich schon darauf, in meiner Wohnung die alten Geschichten durchzulesen. Möglicherweise ergaben die Bilder ja dann einen Sinn.
Der Bus hielt bei meiner Station und ich trat in die frische, vom Regengeruch geschwängerte Luft hinaus. Ich mochte Regen und, im Gegensatz zu anderen Frauen, brauchte ich mir keine Sorge um verlaufende Haarfarben zu machen. Ich hatte von Natur aus dunkelrote Haare.
Der Weg heim führte mich an einem brachliegenden Grundstück vorbei. Meine Wohnung hatte ich erst im März bezogen und sie erfüllte mich immer noch mit Freude. Ich verdiente gut und war stolz darauf, mir diese Wohnung in einem Innenstadtbezirk wirklich leisten zu können. Und meine Katzen hatten endlich Zugang zu Frischluft auf dem Balkon. Es waren nur zwei Zimmer, die ich mir mit den beiden teilte, aber mehr brauchten wir auch nicht.
Ich bog in die Siedlung ein, die erst vor Kurzem entstanden war. Noch immer war nicht überall Rasen und die Bäume waren noch sehr klein. Aber es war ruhig hier. Mein Schatten wanderte mit den Straßenlampen und war mal hinter, und mal vor mir. Aber er war immer sehr groß. Ich bemühte mich, nicht darauf zu achten. Wie immer vergeblich. Kurz, bevor ich das Haus erreichte, in dem ich wohnte, kramte ich in meiner Tasche nach dem Schlüssel.
Als ich den Blick wieder hob, stockte ich. Vor dem Haus lag ein Mann auf dem Boden. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich mich langsam näherte. Alle möglichen Gedanken schossen mir durch den Kopf: Er konnte gestürzt sein, verletzt sein, einen Herzinfarkt gehabt haben, oder einfach nur betrunken sein. Alles war möglich. Ich steckte einen Schlüssel zwischen meinen Fingern durch, um ihn im Ernstfall als Waffe benutzen zu können. Dann nahm ich die Kopfhörer ab, blieb vor ihm stehen und stippte ihn vorsichtig an.
„Entschuldigung?“
Er stöhnte leise und versuchte, sich halb aufzurichten. Er hielt sich den Arm vor die Brust und hob den Kopf. Seine Augen waren das erste, das ich bewusst wahrnahm: eisblau und strahlend. Aber auch mit einem schmerzerfüllten Glanz. Er atmete schwer. Das Licht der Eingangsbeleuchtung warf Schatten auf sein Gesicht. Dennoch kam es mir seltsam vertraut vor.
„Zauberin!“
„Bitte?“
„Hab ich dich also endlich gefunden, Zauberin“, sagte er leise und stand schwerfällig auf. Seine Stimme war kratzig, als hätte er sie lange nicht mehr benutzt. Oder als hätte er lang und laut geschrien. Er stützte sich an dem großen Pfeiler ab, der neben der Haustür aufragte.
„Ich bin keine Zauberin!“
Unwillkürlich hatte ich einen Schritt zurückgemacht. Er war groß und breitschultrig. Lange, gelockte, honigblonde Haare lagen um seine Schultern und ergossen sich über den Rücken, bis fast zur Taille hinab. Seine Hände waren schlank und seine Finger lang und kräftig.
„Doch, du bist die Zauberin“, bekräftigte er seine Worte.
„Okay!“ Ich hob die Hände. „Ich weiß ja nicht, woher Sie kommen, aber ich bin keine Zauberin. Ich bin eine einfache Frau, die einen langen Arbeitstag hatte. Ich kann Ihnen gern einen Krankenwagen rufen.“
„Ich brauche keinen Krankenwagen.“ Er stand einfach nur da und betrachtete mich. Langsam wurde mir mulmig.
„Wenn das so ist, dann werde ich jetzt da hinein gehen. Meine Familie wartet nämlich schon auf mich!“
„Familie?“ Schmerz flackerte in seinen Augen auf. Es war kein Schmerz wie zuvor. Es schien eher so, als hätte ich meinem, aus dem Koma erwachten Mann erklärt, dass ich einen neuen Mann hatte.
„Familie, ja. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte!“
Ich wandte mich resolut zur Tür, sperrte schnell auf und huschte hinein. Er blieb stehen und sah mir nach. Ich ging flott zum Briefkasten, holte die Post heraus und drückte den Knopf beim Aufzug. Als ich noch einmal zur Haustür blickte, stand er immer noch dort und sah mich traurig an. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
„Verdammt!“, fluchte ich leise. Irgendwie ließ er mich nicht los. Wieder blickte ich zu ihm. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass er mir nichts Böses wollte. Eher das Gegenteil. Ich seufzte. Die Lifttür öffnete sich und ich schaute in das Licht. Ich wusste ehrlich nicht, was ich tun sollte! Normalerweise fiel mir das nicht so schwer.
Er ist ein vollkommen Fremder!, sagte ich mir. Er könnte einer von diesen Männern sein, die alleinstehende Frauen ausrauben. Oder Schlimmeres …
Doch irgendwie glaubte ich das nicht. Die Aufzugtür schloss sich und das Licht verschwand. Ich starrte auf mein schemenhaftes Spiegelbild im gebürsteten Stahl. Ich wusste nicht, wie ich mir selbst beschreiben sollte, was da geschah.
Es war wie ein Märchen. Und ich glaubte an Märchen. Zumindest ein Teil von mir hatte immer daran geglaubt, konnte sich aber nicht mehr erinnern. Es war ein Nachhall einer längst vergangenen Zeit.
Ich holte tief Luft und blickte abermals zu dem Mann vor der Tür. Schließlich schüttelte ich den Kopf und ging langsam wieder zum Haustor zurück.
Ich öffnete es und schaute ihn an: „Können wir uns darauf einigen, dass Sie mir nichts antun werden?“
„Ich würde niemals etwas tun, das dir schadet, Zauberin!“
„Na schön!“ Ich hielt ihm die Tür auf. „Eine Nacht können Sie bleiben, morgen sehen wir weiter.“
Er nickte schwach und ging an mir vorbei ins Haus. Ich drückte erneut den Liftknopf und wir stiegen ein. Meine Wohnung lag im dritten Stock. Die Fahrt war mir noch nie so lang vorgekommen. Er war wirklich sehr groß, überragte mich um mehr als nur Haupteslänge. Und er hatte eine sehr einnehmende Präsenz. Obwohl ich mich kannte, fühlte ich mich plötzlich sehr klein neben ihm. Und ich war mit meinen eins-fünfundsiebzig schon sehr groß für eine Frau. Irgendwie erschien mir die ganze Liftkabine klein und beengt. Einem Mann dieser Größe hatte ich nicht viel entgegenzusetzen, wenn er mir doch etwas Böses wollte …
***
Nolan Buckland stand in den Schatten der Straßenlampen und hielt den Bügel seines Blindenhundes Faol locker fest. Der knurrte leise und Nolan lächelte. Er hatte ebenfalls die fremde Duftnote im Umfeld der Zauberin bemerkt.
„Ich weiß, mein Freund“, sagte er jetzt leise. „Er sollte nicht hier sein!“ Faol grunzte. Nolan lachte und seine Nasenflügel weiteten sich. Ja, der Geruch gehörte eindeutig zur Zauberin. Er hatte ihr angehaftet, als Nolan sie zehn Jahre zuvor mehr zufällig fand. Doch dieser Duft, der charakteristische Geruch der großen Katze, war mit den Jahren verblasst. „Na komm, Faol. Ich denke, unsere Wache ist bald zu Ende“, sagte er ruhig. Faol schnaubte, erhob sich und lenkte den Mann mühelos zurück zu dem Haus, in das sie gezogen waren, als auch die Zauberin umgezogen war.
***
Als wir aus dem Lift traten, sah der Mann sich um und folgte mir in die Wohnung. Meine Katzen kamen freudestrahlend herangesprungen, bremsten sich aber sofort ein.
„Ach ja, ich hab Katzen“, erklärte ich das Offensichtliche.
„Manche Dinge ändern sich nie“, sagte er kryptisch und lächelte mich an. Ich schmolz dahin und musste mich gewaltsam von diesem Lächeln losreißen. Ihm haftete plötzlich ein so jungenhafter Charme an, dass ich mich fragte, warum ich Angst vor ihm haben sollte. Ich schüttelte den Kopf und senkte den Blick. Die Anziehung verschwand.
Amos, die Mutigere der beiden Katzen kam langsam heran. Er war ein großgewachsener, schwarzer Maine Coon Kater mit weißen Pfotenspitzen und Schnurrhaaren und grün-gelben Augen.
Mein Begleiter ging langsam in die Hocke und streckte die Hand aus. Amos schnüffelte daran, schleckte sich ab und ging Richtung Küche davon. Jill, auch ein Maine Coon, aber dunkelgrau mit bernsteinfarbenen Augen, fasste nun ebenfalls Mut und begutachtete ihrerseits den Gast. Fasziniert beobachtete ich auch bei ihr das gleiche Verhalten, wie bei Amos. Der Mann richtete sich wieder auf, wobei er sich an der Wand abstützte, und sah sich um. Ich stand bereits in der Küche und teilte das Katzenfutter auf meine Lieblinge auf.
„Sagtest du nicht etwas von einer Familie?“, fragte er.
„Ja, meine Katzen und ich, wir sind eine Familie.“ Ich kam zurück, hängte meine Tasche und meine Jacke auf, schlüpfte aus meinen Schuhen und legte meine Kopfhörer auf den kleinen Tisch im Vorzimmer. Gut, Vorzimmer war übertrieben, weil man eigentlich gleich nach der Tür schon in der geräumigen Wohnküche stand.
Ich hatte irgendwie den Eindruck, dass er unglaublich erleichtert war. Er schlüpfte nun ebenfalls aus seinen Schuhen und ging tiefer in die Wohnung hinein. Vor dem Fenster im Wintergarten blieb er stehen und blickte kurz hinaus in die Siedlung.
„Möchten Sie etwas trinken?“, fragte ich, nur um irgendetwas zu sagen.
Ich konnte mich selbst nicht verstehen! Ich hatte einen fremden Mann mit in die Wohnung genommen!Er konnte sonst was mit mir anstellen und niemand würde es mitbekommen. Was mich noch mehr verstörte, war die Tatsache, dass es sich trotz aller Bedenken richtig anfühlte, ihn bei mir zu haben.
„Nur Wasser, danke“, sagte er und drehte sich zu mir herum. Ich ging in die Küche und stellte ihm ein Glas Wasser auf den Bartresen. Er setzte sich langsam, mit steifen Bewegungen und trank dann das ganze Glas leer. Ich beobachtete ihn dabei und füllte nach.
„Erzählen Sie mal: Wo kommen Sie her?“
„Aus unserer Welt, Zauberin“, sagte er, als wäre das selbsterklärend. Seine Stimme war nun, nachdem er getrunken hatte, wunderbar tief und rau und jagte mir Schauer über den Rücken.
„Und wo ist diese Welt?“, fragte ich lahm.
Er zuckte mit den Schultern. „Überall und nirgends.“
Ich griff mir an die Stirn, schloss die Augen und zählte bis zehn. „Noch mal: Wo kommen Sie her? Und hören Sie auf, mich Zauberin zu nennen!“
„Diese Welt, aus der ich komme, ist überall um uns herum. Und doch ist sie nirgends, weil kein Mensch sie bewusst betreten kann. Nur du, Zauberin, kannst das.“
„Ich bin keine Zauberin!“, knurrte ich.
„Dein Name ist Raelynn Feuer. Eigentlich Feuerteufel, aber dein Vater hat den Namen ändern lassen, als er Feuerwehrmann wurde. Unglücklicherweise kam er ums Leben, da warst du gerade mal fünf Jahre alt. Deine Mutter hat nicht wieder geheiratet und starb auf den Tag genau fünf Jahre nach deinem Vater. Du hast dich mit der Familie deiner Tante nicht verstanden und bist mit achtzehn von daheim ausgezogen. Seither arbeitest du als Beraterin. Mit vierzehn bist du in meine Welt gekommen und hast dort die Rolle der Zauberin übernommen. Diese Rolle hattest du inne, bis du vor zehn Jahren einfach verschwunden bist.“
Eine halbe Ewigkeit starrte ich ihn bloß wortlos an. Er wusste Details aus meinem Leben, die keiner kannte. Außer meiner Familie natürlich.
„Wer sind Sie?“, fragte ich entsetzt und völlig schockiert.
„Ich bin dein Seelengefährte, Zauberin. Ich habe seit deinem Verschwinden nach dir gesucht. Die Art und Weise, wie du gegangen bist, hat auch mich verändert. Früher hat mir Zeit nichts ausgemacht, aber seit deinem Verschwinden weiß ich ganz genau, welcher Tag und welche Stunde gerade ist. Zu wissen, wie viel Zeit schon vergangen ist, war ohne dich kaum auszuhalten!“
„Halleluja!“, stieß ich aus. Mein Seelengefährte? Wieso konnte ich mich nicht an ihn erinnern?Ich wandte mich ab. Wieso konnte ich mich nicht erinnern …?
Zehn Jahre waren vergangen, in denen nur mein Überleben wichtig war und sonst nichts. Erst langsam hatte ich wieder begonnen neuen Mut zu fassen. Hatte wieder begonnen so etwas wie ein Leben zu führen. Und jetzt das!
„Wieso jetzt?“, hauchte ich, mehr zu mir selbst.
„Ich weiß es nicht“, gab er zu. „Ganz plötzlich hatte ich wieder Kontakt zu dir. Erst schwach vor ein paar Monaten, aber es wurde zunehmend stärker.“ Ich drehte mich zu ihm um und er sah mich mit diesen unglaublich blauen Augen an. „Vor drei Wochen wurde mir klar, dass du in dieser Welt bist. Ich brauchte eine Weile, um einen Weg hierher zu finden.“ Er änderte seine Sitzposition und verzog das Gesicht. „Es war kein angenehmer Weg, das kannst du mir glauben! Und dann hast du mich nicht erkannt! Das war ein Schock für mich. Auch das mit der Familie …“
„Ich hab überhaupt keine Erinnerung, ehrlich!“, beeilte ich mich zu sagen. „Nicht an Sie und auch nicht an eine andere Welt!“
„Die Erinnerungen sind da, Zauberin!“ Er lächelte schwach. „Warum sonst hättest du mich, einen für dich Wildfremden, in deine Wohnung und zu deiner Familie gelassen?“
Das war ein wirklich guter Punkt! „Ich hatte so ein Gefühl.“
„Ja, genau! Ein Gefühl. Ein Schatten. Es steht am Rand des Bewusstseins, aber man bekommt es nicht zu fassen“, erklärte er leise.
„Sie …?“
„So warst du für mich in all den Jahren und plötzlich ist deine Präsenz aus dem Schatten getreten. Was immer deine Erinnerungen und dich verschleiert hat, es löst sich langsam auf.“
Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Gesicht und blickte einen Moment lang einfach nur vor mich hin. Jill sprang meinem Gast auf den Schoß und rollte sich dort ein.
„Das macht sie sonst nie!“, hauchte ich.
Der Fremde lächelte mich an. „Katzen mögen mich.“ Er fuhr mit seinen schmalen Händen durch das dichte, graue Fell und Jill begann zu schnurren. Amos strich um die Beine des Mannes und gurrte ihn an. Ich erkannte meine Katzen nicht wieder.
„Wie heißen Sie eigentlich?“
„Lyonel, mit Y.“
„Und wie noch?“
Er zuckte mit den Schultern und streichelte Jill weiter. Kurz flackerte Eifersucht in mir auf. Ich wollte auch von diesen Händen gestreichelt werden! Gleich darauf schalt ich mich eine Närrin! Kein Mann wollte etwas so Fettes und Wabbeliges wie mich berühren! Ich war nicht so niedlich, flauschig und erhaben wie Jill.
„Nichts weiter. In unserer Welt brauchen wir keine Nachnamen“, erklärte er in meine Gedanken hinein.
„Na gut!“ Ich atmete tief ein und warf einen Blick auf die Uhr. Es war tatsächlich schon mitten in der Nacht! „Sie können auf der Couch schlafen, ich hole Ihnen Bettzeug!“ Damit ging ich ins Schlafzimmer und holte ein Polster und eine Decke für ihn. Er beobachtete mich, als ich die Sachen auf die große Couch legte und das Bett ausklappte.
„Vielen Dank“, sagte er leise.
Ich nickte. „Schon okay. War ein langer Tag. Frische Handtücher liegen im Bad, falls Sie duschen möchten.“ Ich sah ihn an. „Kann ich sonst noch etwas tun?“
„Nein, danke.“ Fast sah es so aus, als wollte er mich küssen, doch er hielt sich zurück. Ein Teil von mir war traurig darüber, doch im Grunde kannte ich ihn nicht. Warum also wollte ich, dass er mich küsste?
Ich verschwand zuerst im Bad und ging dann leise hinüber in mein Schlafzimmer. Es dauerte lange, bis ich endlich einschlief. Die Gedanken kreisten immer wieder um meinen Gast im Wohnzimmer. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich ihn kennen sollte, aber ich konnte mich einfach nicht an ihn erinnern!
Lyonel blickte ihr hinterher und wartete, bis die Tür sich schloss. Sie ließ allerdings einen kleinen Spalt offen, anscheinend waren es die Katzen gewöhnt, die Nacht bei ihr zu verbringen. Er seufzte, fuhr sich mit den Fingern über das Gesicht und zuckte leicht zusammen. Nachdenklich hob er das Shirt an und betrachtete den dunklen Bluterguss. Eine Erinnerung an seinen Weg hierher. Er ließ das Shirt aus und sah sich in der fremden Wohnung um. Seine Nasenflügel bebten leicht, als er versuchte, die Witterung der Zauberin aufzunehmen. Sie war nur schwach ausgeprägt, aber doch so eindeutig, dass der Löwe in seinem Inneren sich an seiner Haut rieb und zu ihr wollte. Doch ihre Reaktion hatte ihm deutlich gezeigt, dass sie ihn nicht erkannte. Da war etwas in ihr, das er nicht identifizieren konnte.
Beinahe lautlos erkundete er die große Wohnküche, machte sich mit den einzelnen Kästen und deren Inhalt vertraut und blickte kurz in die Nacht hinter der Glasscheibe hinaus. Diesen Teil von Wien kannte er nicht, denn er fehlte in der Welt, in der Lyonel bislang gelebt hatte. Einzig die runden Türme der Gasometer und die Schornsteine des Kraftwerk Simmering boten ihm einen Anhaltspunkt, wo in Wien er sich befand.
Die Wohnküche war der größte Raum, wie er schnell herausfand. Er schlich zurück zur Eingangstür und schob eine der Türen auf, die er beim ersten Betreten bemerkt hatte. Ein Badezimmer mit Wanne. Nicht gerade geräumig, aber ausreichend. Der Boden war mit schwarzen, marmorierten Fliesen ausgelegt und die Wände bis zur Decke weiß gekachelt. Die Katzentoiletten verströmten einen intensiven Geruch. Anscheinend war eine davon erst vor kurzem benutzt worden. Er lächelte schwach, als er daran dachte, wie die Zauberin ihn mit ihrer Aussage, sie lebe hier mit ihrer Familie hatte abschrecken wollen. Ganz kurz war ihr das auch gelungen, aber eine Familie hätte vermutlich eine größere Wohnung bezogen. Und diese Wohnung hier war neu, das konnte er riechen.
Neugierig öffnete er auch noch die letzte Tür und blickte auf eine Toilette. Auch hier gab es am Boden die schwarzen, marmorierten Fliesen, jedoch fehlten die weißen Wandfliesen, die er im Bad gesehen hatte.
Er ging weiter und blieb kurz vor der Schlafzimmertür stehen. Er spitzte die Ohren und als er sicher sein konnte, dass die Frau darin schlief, öffnete er die Tür und glitt lautlos hinein. Das Bett war erstaunlich groß und sie lag nur auf einer Seite, was ihm ein Lächeln ins Gesicht zauberte. So wie es aussah, fand sie sich nicht so ganz mit ihrem Singledasein ab. Nun, das kam ihm nur gelegen. In dem Zimmer befanden sich langgestreckte niedrige Seitenschränke an jeder Seite des Bettes und ein offener Wandschrank. Bilder von namhaften Fantasykünstlern und Kerzenhalter rundeten den gemütlichen Eindruck ab.
Er verweilte noch einen langen Augenblick und betrachtete sehnsüchtig das geliebte Gesicht, das er so lange vermisst hatte. All der Ärger und die Strapazen der letzten Zeit perlten von ihm ab und der Löwe in ihm nickte zufrieden. Auch wenn diese Frau sich noch nicht an ihn erinnern konnte, so war er doch endlich wieder bei seiner Gefährtin.
Jetzt musste er sie nur noch aus diesem Schneckenhaus herauslocken, in das sie sich zurückgezogen hatte.
Das leise Rascheln von Papier weckte mich. Einen Moment lang überlegte ich, welche Katze ich dafür verantwortlich machen sollte. Das Rascheln wiederholte sich und ich stand auf, schluckte meine Tabletten und ging nach draußen.
„Amos! Jill! Es ist Samstag, könnt ihr nicht einmal …“
Ich stockte mitten im Satz. Der Mann, Lyonel, stand vor meinem Arbeitstisch und hielt Blätter von meinen Geschichten in der Hand. Er hatte sich bereits bei meinen ersten Worten umgedreht und sah mich an.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.“
Das Blut schoss mir ins Gesicht, weil ich nur ein einfaches, altes Nachthemd trug. Ich hatte tatsächlich nicht mehr an ihn gedacht! Ich hatte das Gefühl, noch immer in einem Traum gefangen zu sein und kniff mir in den Unterarm. Au!
„Ich …, äh …, hab Sie ganz vergessen!“, stotterte ich verlegen, rieb über meinen Arm und wandte mich ab. Schnell lief ich zurück ins Schlafzimmer und zog meinen bodenlangen Kimono an. Ich atmete tief durch und ging wieder ins Wohnzimmer.
Lyonel betrachtete mich belustigt und ein amüsiertes Glitzern ließ seine Augen aufleuchten. „Ich kenne deinen Körper, Zauberin. Vor mir brauchst du dich nicht zu verstecken!“
„Schon klar. Aber ich kenne Sie nicht!“
„Nun, das könnten wir ändern!“ Sein Grinsen wurde zugleich anzüglich und spitzbübisch. Wieder bekam ich rote Wangen, ich fühlte deutlich die Wärme aufsteigen. Gewisse andere Partien meines Körpers reagierten ebenfalls auf diesen ungemein attraktiven Mann.
Er trug nur seine Hose und sah wirklich umwerfend aus! In der Nacht war mir das gar nicht so aufgefallen. Er hatte ein kantiges Gesicht mit schmalen, aber wohlgeformten Lippen. Die blauen Augen wurden von dunklen Wimpern und Brauen in der Farbe von dunklem Waldhonig überschattet. Allein seine Löwenmähne, anders wollte ich das gar nicht bezeichnen, war ein absoluter Hingucker! Seine Schultern waren breit, ebenso sein Brustkorb. Er war muskulös und durchtrainiert und seine Haut hatte einen warmen Goldton.
Ein bläulicher Bluterguss zog sich über seine Rippen bis zu seiner Hose hinunter und verschwand darin. Es sah aus, als wäre etwas Schweres gegen seine rechte Seite gekracht. Ich zwang mich dazu, meinen Blick bei seiner Taille einzubremsen und sah ihm wieder in die Augen.
„Gefällt dir, was du siehst?“
„Ja …“, sagte ich gedehnt und ging in die Küche, „der Bluterguss allerdings nicht!“
„Tja, das passiert, wenn man zwischen den Welten wechselt“, erklärte er kryptisch. Er kam zu mir in die Küche und setzte sich an die Bar. Ich gab den Katzen ihr Futter und sah ihn fragend an: „Kaffee?“
„Ja, gerne.“
Dem Kaffee dabei zuzusehen, wie er langsam in die Tassen lief, half mir, mich abzulenken. Bei mir in der Küche saß ein Mann, der direkt vom Cover eines Liebesromans stammen konnte. Bei mir! Ausgerechnet bei mir! Ich seufzte, stellte Milch und Zucker auf den Tresen und den Kaffee daneben. Dann kam ich herum und wuchtete mich auf den zweiten Barhocker.
Er gab sich echt Mühe, nicht zu mir hinüber zu sehen. Offenbar hatte er meine Unsicherheit in Bezug auf meinen Körper bemerkt. Schließlich trank er einen Schluck Kaffee und hob ein Blatt Papier auf.
„Was sind das für Texte?“, wollte er wissen.
„Wo haben Sie die her?“
„Entschuldige, ich sah sie da liegen …“ Er deutete zu meinem Schreibtisch hin.
Ich seufzte. „Das sind private Geschichten, die ich früher geschrieben habe.“
„Okay …“
„Ja?“, hakte ich nach, als er nichts mehr sagte.
Er holte tief Luft und sah mich an: „Zauberin, das ist eine umfangreiche Beschreibung der Welt, aus der ich komme!“
Meine Augen wurden groß. „Bist du sicher?“ Ich war so perplex, dass mir das persönliche Du gar nicht auffiel. Er quittierte das mit einem Lächeln, dann wurde er wieder ernst.
„Du hast in diesen Geschichten alles genau so beschrieben, wie es ist.“
„Aber …“ Ich richtete mich auf. „Lyonel. Wenn ich diese Welt beschrieben habe, wie sie ist … Warum bist du dann nicht darin?“
„Das kann ich nicht sagen. Fakt ist nur, dass in diesen Geschichten unsere Welt beschrieben ist.“ Er legte das Blatt zurück auf den Tresen.
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, also schwieg ich, drehte meine Tasse in der Hand, nahm den letzten Schluck und ließ mich vom Hocker auf den Boden gleiten. Ich ging um den Tresen herum und räumte das Geschirr in den Spüler.
„Magst du noch Kaffee?“, fragte ich ihn. Es erschien mir jetzt echt unsinnig, ihn wieder zu siezen.
„Nein, danke.“ Er wirkte sehr nachdenklich, als er aufstand und seine Tasse in den Spüler stellte.
„Lyonel?“
„Ja?“
„Wann gehst du zurück in deine Welt?“
„Zurück?“
„Ja! Heim. Oder willst du nicht wieder dahin zurück?“
„Ich …“, begann er, dann sah er mich traurig an, „ich kann nicht zurück.“
Ich erstarrte: „Wie, du kannst nicht?“
„Es geht nicht!“
„Du …“
„Es war ein One-Way-Ticket, Zauberin!“ Ganz kurz blitzten seine Augen auf.
Mein Verstand lief plötzlich auf Hochtouren. „Lyonel! Es muss doch irgendeinen Weg geben!“
„Nein.“ Bestimmt. Endgültig. „Es geht nicht!“ Er sah mir direkt in die Augen.
„Na schön“, gab ich klein bei, richtete mich auf und stützte mich am Bartresen ab. Dann erwiderte ich seinen Blick, der immer noch auf mir ruhte. „Aber wir werden nach einem Weg suchen!“
„Zauberin …“, versuchte er einzulenken und brach den Blickkontakt ab.
„Nein! Wir werden einen Weg suchen und finden. Und bis dahin kannst du hierbleiben!“
Einen Moment lang starrten wir uns erneut an, schließlich nickte er. „Danke, Zauberin.“
„Und hör auf, mich Zauberin zu nennen! Ich bin keine Zauberin!“ Er zuckte merklich zusammen. Meine Äußerung tat mir schon leid. Ich hatte ihm nicht so zusetzen wollen. „Lyonel, entschuldige. Das sollte nicht so klingen …“
Er sah mich traurig an. „Ich dachte, dass du als Zauberin mir irgendwie den Rückweg ermöglichen könntest, aber so wie die Dinge liegen …“ Er senkte den Blick und spielte mit einem der Zettel.
Eine Weile schwiegen wir, dann räusperte ich mich verhalten. „Lyonel, wenn du bleibst, dann müssen wir einkaufen gehen“, sagte ich ruhig, um das Thema zu wechseln.
„Warum?“
„Du brauchst etwas zum Anziehen. Du kannst nicht die ganze Zeit in denselben Klamotten herumlaufen.“
„Daheim haben wir einen Schrankraum …“ Er wandte sich um, weil die Erinnerung an sein Zuhause ihn schmerzte. Ein Zuhause, in das er vielleicht nie mehr zurückkonnte. Ich ging zu ihm und legte behutsam eine Hand auf seinen Arm.
„Ich verspreche, dass ich alles versuchen werde, um dich heimzubringen.“
„Du verstehst es nicht“, sagte er leise und sah mir in die Augen. „Es war kein Heim mehr für mich, weil du nicht mehr da warst. Deshalb bin ich auf die Suche gegangen.“
Ich sah Schmerz in seinen Augen. Schmerz über den Verlust. Schmerz, weil ich mich weigerte, seine Zauberin zu sein. Aber ich verstand ja nicht einmal, worum es bei der ganzen Sache ging!
„Wie gesagt, ich werde alles versuchen, um dir zu helfen. Und wer weiß, vielleicht erinnere ich mich ja wieder. Ich habe ja auch wieder zu schreiben begonnen.“
„Das klingt gut.“ Er seufzte. „Ich habe allerdings kein Geld, um Kleidung zu kaufen.“
„Nun, ich kann dir zwar keine Roben kaufen, aber normale Klamotten sind schon drin!“ Ich grinste ihn an und er lächelte schwach zurück. Dann nickte er. „Gut, dann zieh ich mir schnell was an. Und du besser auch“, sagte ich augenzwinkernd.
„Warum?“, fragte er schelmisch grinsend.
„Weil halb nackte Männer Aufsehen erregen!“
Er lachte leise. „Zu schade! Die Gesichter der Menschen hätte ich wirklich gerne gesehen!“
„Oh, sei dir gewiss, dass sie starren werden!“, sagte ich bitter und wandte mich in Richtung Schlafzimmer.
„Wie meinst du das?“, wollte er wissen. Ich blieb stehen und schloss kurz die Augen. Ich und meine große Klappe! Langsam drehte ich mich wieder um und sah ihn an.
„Sie starren, Lyonel. Sie starren dich an und denken: Wow, was für ein Mann! Und dann sehen sie mich daneben und denken: Wieso gibt er sich mit dieser fetten Frau ab, wenn er doch jede schlanke, wohlgeformte haben könnte?“
Ich senkte den Kopf, weil ich seinen Blick nicht ertragen konnte. Ganz plötzlich stand er dicht vor mir, legte einen Finger unter mein Kinn und hob es behutsam an. Betroffenheit und Trauer lagen in seinem Blick.
„Was haben sie dir in dieser Welt bloß angetan?“, hauchte er.
„Ich weiß, dass sie starren, Lyonel, aber ich bin es mittlerweile gewöhnt“, flüsterte ich und machte einen Schritt zurück. „Ich gehe durch die Stadt und ignoriere sie.“
„Das ist doch aber keine Lösung!“, brauste er auf.
„Ja, Lyonel! Das mag sein, aber es war für mich das Einfachste. Ich hab eine Mauer um mich herum gebaut und verstecke mich hinter einer Fassade der Unnahbarkeit, damit sie nicht an mich herankommen!“, fauchte ich ihn an.
Er betrachtete mich ruhig. „Und trotzdem verletzen sie dich“, stellte er einfach nur fest.
„Ja“, gab ich zu und senkte den Blick, „das tun sie. Nicht jeden Tag, aber doch oft genug.“
„Wie kannst du das nur hinnehmen?“, knurrte er.
„Tja, wie gesagt: Ich ignoriere sie.“ Ich beobachtete ihn. Er wurde jetzt zunehmend wütend. Nicht auf mich, sondern auf das, was diese Welt aus mir gemacht hatte. „Lyonel, bitte versprich mir, dass du niemanden zusammenschlägst, ja?“
„Ich weiß nicht, ob ich das kann, Zauberin!“
Plötzlich hatte ich Angst, dass er vielleicht tatsächlich unbesonnen handeln könnte. Nicht seinetwegen, sondern wegen mir! Das rührte mich irgendwie.
„Versprich es mir! Schwöre, dass du niemandem etwas antun wirst, nur weil er mich anstarrt, oder dumm über mich spricht.“
Er atmete tief ein. Ich konnte den Kampf in seinem Inneren sehen. Schließlich nickte er. „Ich schwöre es!“
„Danke.“ Ich drehte mich um und ging nun endgültig ins Schlafzimmer, ummich anzuziehen.
Wir spazierten im dichten Samstagstrubel über die Mariahilfer Straße und er sah sich immer wieder um, bis ich schließlich nach seiner Hand griff. „Hör auf, hinter jedem Stein eine Gefahr zu sehen, Lyonel! Entspann dich bitte.“
Er blickte auf meine Hand hinab und ehe ich sie ihm entziehen konnte, schloss er seine Finger um meine. Mein Herz begann zu rasen und er lächelte mich an.
„Zu meinem Schutz, Zauberin, nicht zu deinem! Wenn ich dich hier verliere, finde ich dich nie wieder!“
„Das glaub ich dir nicht!“, sagte ich lächelnd, zog meine Hand aber auch nicht zurück.
Wir schlenderten zu einem großen Bekleidungsgeschäft und fuhren mit der Rolltreppe in die Abteilung für Herren. Für Lyonel waren Rolltreppen anscheinend nichts Besonderes, dann erinnerte ich mich an eine meiner Geschichten, die in London spielte …
„Lyonel?“
„Ja?“ Er besah sich gerade ein paar Hosen und war abgelenkt.
„In deiner Welt. Gibt es da Städte wie hier?“
„Ja!“ Er sah mich kurz an. „Alle Städte dieser Welt gibt es auch drüben. Aber sie sind anders. Menschenleerer.“
„Okay …“ Ich grübelte eine Weile vor mich hin, als er eine schwarze Jeans an sich hielt. „Da drüben sind Garderoben, da kannst du die Sachen anprobieren.“ Ich zeigte auf einen abgetrennten Bereich und er nickte. Griff nach zwei weiteren Hosen und ein paar Shirts und ging in die angegebene Richtung. Ich folgte ihm und grinste, weil er nur schwarze Sachen ausgesucht hatte. Anscheinend versuchte er, seine Kleidung an meine anzupassen.
„Ich warte hier“, sagte ich, als wir bei den Garderoben angekommen waren und er lächelte.
„Du kannst gerne mitkommen.“
„Nein, lieber nicht!“
„Und was mach ich, wenn ich deinen Rat brauche?“
„Na gut!“ Ergeben verdrehte ich die Augen und er lachte über die Geste. Ich folgte ihm in den Gang mit den Kabinen und er verschwand hinter einem Vorhang. Kurze Zeit später präsentierte er sich in seinem neuen Outfit. Und er sah umwerfend darin aus!
„Wow!“ Ich strahlte ihn an. Schwarz passte perfekt zu seinen blonden Haaren und brachte seine blauen Augen so richtig zum Leuchten.
„Ich werte das als ein ja!“ Er lächelte und verschwand wieder.
Wir kauften insgesamt vier Hosen und etwa zehn Shirts, dazu noch Socken und natürlich Unterwäsche. Er grinste mich frech an, als ich rot wurde und ich konnte nur noch den Kopf schütteln. Mit ihm machte es einfach Spaß, einkaufen zu gehen. Ich begann mich wohlzufühlen und seine Freude schwappte auch zu mir über. Schließlich bezahlten wir und gingen noch in ein Schuhgeschäft.
Lyonel wanderte an den Reihen der Schuhe entlang. Ab und an holte er einen Schuh aus dem Regal und stellte ihn wieder zurück.
„Kann ich helfen?“, fragte ich schließlich.
„Ja …“ Er sah mich an und lachte verlegen. „Es ist schwierig, zu sagen, ob ich eher Laufschuhe brauche, oder etwas Schickes.“
Ich lachte leise. „Du kannst auch beides nehmen, obwohl ich nicht wüsste, warum du laufen müsstest …“
„Oh, früher hast du mich ordentlich auf Trab gehalten!“, sagte er und zwinkerte mir schelmisch zu. Ich spürte, wie meine Wangen zu glühen begannen. Dieser umwerfende Mann flirtete tatsächlich mit mir!
Er probierte unterschiedliche Schuhe an und drehte sich vor dem Spiegel. Ihn dabei zu beobachten, gab mir die Gelegenheit, mich ein klein wenig seinem Charme zu entziehen. Und das war nicht leicht! Natürlich fielen mir auch hier die Blicke auf, die uns zugeworfen wurden.
„Ich glaube, ich nehme diese beiden!“, sagte er in meine Gedanken hinein. Ich blinzelte kurz und blickte auf seine Füße.
„Oh, die Kombination ist echt reizvoll!“ Ich kicherte. Er trug rechts einen klassischen Laufschuh und links einen schicken Lederschuh für alle möglichen Anlässe. Natürlich beides in Schwarz.
„Ja, findest du?“ Er grinste. „Wenn ich auch noch die anderen zwei kaufe, dann kann ich wechseln!“
Ich lachte kopfschüttelnd und stand von meinem Sitzplatz auf. Lyonel verpackte die Schuhe passend in den beiden Kartons und wir wandten uns zur Kasse.
„Hast du Hunger?“, fragte ich, als wir mit Einkaufstaschen beladen, aus dem Schuhgeschäft kamen.
„Ein wenig.“ Er sah mich an. „Aber du hast schon so viel für mich ausgegeben.“
„Halb so wild! Lass uns eine Kleinigkeit essen gehen.“
„Okay.“
„Was magst du denn?“
„Eigentlich alles, außer Fisch.“
Ich lachte leise vor mich hin. „Kein Fisch also.“
„Ja, ich finde Fische irgendwie … Nein, ich mag sie nicht!“ Er schüttelte sich demonstrativ und ich lachte. Ja, wenn ich nicht achtgab, dann verliebte ich mich noch in ihn! Und ich kannte ihn doch erst ein paar Stunden! Aber irgendwie war es so, als würde ich Lyonel schon mein ganzes Leben lang kennen. Ich wurde ernst und blickte wieder nach vorne. Schweigend ging ich weiter.
„Ist alles in Ordnung?“
„Ja, es ist …“ Ich sah ihn an. „Alles in Ordnung!“, sagte ich schnell. Noch bevor er etwas erwidern konnte, zog ich ihn in ein Restaurant mit Mittagsbuffet. Da konnte er sich aussuchen, was er essen wollte. Er schaute mich kurz an, dann folgte er mir zu einem freien Tisch. Wir bestellten uns die Getränke und gingen zum Buffet. Ich erklärte ihm die Speisen und er füllte seinen Teller.
Wie immer, wenn ich unter Menschen in einem Restaurant war, aß ich nur Salat und Gemüse. Ja, es war mir peinlich, Dinge wie Nudeln und andere Kohlehydrate in der Öffentlichkeit zu essen. Aber ich freute mich, dass es ihm schmeckte. Er aß, als hätte er tagelang nichts zu essen gehabt. Nach dem sechsten Teller lachte ich schon.
„Was ist?“, wollte er schließlich amüsiert wissen.
„Bist du am Verhungern gewesen?“
„Ich war lange unterwegs. Entschuldige.“
„Schon gut, ich frage mich nur, wie du so viel essen kannst!“
„Oh, das liegt an dir.“
„Bitte?“
„Ich fühle mich in deiner Gegenwart wohl“, sagte er leise und stand erneut auf, um Nachschlag zu holen. Ich starrte auf den Platz, wo er eben noch gesessen hatte.
„Hier!“ Er stellte einen Teller mit verschiedenen Früchten vor mir ab. „Iss wenigstens das Obst.“
Tränen schossen mir in die Augen. Er hatte also bemerkt, dass ich mich absichtlich zurückhielt. Seine Fürsorge rührte mich und ich korrigierte einen Gedanken von vorhin: Ich verliebte mich nicht gerade, ich war schon verliebt!Bis über beide Ohren! Verdammt!
„Das …“ Ich schluckte. „Das hättest du nicht tun müssen!“
„Ich weiß.“
Ich wollte ihn küssen, weil er sich Sorgen um mich machte. Doch ich tat es nicht. Stattdessen nagte ich an meiner Unterlippe. Dann griff ich mit zitternden Fingern nach der Gabel und begann zögernd zu essen.
Als wir erneut über die Straße schlenderten und uns langsam auf den Heimweg machten, griff er wieder nach meiner Hand. Ein Gefühl der Wärme breitete sich in mir aus und plötzlich wollte ich ihm einfach glauben, dass er mein Seelengefährte war! Auch wenn ich mich nie würde erinnern können. Neben ihm fühlte ich mich … schön. Ich blickte verlegen in eine Auslage, weil ich nicht wollte, dass er meine errötenden Wangen sah.
Um mich abzulenken, steuerte ich einen großen Buchladen an, weil ich Ausschau nach einem guten Wörterbuch für Synonyme halten wollte. Wir betraten den Laden, fuhren mit der Rolltreppe hinauf und ich zeigte ihm kurz, wo ich hingehen würde. Er nickte und betrachtete interessiert die Bücher über Wien.
Ich stand gerade vor dem Regal mit den Wörterbüchern, als ich das vertraute Tuscheln hinter mir hörte:
„Ein Diätratgeber wär besser für die!“
„Sieh sie dir an!“
„Also wenn ich so aussehen würde, dann würde ich gar nicht mehr rausgehen!“
Ich brauchte mich nicht umzudrehen. Ich kannte die Menschen, die so über Dicke redeten. Ich baute instinktiv wieder den Schutzwall auf und versuchte, sie auszublenden. Doch das Getuschel und Gekicher wollte nicht verstummen. Ich fühlte eine unbändige Wut in mir aufsteigen.
Wut, weil ich die Stimmen überhaupt an mich herankommen ließ.
Wut, dass ich zugelassen hatte, dass mein Schutzwall heute mal nicht bis zum Anschlag hochgefahren war.
Wut, …
Gerade, als ich gehen wollte, änderte sich das Getuschel plötzlich.
„Wow! Schau dir den an!“
„Aber Hallo! Das nenn ich mal einen Mann!“
„Wartet! Wo geht der denn hin?“, rief die eine Stimme erschrocken aus.
Ich erstarrte mit der Hand an einem Buch.
„Liebes, da bist du ja!“, sagte Lyonel laut neben mir. „Ich hab dich bei den Kochbüchern gesucht!“ Er beugte sich zu mir und ehe ich reagieren konnte, küsste er mich. Ich sah ihn an und er zwinkerte mir zu.
„Ich hab nach einem Wörterbuch gesucht.“ Ich grinste frech. „Ich brauchte ein Synonym für Arschloch.“
„Und? Bist du fündig geworden?“ Sein Lächeln war schelmisch. Er freute sich, dass ich mitmachte.
„Aber ja!“ Ich drehte mich um und ließ meinen Blick taxierend über die drei Grazien wandern, die hinter meinem Rücken getuschelt hatten. „Ich hab sogar drei gefunden!“
Die jungen, schlanken Frauen starrten mich an und dann wieder den Mann neben mir, der jetzt einen Arm um meine Schultern legte.
„Na dann brauchst du das Buch ja nicht mehr!“, meinte er lachend, küsste mich noch einmal und führte mich an den Frauen vorbei zur Rolltreppe.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Einerseits, weil er mich geküsst hatte und dann, weil ich noch nie so offen in eine Konfrontation gegangen war. Und ich hoffte, dass ich das auch nie wieder tun musste. In meinem beruflichen Alltag ließ es sich manchmal nicht vermeiden, aber privat wollte ich einfach meine Ruhe haben.
Lyonel löste seinen Arm von meiner Schulter und wir fuhren nach unten. Auf dem Weg zum Ausgang hielt er schon wieder meine Hand und die ließ er dann nicht mehr los, bis wir zurück in der Wohnung waren.
„Okay, ich muss jetzt zur Arbeit. Du kannst gern den Computer nutzen, wenn du magst“, sagte ich, stand auf und räumte meine Tasse weg. Der Montagmorgen war erstaunlich schnell gekommen. Wir hatten den gesamten Sonntag damit verbracht, spazieren zu gehen. Ich hatte ihm die nähere Umgebung und auch die verschiedenen Stationen der öffentlichen Verkehrsmittel gezeigt, damit er sich frei bewegen konnte.
Lyonel blickte mich nachdenklich an. „Sorry, Zauberin. Ich kenn mich mit Computern leider nicht aus!“
„Hm …“ Ich überlegte, womit ich ihn beschäftigen konnte. Irgendwie hatte ich am Wochenende keinen Gedanken darauf verschwendet, wie es mit Lyonel weitergehen sollte, wenn ich wieder zur Arbeit musste …
Er grinste verhalten, stand auf und kam zu mir. „Geh los! Ich finde mir schon was, nur keine Sorge!“
„Okay.“ Ich seufzte, wandte mich um und zog meine Schuhe und die Jacke an. „Ich bin spätestens um fünf wieder da.“
„Einverstanden!“
„Hier“, sagte ich einer inneren Eingebung folgend und reichte ihm einen Schlüssel. „Der sperrt im Haus alle Türen. Du musst nicht in der Wohnung bleiben.“
„Hast du keine Angst, dass ich deine Wohnung ausräume, Zauberin?“
Einen Moment lang starrte ich ihn an, dann schüttelte ich den Kopf. „Selbst wenn, ich bin versichert!“, erklärte ich patzig und er begann zu lachen. Ich grinste, drehte mich um und öffnete die Wohnungstür. „Ach und übrigens: Ich habe einen Namen!“, sagte ich und blickte ihm in die Augen.
Er zwinkerte mir zu und sagte leise: „Ich weiß!“ Mehr nicht. Ich seufzte, nickte nur und drehte mich zur Tür um.
„Zauberin?“
„Ja?“ Ich wandte mich um und da stand er schon vor mir. Er beugte sich herab und küsste mich. Noch ehe ich reagieren konnte, richtete er sich wieder auf und lächelte mich an.
„Nur, damit du mich nicht wieder vergisst!“
Ich starrte ihm nach, als er sich einfach umdrehte und auf den Balkon hinaustrat. Ich wandte mich langsam um und brachte mich und die wild umher flatternden Schmetterlinge in meinem Bauch nach draußen. Dann zog ich lächelnd die Tür hinter mir zu.
Ich saß vor meinem Bildschirm und starrte auf die flimmernde Schrift. Jetzt, wo der Kundenverkehr beendet war, kamen die Gedanken wieder. Das ganze Wochenende war irgendwie seltsam verlaufen. Es war fast so gewesen, als hätte ich Urlaub in meiner Fantasie gemacht und jetzt hatte mich die Realität wieder eingeholt.
Wie hatte ich nur so verrückt sein können, einem fremden Mann bei mir Obdach zu gewähren? Wieder geisterte am Rand meiner Gedanken herum, dass ich ihn kannte. Irgendetwas in mir wusste, dass ich ihn sogar sehr gut kannte! Doch je mehr ich mich darauf konzentrierte, umso weiter entfernte sich das Gefühl …
„Raelynn?“, fragte meine Kollegin Elisabeth wohl schon zum wiederholten Mal. Ich schreckte hoch und sah sie verwirrt an. Ihre braunen Augen richteten sich besorgt auf mich.
„Was ist denn los?“, wollte sie wissen und kam näher.
„Ich …“, begann ich, „ich hab einen Mann kennengelernt“, gestand ich leise.
„Ah …“ Elisabeth sah mich auffordernd an. „Und …?“
Ich hob die Schultern. „Keine Ahnung!“, sagte ich leise.
„Wie, keine Ahnung?“
„Ich weiß nicht so recht, wie es weitergehen soll.“
„Raelynn, das ist doch toll. Ich freu mich für dich! Lass dir Zeit und lass dich vor allem von ihm zu nichts drängen!“
„Ja, das tu ich schon nicht!“ Ich konnte ihr nicht sagen, dass der Mann meiner Träume praktisch vor meinen Füssen gelegen hatte und nun in meiner Wohnung war.
„Wann triffst du ihn denn wieder?“, wollte sie wissen. Mir war klar, dass sie sich für mich freute, aber sie hatte auch meine Unsicherheit bemerkt.
„Heute Abend.“ Nun, das entsprach wenigstens der Wahrheit.
„Fein!“ Sie griff nach meiner Hand. „Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann sag es mir, okay?“
„Ja, danke!“
„Und jetzt geh heim und mach dich hübsch für ihn!“ Ich lächelte gequält und sie interpretierte das völlig falsch. „Raelynn! Das wollte ich jetzt nicht so klingen lassen! Du bist hübsch, wie du bist, ich meinte nur …“
„Ich weiß, was du meintest“, beruhigte ich sie lächelnd. „Und du hast recht! Ich mach Schluss für heute und fahr heim. Dann kann ich mich noch umziehen.“
„Tu das!“, sagte sie lächelnd und drückte mich spontan an sich. Von allen, die ich kannte, war sie die Einzige, die mit meinem Übergewicht gut zurechtkam.
Und sie war auch die Einzige, die von meinen, bislang erfolglosen, Versuchen wusste, daran etwas zu ändern.
Den ganzen Heimweg über zerbrach ich mir den Kopf, wie mein Leben mit Lyonel weitergehen sollte. Das Wochenende war wunderschön gewesen und es hatte gut getan, nicht mehr so allein zu sein, aber …
Was würde er machen, wenn ich nicht da war? Ich konnte mir nicht ständig freinehmen und daran arbeiten, meine Erinnerungen wieder auszugraben.
Gedankenversunken stieg ich aus dem Bus und ging über die Straße. Ich blieb an der Ecke vor dem großen, leeren Grundstück stehen und blickte zu meinem Wohnhaus hinüber. Meine Kopfhörer hatte ich heute nicht ausgepackt. Zu leicht konnte ich mit Musik in Tagträume abdriften und die brauchte ich jetzt nicht.
Da drüben saß ein Mann in meiner Wohnung. Er saß dort irgendwie fest, weil er nicht mehr in seine Welt zurückkonnte. Ich glaubte ihm das auch, aber auf Dauer würde die Situation vermutlich immer schwieriger werden. Ich begann mein beschauliches Leben zu vermissen. Auch wenn ich allein gewesen war, so hatte ich doch meine Alltagsroutine und brauchte mir um nichts Gedanken machen. Ich seufzte leise.
„Traust du dich nicht heim?“, fragte eine tiefe Stimme hinter mir und ich fuhr erschrocken herum. Lyonel lächelte mich fröhlich an. Er hatte einen wirklich unwiderstehlichen, jungenhaften Charme, dem ich mich nur schwer entziehen konnte.
„Ich gebe zu, dass ich daran dachte, wegzulaufen“, sagte ich ernsthaft.
„So schlimm, ja?“, fragte er ernst.
„Nein …“ Ich griff mir an die Stirn und schloss kurz die Augen, dann sah ich zu ihm hoch. „Ich war bis jetzt auf mich allein gestellt und jetzt bist du da. Das ist alles!“
„Ich verstehe“, sagte er ruhig. „Ich verspreche, dass ich dir nicht auf die Nerven gehen werde, okay?“
„Aber?“
„Ich würde gerne noch eine Weile bei dir wohnen bleiben. Ich weiß nämlich sonst nicht wohin. Alle Kontakte in dieser Welt habe ich in der anderen Welt geknüpft. Ich hab echt keine Ahnung, wie ich die Menschen von hier aus erreichen kann, die mir bei meiner Suche nach dir geholfen haben.“
„Einverstanden“, sagte ich und nickte, dann wandte ich mich um und ging in Richtung Wohnhaus. Ein Nachbar kam mit seinem Hund über einen der Wege auf uns zu. Ich blinzelte lächelnd in die Sonne.
„Hallo, Nolan!“, grüßte ich ihn. Er war blind, doch das sah man ihm nicht an. Er war groß und schlank, wirkte total jugendlich, kleidete sich meist sportlich und hatte die schulterlangen, dunkelblonden Haare zu einem lässigen Knoten hochgebunden. Sein Bart war ordentlich gestutzt und aus dem linken Ärmel seines Hoodies blitzte ein Tattoo, von dem ich wusste, dass es bis zur Schulter reichte.
„Hallo, Raelynn!“, sagte er und seine braunen Augen leuchteten, als könnte er mich sehen. Sein Blindenhund behielt uns argwöhnisch im Blick. „Dein Begleiter macht Faol nervös“, sagte Nolan grinsend.
„Was? Oh, entschuldige!“ Ich sah kurz zu Lyonel hoch. „Nolan, das ist mein Freund Lyonel“, stellte ich ihn vor und sah zu Nolan hin, „und das ist ein sehr lieber Nachbar mit seinem Hund.“
„Hallo, Nolan“, sagte Lyonel und reichte ihm die Hand. „Freut mich, dich kennenzulernen.“
Nolan ergriff die Hand und grinste, weil er offenbar Lyonels kurzes, überraschtes Zucken gespürt hatte. „Die Freude ist ganz meinerseits!“ Ja, ich hatte auch eine Zeit gebraucht, um mich daran zu gewöhnen, dass Nolan mit seiner Behinderung wirklich sehr ungezwungen umging. Faol knurrte leise und die Männer ließen sich los.
„Entschuldigt“, sagte Nolan ruhig. „Mein Partner wird langsam ungeduldig.“ Er lächelte uns an und Faol begann damit, ihn von uns wegzuziehen. „Hat mich gefreut, Raelynn und Lyonel!“, rief Nolan noch, dann bog er in Richtung Stadtwildnis ab.
„Hast du vorhin auf mich gewartet?“, fragte ich Lyonel, als wir uns wieder dem Haus zuwandten.
„Ja und nein. Ich war spazieren und dann sah ich, wie du aus dem Bus gestiegen bist.“
„Wo warst du denn spazieren?“
„Bis hoch zum botanischen Garten.“
„Du kennst den botanischen Garten?“
„Ja. In meiner Welt gibt es eine Kopie davon“, erklärte er lächelnd. „Du hast diesen Ort immer geliebt. Damals mochtest du Rosen. Ganz besonders die roten.“
„Rosen …“, überlegte ich, „das ist interessant!“
„Warum?“ Lyonel hielt mir die Haustür auf und ich ging an ihm vorbei ins Haus. Der Briefkasten war leer, also hatte er die Post schon geholt.
„Ich liebe Magnolien“, sagte ich und betrat den Lift.
Er folgte mir und betrachtete mich nachdenklich. „Weißt du ungefähr seit wann?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung!“
Wir betraten die Wohnung und Amos maunzte mich laut an, als hätte er den ganzen Tag kein Futter gehabt.
„Ich hab sie gefüttert“, sagte Lyonel lachend. „Die tun jetzt nur so!“
„Die beiden stehen immer kurz vorm Hungertod!“ Ich lachte leise und schlüpfte aus meinen Schuhen. Nachdem ich meine Tasche abgestellt und die Jacke aufgehängt hatte, ging ich in die Wohnküche. Ich atmete tief ein. „Wonach riecht es denn hier?“
„Ich hab einen Nudelauflauf gemacht“, sagte Lyonel. „Zu mehr reichen meine Kochkünste leider nicht“, fügte er mit erhobenen Schultern hinzu. Meine Brust wurde mir eng und meine Lunge begann zu schmerzen, weil ich Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten. „Zauberin?“, fragte er verunsichert, weil ich mich von ihm abgewandt hatte. Ich schluckte und atmete tief ein. Schließlich drehte ich mich zu ihm um.
„Es …, es ist alles in Ordnung, ich bin nur nicht gewöhnt, dass jemand mir ein Essen kocht. Das ist alles!“
Er sah aus, als wollte er mich in den Arm nehmen, aber er tat es nicht. Ich war zugleich erleichtert, aber auch traurig darüber.
„Okay“, sagte er leise. „Was hältst du davon: Wir essen jetzt erst mal und dann setzten wir uns zusammen und machen einen Plan.“
„Einen Plan?“
„Ja. So lange wir in dieser WG leben, sollte ich auch ein paar Pflichten übernehmen.“
„Das brauchst du doch nicht …“
„Doch! Du gehst arbeiten und so lange ich das nicht kann, werde ich dich hier unterstützen!“
Ich nickte langsam. Ganz so unrecht hatte er damit nicht. Also deckten wir gemeinsam den Tisch, gaben den Katzen noch Trockenfutter und setzten uns zum Essen. Ich hatte noch nie einen so vorzüglichen Auflauf gegessen und das sagte ich ihm auch. Er bekam sogar rote Wangen, was mich insgeheim freute. Bislang hatte immer nur ich die roten Wangen gehabt.
Nach dem Essen setzten wir uns gemütlich auf die Couch und Lyonel schrieb alles auf, was in der Wohnung so zu tun war. Auch, wie oft die Katzen für gewöhnlich ihr Futter bekamen.
In den Tagen, die folgten, wurde Lyonel zum Hausmann mit einem fixen Budget. Er schmiss den Haushalt, während ich arbeiten ging. So langsam konnten wir auch wieder über den Grund seiner Anwesenheit in meinem Leben sprechen. Wir trafen uns öfter in der Stadt, um essen zu gehen, oder spazierten einfach so herum.
Irgendwann wanderten wir durch den botanischen Garten. Die Magnolienbäume blühten leider nicht mehr, was ich sehr schade fand, und er hatte lächelnd den Kopf geschüttelt. Ja, früher hatte ich Rosen gemocht, aber jetzt liebte ich Magnolien über alles. Und ich konnte nicht einmal sagen, warum.
Ein paar Tage später stand ich auf dem Balkon und blickte hinaus in die Siedlung. Kinder spielten auf der Wiese Fußball, doch das bemerkte ich kaum. Wieder einmal grübelte ich über die verlorenen Jahre nach. Der Balkon hatte ein leichtes Deja Vu ausgelöst. Es war plötzlich gekommen und ich konnte nicht sagen, woran das lag. Seit ich in diese Wohnung gezogen war, war das zum ersten Mal geschehen. Nur entfernt hörte ich den Klang der Tür und die aufgeregte Begrüßung der Katzen. Der Mann, der mich in höchstem Maße verwirrte, war also zurück. Doch das registrierte ich nur am Rande.
Lyonel kam von seinem Spaziergang zurück und betrat die Wohnung. Als er nichts hörte, dachte er schon, sie wäre noch bei der Arbeit. Er begrüßte die Katzen, dann sah er sie auf dem Balkon stehen. Es versetzte ihm unverhofft einen Stich in die Brust. Er erinnerte sich an eine ähnliche Szene. Doch das lag weit in der Vergangenheit. Langsam ging er näher und betrachtete die Frau vor sich.
Sie war anders, ja. Diese Frau war oft ruhig und in sich gekehrt. Nicht so aufgeweckt und quirlig, wie die Raelynn, die er einmal gekannt hatte. Aber es war die Frau, die zu ihm gehörte. Die eine Seele, die ihn komplett machte. Er wusste, dass sie in dieser fremden und doch so vertrauten Gestalt steckte. Und er war gewillt, alles auf sich zu nehmen, um ihr die Erinnerung zurückzubringen. Die Erinnerung an ihn und was sie gehabt hatten, noch immer hatten und auch wieder haben würden.
Er stand in der Tür und beobachtete lächelnd, wie sie eine Strähne ihres roten Haares geistesabwesend hinter ihr Ohr strich. Er machte einen Schritt auf den Balkon hinaus und eine der Holzfliesen knackte leise unter seinem Gewicht. Raelynn zuckte zusammen und fuhr herum. Dann entspannte sie sich langsam und wischte verlegen eine Träne von ihrer Wange.
„Entschuldige“, flüsterte er.
„Nicht so schlimm.“ Sie war kaum zu verstehen.
„Ist alles in Ordnung?“
„Ja“, sagte sie viel zu schnell. Er kam vorsichtig näher an sie heran. Sie wich seinem forschenden Blick aus. Er strich behutsam über ihre feuchte Wange und hob dann ihr Kinn mit einem Finger an. Langsam, um sie nicht zu erschrecken, beugte er sich hinab und küsste sie. Diesmal ließ er sich Zeit und freute sich innerlich, als sie seinen Kuss erwiderte. Seine Hand legte sich an ihre Wange. Er intensivierte den Kuss und strich behutsam mit seiner Zunge über ihre Lippen.
Als sie sich ihm öffnete, drang er ganz vorsichtig in ihren Mund ein, rieb seine Zunge an ihrer und entlockte ihr ein leises Stöhnen. Ein Knurren wollte sich aus seiner Brust lösen, doch er unterdrückte es. Ihr Geschmack hatte sich verändert. Wildrosen und eine dunklere, melancholische Note: Magnolien. Was auch immer ihr geschehen war, hatte sie tief greifend verändert. Und er wollte sie kennenlernen. Mehr denn je.
Noch während er sich der Erforschung ihres Mundes hingab und in ihrem neuen Geschmack schwelgte, streckte er seine mentalen Fühler aus und prallte gegen eine Wand. Erneut versuchte er, in ihre Gedanken einzutauchen, doch wieder stieß er gegen eine Mauer, die aus dem härtesten Material zu sein schien, das Raelynn hatte finden können, um ihre Erinnerungen und damit auch ihn wegzuschließen.
Lyonel beendete den Kuss und sah sie an. Sie wirkte verwirrt und ein wenig atemlos und wunderschön. Er tauchte in ihren Blick, versuchte noch einmal, durch ihre Mauer zu gelangen, schaffte es aber nicht. In ihm keimte plötzlich die Erkenntnis, dass sie sich womög lich nie wieder erinnern würde. Doch das war ihm mittlerweile egal. Er wollte bei ihr bleiben, sofern sie ihn als Partner akzeptierte.
Raelynn beobachtete sein Mienenspiel und deutete es völlig falsch. Sie trat einen Schritt zurück und streifte seine Hand von ihrer Wange.
„Zauberin?“, fragte er verwirrt und wollte erneut nach ihre greifen.
Sie hob die Hand und duckte sich. „Lass mich!“, rief sie leise, dann drängte sie sich an ihm vorbei, lief in die Wohnung und versperrte die Schlafzimmertür. Lyonel starrte ihr nach und verstand die Welt nicht mehr.
Ich lag im Bett und vergrub mein Gesicht im Kissen. Ich weinte und hasste mich dafür. Und ich hasste mich, weil ich diesen ungemein attraktiven Mann so nah an mich herangelassen hatte. Ich wollte, dass er mein Seelengefährte war. Ich lechzte nach seinen Berührungen. Nach seinem Geschmack. Sein Kuss war wie ein warmer Wüstenwind gewesen. Wild und ungezähmt. Doch offenbar hatte ich ihm nicht geschmeckt. Und ich hatte wirklich gedacht, dass ich gut küssen konnte. Falsch gedacht! Sein angewiderter Blick sprach eine andere Sprache! Wahrscheinlich war er dahinter gekommen, dass ich doch nicht seine Zauberin war. Er hatte sich geirrt und wusste jetzt nicht, wie er aus der Nummer wieder rauskommen sollte.
Es klopfte leise an der Tür. Ich erstarrte und stellte mich tot. Vielleicht gab er ja auf und ging einfach.
„Zauberin?“, fragte er leise durch die Tür. „Wenn ich irgendetwas getan habe, dass dich verärgert hat, dann sag es mir bitte.“
Verärgert? Ich zog meine Brauen zusammen. Hatte ich wirklich verärgert ausgesehen?
„Zauberin, wenn dir der Kuss zu viel war, dann verspreche ich, dass ich das nicht mehr versuchen werde. Es sei denn, du fragst.“
Zu viel? Der Kuss war wunderbar! Ich rollte mich auf den Rücken und blickte zur Decke hoch. Schließlich seufzte ich und setzte mich hin.
Langsam stand ich auf und ging zur Tür. Er lehnte am Türrahmen und seine blauen Augen musterten mich nachdenklich, als ich öffnete.
„Der Kuss war nicht das Problem …“, sagte ich gezwungen ruhig.
„Sondern?“, fragte er lauernd, behielt aber seine lockere Position bei. Es sah fast so aus, als wollte er mich nicht … Ängstigen? Hatte er gedacht, dass ich mich vor ihm fürchtete?
„Es war dein Blick“, sagte ich jetzt und richtete mich in einer unbewusst trotzigen Reaktion auf.
„Mein Blick?“ Er hob überrascht die Brauen.
„Ja! Du hast mich total … angewidert angeschaut!“ So, jetzt war es raus!
„Angewidert