Raena - Claire Pavel - E-Book
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Raena E-Book

Claire Pavel

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Beschreibung

"Du hast die Wahl. Heirate mich oder sie sterben." Die unschuldige Raena wächst als Bauerntochter im Streifen auf, einem Grenzgebiet zwischen den Ländern Weiß und Schwarz. Als eines Tages der Fürst von Anah um ihre Hand anhält, versteht sie die Welt nicht mehr. Ein Bauernmädchen und ein Fürst? Und ehe sie weiß, wie ihr geschieht, ist sie ein Spielball der Mächtigen. Denn sie soll das legendäre Gleichgewicht sein und die Existenz der Welt soll von ihr allein abhängen. Sie legt ihr Leben in die Hände von Fremden, die sie nach Weiß eskortieren sollen und lernt, dass Vertrauen erst verdient werden muss ...

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Seitenzahl: 1059

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für den Inhalt ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung unzulässig.

Alle Personen, Orte und Ereignisse in diesem Buch sind fiktiv. Das Buch ist nicht als Tatsachenbericht zu verstehen. Ähnlichkeiten zu realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Dieses Buch beinhaltet sensible Themen, die manche Leser als unangenehm empfinden könnten. (Trigger)

Die Autorin:

Claire Pavel wurde 1994 in Český Krumlov, in der Tschechischen Republik geboren. Als Kind zog sie mit ihrer Mutter nach Österreich, wo sie die höhere Lehranstalt für Umwelt und Wirtschaft absolvierte. Aktuell arbeitet sie als Chemielaborantin in der Schichtarbeit und widmet sich in ihrer freien Zeit dem Schreiben, Sport und dem Training ihrer Border Terrier, Hermes und Kronos. Sie ist leidenschaftliche Köchin und liebt das Bergsteigen.

Instagram: flugfuchsbooks

Zwischen Schwarz und Weiß, wo sich einst die kühnsten und tapfersten Reiter bekriegt, ihre Leichen zu Tausenden den Boden gepflastert hatten, war ein Gebiet entstanden, durch welches sich wie durch ein Wunder das endlose Meer einen Weg gegraben hatte, wo Mörder, Söldner, Räuber, Verbrecher, von den großen Mächten zum Sterben verstoßen, eine neue Heimat gefunden und ihr eigenes Imperium geschaffen hatten. Man nannte sie die Perlen der Wüste: Fallen im Süden, Fuhr im Norden und Anah in der Mitte. Mit anderen Worten: Dies waren die Städte der grenzenlosen Möglichkeiten.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

19. KAPITEL

20. KAPITEL

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. KAPITEL

24. KAPITEL

25. KAPITEL

26. KAPITEL

27. KAPITEL

28. KAPITEL

29. KAPITEL

30. KAPITEL

31. KAPITEL

32. KAPITEL

33. KAPITEL

34. KAPITEL

35. KAPITEL

36. KAPITEL

37. KAPITEL

38. KAPITEL

39. KAPITEL

40. KAPITEL

41. KAPITEL

42. KAPITEL

43. KAPITEL

44. KAPITEL

45. KAPITEL

46. KAPITEL

47. KAPITEL

48. KAPITEL

49. KAPITEL

50. KAPITEL

51. KAPITEL

EPILOG

PROLOG

Kreischende Möwen flogen in kleinen Kreisen über dem dunkelblauen Meer. Wenn sich der Wind drehte, so hörte man eine noch größere Vielzahl an Meeresvögeln sich untereinander verständigen, da in der Nähe eine felsige Insel als deren Brut und Versammlungsort fungierte.

Unmittelbar daneben trieb ein einsamer Junge auf einem dicken Ast dahin. Nur noch Haut und Knochen, stand ihm der Tod bereits ins Gesicht geschrieben. Seine kleinen Ärmchen glichen dürren Ästen, seine Schultern stachen unter der bleichen Haut hervor und die pechschwarzen Haare, die sich an den Enden leicht kräuselten, bildeten einen Kontrast zu seiner erbärmlichen Erscheinung. Doch zwischen seinen aufgesprungenen Lippen bewegte sich eine kleine rote Zunge, als er sich das Meersalz von den Lippen leckte und entkräftet das Gesicht zu einer angeekelten Grimasse verzog.

Die Kraft des Meeres hatte er unterschätzt, war kopflos gesprungen und hatte ziemlich schnell feststellen müssen, dass ihn die Strömung mitgerissen und er mit seiner geborgten Kraft nichts dagegen hat ausrichten können. Die Sehnsucht hatte ihn in wilder Verzweiflung angetrieben und zu einer Tat verleitet, die nicht umkehrbar war.

Der letzte Schluck süßen Wassers kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor. Wenn er Pech hatte, starb er wirklich, noch ehe ihn das Schiff erreichte und er mit ein wenig Glück an Bord kam. Egal was, er würde jede Sorte von Arbeit verrichten. Sein Gestell war zwar in kläglicher Verfassung, aber man konnte ihn vielleicht noch als Zaunpfahl oder als Ständer für Hüte und Mäntel des Kapitäns verwenden.

Sein Kopf fiel nach vorn und seine Stirn berührte salziges Meerwasser. Erschrocken fuhr er hoch. War er eingeschlafen? Er musste Energie sparen. Hatte sein Zauber funktioniert? Er schätzte ja, denn er spürte sie und er wusste auch, dass noch ein Zauber ihn umbringen würde. Sein einziger Wunsch war ihre Nähe, sie anzusehen und zu wissen, dass er nicht umsonst sein Dasein in Dunkelheit gefristet hatte, dass es einen Sinn gehabt hatte, nur für diesen einen, einzigen Moment.

Die Vulkaninsel hatte er längst hinter sich zurückgelassen, um ihn herum war nur mehr dunkelblaues Meer und seine unergründlichen Tiefen, über die er lieber nicht nachdenken wollte.

Er wusste zwar, dass es Meeresdrachen gab, doch er wusste nicht, ob sie sich in dieser Gegend aufhielten.

Seine Beine spürte er nicht mehr, trotz der unglaublichen Wärme des Wassers. Vermutlich war die Haut aufgeweicht und dabei sich zu zersetzen. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn man ihn bereits bis auf die Knochen abgenagt hätte. Sein müder Blick wanderte über den Horizont, die dunklen Wolken entlang, die sich gesammelt und eine bedrohliche, zusammenhängende, schwarzgraue Mauer gebildet hatten. Wie ein riesiger Kolben wurde das Gebilde durch den starken Wind vorwärtsgetrieben. Unwetter, schoss ihm durch den Kopf und er war verwundert, wie ruhig er blieb.

Hatte er das Schiff verpasst?

Hatte er sie für immer verloren?

„Mann über Bord!“

1. KAPITEL

Raenas Leben beschränkte sich auf den Hof, wo sie den ganzen Tag nichts anderes tat, als ihrer Familie zu helfen. Jeden Morgen zog sie mit ihren Geschwistern Arik und Bara los, um die Kühe auf die Weide zu bringen. Gemeinsam hüteten und bewachten sie das Vieh, bis es sattgefressen war. Manchmal nahm sie sich auch ein Buch mit, denn ihre Mutter besaß eine gut bestückte Bibliothek, darunter viele Geschichtsbücher, wie auch die Entstehungsgeschichte des Streifens, die sie bereits zweimal gelesen hatte.

Keiner von ihnen ging zur Schule. Die Grundlagen lernten sie zuhause und da sie in ihrem Leben ohnehin nur ihr Land bewirtschaften würden, sahen es Vater und Mutter nicht als notwendig an, sie höherer Bildung zu unterziehen.

Raena saß auf einem großen Stein und hielt ihren Stock in der rechten Hand umklammert, während sie in ihrer linken träge mit einem Kiesel spielte. Von dieser Position aus hatte sie einen guten Ausblick auf die Naht, den größten Fluss des Streifens, der die gesamte Schutzzone in zwei fast gleich große Teile trennte. Wenn die Sonne über die Hügel kroch und die Landschaft mit ihren hellen Strahlen küsste, tauchte das Licht ins Wasser ein und schuf eine glänzende Oberfläche, die jeden Betrachter für ein paar Sekunden des Augenlichts beraubte. Dort, wo das Wasser die Landschaft berührte, herrschten Leben und Fruchtbarkeit. Ansonsten bestand der Streifen nur aus Wüste, Sand und Hitze, die jedes Leben im Keim erstickte.

Die Schutzzone, so wurde der Streifen liebevoll von seinen Bewohnern genannt, war vor tausenden Jahren entstanden. Dazu gab es viele Legenden, doch die meisten handelten von den vielen Schlachten zwischen weißen und schwarzen Reitern. Raena kannte ein paar davon, über Suneki und Ara zum Beispiel, wobei Ara von Mutter über alles verehrt wurde. In Wahrheit hatte man einfach nur ein Land gewollt, um die auszugrenzen, die angeblich Schuld am jahrelangen Blutvergießen trugen. Dabei war eine Zone zwischen den Ländern Weiß im Westen und Schwarz im Osten entstanden. Doch all das war lange vorbei und der Streifen hatte sich zu einem großen Handelsreich entwickelt.

Raena streckte sich und legte eine Hand über ihre Augen. Sie war müde. Umringt von Sand sah sie weit in der Ferne eine verlassene Ruine, zumindest glaubte sie das. Im Streifen gab es viele davon. Im Laufe der Zeit hatten sich die Menschen zum Fluss zurückgezogen und Wind und Wetter hatten alte Siedlungen zerfallen lassen. Dahinter hob sich ein unvorstellbar weit entferntes Gebirgsmassiv in die Höhe. Die Gipfel verschwanden in den Wolken und der Schnee unterhalb leuchtete im Sonnenschein.

Oft ertappte sie sich beim Träumen, wollte einen weißen oder schwarzen Reiter sehen, Pegasi und Drachen bewundern, doch man benötigte viel Geld, um sich eine Reise leisten zu können, musste Beweise erbringen, dass man ‚‚reines‘‘ Blut besaß, es wert war und sich den Gesetzen des jeweiligen Landes unterwerfen würde. Trotzdem war Geld der Schlüssel, der Dokumente ermöglichte, die für solch ein Unterfangen notwendig waren. Und so blieben ihr nur der einsame Wachstein und der Anblick der flimmernden Berge im Osten und im Westen.

Dazwischen lagen grüne Wiesen, tiefe Täler, Sümpfe, Seen, Länder, Menschen und Arten, die sie noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte und nur aus Mutters Büchern kannte. Während ihres kurzen Lebens hatte sie noch nicht einmal den Sand jenseits der Naht betreten. Sie verließ das Haus hauptsächlich, um auf den Markt, zum Fürsten oder in den Stall zu gehen. Sonst bestand ihre ganze Welt nur aus Kühen, Milch und Arbeit. Da sie Fürst Duran mit Milch belieferten, waren sie unter den Bauern hoch angesehen.

„Raena! Wir müssen das Vieh in den Stall treiben!“ Arik stand einige Meter entfernt und schwenkte seinen Stab in Richtung des schmalen Pfads.

Raena stand mit einem lauten Ja auf. Ihre Beine und ihr Rücken waren vom vielen Sitzen ganz steif geworden. Sie streckte sich, ein kläglicher Versuch, die Verspannungen zu lösen, und nahm ihren Stock in die Hand. Dann suchte sie Bara, die bereits ein paar Kühe zusammengetrieben hatte und wild mit den Armen gestikulierte. Nachdem es letzte Nacht stark geregnet hatte, waren ihre Schenkel bis auf die Knie schlammbespritzt.

„Beeil dich!“ Arik wirkte gestresst und Raena trabte zu ihm. Er hatte, so wie der Rest ihrer Geschwister, dunkelbraunes, fast schwarzes Haar. Einzig Raena stach mit ihren hellen Haaren hervor. Seine Augen hatten dieselbe Farbe und bildeten einen Kontrast zu seiner hellen Haut. Ansonsten sah er aus wie jeder andere junge Mann, dessen Vater ein Großbauer war. Stark und kräftig gebaut. Er war verlobt mit einem Mädchen, welches aus der Stadt kam. Ein zartes und schmales Ding von achtzehn Jahren. Lila war schön, ohne Zweifel. Ihr Name stammte von der Farbe ab, die mittlerweile fast auf jedem Kleid in Anah zu sehen war. Sie trug ihn aufgrund der eigenartigen Schattierung in ihren Augen, die im Licht geheimnisvoll schimmerten. Es hieß, ihre Familie stamme von Elfen ab.

Raena, die ‚‚zu ihrem Glück‘‘ eine gewöhnliche junge Frau war, hatte noch nie einen Elfen oder einen Halbelfen, auch Elben genannt gesehen. Dennoch hörte sie immer wieder die Händler über ihre Schönheit und ihre unglaubliche Stärke prahlen. Stolz und schön, das Volk der Elfen. Edel und gerecht, das Volk der Elben. Lilas Augen gehörten definitiv zu den Elfen, sie war sich sicher.

„Hör auf zu träumen und beweg dich!“, brüllte Bara quer übers Feld. Ihr dunkles Haar fiel ihr in dichten Locken auf die üppigen Brüste.

Raena seufzte kurz. Ihre Schwester war ab und zu grob und rüde, aber ihre Warmherzigkeit machte diese Eigenschaften wieder wett. Sie trieb die restlichen Rinder den Pfad hinunter und warf einen Blick auf ihren Wachstein zurück, um sich zu vergewissern, dass sich kein einziges Vieh mehr auf der Weide befand. Einmal hatten sie ein Kalb verloren und ihr Vater hatte ihnen fast den Kopf abgerissen. Raena konnte noch immer die Schläge fühlen, die sie am Rücken getroffen hatten.

Der Weg führte sie über eine kleine Kuppe und in einen niedrigen Laubwald.

„Ist Arik vorne?“, erkundigte sich Raena, als Bara murrend zu ihr aufschloss.

„Ja. Er liebt es, die Leitkuh zu spielen“, sagte sie und fuhr sich mit den dünnen Fingern durchs Haar.

Raena lächelte schief. „Das solltest du vielleicht für dich behalten.“

Bara winkte ab und zuckte teilnahmslos mit den Schultern. „Ach was, er würde mich nur verprügeln wollen. Mit seinen kurzen Beinchen kann er mir sowieso nicht folgen.“

Raena kratzte sich am Hals und scheuchte eine Mücke fort. „Wenn du so schnell bist, solltest du vielleicht den alten Hengst ersetzen.“

Bara ignorierte den Seitenhieb. „Stimmt ja, du bist heute mit der Milchlieferung dran.“

Raena blickte in die Ferne und gab vor sich zu erinnern, aber sie wusste sehr wohl, dass sie heute die ehrenvolle Aufgabe übernehmen musste.

Fürst Duran, der Beschützer von Anah, der Verwalter und kühne Krieger. Er war ein Gesandter der weißen Reiter und besaß ein wunderschönes Einhorn, wurde zumindest gemunkelt. Gesehen hatte es niemand. Zudem hieß es, nur Elfen würden Einhörner reiten und er war bestimmt kein Elf. Was täte er im Streifen?

„Ja“, antwortete Raena knapp.

Bara hob beide Augenbrauen in die Höhe und verzog den Mund zu einem schmalen Strich. Ihr Blick sprach Bände.

„Jetzt passt doch mal auf!“ Arik gelang es, dass beide unter seinem strengen Ton zusammenzuckten und während Bara schnippisch seine Worte nachäffte, reckte Raena den Hals. Sie sah ein Kalb, das allein und sichtlich erfreut außerhalb der Herde umherhüpfte.

„Ich mach das.“ Raena ließ ihre Schwester mit ihrem Stock zurück.

Trotz frühsommerlicher Durchforstung herrschte links und rechts tiefster Urwald. Sie hoffte, dass das Tier in der Nähe bleiben und keinen Sprung ins Ungewisse wagen würde. Nur die Götter wussten, ob sie es wiederfänden.

Im Hintergrund rauschte Wasser. In der Nähe war ein Arm der Naht, der zur Bewässerung der Felder im Norden der Stadt diente. Der Strom war stark und sollte das Kalb hineinfallen, würde es bestimmt mitgerissen werden. Vielleicht ist genau das beim letzten Mal passiert.

Fliegen, die sich auf die Leiber der schweißüberströmten Kühe setzten, summten um die Wette. Mehrmals schüttelte das Kalb den Kopf, sein Hinterteil war dreckverschmiert.

Raena schlich vorwärts. Die Mutterkuh plärrte das Kalb mit offenem Maul an, während die restlichen Rinder unbeeindruckt blieben.

Arik und Bara hielten ihre Stellungen.

„Komm, geh zu deiner Mutter!“, raunte Raena leise und bahnte sich den Weg durchs Gras.

„Beeil dich!“, rief Bara.

Das Kalb schreckte hoch, hüpfte ein Stück zur Seite, muhte und sprang noch ein wenig weiter ins Unterholz hinein.

Raena unterdrückte ein Seufzen, rollte mit den Augen und folgte ihm. Äste griffen nach ihrem Haar, ihren Armen und ihrem Gewand. Die grobe Wolle blieb am Holz hängen und zerrte sie zurück. Raena ging in die Knie und kroch auf allen vieren unter den Ästen hinweg. Altes Laub bedeckte den Waldboden und bildete eine modrige Schicht. Es roch nach Pilzen und sie versank im Morast.

„Geh zu deiner Mutter“, wiederholte sie.

„Das ist ein Tier, Raena!“, hörte sie Baras ironische Stimme.

Das Tier, von ihrem Laut aufgeschreckt, hüpfte zur Herde zurück.

Raena stand auf, rieb sich die Hände an einer nahen Baumrinde ab, spürte die tiefen Furchen unter ihren Fingern und klopfte sich anschließend das Laub von den Armen.

„Wir warten!“

„Ich komme schon!“

Raena drängte ihren Körper durchs Gebüsch. Sie zählte die Tiere nach, ehe sie sich zu ihrer Schwester dazugesellte und mit ihr das Schlusslicht bildete.

„Du siehst aus, als wärst du in der Scheiße gelandet“, äußerte sich Bara belustigt.

„Was du nicht sagst“, entgegnete Raena säuerlich, „hättest du nicht so laut geschrien, dann hätte ich nicht in den Wald kriechen müssen.“

Bara nahm ihre Aussage mit Humor. „Beim zweiten Mal hat's geholfen.“

Raena zuckte die Achseln.

Ihre Schwester grinste. „Komm, gehen wir nachhause.“

Ihr Weg endete bei einem dreistöckigen Bauernhaus. Das Gebäude war aus Laubholz gebaut und besaß Glasfenster. Das durchsichtige und brüchige Material war im Streifen billig, da es hier viel Sand gab. Exportiert wurde es in allen Farben vor allem in fremde Länder. Nicht weit von Anah entfernt befand sich eine Mine, in welcher Sand abgebaut wurde und neben der eine der vielen Brennereien stand. Raena selbst wusste nicht, wie Glas entstand, liebte jedoch den Glanz und die Wärme, die im Sommer im Haus gehalten wurde.

Der Streifen, der fast zur Gänze aus Sand bestand, musste eine ungeheure Menge an Menschen ernähren. Dies war nicht leicht, da das Wetter nicht immer mitspielte. Dementsprechend teuer waren manche Lebensmittel. Ihre Familie besaß einen großen Garten voll mit Kräutern und Gemüse, dazu gehörten auch ein paar Obstbäume. Es gelang ihnen immer, trotz des unbeständigen Wetters, sich selbst zu versorgen.

Hinter dem Bauernhof befand sich ein riesiger Laufstall mit einem Strohdach. Der Weg schlängelte sich um das Gebäude herum, führte schließlich am Arm der Naht vorbei und mündete in die Hauptstraße hinein, die direkt in die Stadt führte. Raena und ihre Familie lebten am Rand und konnten von den Küchenfenstern aus die Mauern von Anah sehen. Im Winter bildete sich dort eine Wolkendecke aus Rauch, der aus den vielen Schornsteinen stammte, die rund um die Uhr in Betrieb waren, so auch im Sommer. Die Gasthäuser schliefen nie und von denen gab es in Anah reichlich viele. Wenn die Zeit der Stürme kam, mischte sich unter den Rauch der Wüstensand, der in jede Ritze kroch, an der Kleidung und an der Haut festhaftete und die Tiere, sowie die Bewohner des Streifens beim Atmen und täglichen Arbeiten behinderte. Deshalb trugen viele Leute Kopftücher, die notdürftig auch zu einem Gesichtsschutz umgewandelt werden konnten.

Der Fürst lebte abseits auf einem Hügel, in einer großen, schmal gebauten Burg, dessen Bergfried stolz in die Höhe ragte. Jeden Tag tummelten sich dort an den Gemäuern Soldaten, die ihren Herrn beschützten. Sie konnte aus der Ferne ihre Rüstungen erkennen, in denen sich die Sonne spiegelte.

Längst waren sie vor dem Stall angekommen. Die Tiere warteten geduldig. Arik löste sich aus der Formation und zog kräftig am Torgriff, sodass die eine Hälfte des Tors aufschwang. Bara stand abseits und zählte die Tiere nach, die muhend hineindrängten. Nachdem sie damit fertig war, kam sie auf Raena zu. „Geh was essen. Assia holt dich dann ab.“

Raena nickte und überreichte ihr den Stock. „In Ordnung. Bis später.“

Der Weg zum Haus war matschig und sie versuchte, nicht durch den Dreck zu waten. Alle hassten es, sich die Schuhe in der Vorkammer auszuziehen, niemand tat es und Mutter hasste es auch, da sie aus dem Putzen nicht mehr herauskam. Längst war die Nässe durch ihre Schuhe gedrungen, ihre Schuhspitzen unter der Dreckschicht kaum erkennbar. Obwohl sie warme Zehen hatte, spürte sie, dass ihre Socken feucht waren. Wenn auch nur gering, würde wenigstens das Leder dem Schmutz etwas Einhalt gebieten. Bevor sie durch die offene Eingangstür trat, rieb sie ihre Sohlen an einem Stein ab.

Im Inneren begrüßte sie wildes Stimmengewirr. Ihre Geschwister hatten viele Meinungsverschiedenheiten und dementsprechend laut und heftig verliefen auch ihre Diskussionen. Manchmal kam es ihr so vor, als würden sie darum wetteifern, wer am lautesten schreien konnte.

Zu zehnt waren sie. Fin, Ana, Malik, Arik, Assia, Raena, Bara, Ira, Rino und der kleinste und jüngste von ihnen war Erik. Er war erst zwei Jahre alt und bei weitem der Lauteste im Haus. Sein Gebrüll übertönte sogar Ana, deren Organ durch das ganze Haus hallte, wenn sie aufgebracht war. Fin war bereits verheiratet und Ana verzweifelt auf der Suche, doch ihr aufbrausendes, hitziges Gemüt war vielen Männern ein Dorn im Auge.

Raena rieb den übrigen Dreck am Teppich ab. Trotz des ‚‚Vorkammergebots‘‘ würde spätestens in einer Stunde die Erde im ganzen Haus verteilt sein, da auch ihre übrigen Geschwister das Gebäude betreten würden. Fin, der nach der Stallarbeit direkt zu seiner Frau heimgehen würde, war als einziger von ihnen stets mit heilem Auge davongekommen. Mutter hatte ihn besonders gern.

Raena fuhr sich durch ihr filziges Haar, löste ihren Zopf und strich es glatt. Anschließend band sie es wieder zusammen und ging an der Treppe vorbei in die Küche, wo es nach frisch gebackenem Brot und warmer Kartoffelsuppe roch. Ihr Magen grummelte. Die kleine Mahlzeit, die sie immer mit auf die Weide nahm, war ihr dann meistens doch zu wenig und der Hunger wurde gegen Abend hin immer schlimmer.

Rechts an der Mauer stand ein länglicher Tisch, welcher groß genug für fünfzehn Personen war. Auf ihm brannten drei Kerzen, die einen niedrigen Raum mit einer aus Holz gezimmerten Decke erhellten. Liebevoll mit schönem Geschirr und langen, blauen Läufern gedeckt, lud er dazu ein, sich hinzusetzen.

Ira, Rino und Erik hüpften und kletterten auf der Bank herum, schlugen mit Sitzkissen aufeinander ein, lachten und johlten. Ira, neun Jahre alt und ein kleiner Wirbelwind, trug wie Raena ein langes Wollkleid, welches ihr knapp unter die Knie reichte. Rino und Erik waren so wie die Männer Anahs gekleidet. Ihre Beinchen steckten in langen Hosen aus weichem Stoff und ihre kleinen Oberkörper in weißen, weiten Hemden.

Auf der gegenüberliegenden Seite stand ihre Mutter am Herd. Sie rührte mit einem hölzernen Löffel in einem Topf Suppe um. Normalerweise brüllte sie wütend, wenn ihr die Kinder zu lästig wurden. Heute schwieg sie und ihre Ausstrahlung wirkte seltsam bedrückend. Sie schien tief in Gedanken versunken.

„Hallo, Mama“, grüßte Raena vom Türstock aus, „brauchst du Hilfe?“

Sie hatte ihre Hände vor ihrem Schoß verschränkt. Respekt und Achtung. Das hatte man den eigenen Eltern entgegenzubringen. Ihre Geschwister, völlig in ihrer eigenen Welt gefangen, liefen um den Tisch herum. Ira stolperte und ihre Brüder jauchzten vergnügt über ihren verärgerten Gesichtsausdruck.

Die etwas ältere Frau wandte sich um. Braune Augen, über welchen sich dunkle Brauen befanden, musterten sie aufmerksam. Sie war sehr schön, eine reife Frau im mittleren Alter. Raena konnte ihren Vater verstehen, wieso er sie geheiratet hatte. Nicht nur wegen des Hofs, auch wegen ihrem Wesen, das zwar aufbrausend, aber genauso liebevoll und besorgt werden konnte, wenn es um ihre Kinder ging. Sie war von der Sonne geküsst, ein Gegensatz zu ihren Kindern, die allesamt bleich waren und deren Haut rot wie Feuer wurde, wenn sie sich nicht mit einer Kräutersalbe eincremten oder in Tücher wickelten. Die Sonne im Streifen konnte tückisch und die Hitze im Sommer tödlich sein.

„Raena“, sie lächelte nicht und das tat sie sonst immer, wenn sie vom Viehtrieb zurückkamen, „so bald zurück?“

Raena war überrascht. „Ja. Es ist fast dunkel.“

Erik kletterte vom Stuhl, krabbelte über den Boden und umarmte quiekend Raenas Unterschenkel. Sie hob ihn hoch und drückte ihn an sich.

„Setzt euch endlich. Wird's bald?!“

Raena zuckte unter dem scharfen Ton zusammen und setzte Erik auf einen Stuhl.

Rino ließ ein Sitzkissen fallen und Ira zog die Unterlippe vor. Doch auch sie taten wie befohlen und bald hielten sie ihre Löffel in den Händen.

„Du musst dich beeilen und reiten, ehe die Nacht anbricht. Es wird heute kalt. Vielleicht wäre eine Decke gut. Vergiss sie nicht.“

Raena sah den Rücken ihrer Mutter an. Ihre Haltung wirkte steif. Ging es ihr nicht gut?

Mama zog den Stofflappen auseinander und legte ihn auf die Topfränder, um sich nicht zu verbrennen.

Ira fragte ungeduldig: „Bist du müde? War euer Tag anstrengend?“ Sie konnte es nicht erwarten, ihren Geschwistern endlich zum Viehtrieb zu folgen, und fragte fast jeden Morgen, wobei sie jedes Mal von Mama vertröstet wurde, dass sie noch zu klein dafür sei.

„Ein wenig. Es war sehr nass. Der Regen hat die Weiden aufgeweicht.“ Raena lächelte sie an und streckte die Hand nach ihr aus. Ihre Finger berührten sich und Ira lachte mit roten Bäckchen.

Als Mama die Suppe auf den Tisch stellte und Raena ihre zitternden Hände auffielen, setzte sie sich aufrecht hin. „Geht es dir gut?“, gab sie sich einen Ruck und alle blickten ihre Mutter an, die die Mundwinkel nach oben verzog, ihnen ein schwaches Lächeln schenkte und nach der Kelle griff. „Ja.“

Da war etwas an ihr, das Raena unsicher werden ließ. Sie bekam Angst vor einer Tracht Prügel. Was das anging, waren die Besen aus der Kammer sehr wirksam. Als Mama dann doch noch eine Frage stellte, fiel ihre Nervosität zum großen Teil von ihr ab. „Wie war euer Nachmittag?“

Raena wartete, bis jeder eine volle Schüssel vor sich stehen hatte, dann erzählte sie aufgeregt: „Bara hat mich ausgelacht, weil ich durch den Morast kriechen musste und Arik, Arik war wie immer.“ Sie nahm den Löffel in die Hand und begann gierig zu essen. Warm schlug die Mahlzeit auf dem Grund ihres leeren Magens auf. „Arik hat den halben Vormittag mit den Steinen die Krähen beschossen, die sich im Wald breitmachen. Leider hat er keine getroffen. Nur knapp hat er verfehlt und geflucht wie ein Rohrspatz.“

Erik lachte. „Rohrspatz!“, wiederholte er mit seiner kindlichen Stimme.

„Kein Krähenbraten?!“, kreischte Ira und drohte mit der Faust, „das wird Folgen haben, mein Lieber!“

„Hör auf damit“, knurrte Mutter, „und iss endlich.“

Seit sie vor ein paar Tagen Vater getadelt und als ‚‚mein Lieber‘‘ bezeichnet hatte, wiederholten es die Kinder immer wieder und hatten ihren Spaß dabei, es in ähnlichem Tonfall zueinander zu sagen, was Mama wütend machte.

Zur Suppe gab es wundervoll duftendes, frisch gebackenes Brot, welches Raena in winzige Teile brach und in die Suppe rieseln ließ. Der Teig sog sich voll, kleine Bläschen tanzten auf der bräunlichen Oberfläche. Als Raena fertig war, leckte sie den Tellerrand sauber.

Erik kletterte unter den Tisch. Er zerrte kichernd an Rinos Beinen, hatte sich fest in den Kopf gesetzt, seinen Bruder auf keinen Fall zu Ende essen zu lassen.

Raena verkniff sich ein Grinsen und beobachtete, wie Rino verzweifelt versuchte, Eriks Hände von sich fernzuhalten und gleichzeitig die halb volle Schüssel vor dem Verschütten zu bewahren. Seine quiekenden Geräusche zogen dann doch die Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf sich.

„Hört damit auf!“, brüllte sie. „Erik! Hast du deine Suppe aufgegessen?!“

Rino und Ira zuckten zusammen und unter dem Tisch ertönte leises Gemurmel. „J-ja.“

Raena sah im Augenwinkel, wie ihre jüngere Schwester ihr Gesicht hinter einem Schleier ihrer braunen Haare verbarg.

„Wo ist Malik?“ Raena war verwirrt. „Wo ist Vater?“ Normalerweise waren die beiden immer die Ersten, wenn es ums Essen ging. Irgendetwas war heute anders. Zudem hatte sie letzte Nacht schlecht geträumt, nach ziellosem Reiten war ihr Pferd unter ihr zusammengebrochen, weshalb sie mit einem seltsamen Gefühl im Magen aufgewacht war.

„Heute sind viele Händler nach Anah gereist, um ihre Waren für drei volle Tage anzubieten. Er ging mit Malik hin.“

Raena runzelte die Stirn. Warum so spät? Wenn es drei Tage waren, hatten sie doch noch genügend Zeit, oder? Außerdem, waren Anahs Tore nicht längst geschlossen? Doch sie sprach ihre Gedanken nicht laut aus und behielt sie für sich.

Erik setzte sich auf seinen Platz zurück.

Mutter richtete sich die Kopfbedeckung, die nach hinten verrutscht war, und wischte ihre Hände an einem Geschirrtuch ab. Geistesabwesend starrte sie vor sich hin.

Plötzlich konnte Raena ihre Fragerei nicht mehr für sich behalten.

„Was ist los, Mama?“, fragte sie vorsichtig.

2. KAPITEL

Ira ließ den Löffel in den Teller fallen. Raena zuckte zusammen. Suppe verteilte sich quer über den Tisch und die blauen Läufer wurden dunkel.

„Meine Güte, bei Ara, was machst du denn ...“, murrte Mutter und nahm ein Baumwolltuch zur Hand, um es wegzuwischen, „ich mache mir die Mühe und du isst nicht einmal auf.“ Abgelenkt davon, erhielt Raena keine Antwort.

Bretter knarzten, jemand hatte das Haus betreten. Gleich darauf kam Assia zur Küche herein. Sie sah aus wie ihr Bruder Arik, doch ihre Augen waren blau und funkelten wie Saphire. „Der Gaul wartet vorm Haus“, teilte Assia ihr mit, ohne zu grüßen, „die Milch ist verstaut. Pass auf, damit du nichts kaputt machst!“ Assias Worte waren barsch, herrisch, als wäre sie die Frau des Bauern und Raena nur eine Arbeitskraft. An vielen Tagen war sie abweisend, Kaltherzigkeit gehörte zu ihren Charakterzügen. Sie war oft eifersüchtig, weil sie am Feld arbeiten musste, anstatt sich im Wald herumzutreiben, so wie sie es nannte. Dabei war es eine große Aufgabe, auf das Vieh aufzupassen. Deshalb hatte Vater Arik, Bara und Raena mit der Aufgabe betraut. Sie waren die besten Läufer.

Raena erhob sich. Assia war älter und sie hatte ihr zu gehorchen, also beklagte sie sich nicht. „Danke“, erwiderte sie und sah ihrer Schwester nach, die zurück nach draußen ging.

„Vergiss nicht, dir saubere Schuhe anzuziehen“, raunte ihr Mutter zu „und die Decke, damit dir nicht kalt wird.“

Obwohl sie bereit dazu war, nach draußen zu gehen und ihrer Pflicht nachzukommen, verweigerten ihre Beine ihr den Dienst. Sie stand da wie festgefroren und eine Stimme in ihrem Kopf riet ihr zu bleiben.

Erik kletterte von der Bank, rannte auf sie zu und griff nach ihr. Er war warm und seine kleinen Händchen umarmten ihre Schenkel. Raena tätschelte seinen Kopf. Dann kam Ira auf sie zu und blickte erwartungsvoll zu ihr auf. Ihre Augen funkelten und sie murmelte: „Wirst du uns besuchen kommen, sobald du verheiratet bist?“

Mutter zog Ira grob beiseite, fauchte: „Sei still“, und bedeutete Rino, „räum den Tisch ab.“

Raena blinzelte verwirrt. „Was?“

„Wo bleibst du! Komm jetzt!“, hörte sie Assia von draußen rufen.

„Du musst es versprechen“, Iras Augen funkelten.

Mama schüttelte sie. „Wirst du wohl still sein?!“

„Du tust mir weh!“, Ira riss sich los.

„Halt den Mund!“, Mama packte sie an der Schulter, „und wie oft habe ich dir gesagt, dass du dein Zeug in der Stube aufräumen sollst?! Deine Puppe liegt am Boden und ihre Kleider sind überall verstreut. Geh aufräumen, sofort!“

Ira schniefte und lief davon.

Raena war überfordert. Als Mama sie wieder ansah, konnte sie ihren Blick nicht deuten, doch er verhieß nichts Gutes, fast, als wäre Raena plötzlich eine Fremde für sie geworden.

„Geh jetzt“, sagte sie in einem Ton, der Raena schwer schlucken und gehorchen ließ. Geknickt verließ sie den Raum und obwohl sie nur einen Teller gegessen hatte, wurde ihr übel. An den Schuhen ging sie vorbei. Nicht, weil sie nicht gehorchen wollte, sondern weil sie zerstreut war und nicht verstand, wieso sie sich wie in jenem Traum zu fühlen begann. Verloren und hilflos.

Draußen war es bereits dunkel geworden. Bara, Assia, Arik und Ana standen abseits. Ihre Anwesenheit hatte etwas Beängstigendes. Sie hatten sich noch nie versammelt, um jemanden zu verabschieden. Ana war die größte von ihnen, trug ihr dunkles Haar im Dutt zusammengebunden und starrte ausdruckslos in ihre Richtung. Bara hielt sich an Arik fest. Dass sie weinte, konnte Raena auch im Dunkeln deutlich erkennen.

Es wurde immer unheimlicher.

Sie blieb auf der Treppe stehen, schluckte den Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, hinunter, wollte zu ihnen gehen und sie fragen, warum sie sich so seltsam benahmen, als sie das Entsetzen in Ariks Augen erkennen konnte, die Fassungslosigkeit auf seinen Zügen.

Er war bleich wie Kreide.

Was auch immer sie getan hatte, es musste schlimm gewesen sein.

Raena bekam Angst. Schamgefühl ließ sie die Lippen fest zusammenpressen. Ihr wurde warm und ihre Wangen färbten sich rot. Ihr Blick flog zum Gaul, den man wenige Meter weiter an einem Obstbaum festgebunden hatte. Es war ein alter grauer Hengst, der, den sie immer ritten, wenn sie Milch transportierten. Man hatte ihm ein Seil angelegt, das Fin erst letzte Woche geknüpft hatte, da das alte Zaumzeug bei der Arbeit am Acker gerissen war. Mit nur wenigen Schritten war sie bei ihm. Er trug zwei Körbe, einen rechts und einen links, gefüllt mit zwanzig Flaschen Milch. Diese waren gut verpackt und gesichert, damit sie nicht zu Bruch gehen konnten.

Raena griff zittrig nach dem Seil.

Da legten sich bekannte Hände über ihre. Sie waren eiskalt.

„Geh nicht. Bleib hier.“

„Was?“ Raenas Finger zuckten unter denen ihrer Schwester zurück. Sie blickte zur Seite, sah Bara tief in die Augen hinein und erkannte Furcht und Leid in ihnen, ähnlich wie auch bei Arik vorhin. Raena nahm den ganzen Mut zusammen, den sie im Moment aufbringen konnte, und trotzte ihrer Angst. „Was ist passiert? Sag es mir!“, wollte sie wissen.

Doch dann war Ana zur Stelle, zerrte das jüngere Mädchen von ihr fort und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Raena wollte ihr helfen, doch Ana versetzte ihr einen Stoß, sodass sie gegen den Hengst stürzte, der daraufhin unruhig mit den Hufen scharrte. „Jetzt geh endlich!“, schrie sie, „tu deine Pflicht!“

Raena gehorchte. Sie griff nach dem Seil und es gelang ihr, den Knoten zu lösen. Der Gaul, der die Unruhe spürte, hob sich auf die Hinterbeine und warf wiehernd den Schädel zurück. Er tänzelte und Raena wich aus, als er sich gegen sie drängte. Im Augenwinkel sah sie, wie Arik auf Ana zulief und an Bara zerrte. Die Größere schlug daraufhin auf ihn ein. Sie stritten oft, prügelten sich gelegentlich, doch heute war es anders. Es war ernster. Raena, die immer noch versuchte, den Gaul zu beruhigen, packte seine Mähne, seine langen Ohren und zog daran.

„Halt still!“, befahl sie, so streng sie konnte. Ihre Stimme zitterte.

Die Flaschen, schoss ihr durch den Kopf, die Flaschen!

Ihr war, als höre sie sie bereits zerbrechen.

Und dann wurde er auf einmal ruhig. Die Augen aufgerissen, glotzte er sie an. Rosa Nüstern drückten sich in ihr Gesicht. Der schmale Hals des Tieres war angespannt, dünne Muskeln wölbten sich unter dem rauen Fell.

„Raena, verfluchte Scheiße!“, schrie Arik.

Doch sie hörte nicht hin, schnappte nach dem Zwiesel und schob den Fuß in den Steigbügel. Ungeschickt schwang sie sich in den Sattel.

„Raena“, Arik tauchte schwer atmend in ihrem Blickfeld auf. Er packte nach ihrem nackten Bein, ihrem hochgerutschten Kleid. „Bleib. Wir werden das nicht zulassen!“

„Ihr macht mir Angst“, erwiderte sie mit zittriger Stimme.

Er sah aus wie ein Geist. Seine Augen waren schwarz wie ein bodenloser Abgrund.

„Ich muss gehen“, stotterte sie und rüttelte ihn ab. „Mama wird wütend sein, wenn ich nicht gehe.“

Der Gaul schnappte nach ihm.

Arik wich seinen Zähnen aus, griff nach dem Seil, doch es würde nicht helfen. Raena musste gehen. Ihre Verpflichtung, ihre Erziehung gebot ihr stets das zu tun, was von ihr verlangt wurde. Sie drückte die Schenkel zusammen, schrie dem Tier einen scharfen Befehl zu und fühlte, wie der Hengst seinen Körper anspannte und ein Stück vorsprang. Beinahe wäre sie aus dem Sattel gefallen, stieß einen leisen, erstickten Schrei aus.

Die Flaschen klirrten.

Arik brüllte vor Schmerz auf. Er war ein Stück mitgerissen worden, hatte aber rechtzeitig losgelassen. Dann ließ sie ihn zurück.

Schlechtes Gewissen schlug sich mit der Angst, die in ihrem Brustkorb wütete. Dennoch hielt sie nicht an, trieb das Tier an den Küchenfenstern vorbei. Sie glaubte, ihre Mutter als großen Schatten wiederzuerkennen, im Hintergrund die Kerzen brennend, doch da war sie bereits hinter der nächsten Biegung und der Gaul jagte über die steinige Straße.

Furcht saß ihr im Nacken, aber nicht der Dunkelheit wegen. Einem Mädchen wie ihr würde man nichts tun, schon gar nicht, wenn sie sich in der Nähe des fürstlichen Grundstücks aufhielt. Dort wurde regelmäßig patrouilliert. Zur Not würde sie sich bestimmt zu verteidigen wissen. So dachte sie zumindest, doch sie hatte nicht einmal ein Messer dabei. Ein paar Atemzüge später wurde der Hengst langsamer. Er war zu alt, um zu rasen und sie prüfte beidseitig, ob die Flaschen noch nicht zerbrochen waren. Zu ihrem Glück war alles in bester Ordnung.

Raena seufzte. Gedanken rauschten ihr durch den Kopf.

Warum laufe ich davon? Warum bohre ich nicht nach?

Den Grund dafür konnte sie sich selbst beantworten. Auch wenn sie sich manchmal tagelang geärgert hatte und enttäuscht gewesen war, hatte sie gelernt, den Mund zu halten und das zu tun, was man ihr auftrug.

Sie dachte an Ira. Heiraten? Hatte sie das wirklich gehört? Aber das konnte nicht sein. Jede Tochter musste den Mann akzeptieren, der ihr gegeben wurde. Darauf war sie jahrelang vorbereitet worden und doch hatte sie sich in dieser Hinsicht von Beginn an vernachlässigt gefühlt. Seit dem Tag, an dem Bara heiratsfähig geworden war, war verkündet worden, dass man nun einen Mann für sie suchen würde. Derzeit war ein wohlhabender Kuhhändler in Aussicht, während Raena noch nicht einmal einen Vorschlag bekommen hatte. Nicht einmal den Nachbarsjungen hatte man ihr vorgestellt und der war immer nett zu ihr gewesen und hatte ihr Blumen gebracht, wenn er zu Besuch gekommen war. Wollte sie keiner haben? War sie zu hässlich, ihr Körper zu dick? Oder vielleicht wollte man sie doch, nur lehnte Vater jedes Angebot ab?

Familie kann man sich nicht aussuchen, sagte der Junge manchmal, wenn er zu Besuch kam. Er hieß Sakul. Raena hätte nicht nein gesagt, hätte man sie mit ihm vermählt. Sie fand ihn ansehnlich und sehr nett.

Vielleicht würde sich die Stimmung bessern, wenn sie zurückkam. Vielleicht machte sie sich viel zu viele Sorgen und es war bei Weitem nicht so schlimm. Vielleicht hatte sie sich all das nur eingebildet und Arik hatte nicht versucht, sie zurückzuhalten.

Und was, wenn nicht?

Sie zweifelte oft.

Raena rief sich den gestrigen und den heutigen Tag ins Gedächtnis und konnte sich nicht erinnern, irgendetwas gemacht zu haben, was ihre Eltern verärgert haben könnte. Vater hätte bestimmt alles aufgeklärt, wäre er dagewesen. Er war alles, nur nicht geduldig und hätte sie sofort bestraft. Nach ein paar Minuten sinnlosen Kopfzerbrechens, das nichts als Frust brachte, trieb sie den Gaul weiter an, bis er in schnellen Trab verfiel und sein Tempo hielt. Das Leder unter ihr quietschte. Steinchen flogen zur Seite. Inzwischen war es so dunkel, dass der Weg nur noch ein Schemen für sie war, ein heller Fleck auf dem Boden. Gut, dass sie ihn auswendig kannte. Das Reiten hatte ihr ihr Bruder Fin beigebracht. Sie war nicht sonderlich gut darin, konnte sich aber, wenn es darauf ankam, im Sattel halten.

Zu ihrer Linken leuchtete Anah. Darüber war der Mond aufgegangen, doch sein bläulicher Schimmer wurde von den gelben Strahlen der Stadt fast gänzlich verschluckt. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie hier draußen niemand hören würde, sollte sie schreien. Die Burg des Fürsten stand am Hügel und war von einer riesigen Schutzmauer umgeben. Es gab einen Hintereingang und eine Straße, die angeblich sicher war und beschützt wurde.

Er zahlt uns viel Geld, hatte Vater einmal gesagt, am Tag haben wir keine Zeit, ihn zu beliefern. Fürst Duran wird für unsere Sicherheit sorgen. Warum auch immer, es musste stets Nacht sein. Verstand einer die hohen Leute, die scheinbar nachts Milch tranken und am Tag schliefen.

Unbewusst zog sie am Seil. Der graue Gaul war zwar alt, reagierte aber sofort und blieb stehen. Obwohl sie kaum etwas sehen konnte, wusste sie, dass sich die Straße an der Verzweigung hoch und runter schlängelte. Ganz oben war ein Wald, der von einer gepflasterten Straße durchzogen wurde. Diese wurde jede Nacht von Fackeln erleuchtet, die in große, steinige Pfeiler eingelassen waren. Den Gerüchten zufolge brannten sie durch Magie.

Raena war hin und her gerissen. Ein kühler Luftzug strich über ihr Gesicht und ihre Oberarme. Sie knabberte auf ihrer Unterlippe herum und ging in ihrem Kopf die Gesetze des Streifens durch.

Verbot der Todesstrafe, lediglich Kerkeraufenthalt. Mord ist verboten. Nur beim Verlassen des Streifens stirbt man. Zurückkommen ist Pflicht. Immer.

Raena setzte eine resignierte Miene auf. Sie zog das Seil nach rechts, drückte die Fersen in die Flanken des Tieres und ritt den Hügel hoch. Ihr Bauchgefühl riet ihr zu wenden, doch sie ignorierte es. Der Weg wurde steiler und der Hengst rutschte mehrmals aus. Gelegentlich rauschte eine Mücke an ihrem Ohr vorbei und sie lockerte ihr Haar, damit es ein wenig ihren Hals bedeckte.

Rechts von ihr schälte sich ein Haus aus der Dunkelheit. Es war groß und gehörte zu einer Siedlung, die ‚‚Mart‘‘ hieß. Im Haus selbst wohnte Zarkel, der Baumbauer.

Er war ein Großgrundbesitzer mit einer außerordentlichen Menge an Rindern und Bäumen, die er an umliegende Leute und Händler verkaufte. Ihr Vater war mit ihm gut befreundet. Raena kannte eine seiner Töchter, die Jubia hieß.

Wenige Minuten später wurde der Weg breiter. Sie konnte bereits die Säulen und die hellen Fackeln erkennen, die den Weg vor ihren Augen erleuchteten. Noch nie war ihr aufgefallen, wie unheimlich sie aussahen. Hell und lodernd leckten die Flammen über das von Ruß geschwärzte Gestein. Schatten tanzten über den Boden, wölbten und glätteten sich. Die Äste der hohen Laubbäume sahen aus wie krumme Arme, die nach jedem zu greifen schienen, der vorbeiritt.

Raena wollte nicht weiter. Ihr war noch nie aufgefallen, wie düster der Weg trotz der Fackeln war. Der Hengst trottete durch die Allee. Obwohl ihm die brennenden Fackeln nicht unbekannt waren, war sein Hals angespannt. Er blähte die Nüstern und schnaubte. Ein Luftzug glitt an ihren Ohren und am Nacken vorbei. Ihr Rücken kribbelte. Irgendwo schrie eine Eule und in ihr keimte ein beunruhigender Gedanke.

Sie sah sich um, doch da war niemand.

Am sichtbaren Ende der Allee konnte sie ein eisernes und geschlossenes Tor erkennen. Die dicken Spitzen waren besetzt mit weißen Steinen, die unheimlich funkelten. Das Licht der Fackeln brach sich darin. Dahinter erhob sich dunkel und bedrohlich die Burg. In ein paar Fenstern flackerte Licht. Der Weg führte daran vorbei, direkt am grünen Garten und dem Zaun entlang. Es war nur eine kleine Runde, nur bis zur Hintertür der Bediensteten. Und trotzdem kam es ihr so vor, als würde sie ihren eigenen Weg zur Verdammnis beschreiten.

Der Hengst legte die Ohren an. Er stieß die Vorderbeine in den Boden und blieb ruckartig stehen.

„Was hast du?“, fragte sie ihn nervös, doch sie sah den Grund, ehe sie den Satz beendet hatte. Hinter dem Tor versammelten sich Reiter. Sie sah ihre Rüstungen aufblitzen, sah die Köpfe der riesigen Schlachtrösser und erkannte, dass auch die eine Rüstung trugen.

Raena kniff die Augen zusammen und zog das Seil enger.

Die Männer formierten sich. Warum zum Henker taten sie das? Sie hörte den Kies unter den Hufen der Pferde knirschen und versuchte sie zu zählen, doch bei Acht gab sie auf. Plötzlich hielten sie inne. Niemand bewegte sich mehr und die Stille jagte ihr Schauer den Rücken hinunter. Sie starrten in ihre Richtung, doch sagten nichts. Raena hatte noch nie so viele auf einmal gesehen. Meist standen sie nur am Tor und hielten Wache. Zu anderen Tagen fand man sie am Weg den Hügel hinauf, pflichtbewusste Soldaten, die nicht einmal den Blick hoben, wenn man an ihnen vorbeiritt.

„Ruhig, komm“, sie klopfte dem Hengst auf den Hals und schnalzte mit der Zunge, doch er rührte sich nicht. Raena presste die Schenkel zusammen. Nur noch ein bisschen, nur noch ein klein wenig. Die Frau, die ihnen ständig die Milch abnahm, war nicht mehr weit. Ein kleines, scheues Lächeln und alles wäre erledigt.

„Komm“, versuchte sie es wieder, doch der Hengst hörte nicht auf sie.

Dumm bist du, hörte sie Ana in ihren Gedanken und fast war ihr, als spüre sie einen Schlag auf dem Hinterkopf. Dumm wie Stroh. Schau dich nur an.

Ich sagte doch, dass du nicht zu ihm reiten sollst, stöhnte Bara und Arik zerrte an ihrem Handgelenk, während Assia lachend ihr schönes Haar in den Nacken warf und davonstolzierte. Ich sagte doch, du wirst für deine Faulheit bezahlen.

Raena schüttelte den Kopf.

Der Hengst bäumte sich auf. Er tänzelte, schwang den Kopf und gab tiefe, unbestimmte Laute von sich. Raena schluckte schwer. Sie packte seinen Hals, drückte sich gegen ihn, damit sie nicht abgeworfen wurde. Kühle Luft berührte ihre Schenkel. Verzweifelt zog sie ihr Kleid nach unten, während ihre Lippen Worte murmelten, die sich nichts brachten.

Sie war sich sicher, dass er sie zurücklassen würde, sollte sie fallen.

Und dann fiel sie trotzdem.

Sie spürte den harten Untergrund, während sich vor ihr seine Vorderbeine hoben. Das Seil wurde stramm, drehte sich um ihr Handgelenk. Sie keuchte, ließ erschrocken los und duckte sich. Nur knapp entkam sie einem harten Tritt gegen den Kopf.

„W-warte ...“, stieß sie hervor, bevor er auch schon davonpreschte. Steinchen trafen sie im Gesicht und perlten ab. „Bleib hier!“

Da sah sie Soldaten zwischen den Bäumen hervoreilen. Schnell hatten sie ihn geschnappt. Sie hörte ihn wiehern, sah ihn trampeln, hörte die Gläser klirren. Passt auf die Milch auf, wollte sie schreien, doch brachte kein Wort hervor. Mit aufgerissenen Augen beobachtete sie das Schauspiel.

Was sollte das? Weshalb taten sie das?

Da hörte sie das Tor quietschen. Tiefer Atem, schwere Schritte.

Raena fuhr herum und ihr Herz blieb für einen Moment stehen.

„Willkommen, Raena“, raunte eine männliche Stimme heiser, „ich freue mich, dir endlich gegenübertreten zu dürfen.“

Die Mauer der Soldaten teilte sich. Sie öffneten einen breiten Durchgang, zogen klirrend ihre langen Schwerter aus den Scheiden und hoben sie über ihre Köpfe. Ein weißes Tier trat zwischen ihnen hindurch.

Raena wich einen Schritt zurück. Sie war wie geblendet von der goldenen Plattenrüstung des Tieres und dem imposanten Reiter auf dessen Rücken. Weiße Federn schmückten den Helm, bewegten sich bei jedem Schritt im leichten Windzug. Sie sah einen braunen Bart, dunkle Augen und ein spitzes Gesicht hervorblitzen. Ein Einhorn war in seinen Brustpanzer geritzt. Das Muster leuchtete matt.

Jäh wurde es ihr klar. Sie hatte es doch erst letzte Woche gelesen. Man wollte ihr imponieren, sie beeindrucken. In Märchen passierte das ständig.

„Wieso?“, murmelte sie, „träume ich?“

Das tat sie definitiv nicht. Das Pochen in ihrem Handgelenk war echt.

Raena trat noch einen Schritt zurück. Eingeschüchtert betrachtete sie das Tier, das doppelt so groß war wie sie selbst und kaum durch das Tor passte. Und als sie in die Augen des Tieres blickte, verlor sie sich selbst darin. Nicht, weil sie es gewollt hätte, sie wurde eingesogen, gefangen und konnte nicht mehr zurück.

Ihre Knie wurden weich.

Raena sackte in sich zusammen, die Luft entwich aus ihren Lungen und für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, weit weg zu sein.

Ozean. Ein Meer von Freiheit, endlose Weiten, ein Horizont ohne Ende.

Es war überwältigend, viel zu viel für ihr derzeitiges Gefühlsempfinden. Sie konnte Salz in ihrer Nase riechen, die kühle Gischt auf ihren Armen spüren. Sie sah sich selbst in den Wellen davongetragen, mit der Strömung mitgerissen. Sie verspürte tiefe Sehnsucht nach Freiheit, Sehnsucht nach Meer, nach kühlem Nass.

Und die Farbe seiner Augen ... sie waren dunkelblau.

„Nein“, flüsterte sie fassungslos und blinzelte. Ihr Blick war wieder frei und sie erblickte das Horn, welches mitten auf seiner Stirn prangte. Ihre Kehle wurde eng. Von traurigen Gefühlen überwältigt, wollte sie weinen und spürte, wie ihre Augen feucht wurden.

„Ozean, sieh sie nicht an!“ Die harte Stimme des Reiters drang wie hinter einem Schleier zu ihr durch und das gepanzerte Einhorn wandte den Blick von ihr ab. Der Zauber war gelöst, die Traurigkeit war fort.

„Verzeiht, Herr“, das Maul des Tieres hatte sich geöffnet, die Rüstung klirrte, die Ringe am Zaumzeug schepperten und doch hörte sie seine tiefe und unglaublich schöne Stimme.

Raena saß auf dem Boden, verwirrt und verängstigt, nicht glaubend, dass sie gerade Zeugin eines sprechenden Einhorns geworden war.

Der Reiter schwang sich aus dem Sattel. „Du hast mich zwar noch nie gesehen, aber“, Raena zuckte zusammen und blickte in sein Gesicht hoch, „ich habe dich seit deiner Kindheit beobachtet. Du bist zu einer wunderschönen Frau herangewachsen.“

Hätten ihre Arme oder ihre Hände ihr gehorcht, hätte sie sich in den Unterarm gezwickt. Das geschah nicht wirklich. Das war unmöglich. Wieso sollte der Fürst ihr entgegenreiten und sie auf solche Art begrüßen? Es ging ihr nicht in den Kopf. Sie dachte an ihre Geschwister, daran, dass sie erst vor ein paar Minuten ans Heiraten gedacht hatte, und das Grauen stieg in ihr hoch. Nein, ihre Unterlippe zuckte, das kann nicht der Grund sein. Das ergibt keinen Sinn.

Schwere Stiefel berührten den Boden und erzeugten ein dumpfes Geräusch. Ozean blieb, wo er war. Er war mit Abstand das schönste Geschöpf, das sie je zu Gesicht bekommen hatte.

„Ich bin Fürst Duran, Beschützer der Stadt, Verwalter von Anah“, stellte er sich vor, blieb einige Meter vor ihr stehen und hob den prunkvollen Helm von seinem Kopf. Das Lächeln, welches sich auf seinem Gesicht abzeichnete, wirkte schmeichelhaft.

Raena musterte ihn verstört, war nicht imstande einen klaren Gedanken zu fassen und schluckte trocken. Im Hintergrund hörte sie ihren Hengst wiehern und dachte an die Flaschen, die sie zu liefern hatte.

„Die Milch, Herr“, ihre Stimme war kratzig.

Fürst Duran betrachtete sie verdutzt und lachte herzhaft.

Sie fühlte sich schäbig, so wie sie vor ihm hockte, noch ihr Stallgewand am Körper und trotz Mutters Vorschlag, steckten ihre Füße in dreckigen Lederschuhen.

„Das war nur ein Vorwand, um dich zu mir zu locken.“ Er breitete die Arme aus und vollführte eine einladende Geste.

Raena wandte blinzelnd ihren Blick ab. Sie kämpfte um ihr Gleichgewicht, als sie aufstand.

„Vorwand?“, ächzte sie mit hoher Stimme, im Hintergrund die stummen Soldaten betrachtend, die in ihrer Anwesenheit noch kein Wort gesprochen hatten. Sie hatte noch immer Angst.

„Warum ...?“ Sie sprach die Frage nicht aus, da Fürst Duran durch eine simple Geste seiner behandschuhten Finger ihre Worte unterbrach. Ganz Fürst schien er es gewohnt, Leute nach seiner Pfeife tanzen zu lassen.

Er beugte sein Knie vor ihr, legte ihr den befiederten Helm vor die Füße und blickte ergeben und seltsam verzerrt zu ihr hoch. Er ... er war ein Elf! Oder hatten seine Ohren einfach nur eine spitze Form? Aber seine Haare waren nicht weiß und jedes Kleinkind wusste, dass Elfen solche hatten.

„Raena“, ihr Name klang fremd aus seinem Mund und es gefiel ihr nicht, wie er ihn betonte, „ich frage dich hiermit um deine Hand.“

Raena erstarrte. Sie fixierte ihn, ohne zu blinzeln, und blickte dann abwechselnd zwischen ihm, seinem Einhorn und den Soldaten hin und her.

„Ich kenne Euch nicht!“, stieß sie überfordert hervor und klang dabei wie ein weinerliches Kind, „ich, ich ...“

Fürst Duran seufzte. Er sah verärgert aus. Eine Braue hatte gezuckt und seine Mundwinkel fielen nach unten.

Ihre Augenlider flatterten. Würde er sie nun töten? Hätte sie nicht auf die Knie fallen und ihn anflehen müssen oder zumindest für sein Angebot danken? Sollte sie gehorchen, so wie sie es immer getan hatte? Deshalb war sie doch hier, weil sie zu gehorchen hatte. Aber ein Fürst ...? Das konnte nicht wahr sein, das musste eine Verwechslung sein. Er musste ein edles Fräulein heiraten oder nicht?

Fürst Duran nahm den Helm wieder an sich und stand auf. Als sie nun sein Gesicht sah, erbleichte sie. Durfte sie ihn überhaupt ansehen? Sollte sie nicht die Augen niederschlagen?

Sie wich zurück, verschränkte die Hände vor ihrem Körper.

Jede Freundlichkeit war aus seinem Antlitz gewichen. Er betrachtete sie aus schmalen Augen, schien höchst unzufrieden mit ihrer Antwort.

Du wirst heiraten, hörte sie Vater sagen, das weißt du.

Natürlich, Vater, hörte sie sich antworten, ganz wie du von mir verlangst. So gehört es sich doch.

Ich werde es dir sagen, sobald die Zeit kommt.

Wo war Vater nun?

Durans verzerrte Fratze blickte ihr entgegen. Zusammengezogene Brauen, schmale, zu Schlitzen geformte Augen, ein höhnisch verzogener Mund. „Ich habe freundlich gefragt, so wie es von einem Mann meines Standes erwartet wird. Du hast die Wahl. Heirate mich oder sie sterben.“

Die Zeit blieb stehen. Erneut teilte sich die Reihe der Soldaten. Zwei Personen wurden herbeigeschliffen, beide in Ketten gelegt. Gestalten mit verbeulten Gesichtern voller Blut. Das Gewand verdreckt, gerissen und mit Flecken übersät.

Sie?, echote es in ihrem Kopf.

Raena wagte nicht zu atmen, nicht zu blinzeln. Ihr wurde schlecht.

Eine schwere Pranke legte sich auf ihre Schulter. Im Augenwinkel sah sie das Gesicht eines bärtigen Wachmanns.

„Erkennst du sie nicht?“

Fürst Duran machte einige Schritte auf die Gefangenen zu. Seine Haltung verriet Selbstsicherheit, völlige Überzeugung. Er war sich seiner Sache sicher.

Raena hörte ihren schweren, röchelnden Atem, sah nur noch ihre zerschundenen Körper, die ihr plötzlich fürchterlich bekannt vorkamen. Sie traute ihren Augen nicht, zwang sich hinzusehen, in ihre nur noch aus blutiger Masse bestehende Gesichter zu blicken. Einem fehlte ein Auge. Und die andere Hälfte war kaum noch erkennbar. Dann traf es sie wie ein Blitz und sie platzte hervor: „Vater! Malik!“

Ein Zittern ergriff sie.

Der alte Mann rührte sich kaum, während der jüngere, ihr geliebter Bruder, auf allen vieren kroch, kurz Blickkontakt suchte, dann zusammenbrach und im Sand liegen blieb.

„Was habt Ihr ihnen angetan?“, stöhnte sie entsetzt, setzte sich in Bewegung, torkelte auf sie zu und streckte kraftlos ihre Hände nach ihnen aus.

Die Pranke packte nach ihrem Arm und riss sie zurück, hielt sie eisern umklammert.

„Lass mich los!“, keuchte sie, während sie kämpfte, um sich aus dem unnachgiebigen Griff zu befreien.

Der Mann war stärker. Hinzu kamen andere Hände, die ihren anderen Arm packten.

Fürst Duran drehte ihren Vater mit einem gezielten Tritt auf den Rücken. Raena konnte ihre Augen nicht abwenden. Waren das Brandwunden, die da seinen Leib bedeckten? Unter den Stofffetzen klebten Steine in den Wunden. Blaue Flecken verunstalteten seinen gesamten Brustkorb. Fast hätte sie sich übergeben.

„Vater!“, schluchzte sie auf. Ihre Brust quoll über vor Schmerz. Ihr Herz blutete. „Vater ...“, Raena glaubte ersticken zu müssen.

„Sie oder Ich. Du hast die Wahl.“

Malik rührte sich.

„Schwester“, stöhnte er in den Staub hinein, erhob sich schwach und das Zittern seiner Glieder war nicht zu übersehen. Er keuchte, dann verdrehte er die Augen. „Tu das nicht.“ Seine Stimme war nur ein Hauch und doch hatte sie jedes einzelne Wort davon verstanden.

Fürst Duran trat zu. Die Haut auf Maliks Stirn platzte auf.

„Du bist bald tot, wenn du nicht die Klappe hältst!“

Raena gab ein ersticktes Keuchen von sich. Was jetzt? Was sollte sie tun? Wie viel Zeit blieb ihr, um eine Entscheidung zu fällen? Sie wusste nur, dass sie nicht sehen wollte, wie ihr Vater und Bruder vor ihren Augen starben.

Der Fürst strich sachte über Ozeans Hals, grub die Finger in seine Mähne und ballte die Hand zur Faust. Geschmeidig hob er sich in den hohen Sattel.

„Ich tu's! Ich werde Euch heiraten“, sie schluckte schwer, „aber, warum ich?“

Duran nahm die vergoldeten Zügel zur Hand, lächelte geheimnisvoll und nickte zufrieden. „Das wirst du noch früh genug erfahren.“

„Nur bitte ...“, sie weinte nun offen, „lasst sie frei.“

Fürst Duran sah sie mit einem belustigten Blick an. Dann lachte er wie jemand, der soeben beschlossen hatte, großzügig zu sein. „Sie wollten dich nicht aushändigen. Was denkst du wohl, weshalb sie auf deine Ankunft warten mussten?“ Er lachte. „Aber jetzt bist du hier. Sie sind frei. Hauptmann! Bring sie zurück auf den Hof. Setzt sie auf den Gaul da.“

Damit wurde sie abgeführt.

3. KAPITEL

Raenas Sicht war verschwommen. Sie passte sich dem Gang der Männer an und versuchte, nicht laut zu schluchzen, während im Hintergrund ihr Bruder unverständliche Laute schrie. Sie hörte ihn ihren Namen rufen. Doch was sollte sie tun? Sie hatte keine Waffe, konnte nicht kämpfen. Gegen diese Männer kam sie nicht an. Sie war nur ein Bauernmädchen.

„Er hätte mich doch einfach holen können!“, sagte sie zu den Männern, die sie festhielten, „ich wäre mitgekommen!“

„Halt's Maul, Weib“, knurrte einer von ihnen und sie biss sich auf die Unterlippe. Bevor sie in den Burggarten geführt wurde, warf sie einen letzten Blick über ihre Schulter zurück. Sie sah sie nicht mehr. Ihre Gestalten waren mit der Dunkelheit verschmolzen. Raena blinzelte die Tränen beiseite. Wenn das Zittern doch endlich aufhören würde!

Reiß dich zusammen. Es hilft nichts. Sie presste die Lippen aufeinander.

Die Obrigkeit ist gut. Sie weiß, was sie tut. Horche auf den Fürsten. Er ist ein freundlicher Mann. Worte ihrer Mutter.

„Wer's glaubt“, murmelte sie und bekam einen schrägen Blick zugeworfen.

Der Hof war mit Fackeln erleuchtet. Die Wände waren glatt verputzt, mit Tieren bemalt und ab einer gewissen Höhe schmückten Hirschtrophäen den Stein. Schatten tanzten auf den Mauern und hauchten den toten Tieren Leben ein.

Die Wachen führten sie zu einem Seiteneingang. Drei Bedienstete in länglichen und engen Stoffkleidern gafften sie neugierig an. Die Jüngste von ihnen errötete sogar, als ihr Raena einen kurzen Blick zuwarf.

„Nehmt die Hände von ihr“, befahl die älteste Frau mürrisch und schlug die Hände der Soldaten beiseite.

„Ja, Frau“, murrte er und ließ los.

Danach wurde Raena in den Raum dahinter gezerrt. Die Tür knallte hinter ihr zu. Sie umarmte sich selbst, um ihren Schmerz ein wenig zu lindern, und dachte daran, dass es ihrem Vater und Bruder schlimmer ging als ihr. Hör endlich auf zu heulen. Es ging nicht. Ihr Anblick hatte sich in ihr Hirn gebrannt.

„Herzlich Willkommen, Herrin!“, wurde sie überschwänglich von der rotwangigen Bediensteten begrüßt, „wir sind wahnsinnig erfreut, Euch endlich kennenzulernen.“

Raena trat einen Schritt rückwärts, drückte ihren Rücken gegen die Tür und blickte die drei Gesichter abwechselnd an. Herrin? Sie war keine Herrin.

„W-warum?“ Es kostete sie große Mühe zu sprechen.

„Das ist eine traurige Geschichte, Herrin“, meinte die Älteste von ihnen achselzuckend, aber nicht sonderlich mitfühlend, „wir dürfen Euch jedenfalls nichts verraten.“

Irgendeine Hand schloss sich um ihren Arm und wollte sie dazu bewegen, von der Tür wegzutreten.

„Kommt mit.“

„Ich gehe nirgends hin.“ Hatte sie das wirklich gesagt?

Sie verweigerte nie. Das tat sie nicht.

Schmerz schoss durch ihre Wange, jemand schrie entsetzt auf, ihr Kopf krachte gegen die Tür. Schwärze tanzte vor ihren Augen und sie glaubte auf der Stelle ohnmächtig zu werden. Doch es passierte nicht.

Ein Zischen an ihrem Ohr ließ ihre Abwehr endgültig fallen. „Ich riskiere meinen Kopf nicht wegen Euch, Fräulein. Ihr müsst jetzt stark sein. Wichtige Leute können sich ihr Schicksal nicht selbst aussuchen.“

Damit war das Gespräch beendet.

Sie wurde bei der Schulter gepackt und von der Tür weggezogen. Raena, erschüttert und mit pochender Wange, ließ es zu und stolperte hinterher. Dann wurde sie durch eine Küche gezerrt, die dreimal so groß war wie die am Bauernhof, wo Köche und Gehilfen im Stress umherliefen und das Brot für den nächsten Morgen buken, wo Mägde Geschirr wuschen und Essensreste in einen großen Topf warfen, wo sie angeglotzt wurde, als wäre sie ein seltenes Tier, das letzte seiner Art.

„Weiter.“

Raena wurde zum Ausgang gedrängt und in einen breiten, hellen Gang geschoben. Flammen mehrerer Fackeln loderten die rußgeschwärzten Wände hoch. Der Boden war verkleidet mit rotem Teppich, die Wände mit Stoffen verhangen. Dekorationen aus Gold standen auf kleinen Tischen herum. Sie war noch nie in einer Burg gewesen, doch all der Prunk um sie herum glitt an ihr vorbei, als gäbe es ihn nicht. Nach vielen Türen erreichten sie eine Treppe. An der Wand befand sich ein Spiegel, der zur Zierde diente. Dennoch war es nicht sonderlich schwer, einen Blick auf ihre Person zu erhaschen.

Sie sah zum Fürchten aus, wenn auch ihr Anblick keinen Vergleich zu ihrem Vater darstellte. Aschblondes Haar, zum großen Teil aus dem Zopf gelöst, fiel ihr zerzaust auf die von der Arbeit gestählten Schultern. Das Wollkleid hing schief und ihre Gesichtsfarbe war bleich, durchbrochen vom roten Fleck auf ihrer Wange. Feuchte Tränenbäche zogen Spuren über ihre Wangen, Bahnen durch den Staub, den sie sich noch nicht abgewaschen hatte.

Sie wollte das nicht sehen.

„Hier hoch.“

Auf dem Weg nach oben folgten ihnen Trophäen mit leeren Augenhöhlen. Sie hingen überall, über ihnen und auf den Wänden, an eigens dafür geschliffenen Holzbrettern angenagelt oder einfach nur an der Mauer, mit einer Jahreszahl und der Bezeichnung des Ortes darunter. Die Geweihstangen waren dicker als ihr Handgelenk, die gefächerten Platten breiter als menschliche Schultern. Sie wusste, dass es Hirsche gab, wenn auch nicht im Streifen und hatte Mitleid mit den einst prächtigen Tieren, ehe sie auch schon die nächste Stufe hochgestoßen wurde.

Danach verlor sie jegliche Orientierung. Sie hatte von vornherein nicht aufgepasst und umso wirrer erschienen ihr nun die Türen, die alle gleich aussahen. Vermutlich wollten sie sichergehen, dass sie nie wieder nach draußen fand.

Nach einer Weile, ihre Wange pochte, erschien eine große, doppelte Flügeltür vor ihnen. Viele kleine Rosenblätter waren in das dunkle, fast schwarze Material geschnitzt. Raena blinzelte, dachte zuerst, sie wären mit Nägeln befestigt, doch je näher sie die Arbeit in Augenschein nahm, desto lebendiger kamen ihr die Schnitzereien vor.

„Der Baum stammt aus Fallen. Dort wachsen Rosen an Stämmen. Wunderschöne Pflanzen, müsst Ihr wissen. Sie gehen eine Gemeinschaft mit dem Baum ein und ernähren sich von seinem Saft“, plapperte die Jüngste von ihnen darauf los, da sie Raenas Blick bemerkt hatte.

Es musste eine Nachbildung jenes Baumes sein, das Holz konnte unmöglich leben. Es gab keinen Griff, doch eine Berührung reichte. Das Holz schwang auf und offenbarte ihnen einen großen Raum. Einen Raum, dessen Glanz Raena in die Augen stach. Sie war geblendet von dem vielen Gold am Himmelbett. Dann spürte sie einen Stoß und stolperte hinein.

„Wasser, Seife und frische Kleidung“, erklärte die Bedienstete, die bis jetzt keinen Ton gesprochen hatte.

Im Raum stand eine Holzwanne auf einem Wollteppich. Dampf stieg empor und bildete kleine Wölkchen in der Luft.

Raena blieb unschlüssig stehen.

„Wozu das alles?“, murmelte sie abwesend.

„Wascht Euch gründlich. Der Herr mag keinen Dreck.“

Sie gingen und die Tür fiel geräuschlos hinter ihr ins Schloss.

Raena schluckte, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, sah sich verloren um und dachte an den Traum letzte Nacht zurück.

Fast als durchlebe ich ihn erneut.