Ragnarok Reloaded - Fritzi - H. E. Fechner - E-Book

Ragnarok Reloaded E-Book

Fritzi - H. E. Fechner

0,0
12,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Wie ich in diese verworrene und momentan sehr blutige Gesamtlage geraten bin? Das geht euch verdammt nochmal nichts an! Aber ich bin ein Geschichtenerzähler. Und ihr seid anscheinend verflucht neugierig. Also erbarme ich mich eurer… Mein Name ist Loki Laufeyson und um diese Geschichte – meine Geschichte – zu erzählen, muss ich ganz am Anfang beginnen." Seit Anbeginn der Zeit sind Riesen und Asen verfeindet. Doch als der junge Riese Loki seine Heimat verlässt, um sich fernab seines verhassten Elternhauses ein neues Leben aufzubauen, findet er seinen Platz ausgerechnet an der Seite der Asen Thor und Hönir, die ihn fortan von einem Abenteuer ins nächste stürzen. Bis eine Seherin Ragnarök prophezeit: Die Zerstörung aller Welten, herbeigeführt von niemand anderem als Loki. Können die drei Freunde das Schicksal ändern und Ragnarök verhindern? Und will Loki das überhaupt? RAGNAROK RELOADED ist eine lokizentrierte Geschichte, die nicht nur auf der Älteren wie Jüngeren Edda basiert, sondern auch auf jahrhundertealten Wikingergedichten, isländischen Erzählungen, färöischen Balladen, Runensteintexten, skandinavischen Mythen, Legenden und Märchen; sogar Studien des Germanisten Jacob Grimm fanden Einzug. Das Buch ist auch aus Taschenbuch mit vierundzwanzig Aquarellillustrationen erhältlich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Fritzi - H. E. Fechner

Ragnarok Reloaded

Für meine Eltern  "(...) aus dem plumpen riesen ist ein schlauer, verführerischer bösewicht geworden (...)" - Jacob Grimm in "Deutsche Mythologie" über die Analogie zwischen Logi und Loki

Inhaltsverzeichnis

Hinweis zum Inhalt

Dramatis Personae

Begriffe aus den neun Welten

Der Anfang vom (Welten-) Ende

Blut ist dicker als Met

Das mit den Menschen war nur als Scherz gedacht

Der Junge, der ein Getreidekorn, eine Schwanenfeder und eine Fischschuppe war

Von Riesen, Zwergen, Drachen und … Ottern?

Inzest, Krieg und ein Topf voll Spucke

Zwischen Amboss und Hammer

Runen, Muttergefühle und andere Bizarrerien

Das Brautkleid des Grauens

Leichen und andere Überraschungen

Die Eintopfschüssel des Verderbens

Blutige Orbita und Picknick

Odin kriegt noch mehr Falten und graue Haare als er eh schon hat

Zwei Heiratsanträge und ein Striptease

Thor ist ein ganz schlechter Verlierer und hier ist der Beweis

Vielleicht hätte die Geschichte einfach hier enden sollen

Wenn er aus der Kiste entkommt, bist du des Todes

Heimdall mischt sich in Dinge, die ihn nichts angehen, ein

Ehrlos sind die Kerle und mannstoll die Weiber

Adieu, Sonnenschein!

Einsamkeit, so verdammt viel Einsamkeit

Qualen, so verdammt viele Qualen

Nachtclubs, Zuckerstangen und Rachepläne

Das Sahnetörtchen der Hoppla-hier-sterben-fast-alle-Vorhersagen

Epilog – Ja, den gibt es, obwohl fast alle tot sein sollten

Epilog zum Epilog – Richard hätte BWL studieren sollen

Über das Buch

Über den Autor und Illustrator

Impressum

Hinweis zum Inhalt

(da dieses Buch im 21. und nicht im 9. Jahrhundert veröffentlicht wird)

Der Autor möchte darauf aufmerksam machen, dass die Nordische Mythologie – wie jede Mythologie und die allermeisten Sagen und Märchen – voller Gräuel steckt. Deshalb werden auf den kommenden Seiten auch prekäre Themen angeschnitten und manches Mal explizit dargestellt; darunter: Sexismus, häusliche Gewalt, sexuelle Übergriffe, Mord und Krieg, Folter, Alkoholismus, Gewalt an Kindern sowie Diskriminierung aufgrund von Herkunft, sexueller Orientierung oder körperlichen Eigenschaften.

Viel Vergnügen beim Lesen!

Dramatis Personae

ASEN

Asgeirr Broderson (Mitbewohner Hödurs)

Baldur Odinson (Gott des Lichts)

Benne Tyrson (Stallknecht)

Frigg Fjörgynndottir (Göttin der Ehe, Mutterschaft und andere Titulierungen)

Hödur Odinson (tragischerweise gilt Bruder Baldurs als seine größte Errungenschaft, dicht gefolgt von Mörder Baldurs)

Hönir Kyrreson (Gott der Weisheit und Liebhaber alter Bücher)

Odin Borson (blumige und selbst verliehene Titel wie Gott des Krieges, Allvater, Gott der Weisheit und Dichtung et cetera et cetera, aber auch Dieb, Tunichtgut, Weiberheld und Vergewaltiger gleichermaßen)

Sif Elifdottir (auf Wunsch sei hier ihr herrliches Haar hervorgehoben)

Sigyn Sigstendottir (wer es wagt, sie auf Sinnbild der Treue zu reduzieren, dem zieht sie eine Axt über den Schädel)

Thor Odinson (Gott des Donners und Philanthrop)

Tyr Odinson (Gott des Sieges oder anders ausgedrückt: ein wahnsinnig schlechter Verlierer)

Var Jonedottir (Göttin des Gelübdes und der Schwüre, auch der illegal-mörderischen)

Wali Odinson (Rächer Baldurs)

RIESEN

Geirröd Eivorson (ein Fürst)

Heimdall (Wächter Asgards)

Hel Angrbodadottir (Schutzherrin der allermeisten Toten)

Helblindi Laufeyson (Lokis am wenigsten gehasster Bruder – gibt aber auch nur zwei)

Loki Laufeyson (Gott des Feuers, Magus, Gestaltwandler, Riesenschlächter)

Loki (ihr werdet euch noch wundern)

Surtur (Häuptling der Söhne Muspels)

Wala (eine entnervte Seherin)

ANDERE

Fenris Angrbodason (ein Wolf, wie alle Söhne Angrbodas)

Gullveig Arvodottir (eine vanische Zauberin)

Sleipnir Lokison (ein Pferd mit überdurchschnittlich vielen Beinen)

Thialfi Berk (menschlicher Diener Thors, wegen unsachgemäßer Ziegenschlachtung)

dazu diverse Asen, Vanen, Zwerge, Riesen, Alfen, Trolle, Menschen, weltliche und kosmische Tiere, Bäume, Verstorbene, Gedanken, Wildfeuer, das Alter selbst und – nur vielleicht – das Schicksal

Begriffe aus den neun Welten

Aalheim* - Riesenjargon für Meer

Allgrün* - Riesenjagon für Erde

Allklar* - Asenjargon für Sonne

Atzung - Riesenjargon für Saat

Backenschranz - Geräusch, wenn man Luft aus den Wangen platzen lässt

Dach* - Asenjargon für Himmel

Draugr - Untoter, der innerhalb eines Grabhügels haust (Pl. Draugar)

Feld* - Asenjargon für Erde

Flamme* - Asenjargon für Feuer

Grabestau - Blut

Grollborste - Ungeheuer in Gestalt einer Sau

Haar der Berge* - Asenjargon für Wald

Heiterkeit* - Zwergenjargon für Windstille

Hügelmoos* - Hels Wort für Wald

Indieglut* - Riesenjargon für Wald

Lager* - Asenjargon für Windstille

Lichtauge* - Riesenjargon für Sonne

Lofn - Asin, die Paare traut, deren Verbindung vor Hindernissen steht

Nebel* - Asen- und Vanenjargon für Nacht

Ohnelicht* - Riesenjagon für Nacht

Raschler* - Riesenjargon für Feuer

Scheibe* - Götterjargon für Mond

Schönverzweigt* - Alfenjargon für Wald

Schwüle* - Riesenjargon für Windstille

Sessrumnir - Halle in Freyjas Haus Folkwang, dorthin kommt die Hälfte aller gefallenen Krieger

Spiegler* - Asenjargon für Meer

Sputer* - Riesenjargon für Mond

Swipal - Beiname Odins, bedeutet so viel wie der Veränderbare

Syn - Asin, die Angeklagte vor Gericht beschützt

Tintentrinker - hier als Synonym für Bücherwurm

Überwelt* - Riesenjargon für Himmel

Windflucht* - Vanenjargon für Windstille

Wurmbett - Drachenschatz

*aus dem Alvissmal (Übersetzung von Karl Simrock) entlehnt

Der Anfang vom (Welten-) Ende

„Wie ich in diese verworrene und momentan sehr blutige Gesamtlage geraten bin? Das geht euch verdammt nochmal nichts an! Aber ich bin ein Geschichtenerzähler. Und ihr seid anscheinend verflucht neugierig. Also erbarme ich mich eurer.

Mein Name ist Loki Laufeyson und um diese Geschichte – meine Geschichte – zu erzählen, muss ich ganz am Anfang beginnen. – Nein, nicht bei der Erschaffung der Menschen. Wir müssen weiter zurück. – Die Geburt des Universums? Das ist nun wieder viel zu weit. Ich spreche von meinem Anfang.

Meine Wurzeln liegen in Jötunheim. Die schroffen Berge, reißenden Flüsse und dichten Wälder meiner Heimat bilden das atemberaubendste Landschaftsbild, das ihr je zu Gesicht bekommen könntet. Ich hatte eine wunderbare Kindheit dort! Meine Eltern waren sehr liebevoll. Wobei ich zugeben muss, dass es schon ungerecht war, wenn sie mich manchmal meinen beiden Brüdern vorzogen. Jedenfalls war unsere Familie unter den anderen Joten – oder gemeine Bergriesen, wie ihr sie nennt – sehr angesehen, wodurch ich von allen respektiert wurde. Ich sollte sogar mit dem attraktivsten Mädchen Jötunheims vermählt werden. Leider war sie mir zu spießig und langweilig, weshalb ich letztendlich ablehnte. Danach verließ ich meine Heimat. Aber nur, weil es mein Herz hinaus in die Welt zu Abenteuern zog. Bis heute vermisse ich Jötunheim, meine Eltern und meine Brüder sehr.

Und ich hoffe inständig, dass ihr den triefenden Sarkasmus in meinen Worten bemerkt habt.“

***

Dunkelheit streckte sich entlang der kühlen Felswände. Das einzige Licht boten ein paar lodernde Flammen, die in der kleinen Feuerstelle gegen den eisigen Wind kämpften, der von draußen an der Tür rüttelte und sich durch die Ritzen zwängte. Von einem Bettlager neben der Feuerstelle erklang ein gequältes Stöhnen. „Ich habe gesagt, du sollst mich da nicht anfassen!“, zischte Loki und schob die Hand seiner Gefährtin unwirsch von seinem geschwollenen Schlüsselbein. Angrboda schmollte. „Oh, hast du wieder eine kleine Prügelei verloren?“, fragte sie spottend. „Gegen wen war es denn diesmal? Helblindi oder Bileistr?“ Sie versuchte, eine Hand auf Lokis Wange zu legen. Knurrend wich der junge Mann zurück. Angrboda wusste ganz genau, dass auch sein Wangenknochen dick und blau war.

„Halt den Mund! Meine Brüder gehen dich nichts an.“

Die Riesin lehnte sich auf der Matratze zurück und seufzte theatralisch. „Du bist ja heute besonders streitsüchtig. Aber das ist wesentlich attraktiver als dein ständiges Gejammer.“ Sie räkelte sich anzüglich. Loki ließ seinen Blick über ihren nackten Körper schweifen. Der Schein des Feuers tanzte einladend über ihre Kurven.

„Willst du mich nur anstarren? Wir haben nicht ewig Zeit. Wenn du morgen früh zu deinem blauen Auge kein passendes zweites von meinem Vater willst -“

„Morgen früh werde ich bereits weg sein“, unterbrach Loki sie.

Lachend rollte Angrboda sich auf die Seite und warf ihr feuerrotes Haar zurück. „Oh, erzähle mir nicht wieder, du willst dein Elternhaus verlassen. Dazu bist du nicht Manns genug!“

Loki schüttelte den Kopf. „Ich werde Jötunheim verlassen. Ich gehöre hier nicht hin.“

Angrboda stöhnte laut. „Jetzt wirst du wieder wehleidig! Wo ist dein Feuer hin? Muss ich wieder über deine Brüder reden?“

Aus Lokis Kehle erklang ein Grollen.

„Das wollte ich hören!“, rief Angrboda aus, griff mit einer Hand in Lokis lange Haare und zog ihn zu sich in einen gewalttätigen Kuss.

***

Sobald die ersten Sonnenstrahlen sich über den Horizont schoben, knallte Loki die Tür zur Höhle von Angrbodas Eltern hinter sich zu. Ihm war herzlich egal, ob sie davon aufwachte. Er blieb auf dem kargen Felsvorsprung stehen und atmete tief ein. Die Luft war frisch und rein. Sie roch nach Freiheit. Endlich war er bereit, alles hinter sich zu lassen: seinen gewaltbereiten Vater Farbauti, seine stets betrunkene Mutter Laufey, seinen aufbrausenden Bruder Bileistr und sein Schwindelhirn von Bruder Helblindi. Kurz gesagt, seine ganze lieblose Familie. Auch Angrboda würde er kein Stück vermissen. Sie ihn genauso wenig. Da bildete er sich nichts ein. Mit großen Schritten und nicht mehr Gepäck als einem alten Messer zog Loki los, den Berg hinunter. Er hatte noch keine Ahnung, wo genau er hingehen sollte. Aber alles war besser als sein mickriges, störrisches Heimatdorf.

Er könnte nach Svartalfheim gehen. Dort sollte es die talentiertestes Handwerksleute geben. Vielleicht konnte er von ihnen etwas Gescheites lernen? Schon immer war er sehr wissensdurstig gewesen. Möglicherweise war Alfheim dann eine bessere Wahl für ihn? Die Bibliotheken, in denen Gelehrte dort Wissen sammelten, sollten überwältigend sein. Loki blickte auf seine leeren Taschen. Er hätte er gern ein Buch als Wegbegleiter gehabt. Eines mit einer Geschichte über eine raue Welt mit unberührter Natur. Solch eine, in der man Abenteuer erleben und vielleicht noch einen Drachen finden konnte. Eine Welt wie Midgard! Lokis Herz schlug höher. Ja, er wollte nach Midgard gehen. Für alle anderen Welten hatte er später noch Zeit. Vor ihm lag sein ganzes Leben.

Sofern er denn ein Portal in diese andere, fremde Welt fand, denn er hatte nie eines benutzt und wusste sie nicht zu aufzuspüren. Vermutlich würde er die nächsten Wochen quer durch Jötunheim reisen und nach einem suchen. Wobei er dabei nicht zwangsmäßig gehen musste …

Fast am Fuße des Berges angekommen, blieb Loki stehen und entkleidete sich. Schuhe, Kleider und das Messer band er in seiner dünnen Jacke zu einem Bündel zusammen. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf sein Innerstes. Langsam verformten sich seine Knochen, wurden kleiner und hohl. Aus seiner Haut sprossen dunkle Federn. Im nächsten Moment hatte er die Form eines Mauerseglers angenommen. Seine Mutter hatte es nie leiden können, dass er ein Gestaltwandler war. Andersartigkeit war ihrer Meinung nach ein Makel. Dabei war er bei weitem nicht der einzige magisch veranlagte Jote – nur leider der einzige in Steinbiter.

Loki packte sein Bündel mit den Krallen und schwang sich in die Lüfte. Majestätisch glitt er über den Himmel hinweg und genoss den freien Wind, der über seine Konturfedern strich. Keinen einzigen Blick warf er zurück auf sein ehemaliges Zuhause. Wenn alles nach Plan lief, würde er dieses verfluchte Dorf zwischen den schroffen Gebirgswänden nie wieder sehen.

***

Mehrere Tage nach seinem Aufbruch befand sich der Ausreißer am Rand eines großen Waldes, weit entfernt von der nächsten Stadt. Die bergige Landschaft hatte sich abgeflacht. In der Nähe rauschte ein reißender Fluss. Mitten in der Nacht war Loki auf eine mächtige Eiche geklettert und hatte es sich mehr schlecht als recht in einer Astgabel bequem gemacht.

Ausruhen konnte er allerdings nicht lang – gerade mal lang genug, um den Sonnenaufgang zu verpassen. Sein Schlafplatz wurde dermaßen stark erschüttert, dass er beinahe vom Baum fiel. Krampfhaft klammerte er sich mit beiden Armen und Beinen an dem Ast fest. Ein Erdbeben!, sein erster Gedanke.

Ein weiteres Mal erzitterte die Eiche. Loki blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und sah nach unten. Kein Beben. Über den Waldboden stampfte ein riesiger Troll und rammte den Baum zum dritten Mal. Die klobigen Hände waren zu Fäusten geballt. Wütend grunzend schlug er scheinbar wahllos um sich. Viel mehr konnte Loki nicht ausmachen. Er wunderte sich, was den Troll derartig aufgeregt hatte. Wahrscheinlich nicht mehr als eine aufmüpfige Biene. Trolle waren nicht gerade die hellsten Geschöpfe auf Erden. Weder auf diesen noch auf anderen.

Loki war sich sicher, dass er noch nicht entdeckt worden war. Zum Glück, denn trotz der vielen Prügeleien mit seinen Brüdern war er nicht der beste Kämpfer. Ein ausgewachsener Troll wie dieser konnte es mit einem schmächtigen Riesen wie ihm wohl leicht aufnehmen. Loki überlegte noch, was er am besten tun sollte, als der Baum die vierte Erschütterung erlitt. Raue Borke schabte über Lokis Bauch. Der Jote fiel. Im letzten Moment konnte er einen Ast knapp unter seinem Schlafplatz ergreifen. Hilflos baumelte er da und konnte sich nicht mehr hochziehen. Zum ersten Mal war er tatsächlich neidisch auf Bileistrs Muskeln.

Wieder prallte der Troll gegen den Baum. Loki rutschte ab. Die Runde riss ihm die Handflächen auf. Panisch griff er nach Ästen, die nicht mehr da waren. Er schrie in Erwartung des Aufpralls. Doch kein harter Waldboden rammte sich in sein Rückgrat, keine Trollfüße traten nach seinem Schädel. Loki blinzelte. Er war in den muskulösen Armen eines Mannes gelandet. Verdutzt starrte Loki ihn an. Ein von rotblondem Haar gerahmtes, kantiges Gesicht starrte genauso verdutzt zurück. Im Hintergrund brüllte der Troll. Der Fremde ließ Loki fallen und stürzte sich auf das massige Wesen.

Mit einem Ächzen landete Loki doch noch auf der Erde. Er rollte sich auf den Bauch und sah, wie der fremde Mann mit dem Troll rang. Lokis Kinnlade klappte herunter. Dem Muskelprotz gelang es tatsächlich die Oberhand zu erlangen. Er verpasste der Kreatur einige heftige Hiebe und schaffte es schließlich sogar, einen kräftigen Arm um den fleischigen Hals des Trolls zu schlingen und zuzudrücken. Fasziniert beobachtete Loki wie die Gegenwehr immer schwächer wurde. Es dauerte, doch schließlich erschlaffte der plumpe Körper. Der Fremde wischte sich mit seinem Unterarm Schweiß von der Stirn. Dann schien ihm wieder einzufallen, dass er nicht allein war. Schweren Schrittes kam er auf Loki zu. Dieser sprang hastig auf seine Beine. Er wusste nicht so recht, was er von dem anderen Mann halten sollte und machte sich zum Weglaufen bereit. Wer einen Troll so einfach bezwingen konnte, könnte auch ihm gefährlich werden.

Doch der Fremde grinste breit und hielt ihm eine Pranke hin. Loki schlug nicht ein. Stattdessen zeigte er ihm seine zerschundenen Handflächen, an denen trocknendes Blut klebte. Der Muskelprotz nickte verständnisvoll. „Thor von Asgard“, stellte er sich vor. Dann deutete er auf den Troll hinter sich. „Der hat hier in der Gegend ganz schön Ärger gemacht. Warst du auch hinter ihm her?“

Loki brauchte einen Moment, um zu antworten. „Nicht direkt. Ich bin eher zufällig über ihn gestolpert.“

Thor von Asgard lachte herzhaft und schlug ihm auf die Schulter. Loki hatte Angst, seine Knochen würden unter dem Druck nachgeben. Der Kerl hatte viel zu viel Kraft.

„Wie ist dein Name?“, wollte Thor wissen. „Von wo kommst du, Freund?“

„Loki Laufeyson“, verriet Loki und rieb sich nervös den Nacken. „Von Steinbiter … in Jötunheim.“

Thor sah ihn skeptisch an. „Bist du nicht einige Handbreit zu klein für einen Riesen?“, fragte er. Lokis Gesicht verfinsterte sich. Er war immer noch der Größere von beiden. Wenn auch nur knapp.

„Entschuldige“, sagte Thor schnell. „Die meisten Joten, die ich bisher kennengelernt habe, waren nur etwas … anders als du.“

„Das kann ich mir vorstellen“, seufzte Loki. In diesem Moment knurrte sein Magen. Thor warf einen Arm um seine Schultern und begann, ihn tiefer in den Wald zu führen. „Komm, Freund Loki! Wir jagen uns ein Wildschwein. Auch ich habe Hunger.“

Loki war zu baff, um zu widersprechen.

***

Die Begegnung mit dem Troll war schon einige Tage her, als Thor und Loki zum wiederholten Male gemeinsam mit einem Braten am Feuer saßen und Geschichten unter dem Nachthimmel austauschten. Zumindest Thor tauschte Geschichten aus. Loki hatte in seinem Leben noch nicht so viel erlebt wie der Ase und was er erlebt hatte, wollte er Thor nicht anvertrauen. Auch wenn er ihn Freund nannte, kannten sie sich doch noch nicht allzu gut.

Thor hatte darauf bestanden, dass sie gemeinsam nach Alfheim gingen. Für Loki war dieser Plan so gut wie jeder andere gewesen. Midgard konnte er auch ein andermal bereisen. Zudem gewöhnte er sich mittlerweile mit jedem Tag mehr an seine neue Bekanntschaft. Er hatte selten jemanden kennengelernt, der von allem begeistert war. Thor konnte ein Gänseblümchen pflücken und sich darüber den ganzen Tag lang von Herzen freuen. Außerdem war sein Lachen beunruhigend ansteckend.

„Sag mal, Thor“, begann Loki, während er die Reste von einer Rehkeule knabberte, „kann ich dich etwas Persönliches fragen?“

Thor sah erstaunt auf. Über sein Gesicht legte sich jedoch schnell ein Grinsen. Der Ase erzählte nicht nur viel, sondern auch gerne.

„Was ist mit deiner Stirn?“, fragte Loki und deutete vage auf die große, graue Stelle über Thors linker Augenbraue. Im flackernden Feuerschein fiel sie nicht sonderlich auf, doch im grellen Sonnenlicht glitzerte die glatte Fläche manchmal sogar. Thor rieb sich über das dünne Narbengewebe zwischen sonnengebräunter Haut und Grau. „Oh, ich habe ein Stück Wetzstein im Kopf stecken“, erklärte er munter. „Was bin ich froh, dass mir ein paar Zwerge das Ding abschleifen konnten. Sonst hätte ich immer noch ein urstes Horn auf der Stirn. Ist unpraktisch so was.“

Loki warf seinen abgenagten Knochen auf den Haufen mit anderen und ließ sich von Thor ein Rippenstück reichen. „Und wie ist dir überhaupt ein Stein im Kopf steckengeblieben?“

Thor lachte herzhaft. „Ich habe mich auf einen angeblich fairen Zweikampf mit einem miesen Joten eingelassen. Hrungnir hieß das Donneraas.“

Loki zuckte zusammen.

„Er hat mir einen riesigen Wetzstein gegen den Kopf gedonnert, aber nicht mit meinem Dickschädel gerechnet“, fuhr Thor fort und pochte gegen den gesunden Teil seiner Stirn. „Der Stein ist in abertausende Stückchen zersprungen. Nur hat sich eine Ecke eben in mich gebohrt.“

„Hast du Hrungnir noch besiegt?“, fragte Loki leise, wobei er die Antwort ahnte. Schließlich hatte er Thor einen Troll mit bloßen Händen erwürgen gesehen.

„Oh, ja! Ich habe es ihm heimgezahlt und seinen Kopf mit einem Schmiedehammer eingeschlagen. Knochen, Blut, Hirn … Das alles ist nur so umhergespritzt!“ Während Thor seinen Kampf beschrieb, gestikulierten seine Hände, welche Körperflüssigkeit wie in welche Richtung gespritzt war. Loki verzog das Gesicht. Ihn faszinierten Thors Geschichten. Allerdings nur, so lange der Ase nicht zu sehr ins Detail ging.

„Das Problem bei den wirklich riesigen Riesen ist nur, dass sie auch unglaublich schwer sind. Hrungnir ist damals umgekippt wie eine Baum und ich bin nicht schnell genug aus dem Weg.“ Thor lachte. „Ich dachte, es bräche mir das Kreuz, als er auf mir gelandet ist. Habe mich damals auch nicht selbst befreien können. Magni und Modi mussten ihn von mir herunterziehen. Die beiden sind verflucht stark.“

Loki fragte nicht, wer Magni und Modi waren. Es hätte ihn schon interessiert, aber er fürchtete, dass Thor dann auch Fragen über seine Familie oder nicht vorhandene Freunde stellen würde.

„Also, die Lehre dieser Geschichte: Wenn neben dir mal ein richtig langer Riese umkippt, musst du zügig wegrennen.“

„Das brauchst du mir nicht zu sagen.“

Thor sah ihn an, als hätte er für einen Moment vergessen, dass Loki selbst Riese war. Dann lachte er wieder und schüttelte den Kopf. „Du gefällst mir.“

Lokis Wangen wurden heiß, obwohl das Feuer nicht stärker loderte als zuvor. Hastig schluckte er einen Bissen Fleisch hinunter.

„Jetzt lass mich dich etwas fragen. Was ist das Ding um deinem Hals?“

Verwundert sah Loki auf seine Brust hinunter, wo ein eiserner Anhänger an einem Lederband baumelte. Es war der einzige Schmuck den er trug: ein zur Schlaufe gelegtes Eisenband, dessen Enden sich unten kreuzten und zueinander nach innen gebogen waren. „Das ist ein Trollkreuz“, sagte Loki in selbstverständlichem Ton. „Schützt vor Trollangriffen. Habt ihr so etwas bei euch nicht?“

„Das … hat dir ja nicht wirklich geholfen, oder?“, feixte Thor. Flugs schob Loki den Anhänger unter sein Hemd.

„‘tschuldigung“, murmelte der Ase. „Dachte nur nicht, dass du zur abergläubischen Sorte gehörst.“

„Wann kommen wir eigentlich zu diesem Portal, von dem du gesprochen hast?“, lenkte Loki ab. Thor warf seinen letzten Knochen auf den kleinen Restehügel. „Gleich morgen früh. Ist nicht mehr weit.“

Loki hörte zu essen auf. Die Sache mit dem In-andere-Welten-reisen wurde plötzlich sehr real. „Ich bin … Ich habe noch nie ein Portal benutzt“, gestand er. Thor zuckte mit den breiten Schultern. „Ist ganz einfach. Du gehst rein und wirst in einer anderen Welt wieder ausgespuckt.“ Er zögerte. „Aber halt dich morgen an mir fest. Nicht, dass dich eines der Wesen vom Weg abbringt.“

Beinahe hätte Loki seinen letzten Happen fallen lassen. „Wesen? Die gibt es doch nicht wirklich.“

„Doch“, sagte Thor nickend und lehnte sich auf seinen Armen zurück.

„Die Hirsche?“

Ein Nicken.

„Das Eichhörnchen?“

Ein weiteres Nicken.

„Der Adler?“

Ein drittes Nicken.

Dass innerhalb der Weltenportale richtige Lebewesen wohnten, musste Loki erst verdauen. Gedankenverloren zog er mit den Zähnen die letzten Muskelfäden von den Knochen.

„Du wirst sie aber nicht sehen“, erklärte Thor, „wenn es dein erstes Mal ist. Es ist, als müsste man das Sehen erst lernen. Wie Lesen. – Du kannst doch lesen?“

„Kann ich“, bestätigte Loki und warf die restlichen Knochen zu den übrigen. „Ich lese sogar sehr gern“, sagte er, während er sich Saft von den Fingern leckte.

„Dann wird Alfheim dir gefallen“, summte Thor. „Alles Bücherdrachen da.“ Das Feuer fiel ein Stück in sich zusammen, doch er legte kein Holz nach. „Bist du satt?“

Loki nickte, denn es war eh kein Fleisch mehr übrig.

„Dann sollten wir schlafen gehen. Wir müssen früh raus.“

„Haben Portale Öffnungszeiten?“, scherzte Loki. Bisher hatte er eher den Eindruck gewonnen, Thor würde das Ausschlafen schätzen.

„Es gibt einen kleinen Zeitunterschied zwischen hier und der Gegend um Brannlilje. – Das ist die alfische Stadt, in die ich dich verschleppe. – Und ich will nicht in der prallen Mittagshitze aus dem Portal raus.“

„Ah“, machte Loki. Er hatte nie daran gedacht, dass auf anderen Welten unterschiedliche Tageszeiten herrschen konnten. Plötzlich kam er sich närrisch vor. Er hatte hinaus in die Welten laufen wollen und wusste doch gar nichts über sie. Während das Lagerfeuer immer mehr an Schein verlor, wickelte sich Thor in zwei Decken ein. In ihrer ersten gemeinsamen Nacht hatte er Loki eine andrehen wollen, doch dem Joten reichte seine Jacke. Er war den scharfen Wind der Berggipfel gewohnt. Im frühen Sommer unter einem Blätterdach zu schlafen, machte ihm nicht allzu viel aus. Loki rollte sich auf dem Boden zusammen und sah in die glühende Asche unter den sterbenden Flammen. Er fragte sich, welche Jahreszeit gerade in Thors Heimat regierte und ob Sonne oder Sterne am Himmel standen. Er fragte sich, ob es eine andere Sonne als die in Jötunheim war und wie anders die Sternbilder wohl aussehen mochten. Bevor er sich versah, schnarchte er mit Thor um die Wette und träumte von Bergen mit violettem Puderschnee, von einer kupfernen Sonne und von fremden Winden.

***

Loki hasste Portale. Er fand, Thor hätte ihn vorwarnen sollen. Sein Inneres fühlte sich an, als seien sämtliche seiner Eingeweide neu angeordnet worden. Nicht einmal seine Blutbahnen schienen noch auf ihren angestammten Wegen zu verlaufen. Außerdem machte sich eine unterschwellige Übelkeit in ihm breit.

Alfheims Sonne blendete ihn. Er drückte sich nah an die Felswand, die das Portal auf dieser Seite umgab. Im Halbschatten gewöhnten sich seine Augen schneller an die Helle. In einiger Entfernung lag ein Laubwald und Loki konnte bereits erkennen, dass ihm nicht alle Bäume bekannt waren. Es hatte etwas Surreales. Als wäre die Sonne plötzlich blau oder das Meer orange. Das hier war wahrhaftig nicht mehr seine Welt.

Thor stand vor ihm, die Hände in die Hüften gestemmt, und schaute den kleinen Hang vor ihnen hinunter. „Direkt hinter den Bäumen liegt unser Ziel.“ Er schirmte seine Augen ab und sah zur Sonne hinauf. „Gegen Mittag sind wir da.“

Aus dem Augenwinkel heraus nahm Loki die Bewegung eines gewaltigen Schattens war. Instinktiv riss er Thor zu Boden. Dass vor ihnen ein winziger Abhang lag, hatte er dabei nicht bedacht. Die Männer kugelten einige Ruten weit über die Wiese. „Das war ja sehr lustig“, sagte Thor und rappelte sich auf, „aber kannst du mich demnächst vorwarnen?“

Loki wollte eine schnippische Bemerkung darüber machen, dass Thor ihn bezüglich des Portals auch nicht gewarnt hatte, aber sein Blick fiel auf den vermeintlichen Schatten, der nicht mehr oben auf dem Hügel stand, sondern hinter ihnen her gerannt kam. Loki schluckte schwer. „Troll.“

„Was Troll?“ Thor sah ihn fragend an.

Loki zeigte hinter ihn. „Da! Ein Troll!“

Thor ließ die Fingerknöchel knacken und drehte sich um. Dann ließ er die Hände wieder sinken. „Ungünstig!“ Eilig packte er Loki und zerrte ihn mit sich auf den Waldrand zu.

„Kannst du den nicht wieder erwürgen?“, rief Loki, während er über die Wiese stolperte.

Im Rennen blickte Thor über seine Schulter. „Das ist ein alfischer Steintroll! Deren Haut ist eisenhart. Ohne ordentliche Waffe ist wegrennen besser.“ Die einzige Klinge, die Thor mit sich führte, ging gerade mal als Schnitzmesser durch. Das war keine ordentliche Waffe.

Der Troll kam ihnen mit großen Schritten sehr schnell sehr nah. Er stieß ein markerschütterndes Brüllen aus. Auch Loki blickte jetzt nach hinten. Das Ungetüm war nicht ganz so groß wie der, den Thor umgelegt hatte, dafür aber umso hässlicher. Seine Haut sah aus, als bestünde sie aus von Stein geschlagenen Schuppen. Sein Gesicht war von Warzen übersät. Seine Haare glichen verrottenden Algen. Und sie rochen auch ähnlich, stellte Loki fest, sobald der Troll ihnen zu nahe kam. „Das schaffe ich nicht“, keuchte Loki, während er wieder zum Wald sah. In seiner Flanke breitete sich ein Stechen aus. Der Troll hatte eindeutig eine bessere Kondition. Loki zog das Messer aus seinem Gürtel. Kurz bevor der Troll ihn greifen konnte, ließ er sich zur Seite fallen. Das Ungetüm stürzte an ihm vorbei, die rissigen Augen zuckten umher. Loki hieb ihm das Messer bis zum Schaft ins Knie. Der Troll stoppte und röhrte empört. Loki wollte die Klinge aus dem klobigen Bein ziehen, um erneut zuzustechen, doch sie steckte fest. „Thor!“, brüllte er. „Hilfe, Thor!“

Sofort machte Thor kehrt, nahm Anlauf und sprang dem Troll auf den Rücken. Die Beine schlang er um die dicken Rippen, während er sich mit einer Hand an die hornähnlichen Auswüchsen des Trollkopfs klammerte und den anderen Arm um den Hals schlang, was ihm durch die harte Haut allerdings keinen Vorteil brachte. Die Kehle ließ sich partout nicht eindrücken.

Inzwischen noch wütender stürzte sich der Troll auf Loki und pinnte ihn zu Boden.

Thor, der verzweifelt versuchte, obenauf zu bleiben, schlug dem Troll immer wieder gegen den Hinterkopf, in den Nacken und auf die Ohren. Nichts brachte etwas. Der Troll presste eine Hand gegen Lokis Stirn und gab sich alle Mühe, ihm den Schädel einzudrücken. Loki schrie vor Schmerz. Sein Herz hämmerte ihm gegen die Rippen. Panisch riss er sich seine Kette vom Hals und rammte den Eisenanhänger durch das Auge seines Angreifers. Seine Finger versanken in der gallertigen Masse, die wie feuchte Glut zischte. Jaulend bäumte sich der Troll auf. Thor stürzte von seinem Rücken. In seiner Pein und Wut zertrampelte das Ungetüm den Asen beinah. Ein schauderhaftes Brüllen ließ beide innehalten.

Lokis Glieder streckten sich und schwollen an. Er spürte, wie sich sein Kopf in ungewohnte Richtungen verformte. Seine Haut spannte, drohte zu bersten. Seine Kleidung riss. Loki stieß ein Bellen aus, von dem er hoffte, dass es soviel wie Verpiss dich oder ich breche dir alle Knochen! hieß. Er kam wohl nah genug heran, denn der Troll wich zurück, klaubte eingeschüchtert nach seinem getilgten Auge und machte schließlich kehrt. Sobald er hinter der Felsformation des Portals verschwunden war, wandelte Loki sich zurück. Schwer atmend blieb er auf der Wiese liegen und griff sich erleichtert an die Brust. Die eigene Haut hatte sich noch nie so wohlig angefühlt. Nie wieder wollte er sich in einen Troll verwandeln, schon gar keinen Steintroll. Er drehte den Kopf und schaute zu Thor, der ebenfalls noch ausgestreckt im Gras lag. Jeder von ihnen wartete darauf, dass der andere etwas sagte. Schließlich setzte Loki sich auf und griff nach seinem Trollkreuz. Er wischte den Matsch aus Wasser, Zucker und Eiweiß von seinem Anhänger, machte einen neuen Knoten in das Lederband und hängte es sich wieder um den Hals. „Siehst du?“, keuchte er. „Trollkreuze helfen doch gegen Trolle.“

Thor starrte ihn stumm an, dann verfiel er in donnerndes Gelächter.

Später, am frühen Nachmittag, schritten sie durch die Tore einer der größten Städte Alfheims. Da seine Kleider nur noch Fetzen waren, hatte Thor Loki seinen Mantel aufgeschwatzt. Unter der alfischen Mittagssonne schwitzte der Jote darin sehr, doch Thor bestand darauf, dass er sich in der Stadt bedeckt hielt. Lokis Aufregung bremste das allerdings nur kurzzeitig. Die Hitze war schnell vergessen. Zu gern hätte er jeden alfischen Stein umgedreht und sich an jedem Fenster die Nase plattgedrückt. Thor lachte und breitete die Arme weit aus. „Willkommen in Brannlilje!“

Wo Loki auch hinsah, er war überwältigt. Es war so ganz anders als in seinem Heimatdorf. Die Gebäude waren aus hellem Holz und Glas gebaut, schienen licht und freundlich. Der Marktplatz glich einem immerwährenden Straßenfest. Die Stände waren bunt und mit Blumen dekoriert. Kletterpflanzen streckten sich von Laterne zu Laterne. Lokis bare Füße traten mal auf Stein, mal auf Moos.

Wann immer Loki etwas Neues entdeckte, zupfte er an Thors Ärmel und sagte: „Schau, da!“ Thor störte das ganz und gar nicht. Es amüsierte ihn. Er war schon so oft in Brannlilje gewesen, dass es ihn freute, die Stadt durch fremde Augen neu zu betrachten. Ein dunkles Kichern rollte aus seiner Kehle, als Loki sich um sich selbst drehte. Der Mantel plusterte sich auf wie weite Röcke. Durch die breiten Gassen begannen die lieblichen Töne von Straßenmusikern zu wehen, als hätten sie sich von dem Joten zum Tanz aufgefordert gefühlt. Thor hätte nicht übel Lust auf eine spontane Feier gehabt, doch erst hatte er einige Besorgungen zu machen. Er sammelte seinen Kameraden ein und schob ihn zum nächsten Bekleidungsgeschäft. „Du brauchst zuallererst neue Hosen und Hemden“, verkündete er. Loki zog eine Grimasse. „Wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, dir mitzuteilen, dass ich überhaupt kein Geld bei mir habe?“

Ohne Zögern löste Thor einen Lederbeutel von seinem Gürtel und drückte ihn Loki in die Hand. „Keine Sorge. Hab genug.“

„Das kann ich nicht annehmen“, wehrte Loki sofort ab und streckte den Arm mit dem Geldbeutel von sich. Thor zuckte mit den Schultern. „Doch, doch.“

Loki schmulte in das Säckchen, das bis zum Bersten mit Rotgold gefüllt war. „Ich wusste nicht, dass die Trolljagd so lukrativ ist“, merkte er an. Thor wich seinem Blick aus und murmelte: „Meine Familie ist … ganz gut betucht.“ Er öffnete die Ladentür und trieb Loki hindurch. „Nun mach aber! Du kannst nicht weiter halbnackt herumlaufen. Wir treffen uns wieder hier.“

Bevor Loki antworten konnte, war Thor schon davongetrampelt und er stand allein in einem weiträumigen Geschäft, in dem sicher tausende unterschiedlichster Kleiderstücke in allen möglichen und unmöglichen Farben ausgestellt waren. Spontan war er sehr überfordert. In seinem Dorf hatte es einen einzigen Schneider gegeben. Dieser hatte einem neue Kleider angefertigt oder die alten ausgelassen. Fertig. Loki griff nach einer Tunika und ließ seine Finger über den Stoff gleiten, der dünner und feiner war als alles, was er bisher kannte. Nichts für kalte Tage oder körperliche Arbeit. Außerdem war er über und über mit Stickereien verziert.

„Kann ich dir helfen, Herzchen?“

Aufgeschreckt fuhr Loki herum. Hinter ihm stand der strahlende Ladenbesitzer. Seine wässrigen Iriden funkelten freundlich. Die weißblonden Locken waren nach hinten gebunden und gaben den Blick auf gewellte Ohrmuscheln frei. Seine Haut war dunkel – mit einem grünlichen Schimmer. Loki blinzelte. Das Licht hier drinnen musste ihm wohl einen Streich spielen.

„Ich … bräuchte Hose, Hemd und Jacke“, zählte Loki auf.

Der Händler sah mit erhobenen Augenbrauen an ihm hinunter.

„Und ein Paar Schuhe“, ergänzte Loki.

„Einmal komplett neu einkleiden“, schloss der dauerlächelnde Alf. „Das kriegen wir hin, Herzchen. Komm mal mit!“ Er drehte sich auf der Ferse um und ging tiefer in den Laden hinein. Loki trotte hinter ihm her, während er hier und da Kleidungsstücke von Regalbrettern einsammelte. Schließlich breitete der Alf seine Beute auf einem Tischchen aus. „Wie wäre es damit, na? Die würden dir großartig stehen.“ Er hielt Loki eine enge, lederne Hose unter die Nase, dazu ein Paar elegante Stiefel und ein Gürtel, dessen Schnalle ein Wolfskopf aus Flechtmustern zierte. Auf dem Tisch lagen ein weites Hemd mit verflochtenen Stickereien und ein hellgrünes Jäckchen, das Loki gerade einmal bis auf die Kurzrippen reichen würde. Lokis Augenbrauen rutschten hoch in seine Stirn. „Äh“, machte er.

Die Nase des Verkäufers kräuselte sich, während er nachdachte. „Eher die klassische Richtung für dich, was?“

„Oder die ganz einfache Richtung“, meinte Loki, der nicht wusste, was in Alfheim als klassisch galt. „Oder die billige Richtung.“

Der Alf seufzte, doch sein Lächeln kehrte schnell wieder. „Du bist zum ersten Mal in Brannlilje, nicht wahr? Nun gut, praktische Kleidung für Reisende. Kommt sofort.“ Er wuselte durch das Geschäft und ging erneut auf Jagd nach der perfekten Garderobe. Schon nach wenigen Momenten verfrachtete er Loki mit einem neuen Kleiderstapel zum Umziehen in einen Nebenraum.

Loki wippte auf den Fußballen auf und ab. Er hatte noch nie solch bequeme Stiefel getragen. Vermutlich auch, weil er vor allem Helblindis alte Latschen aufgetragen hatte. Die Hosenbeine hatte er in die Stiefelschäfte gesteckt. Die graue Hose selbst war unglaublich weich und dennoch so robust wie seine zerrissene. Die Gürtelschnalle war schlicht, ohne umständliche Gravuren. Das weiße Hemd war dünner, als er es gewohnt war, doch in allem anderen wäre er sicher eh vor Hitze vergangen. An den Bünden waren silbrige Flechtmuster gestickt, aber sie fielen nicht allzu sehr auf. Der schwarze Mantel reichte bis zu seinen Knien und der Kragen war gestärkt, sodass Loki ihn aufstellen konnte. Locker um seinen Hals, über dem Trollkreuz, saß ein rotes Tuch. Loki drehte sich vor einem hohen Spiegel um die eigene Achse. Er gefiel sich. Obwohl die Sachen schlicht waren, schmeichelten sie seiner Silhouette. Er hatte nicht gewusst, dass er so apart aussehen konnte. Zufrieden – aber auch mit schlechtem Gewissen – bezahlte er den Alfen und trat wieder auf die Straße.

Thor wartete bereits auf ihn.

„Na, du siehst doch gleich viel besser aus“, grinste der Ase.

Lokis Ohren wurden heiß. Schnell gab er Thor Geldbeutel und Mantel zurück und nuschelte: „Dank dir.“

„Und ich hab noch etwas für dich“, kündigte Thor an. Er zückte ein kleines, schmales Messer. „Ich brauchte ein paar neue Waffen und da du dein Messer ja verloren hast …“

Loki nahm das Geschenk entgegen und betrachtete es verzückt. Die scharfe Klinge glitzerte wie die Sonne auf einem Bergsee. Unter dem Griff, der von weichem Leder umwickelt war, glänzte eine verschlungene Gravur, deren Bedeutung Loki nicht ausmachen konnte. Für ihn sah es einfach nur hübsch aus.

„Ein alfisches Schutzsymbol“, erklärte Thor. „Passend zu deinem Trollkreuz.“

„Danke“, sagte Loki und steckte das Messer weg. Das Herz pochte ihm in den Ohren. Verlegen strich er sich die zausen Haarsträhnen dahinter.

Thor betrachtete ihn einen langen Moment lang. „Du solltest sie dir flechten.“ Er hakte die Daumen in seinen Gürtel und wandte sich zackig ab. „Komm! Wir gehen etwas essen. Etwas, das wir nicht selbst fangen mussten.“

Loki folgte ihm in eine Schenke.

Drinnen war es genau so hell und freundlich wie draußen. Sobald sie sich an einen Tisch direkt an der Glasfront gesetzt hatten, eilte eine ältere Frau auf sie zu. Ihre langen weißen Haare türmten sich zu einer schwindelerregenden Flechtfrisur auf, die mit kleinen Blumen verziert war. „Thor!“, rief sie begeistert und breitete freudig die Arme aus. Um ihre hellen Augen kringelten sich Lachfältchen. „Was treibt dich in unsere Gefilde?“, fragte sie.

„Hunger natürlich!“, lachte Thor. „Ich habe nicht vergessen, wo es das beste Essen der Stadt gibt.“

Die ältere Dame kicherte. „Das Gleiche wie immer?“, erkundigte sie sich und Thor nickte begeistert. „Dann bring ich euch Jungs gleich doppelte Portionen. Ihr Asen seid ja immer so hungrig!“

Sie tippelte davon und Loki sah ihr mit offenem Mund hinterher. So ein Bedienung hatte er noch nie erlebt. In der Gegend, aus der er kam, erkannte man eine gute Schenke daran, dass einem die Magd nicht ins Bier rotzte.

„Das Essen hier wird dich begeistern!“, versprach Thor gutgelaunt. „Da kann kein selbst erlegtes Wild mithalten! Und du wirst in allen neun Welten niemand Liebenswerteres als Algea treffen.“

Loki war noch immer ein wenig baff. „Du bist hier oft?“, wollte er wissen. Thor winkte ab. „Vor einigen Jahren hatte die Stadt ein Problem mit Trollen“, erklärte er. „Furchtbare Angriffe. Ich habe die Sache für sie … gelöst. Asgard hat dadurch eine gute Freundschaft mit den Alfen hier geknöpft.“

Loki konnte sich gut vorstellen, auf welche Art Thor besagtes Problem gelöst hatte. Von Diplomatie verstand er jedenfalls nichts. Trolle allerdings auch nicht.

Algea kehrte zurück und stellte zwei große, dampfende Platten vor Thor und Loki ab. Der Jote musterte das Gericht eindringlich und versuchte herauszubekommen, was genau ihm da vorgesetzt worden war. Auf jeden Fall sehr viel Grünzeug, das in Jötunheim nicht beheimatet war. Am Tellerrand lag ein großer Kanten fluffigen Brotes und dann war da noch etwas, das zumindest wie Fleisch aussah, und in einer cremigen, rosafarbenen Soße ertränkt worden war. Während Loki noch auf sein Mahl starrte, horchte Algea Thor aus: „Es ist ja so schön, dich wiederzusehen! Bist du auf der Durchreise?“

Thor schüttelte den Kopf. „Ich hole einen alten Freund ab und führe einen neuen herum.“

Ja, deshalb waren sie hier: um einen Freund von Thor abzuholen. Loki musste sich ein Seufzen verkneifen. Er hatte sich daran gewöhnt, einen Reisegefährten zu haben. Das würde nun ein jähes Ende haben.

„Ah, dann hoffe ich doch sehr, dass ihm unsere Stadt gefällt“, rief die ältere Frau aus und klatschte in die Hände. Loki brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er gemeint war. „Ja, sehr!“, sagte er schnell. „Wahrlich schön! Wobei ich noch nicht allzu viel gesehen habe.“

„Oh, dann musst du unbedingt unsere Bibliothek besichtigen!“, meinte Algea entzückt. „Eine Schönheit voller Wissen, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Auch wenn dein kräftiger Freund hier sie gern meidet.“

Thor schlug sich grummelnd eine Hand über die Augen. Die Frau lachte und ging wieder davon, um für ihre Gäste Getränke zu holen. Loki schaute hoffnungsvoll zu Thor hinüber, der seine Gedanken zu lesen schien. „Ja, ja“, brummte der Ase. „Wir müssen da sowieso hin. Es ist der einzige Ort, an dem wir Hönir finden werden.“

Loki lächelte breit. Er liebte Bücher. Er liebte es, Neues zu lernen. Für ihn waren geschriebene Worte Wege in andere Welten. Etwas, das er sich bis vor Kurzem immer nur hatte vorstellen können. Er griff zur Gabel und stocherte probehalber im Fleisch herum. Es war so zart, das es sofort zerfiel. Es dauerte nicht lange, da war Lokis Teller blitzblank leer gefuttert. Thor hatte nicht untertrieben. Loki hatte keine Ahnung, was genau er da gegessen hatte, aber es war das Köstlichste gewesen, dass ihm je auf die Zunge gekommen war. Leider grummelte sein Magen noch immer. Aus Jötunheim war er eine deftigere und gehaltvollere Nahrung gewohnt. Thor sah ihn mit großen Augen an und brach dann in Gelächter aus. „Freund Loki, wenn du mehr verträgst als ich, musst du wirklich am Verhungern sein …“ Thor drehte sich zur Bedienung und hob eine Hand. „Noch eine doppelte Portion für meinen Freund!“, rief er und Loki wollte in seinem Stuhl versinken.

Schon wenige Momente später kam die ältere Frau mit einer zweiten Platte für Loki wieder. „Ich habe noch nie jemanden getroffen, der mehr als unser Thor essen kann. Ihr Asen seid alles verschlingende Löcher!“, scherzte sie.

„Ich bin kein … Ase“, meinte Loki kleinlaut, doch die Frau war schon wieder davongerauscht. Auch Thor schien ihn nicht gehört zu haben. Der Ase räusperte sich. „Du, Loki … Heute morgen …“ Er krümmte die Hände und zog eine Fratze, um den Troll nachzuäffen. „Was genau war das?“

Loki schluckte schwer. Die Augen nahm er nicht von seinem Teller. Er hatte schon den ganzen Tag auf die Frage gewartet. „Ich bin Gestaltwandler“, gestand er leise.

„Donnerwetter!“, rief Thor beeindruckt. „Meine Stiefmutter hat einen Umhang, mit dem sie sich in einen Falken verwandeln kann.“

Überrascht sah Loki auf. „Ich brauche dazu keine magischen Gegenstände.“

Thor stieß einen staunenden Pfiff auf. „Und du kannst dich in alles verwandeln?“

Langsam nickte Loki. „Ich denke schon. – Du, mein Essen wird kalt.“

Thor brannte Frage um Frage auf der Zunge, doch er hielt sie zurück.

***

Sämtliche Worte schienen bereits gestorben, bevor sie Lokis Stimmbänder erreichen konnten. Mit offenem Mund starrte der Jote gen Himmel. Einige mochten es eine Bibliothek nennen, er nannte es ein von Büchern bewohntes Schloss.

„Grandios, was?“ Thor stemmte die Hände in die Taille und beobachtete grinsend seinen sprachlosen Wegbegleiter. Loki brachte lediglich ein Nicken zustande. Grandios war kein Ausdruck. Er fragte sich, wie lange er wohl bräuchte, den Bau zu umrunden. Vermutlich ewig, weil er permanent stehen bliebe, um sich an der Fassade sattzusehen. Sie bestand aus dem glattesten Stein, den er je gesehen hatte, und sah beinah wie poliertes Fichtenholz aus. Die vielen Fenster glitzerten wie kleine Bergseen, während aus ihren Fassungen delikat gemeißelte Blumen blühten. Weit oben unter dem Geison schauten die unterschiedlichsten Grinköpfe auf Thor und Loki herab. Von Kaninchen mit Hauern über gehörnte Alfen bis zu feixenden Lindwürmern war alles dabei. Das Dach darüber war mit kupfernen Platten bedeckt. Ein wenig wie eckige Schuppen auf einem Fisch. Von weitem hatte Loki bereits die vielen Türmchen darauf bewundert, die wie Pilze aus dem Waldboden sprossen. Auch hatte er Glaskuppeln entdeckt. Vielleicht konnte man das Dach an einigen Stellen betreten? Man könnte sich unter eine der Kuppeln stellen wie unter ein muschelförmiges Zelt.

„Starren wir die Bibliothek jetzt bis zum Sonnenuntergang an oder gehen wir rein?“, fragte Thor belustigt. Loki sah ihn leicht benommen an. Als hätte er geschlafen und müsste sich erst von einem Traum befreien. „Rein“, entschied er. Schmunzelnd packte Thor ihn am Arm und schleifte ihn die gewaltigen, geschwungen Treppen zum Eingangsportal hinauf. Loki war ganz froh, dass Thor ihn festhielt. Sonst wäre er wahrscheinlich mehrmals gestürzt. Sein Blick galt nicht den Stufen zu seinen Füßen. Das Treppengeländer ähnelte gefrorenen, verflochtenen Ranken und Loki war sich fast sicher, dass vor dem Eingang keine Säulen, sondern in Bronze gegossene Bäume aufragten. Das Portal selbst war offen, es gab kein Türblatt darin und statt eines Giebels bildeten filigrane Kreuzrippen ein gestapeltes Spinnennetz. Der Boden unter Lokis Füßen verschwand. Sein Arm wurde nach oben gerissen, der Rest seines Körpers fiel.

„Hoppala“, sagte Thor. Er sah auf Loki herunter, während er ihn am Arm gerade so hoch hielt, dass dessen Knie nicht auf dem Boden aufschlugen. Loki war doch noch gestolpert.

„Fällst du eigentlich auch so oft, wenn ich nicht da bin, um dich aufzufangen?“, fragte Thor fröhlich. Damit er nicht sah, wie sein Gesicht feuerrot anlief, stierte Loki zu Boden.

„Da brauchst du jetzt nicht mehr hinschauen“, gluckste Thor. Loki vergrub das Antlitz in seinem freien Arm, während Thor ihn wieder auf die Füße zog und an den Schultern durch das Portal steuerte. Womöglich hatte er Angst, Loki würde andernfalls gegen die Porträtrahmung laufen.

Der Jote nahm den Arm erst von seinen Augen, als er ein Räuspern vernahm und Thor mit ihm stehenblieb. Schlagartig verdunkelte sich Lokis Stimmung. Auf sich aufmerksam gemacht hatte ein Mann, der Thor freudig anstrahlte. Viel zu freudig, um nur ein höflicher Fremder zu sein. Er war noch schmaler als Loki und einiges kleiner. Braune Locken verwilderten seinen Kopf. Über eine schmale Brille hinweg schauten tiefsinnige Augen, die waldgrün und erdbraun gefleckt waren. Zwischen den Bartstoppeln hing ein Lächeln, das dem ersten Sonnenstrahl glich, der sich morgens durch die Bäume schob. Loki hätte von ihm angetan sein können, hätte er nicht bereits beschlossen, ihn zu hassen. Thor schloss den Mann in seine Arme. Lokis Magen zog sich zusammen. Neid zwickte ihn ins Herz. Das hätte er auch gern: jemand, der ihn so anlächelte, ihn so umarmte.

Der Mann drehte sich zu ihm. „Mein Name ist Hönir Kyrreson“, sagte er und deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an. Er schien einiges reservierter als Thor zu sein. Zumindest anderen gegenüber. Loki nickte ihm lediglich zu und versuchte, seinen Gram nicht zu sehr herausstechen zu lassen.

„Sei nicht so schüchtern, Loki!“, lachte Thor. „Hönir, das ist Loki Laufeyson. Ich glaube, er ist genauso ein Bücherdrache wie du.“

Plötzlich blühte Hönir geradezu auf. „Oh, das ist ja zauberhaft!“, rief er. Loki war konfus darüber, wie schnell sich das Blatt gewendet hatte. Hönir hob eine Hand in den Rücken des Joten, ohne ihn jedoch wirklich zu berühren, und führte ihn durch die Eingangshalle in den Hauptsaal der Bibliothek. „Ich muss dir unbedingt meine Lieblingsausgabe über magische Heilkräuter Alfheims zeigen.“

Loki hörte nur mit halbem Ohr hin. Der Anblick des Büchersaals wehte all seine düsteren Gefühle fort. Unter die Decke des Saals hätte jeder noch so große Riese gepasst, ohne den Kopf einziehen zu müssen. Nur die einzelnen Gänge wären eventuell zu eng gewesen. Loki fand es ausnahmsweise äußerst praktisch, so klein zu sein. Die deckenhohen Bücherregale aus weißem Holz waren mit allerlei kunstvollen, phantastischen Schnitzereien verziert und vor ihnen standen ebenso dekorative Leitern, die sich teilweise von selbst bewegten. Soweit Loki es beurteilen konnte, war jeder Gegenstand der Bibliothek ein Unikat. Natürlich eingenommen der Bücher. Es gab sonnenblumenhohe und kieselsteinkleine, Handschriften und gedruckte, in Leinen, Blätter, Leder oder Papier gebundene. Es gab sie in allen Farben. Es gab neue und welche, bei denen Loki Angst hatte, ein Lufthauch würde sie aus Altersschwäche zu Staub vergehen lassen.

„Loki?“

„Hmm?“, summte er, während er versuchte, sich von den Büchern loszureißen.

„Kannst du Altalfisch?“, fragte Hönir. Traurig schüttelte Loki den Kopf. Er hoffte, dass nicht all die schönen Schriften in Altalfisch verfasst waren.

„Ach, das lässt sich leicht erklären“, winkte Hönir ab. „Wie sieht es generell mit Alfisch aus?“

Loki biss sich auf die Unterlippe. Wieder schüttelte er den Kopf. Er kam sich auf einmal äußerst dumm vor. Dabei entging ihm, wie unsicher Hönir selbst gerade wurde.

„Würdest du … Nun ja, möchtest du es vielleicht lernen?“

Vorsichtig nickte Loki. Er war sich nicht ganz sicher, ob Hönir gerade anbot, ihm neue Sprachen beizubringen. Aber der Ase verfiel wieder in seine vorherige Begeisterung. Diesmal packte er Loki richtig am Arm, um ihn durch dir Gänge zu lotsen. „Thor?“, rief er über seine Schulter. „Da drüben gibt es hübsche Bilder mit Waldnymphen. Wir sehen uns … später.“

Loki hörte Thor stöhnen und warf ihm noch schnell ein entschuldigendes, aber nicht wirklich reumütiges Lächeln zu. Mit dem nächsten Wimpernschlag zerrte Hönir ihn bereits außer Sichtweite.

„Finden wir ihn hier drin denn wieder?“, fragte Loki leicht besorgt.

„Thor entfernt sich nicht zu weit“, erklärte Hönir. „Wenn er mal liest, dann nur Epen über vergangene Schlachten, oder Handwerkslexika. Außerdem kenne ich diese Bibliothek wie meine eigene Augenhöhle. Die meisten Bibliotheken, ehrlich gesagt.“

„Ich dachte, ihr Asen wärt so ein glorreiches Kriegervölkchen“, überlegte Loki laut. Schnell biss er sich auf die Zunge. Er befürchtete, dass der Ase nach seiner Heimat fragen und ihm dann nicht mehr seine Lieblingsedition über magische Heilpflanzen zeigen wollen würde.

Hönir warf ihm einen neugierigen Blick zu. Loki ließ den Kopf hängen und murmelte: „Ich komme aus Jötunheim.“ Weshalb bloß konnte er seine Zunge heute nicht zügeln? Ihm wurde die Schulter getätschelt und er sah wieder auf.

„Weiß ich doch“, sagte Hönir. „Dein nicht ganz unüblicher Muttername macht das irgendwie offensichtlich.“

„Thor ist das nicht aufgefallen, dass der Name typisch für Jötunheim ist.“

„Thor! Vor Thor könnte eine kleinwüchsige Person mit knielangem Bart stehen, sich als Dwali Schmied vorstellen und er würde nicht annehmen, der Kerl käme aus Svartalfheim.“ Hönir seufzte. „Thor ist ein Trottel. Ein liebenswerter, großartiger, immer hilfsbereiter und loyaler Schatz von Trottel, aber halt eben … Du weißt, wie ich das meine, oder?“

Zumindest glaubte Loki zu verstehen, wie Hönir es meinte.

Abrupt blieb der Ase stehen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und zog einen dicken Schmöker aus dem Regal. „Das ist mein Lieblingsbuch. Also mein Lieblingsbuch über Heilpflanzen. Ein einziges Lieblingsbuch zu wählen, wäre wohl unmöglich.“

Fasziniert streckte Loki die Hand nach dem Buch aus. Seine Fingerspitzen schwebten eine Linie über dem leinenen Einband. Bilder von verschiedenen Blüten und Kräutern waren in den Stoff gedrückt. Den Titel konnte er nicht lesen. Er hatte nicht gewusst, dass im Alfischen auch andere Schriftzeichen benutzt wurden. Hönir klemmte sich das Buch unter einen Arm, den anderen streckte er aus. Von einem Regalbrett den Gang hinunter, weit über ihren Köpfen, sauste ein schmaleres Buch durch die Luft direkt in Hönirs Hand.

„Du … Du kannst zaubern“, stellte Loki fest. Er war baff.

„Immerhin soviel, wie man aus Büchern lernen kann. Obwohl Odin Borson mir einmal Nachhilfe gegeben hat.“

„Der Odin Borson? Der König von Asgard?“

Lächelnd blickte Hönir ihn über seine Brillenränder hinweg an. „Asgard wird von keinem König regiert“, erklärte er. „Aber ja, der Odin Borson. Thors Vater. Gibt es noch andere Odins in Asgard?“

Loki blinzelte.

„Hat Thor nicht erwähnt, was?“

„Nicht wirklich.“

Hönirs Lächeln wurde sanftmütig. „Verüble es ihm nicht. Wenn jemand wie Odin dein Vater ist, dann sind die Erwartungen an dich hoch. Manchmal hilft es, die eigene Herkunft zu verschweigen, um sich selbst zu beweisen, dass man auch jemand ist.“

Hönir sah ihn dermaßen wissend an, dass Loki beschämt zur Seite sah. Zügig drängte er die Erinnerungen an sein Zuhause beiseite und hob seine Hand mit der Innenfläche nach oben. Ein kleines, grünliches Licht flackerte darüber ins Leben. Loki ließ es einen Moment lang funkeln, dann erlosch es.

„Na, da versteht ja noch jemand etwas von Magie“, schmunzelte Hönir. Seine Augen funkelten, als hätte ein Kind einen Schokoladenkuchen vor sich.

„Ich verstehe nichts davon“, erwiderte Loki. „Das ist nur Intuition.“

„Du hast dir das selbst beigebracht?“, staunte Hönir. Er fragte sich, was Loki – nebst grünen Lämpchen – sonst noch konnte.

Der Jote nickte. „In meinem Dorf waren sie da nicht so … aufgeschlossen.“

„Aufgeschlossen?“, zischte Hönir plötzlich erzürnt. Er drückte die Bücher enger an seinen Körper. „Magie ist uralt, unser aller Anfang. Das ist nichts Neumodernes, das man vielleicht tolerieren könnte, wenn man denn Lust dazu hat.“

„Sag das meinen Eltern und Nachbarn.“ Loki schrak zusammen, als er bemerkte, was ihm da herausgerutscht war. Die Augen des Asen bohrten sich in ihn, als könnten sie geradewegs in die Tiefen seines Bewusstseins blicken. „Alfisch! Du wolltest mir Bücher zeigen … auf Alfisch“, versuchte Loki abzulenken. Es klappte nicht, aber Hönir tat ihm den Gefallen, trotzdem darauf einzugehen. Der brünette Mann hob das Buch, das ihm kurz zuvor in die Hand geflogen war. „Das ist ein gutes Buch, um Alfisch lesen zu lernen. Es ist extra für Sprachanfänger. Wenn du irgendwann mit Alfisch klarkommst, können wir zum Altalfischen übergehen.“

Loki wurde merkwürdig warm in der Brust, als Hönir irgendwann sagte.

Später, tief in der Nacht, fanden sie Thor schließlich schnarchend in einer Leseecke. Er lag quer über einer halbrunden Bank, die so dick gepolstert war, dass sie gemütlicher aussah als die Betten in der Pension, in der sie sich eingemietet hatten. Sein linker Arm hing hinunter auf einen weichen Teppichboden. Über der Szenerie bildeten verzweigte Äste, die aus den umstehenden Bücherregalen wuchsen, einen Baldachin, in dem winzige Lichtkugeln warmes Dämmerlicht verströmten. An Thors Stelle wäre Loki hier auch eingeschlafen.

„Oh, ich hasse das“, merkte Hönir an. „Wir hätten nicht so lange machen dürfen.“

Loki sah zwischen ihm und seinem weggetretenen Kumpan hin und her. „Was genau hasst du?“

„Hast du schon mal versucht, Thor zu wecken? Du kannst ihm ein Messer in die Brust rammen und wirst ihn nicht wach bekommen.“

„Müssen wir ihn denn wecken? Er sieht so friedlich aus.“

Hönir beäugte ihn aus dem Augenwinkel. „Eine Beschreibung meines Freundes, die man nicht allzu häufig hört. Du scheinst ihn schon gut zu kennen.“

Loki wich seinem Blick aus.

***

„Erklär mir noch einmal, weshalb wir nicht das Portal bei Lysmossa benutzen können“, bat Hönir. Nachdem sie Loki den Rest Brannliljes gezeigt hatten und ein zweites Mal einkaufen gewesen waren – denn Hönir hatte auf eine anständige Reiseausrüstung bestanden – hatten sie die Stadt auf der anderen Seite verlassen und gingen in einen tieferen Wald hinein.

„Lysmossa?“, piepste Loki.

„Die nächste Großstadt“, meinte Hönir. Seine Stimme wurde lauter, sodass Thor, der vor ihnen lief, ihn deutlich hören musste. „Und der absolut kürzeste Weg nach Asgard.“

Thor drehte sich um und stemmte die Fäuste in die Taille. Rückwärts weitergehend erwiderte er: „Ich will Loki halt noch ein bisschen was von Alfheim zeigen.“

„Ach so!“, höhnte Hönir. „Na, wenn das so ist, zeig ihm noch mehr Wälder. Die sind natürlich interessanter als Lysmossa.“

Thor richtete einen Zeigefinger auf ihn. „Und du musst mal nach draußen an die frische Luft. Wie viele Wochen hast du da zwischen den verstaubten Bücher gesessen?“

Geschlagen presste Hönir die Lippen aufeinander.

„Siehst du?“ Mit einen triumphierenden Lächeln wandte Thor sich wieder nach vorn. „Wir nehmen das Portal bei Odon.“

„Freu dich auf einen Drei-Wochen-Marsch“, wisperte Hönir Loki zu.

Das Herz des Joten machte einen glücklichen Hüpfer.

„Wenn uns keine Trolle auflauern. Oder Feen.“

„Sind Feen nichts Gutes?“, wunderte Loki sich. Er kannte nicht viele Geschichten über diese Kreaturen. In Jötunheim gab es sie nicht.

Hönir riss die Augen auf. „Feen sind hinterhältige, blutrünstige Biester. Sie haben kleine, spitze Zähne, mit denen -“

„Sie dir in den Hintern beißen, wenn du mir weiter die Laune verhagelst“, grätschte Thor in die Erklärung hinein. Er verlangsamte sein Tempo, sodass er wieder mit seinen Begleitern auf gleicher Höhe ging.

„Liegen alle Portale in Alfheim bei Städten?“, fragte Loki, um von Alfheims anscheinend grausigen Waldbewohnern abzulenken. Diese Frage hatte er eh stellen wollen. Bei ihm Zuhause lagen Portale geradezu willkürlich in der Wildnis verstreut.

„Andersherum“, meinte Thor. „Die Städte liegen bei Portalen.“

Hönir nickte zustimmend. „In Urzeiten haben die Alfen diese Orte als magische oder gar heilige Stätten verehrt. Deshalb schlugen sie dort ihre Lager auf.“

„Wie ist das in Jötunheim?“, wollte Thor wissen.

„Wesentlich praktischer veranlagt“, antwortete Loki. „Die Joten haben sich immer dort angesiedelt, wo es einen Quell und die meiste Nahrung gab.“

„Ergibt Sinn“, murmelte Thor und kratzte sich am Bart. Die Bäume wurden dichter. Der Weg, dem sie bisher gefolgt waren, drohte, sich zu verlaufen. „Führt der ganze Weg nach Odon durchs Indieglut?“, erkundigte Loki sich und hüpfte über eine dicke Wurzel.

„Durchs was?“, fragte Hönir.

„Indieglut“, wiederholte Loki.

„Er meint den Wald; das ist so ein Idiom der Riesen“, erklärte Thor, sichtlich stolz, dass er mehr als Hönir wusste.

„Oh! So, wie die Alfen Schönverzweigt sagen?“

„Oder wir Asen Haar der Berge.“

„Klingt umständlich“, meinte Loki. „Was ist nun mit dem Weg?“

„Na, größtenteils durch den Wald, vielleicht zwei, zweieinhalb Wochen insgesamt“, schätzte Thor. Neben ihm grummelte Hönir etwas über einen vermaledeiten Naturburschen.

„Woher kennt ihr euch eigentlich?“, wollte Loki wissen. Seine beiden Begleiter kamen ihm bisher recht unterschiedlich vor. Ein verschmitztes Lächeln umspielte Hönirs Lippen. „Ich war sein Nachhilfelehrer, da ging er mir gerade bis zur Brust.“

Thor verdrehte die Augen. Loki war die Verwirrung ins Gesicht gestempelt.

„Ich bin älter als ich aussehe“, meinte Hönir zwinkernd. „Ist so eine asgardische Sache.“

Mehr bekam Loki vorerst nicht aus Hönir herausgekitzelt. Dafür begann Thor aufzuzählen, wie viele Trolle er in Alfheim schon erledigt hatte. Als es dunkler wurde, die Vögel stummer, das Knirschen von Blättern und Zweigen unter ihren Sohlen lauter und die Luft sich langsam abkühlte, berichtete er Hönir von dem Steintroll.

„Gestaltwandler bist du auch noch?“, fragte der brünette Mann. Loki wich seinem Blick aus und sah stattdessen in die Äste der umstehenden Laubbäume.

„Ist dir Gestaltwandeln unangenehm?“

War es nicht, die Frage allerdings schon.

***

Es blieben noch ein, vielleicht zwei Tage, bis sie in Odon ankommen würden. Dann blieben noch ein, vielleicht zwei Tage, die sie in der Stadt verbrächten. Loki wollte nicht daran denken. Er genoss die Zeit mit Thor zu sehr, um einem baldigen Ende entgegenzusehen, und auch an Hönir hatte er sich gewöhnt. Es war ein Fluch, Freunde zu haben. Immerhin war Thor so gnädig, ihn permanent von seinen trüben Gedanken abzulenken. Sie hatten ein Lagerfeuer entfacht, gegessen und nun erzählte Thor, während er schnitzte, Geschichten aus anderen Welten. Loki wusste ja, dass Thor viel und gerne erzählte, doch heute waren seinen Erzählungen anders – magischer, sagenhafter. Vielleicht waren es die warmen Flammen, die seinen Worten mehr Leben einhauchten. Vielleicht war es auch Thors konzentrierter, aufs Holz gerichteter Blick, der jeden Satz bedeutsam wirken ließ. Oder es war die schwere Erkenntnis, dass sie in dieser Runde schon bald keine Geschichten mehr tauschen würden, denn auch wenn Thor und Hönir ihn freudig in ihre Mitte nahmen, so blieb Loki doch ein Jote. Und Joten hatten in Asgard nichts verloren. Joten und Asen hatten Feinde zu sein, schon seit dem Anfang der Zeiten. Oder zumindest seit dem Anfang der Welten.

„Habt ihr schon mal gefrorene Drachenflammen gesehen?“, fragte Thor. „Könnt ihr euch den Anblick vorstellen? Es gibt nichts Schöneres. Sie scheinen aus eingefangenen Winterträumen zu bestehen.“

Hönir lächelte sanft. „Ich habe einen Alfen sie wie erstarrte Kindertränen beschreiben hören.“

Thor schüttelte leicht den Kopf. „Winterträume, das sind sie. Winterträume und Eisvogelfedern.“ Er drehte das Stück Holz in seiner Hand um und schnitzte Späne von jener Seite fort. „Vielleicht noch ein Hauch Abendluft.“

„Du bist ja heute ungewohnt poetisch“, sagte Hönir und lehnte sich auf seinen Ellenbogen zurück. Loki sagte nichts. Er wollte mehr von Niflheim und den gefrorenem Atem von verschollenen Drachen hören. Und Thor erzählte weiter: wie er solch eine eisige Drachenflamme gesucht und gefunden hatte, wie er sich mit einem Fürsten der Frostriesen darum hatte streiten müssen und wie ein blauer Fuchs mit Flügeln Thor und den Fürsten überlistet hatte.

Hönirs Augen huschten über Thors Finger, die allmählich ein Tier aus dem Holzscheit lockten, über das schwarze Dickicht, das einschläfernd summte, und über Loki, dessen Blick an Thor klebte und jedem Ton von dessen Lippen so bedächtig lauschte, als wolle er ihn für die Ewigkeit konservieren. Thor schnitzte unbeirrt weiter. Seine Worte verschwammen in Hönirs Ohren. Er dachte über den jungen Joten nach, der sich, ohne es zu bemerken, offensichtlich im Herzen seines Freundes verbissen hatte. Es war ein flüchtiger Moment, fand Hönir, wenn eine Freundschaft entflammte. Wie jede Beziehung musste sie lange Zeit wachsen und gedeihen und sich festigen, doch es gab immer diesen einen Augenblick, in dem die Saat gesetzt wurde. Während er Loki noch immer musterte, wünschte er sich zu wissen, welcher Moment aus Thor und Loki Freunde hatte werden lassen. Meist war er so klein, dass man ihn für absolut unbedeutend hielt.

„Und der Wind, sag ich euch, war so frostig und stark, man hätte auf ihm laufen können“, ging Thor in die nächste Geschichte über. Lokis Augen rissen sich von dem Donnergott los und zuckten zu Hönir herüber. Der Jote lächelte und dieses Lächeln galt ausnahmsweise nicht Thors Worten. Hönir lächelte zurück. Das hier war ihr Moment, begriff er. Dieses flüchtige Lächeln, das war für Hönir der Beginn einer neuen Freundschaft. Jetzt betrachtete er den Abend und die kommenden Tage nicht nur gutmütig, er freute sich richtig darüber. Eine Freundschaft war so ein unschätzbares Ding.

„Fast fertig!“, rief Thor plötzlich. Stolz hielt er seine Schnitzerei in die Höhe. Loki betrachtete die kleine Holzfigur staunend. Es war ein Fuchs und er sah so echt aus, als könnte er jeden Moment hinter einer Maus her springen. Nur eines seiner Ohren war noch etwas klobig. Thor setzte das Messer erneut an und machte sich daran, es in Form zu bringen.

„Ich glaube“, sagte Hönir, „jetzt dürftest du jedes Waldtier wenigstens einmal geschnitzt haben.“

„Jedes Waldtier aus welcher Welt?“, fragte Loki.

„Aus jeder, denke ich“, antwortete Hönir.

„Dann werde ich wohl als Nächstes Meerestiere schnitzen“, meinte Thor, streckte Hönir die Zungenspitze heraus und achtete nicht darauf, wo sein Messer landete. Er stieß ein dunkles Quietschen aus und steckte sich einen Finger zwischen die Lippen. Sein Messer rutschte ins Gras. Über das Gesicht des Fuchses lief ein fetter Blutstropfen und versank langsam im Holz. Thors Miene wurde knittrig. „Zum Donner!“, stieß er, immer noch mit dem Finger im Mund, aus. „Jetzt ist alles ruiniert.“

Loki nahm ihm die Figur ab. „Ich finde sie trotzdem sehr schön.“

„Dann behalte sie“, meinte Thor und betrachtete seinen verletzten Finger im Feuerschein.

„Wirklich?“, hakte Loki nach.

„Aber ja.“

Behutsam presste er den Holzfuchs gegen seine Brust. Hönir legte den Kopf schief. Wer Thor kannte, wusste, dass dieser oft Schnitzereien verschenkte, vor allem an Kinder. Es war eine kleine Alltäglichkeit, die für Loki jedoch noch etwas Besonderes war. Thor begriff gar nicht, wie sehr er den kleinen Joten berührte.