Rätselhafte Ereignisse in Perfect (Band 3) - Wächter der Freiheit - Helena Duggan - E-Book

Rätselhafte Ereignisse in Perfect (Band 3) - Wächter der Freiheit E-Book

Helena Duggan

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Beschreibung

Kennst du die Macht der Fantasie? Violet lebt in der perfekten Stadt. In einer Stadt voller Rätsel und Geheimnisse. Und nur sie allein kann hinter die Fassade blicken! Endlich herrschen wieder Ruhe und Frieden in der idyllischen Kleinstadt Town. Nur Violet hat immer öfter das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Doch niemand außer ihr scheint zu glauben, dass Town in Gefahr schwebt — nicht einmal Boy. Bis die beiden Freunde auf eine grauenhafte Verschwörung stoßen, die ihre Stadt zu vernichten droht. Zudem deckt Violet in letzter Sekunde einen teuflischen Plan auf, der Boy das Leben kosten könnte! Ob sie ihren Freund und Town rechtzeitig retten kann? Band 3 einer stimmungsvollen Mystery-Trilogie rund um rätselhafte Machenschaften. Wer möchte schon in einer Stadt leben, in der alles und jeder perfekt ist? Band 3 einer atmosphärischen und fantastischen Mystery-Trilogie, die durch Abenteuer, Spannung und Witz besticht. Mit viel Charme, einem rätselhaften Mystery-Aspekt und einer starken Heldin werden Kinder ab 10 Jahren in eine düstere Welt entführt. Fantasy trifft Crime, Spannung und Humor. Starke gesellschaftliche Themen wie Individualismus und Überwachung werden in dieser Dystopie hinterfragt und spannend aufbereitet. Für Fans von Roald Dahl, Neil Gaiman und Tim Burton. Düster, packend und fesselnd bis zur letzten Seite! Der Titel ist bei Antolin gelistet.

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Boys Geburtstag

Violet betrachtete die winzige Augenpflanze in dem Glaskasten vor ihr. Sie schauderte, als die Pflanze sich in ihre Richtung drehte und sie direkt anblickte. Die durchscheinenden, hautähnlichen Blütenblätter öffneten und schlossen sich langsam, als würde sie blinzeln, während der dünne Stängel rötlich pulsierte. Das lag daran, dass die Pflanze sich von Blut ernährte.

Auf der linken Seite des Raumes stand Eugene Brown, Violets Dad, in seinem weißen Laborkittel an der Tafel und kritzelte sie mit komplizierten mathematischen Formeln voll. Er war von einer richtigen Wolke aus Kreidestaub umgeben. Violets bester Freund Boy saß an dem großen Stahltisch in der Mitte und kratzte sich am Kopf. Er kämpfte sichtlich mit den Hausaufgaben, die Mrs Moody ihnen aufgegeben hatte. So kurz nach den Sommerferien fiel es ihm schwer, wieder in den Schultrott zurückzufinden. Und das Arbeitspensum, das Mrs Moody ihnen aufbrummte, half da auch nicht gerade.

Violet, ihr Dad und Boy befanden sich im Keller von Archer & Brown, dem Augenoptiker von Town. Der Keller war inzwischen deutlich gemütlicher als früher. Damals, als das Geschäft noch Ocularium hieß und Boys fiesen Onkeln Edward und George gehörte, hatten im Keller die Hüter, ihre brutalen Handlanger, gehaust. Doch nun hatte Eugene hier unten sein Labor eingerichtet. Bunte Flickenteppiche bedeckten die Steinfliesen, an den Wänden hingen Bilder und ein großer alter Kamin, den sie beim Ausmisten hinter all dem Gerümpel entdeckt hatten, sorgte für Wärme. Ach ja, und dann waren da noch die Augenpflanzen in ihren Glaskästen, die überall auf den Arbeitsflächen aus rostfreiem Stahl herumstanden.

Wegen der Augenpflanzen war Violets Familie seinerzeit nach Town gekommen, das damals noch Perfect hieß. Edward und George Archer hatten in der Fachzeitschrift Auge um Auge von Eugenes Forschung gelesen und ihn angeworben, um die Pflanzen für ihre eigenen grausigen Zwecke zu missbrauchen. Nachdem Violet und Boy sie gestoppt hatten, waren die Pflanzen eine Weile als Sicherheitssystem für Town eingesetzt worden, doch nun hatte Eugene beschlossen, sie endlich so zu nutzen, wie er es die ganze Zeit vorgehabt hatte. Vor Kurzem hatte er dafür sogar Geld von einer Universität erhalten. Seither arbeitete er rund um die Uhr daran, die Pflanzen so weiterzuentwickeln, dass sie blinden Menschen zum Sehen verhelfen konnten.

Violets Mam Rose war früher eine erfolgreiche Buchhalterin gewesen, hatte ihren Beruf jedoch aufgegeben, nachdem die Archer-Zwillinge ihr die Fantasie geraubt hatten. Nun, da Eugene sich ganz der Forschung widmete, war sie für ihn eingesprungen und führte das Optikergeschäft zusammen mit Boys Vater William weiter. So glücklich hatte Violet ihre Mutter schon lange nicht mehr gesehen.

»Ich find die immer noch gruselig«, flüsterte Violet. Durch die Wände des Glaskastens hindurch sah Boy, der gerade auf seinem Bleistift herumkaute, total verzerrt aus. Violet hatte ihre Hausaufgaben schon vor Ewigkeiten erledigt und wartete gelangweilt, dass Boy auch endlich fertig wurde.

»Sie sind nicht gruselig, Violet«, stellte ihr Dad klar. Er musterte sie durch einen Schleier aus Kreidestaub. »Diese kleinen Schönheiten werden eines Tages vielen Menschen helfen! Ist das nicht großartig?«

Violet wusste, dass er recht hatte. Klar würden die Dinger irgendwann Menschen helfen. Immerhin war ihr Dad ein brillanter Wissenschaftler, das bekam sie ständig von allen Seiten zu hören. Aber das hieß nicht, dass die Pflanzen nicht trotzdem eklig waren. Ihr jedenfalls lief bei ihrem Anblick immer noch jedes Mal ein Schauer über den Rücken.

»Ich weiß.« Sie drehte sich zu ihrem Dad um. »Aber warum kannst du nicht mit etwas weniger Fiesem experimentieren? Mittel gegen Haarausfall zum Beispiel. Oder vielleicht Ohren?«

»O ja, das klingt wirklich zauberhaft, Violet. Ein Feld voller Ohrenpflanzen – stell dir das mal vor!«, warf Boy grinsend ein.

Damit bezog er sich auf das Feld am anderen Flussufer, kurz hinter der Fußgängerbrücke. Eugene Brown benötigte Platz, um seine Pflanzen heranzuziehen, deshalb hatte der Stadtrat ihm die Fläche zwischen Town und der Geistersiedlung zugesprochen. Die wurde sowieso nicht genutzt.

»Wieso höre ich euch reden?« Rose Brown kam die steinerne Wendeltreppe herab. »Solltest du nicht eigentlich deine Hausaufgaben machen, statt deinen Vater bei der Arbeit zu stören, Violet?«

»Ich bin längst fertig!«, maulte Violet, während ihre Mam eine Ausgabe der Town Tribune neben Boy auf den Tisch legte.

»Sehr schön, Mäuschen.« Rose zog Violets aufgeschlagenes Heft zu sich und überflog, was sie geschrieben hatte. »Vielleicht bringt dir das diesmal ein Lächeln von Mrs Moody ein!«

Mrs Moody war Violets Lehrerin. Sie lächelte nie.

»Das wär ja mal ein echtes Wunder, Mam«, schnaubte Violet und ließ sich in den gelben Sessel am Kamin plumpsen.

Seit die Schule wieder angefangen hatte, kamen Violet und Boy jeden Tag hierher, um ihre Hausaufgaben zu machen. Archer & Brown lag direkt auf dem Weg, sodass sie im Nu dort waren und keiner von ihnen den Nachmittag allein verbringen musste. Violet war noch nie gern allein zu Hause gewesen – bei jedem noch so kleinen Geräusch malte sie sich sofort die wildesten Sachen aus. Boy hingegen machte es normalerweise nichts aus, für sich zu sein. Doch seit seine Mam gestorben war, wollte er nur zu Hause sein, wenn William auch da war. Und weil William in letzter Zeit so viel arbeitete, hatte Boy praktisch die gesamten Sommerferien bei Violet verbracht. Violets Mam meinte, dass Boys Dad sich mit der ganzen Arbeit abzulenken versuchte. Das hatte sie zwar nicht laut gesagt, aber Violet hatte es trotzdem gehört.

Normalerweise saßen die beiden im Keller an dem großen Stahltisch, machten Hausaufgaben oder lernten. Wenn sie fertig waren, gab ihnen Eugene manchmal etwas Geld und sie rannten schnell in die Konditorei in der George’s Road, um sich vor Ladenschluss noch ein paar Zimtbrötchen zu holen.

»Scheint, als hätte Marjory Blot den gleichen Riecher für eine gute Story wie Robert. Muss in der Familie liegen«, bemerkte Eugene, als sein Blick auf die aufgeschlagene Ausgabe der Tribune fiel.

Robert Blot, Marjorys Bruder, war der ehemalige Herausgeber der Lokalzeitung. Er hatte seinen Posten aufgegeben, als ihm ein Platz im Stadtrat angeboten worden war. Nun schrieb seine Schwester die Artikel. Violet hatte schon öfter beobachtet, wie sie mit einer dunklen Sonnenbrille auf der Nase in Town herumschlich, als sei sie eine Art Undercover-Agentin. Was ein bisschen absurd war, denn ihre weiße Lockenmähne erkannte sowieso jeder auf Anhieb.

»Worum geht’s?« Rose sah von Violets Heft auf.

»Um den verschwundenen Wissenschaftler. Der, von dem ich dir erzählt habe, Dr. Joseph Bohr. Marjory hat einen Artikel über ihn geschrieben. Die ganze Angelegenheit ist wirklich merkwürdig – hier steht, dass er mitten in der Nacht aus seinem Haus entführt wurde.«

»Oh! Den hat Iris gekannt!«, rief Boy aufgeregt. Er war offensichtlich froh über die Ablenkung. »Das hat sie Dad neulich erzählt. Ich glaub, sie hat mal mit ihm zusammengearbeitet oder so. Muss aber schon ’ne Million Jahre her sein.«

»So alt ist deine Großmutter nun auch wieder nicht, Boy!« Rose lachte.

»Dann hatte Iris ja ein paar einflussreiche Freunde.« Eugene schüttelte anerkennend den Kopf. »Dr. Bohr ist einer der größten Denker der Welt, auch wenn er bereits seit Jahren im Ruhestand ist. Ich glaube, ich muss mal mit deiner Großmutter reden – bestimmt hat sie hochinteressante Dinge über ihn zu erzählen. Ein faszinierender Mann mit einem faszinierenden Geist!«

»Du hast ein paar Fragen ausgelassen, Violet.« Rose wies auf die Heftseite vor ihr.

»Nein, hab ich nicht!«, protestierte Violet und kam zum Tisch. Sie errötete, als ihre Mutter ihr schweigend die betreffende Stelle im Buch zeigte. »Das liegt an dem Raum hier, Mam. Die Augen machen mich wahnsinnig. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn sie mich die ganze Zeit anstarren!«, schimpfte sie.

»Das ist eine lahme Ausrede, Mäuschen«, erwiderte Rose. »Nun mach schon, sonst schreibt dir Mrs Moody wieder einen Tadel ins Hausaufgabenheft.«

Genervt setzte Violet sich neben Boy an den Tisch und zog ihr Buch heran, um sich die fehlenden Aufgaben durchzulesen.

»Die Augen sind schuld!«, spottete Boy leise, als Rose zurück nach oben gegangen war.

»Haha, sehr lustig.« Violet warf ihrem Freund einen bösen Blick zu.

»Ich dachte, du hättest vor gar nichts Angst?«, fuhr er fort.

»Hab ich auch nicht!«, versicherte sie, während sie versuchte, die Lösung aufzuschreiben.

»Und was ist mit den Augenpflanzen?« Er grinste.

»Die machen mir keine Angst, Boy, ich finde sie einfach nur gruselig. Weil sie supereklig sind!«

»Also, für mich siehst du ehrlich gesagt ziemlich ängstlich aus!«

»Bin ich aber nicht!«, fauchte sie aufgebracht. Sie griff nach ihrem Radiergummi, um einen Fehler zu korrigieren.

»Na, wenn das so ist, dann beweis es! Ich wette, du traust dich nicht, heute Nacht aufs Augenpflanzenfeld zu gehen!«, flüsterte Boy.

Violet hielt mitten in der Bewegung inne. Sie blickte sich verstohlen um und vergewisserte sich, dass ihr Vater nichts von ihrer Unterhaltung mitbekommen hatte. »Die ganze Nacht?«

»Nein, nur … sagen wir, fünfzehn Minuten. Ich wette, du traust dich nicht, heute Nacht fünfzehn Minuten allein im Augenpflanzenfeld zu sitzen.« Boy grinste. »Betrachte es als verfrühtes Geburtstagsgeschenk! Du fragst doch ständig, was ich mir wünsche!«

»Du wünschst dir also zum Geburtstag, dass ich auf einem Feld rumsitze? Das ist kein richtiges Geschenk!« Violets Wangen glühten.

»Nicht irgendein Feld, Violet.« Boy riss die dunklen Augen auf und sagte mit seiner unheimlichsten Stimme: »Das AUGENPFLANZENFELD.« Seine Stimme nahm wieder ihren gewohnten Tonfall an. »Dein Gesichtsausdruck wird das beste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten!«

Boys dreizehnter Geburtstag war in ein paar Tagen und Violet zerbrach sich schon seit Wochen den Kopf darüber, was sie ihm schenken sollte. Es war der erste Geburtstag, nachdem seine Mam gestorben war, und sie wollte nicht, dass er deswegen traurig war. Er sollte es so schön wie möglich haben.

Ihr erster Gedanke war gewesen, ihm einen Kuchen zu backen, aber das letzte Mal, als sie das versucht hatte, hätte sie fast die Küche abgefackelt.

Also überlegte sie stattdessen, ihm einen Fußball zu schenken. Oder neue Schuhe? Ein Skateboard? Irgendwie fühlte sich das alles nicht richtig an. Es war einfach nicht besonders genug.

»Was für ein blödes Geschenk – das ist bloß eine Mutprobe und außerdem hab ich eh keine Angst!«

»Dann wird es ja ein Kinderspiel für dich.« Boy lachte und wandte sich wieder seinem Buch zu. »Vergiss nicht, es ist mein Geburtstag – da darf ich mir wünschen, was ich will!«

Violet schäumte stumm vor sich hin. Eine Mutprobe auszuschlagen, war praktisch unmöglich, vor allem, wenn sie von Boy kam.

»Okay«, seufzte sie, während sie ein gummifusseliges Loch in ihr Heft radierte.

Fünfzehn Minuten auf dem Feld waren nun wirklich nicht die Welt – das würde sie bestimmt hinkriegen. Und wenn sie Boy damit sein dämliches Grinsen aus dem Gesicht wischen konnte, war es das allemal wert.

Die Mutprobe

Stocksteif saß Violet inmitten Hunderter schlafender Augenpflanzen. Hinter den durchscheinenden Blütenblättern zuckten die Pupillen unruhig hin und her.

Violet wagte es kaum zu atmen. Sie hatte die Knie an die Brust gezogen und rührte sich nicht, obwohl die Feuchtigkeit des Bodens langsam durch den Stoff ihrer Hose drang. Auf keinen Fall wollte sie die scheußlichen Dinger aufwecken. Die schrillen Schreie, die sie ausstießen, wenn ihnen jemand zu nahe kam, geisterten immer noch oft durch ihre Albträume.

Eigentlich sollte sie jetzt bei der Stadtratssitzung sein, aber sie hatte ihrem Dad weisgemacht, dass sie zu Boy wollte, um dort an einem Schulprojekt zu arbeiten. Die gleiche Lüge hatte Boy William aufgetischt und so waren sie kurz nach Sonnenuntergang zusammen aufgebrochen.

Ihr Freund hatte ihr ein Walkie-Talkie in die Hand gedrückt und aufs andere Flussufer gezeigt.

»Ich beobachte dich.« Seine Miene war ernst. »Du musst fünfzehn Minuten aushalten, sonst gewinne ich.«

»Wieso gewinnen? Das ist eine Mutprobe, Boy, kein Wettbewerb!«

»Ganz genau. Und wenn du aufgibst, habe ich gewonnen!«

Sie zwang sich, nicht darauf einzugehen. Ihre Mam sagte immer, dass sich niemand so leicht provozieren ließ wie sie. Und Violet musste ihr leider recht geben. Sonst würde sie jetzt wohl kaum auf dem Augenpflanzenfeld sitzen. Egal, ob Boy sich das zum Geburtstag wünschte oder nicht.

»Boy … Boy!«, flüsterte sie ins Walkie-Talkie. »Ist die Zeit nicht langsam um? Ich sitze doch mindestens schon fünfzehn Minuten hier!«

Das Knistern des Geräts durchbrach die nächtliche Stille. Violet zuckte zusammen und stopfte es sich hastig unter den Pulli, um das Geräusch zu dämpfen.

»Nein, noch nicht!«, sickerte die Stimme ihres Freundes durch den Stoff.

»Wie lange denn noch?«

»Es sind gerade mal, ähm …« Er zögerte. »… sechs Minuten rum.«

»Red keinen Quatsch! Ich bin schon viel länger hier!«, zischte sie verärgert.

»Machst du dir etwa jetzt schon ins Hemd?«

Violet war sich sicher, Boys höhnisches Kichern zu hören, bevor das Gerät verstummte.

Energisch drückte sie auf den Sprechknopf. »Nein, mach ich nicht!«, fauchte sie.

Die Pflanze neben ihr regte sich. Violet erstarrte. Die Blätter bewegten sich sachte, als wolle die Pflanze es sich gemütlich machen, dann schlief sie wieder ein. Vorsichtig verlagerte Violet das Gewicht, um zumindest etwas bequemer zu sitzen, was jedoch auch nichts half. Innerlich kochte sie vor Wut. Boy schummelte garantiert! Seine Zeitangaben konnten im Leben nicht stimmen.

Ein plötzliches Geräusch ließ sie hochschrecken. Als sie sich danach umdrehte, entdeckte sie, wie jemand die mit Schlaglöchern übersäte Straße entlangschlich, die durch das Augenpflanzenfeld führte. Sie reckte den Kopf, um besser sehen zu können.

Eine schwarz gekleidete Gestalt mit Kapuze huschte durchs Feld. Das konnte nur Boy sein. Er wollte ihr offensichtlich einen Streich spielen. Vorsichtig ging Violet auf die Knie und krabbelte auf allen vieren durch die Reihen schlafender Pflanzen zurück zur Straße. Sie war fest entschlossen, ihn auf frischer Tat zu ertappen.

Gerade als sie den Rand des Feldes erreichte, stieß ein großer Rabe vom dunklen Himmel herab und ließ sich auf der Schulter der Gestalt nieder, die Violet bis gerade eben für ihren Freund gehalten hatte.

»Tom?«, entfuhr es ihr. Ihre Stimme hallte überraschend laut durch die abendliche Stille.

Erschrocken fuhr Boys Zwillingsbruder herum. Seine eisblauen Augen landeten auf Violet. Sie waren das Einzige, worin er sich äußerlich von seinem dunkeläugigen Bruder unterschied. Tom rannte los. Dabei stolperte er beinahe über seine eigenen Füße. So schnell er konnte, floh er in die Geistersiedlung. Violet rappelte sich auf und lief ihm nach.

Sie hatte Tom nicht mehr gesehen, seit Edward und George Archer mit ihrem Plan gescheitert waren, die Kontrolle über Town wiederzuerlangen. Violet, Boy und den anderen war es einmal mehr gelungen, den Zwillingen und ihren Mitverschwörern das Handwerk zu legen, doch dabei war Macula Archer, Boys und Toms Mam, gestorben.

An ihrem Grab war Violet Tom das letzte Mal begegnet, wenn auch nur von Weitem. Er hatte sich heimlich dorthin geschlichen, um seiner Mam einen Besuch abzustatten. Bei ihrem Anblick war er davongelaufen, weshalb sie bis heute ein schlechtes Gewissen hatte. Vor ihrem Tod hatte Macula Violet gebeten, ihr zu helfen, ihre Jungs miteinander zu versöhnen. Sie hatte sich gewünscht, dass sie als Familie zusammenleben würden. Bis jetzt hatte Violet allerdings wenig getan, um ihr Versprechen zu erfüllen.

Boy und Tom waren getrennt voneinander aufgewachsen. Boy im Waisenhaus im Niemandsland, einem heruntergekommenen Viertel, das durch eine hohe Mauer vom Rest der Stadt abgetrennt war. Und Tom bei Schwester Powick, die im Waisenhaus gearbeitet und ihn anschließend zu sich genommen hatte. Durch ihre Erziehung hatte sie ihn dazu gebracht, alle möglichen schrecklichen Dinge zu tun, weshalb die Leute ihn für böse hielten. Doch Violet war anderer Ansicht. Genau wie Macula war sie überzeugt, dass Tom ein guter Mensch war, der nur nie die Gelegenheit gehabt hatte, dies unter Beweis zu stellen. Denn erstens hatte Tom einen zahmen Raben zum Freund, den er wirklich zu lieben schien. Und wer nett zu Tieren war, konnte kein schlechter Mensch sein, fand Violet. Und zweitens hatte Tom Violet zweimal vor Hugo, dem gruseligen Zombie-Kinderfänger, gerettet.

In der Nacht, als Macula gestorben war, hatte Tom auch Boy geholfen. Er hatte dem Kinderfänger befohlen, Boy freizulassen, obwohl er gewusst haben musste, welchen Ärger er dafür von Schwester Powick bekommen würde. Gleichzeitig hatte er Boys Freund Jack eine sonderbar anmutende Botschaft mit auf den Weg gegeben: »Sag Mam, dass ich es manchmal spüre.« Jack hatte keine Ahnung gehabt, was er damit meinte, aber Violet schon.

Kurz zuvor hatte Macula auf dem Marktplatz mit Tom geredet. Sie hatte ihn angefleht, zu ihr zurückzukehren, und ihm versichert, dass sie ihn liebte. »Mutterliebe ist stark«, hatte sie gesagt. Und dass sie wusste, dass er das auch spürte, obwohl sie über einen so langen Zeitraum getrennt gewesen waren. Violet hatte sich gefreut, Macula Toms Botschaft zu überbringen, doch sie war zu spät gekommen. Als sie sie fand, war Macula bereits tot.

»Bleib stehen, Tom, bitte!«, rief sie nun, während er zwischen den Pfeilern hindurchrannte, die den Eingang zur Geistersiedlung markierten.

Violet zögerte.

Die Geistersiedlung war lange ein Ort der Angst gewesen. Sobald man durch ihren verfallenden Eingang trat, überkamen einen fürchterliche Gedanken. Doch dann hatte Violet den Ursprung dieser Gedanken entdeckt: einen unterirdischen Raum, in dem Edward Archer einen Nebel mit bewusstseinsverändernder Wirkung zusammenbraute. Dieser Nebel stieg als Wolken in den Himmel über Town auf, aus denen der Wirkstoff auf die Bewohner herabregnete und sie in Angst und Schrecken versetzte. Nachdem die Archer-Zwillinge verhaftet worden waren, hatte der Stadtrat den Nebelraum zerstören lassen. Seitdem fühlte es sich in der menschenleeren, heruntergekommenen Geistersiedlung zumindest nicht mehr gruseliger an, als es dort aussah. Das rief Violet sich nun ins Gedächtnis.

»Tom, bitte«, rief sie, während sie den rissigen Gehweg entlanglief, der von den Ruinen halb fertiger Häuser gesäumt wurde. »Ich muss mit dir reden! Ich glaube, dir wurden ziemlich schlimme Dinge über deine Familie eingetrichtert. Aber ich weiß, dass du kein schlechter Mensch bist, nicht wirklich jedenfalls …«

Eine der schwarzen Plastikplanen, mit denen die klaffenden Fensteröffnungen notdürftig abgedeckt waren, raschelte im Wind. Violet zuckte zusammen.

»Bitte, Tom.« Der Schreck ließ ihre Stimme zittern. »Ich hab dich an Maculas Grab gesehen. Ich weiß, du denkst immer noch an deine Mam …«

Drückende Stille hing über der nächtlichen Siedlung. Dann knarrte eine Tür und Tom trat aus einem der Häuser links von ihr. Er stand in dem zugewucherten Vorgarten und starrte sie wortlos an.

Tom

Das Walkie-Talkie erwachte knisternd zum Leben.

»Violet, Violet, wo steckst du?«

Hastig schob sie die Hand in die Tasche und versuchte, es auszuschalten. Sie kämpfte eine Weile mit den Knöpfen und als sie schließlich aufsah, eilte Tom bereits den Hügel am Ende der Siedlung hinauf, der zu dem alten Friedhof führte. Dorthin würde sie ihm garantiert nicht nachlaufen. Nicht allein.

»Violet, lass den Unsinn! Wo bist du?«, rief Boy. Diesmal kam seine Stimme aus dem Augenpflanzenfeld.

»Hier drüben«, antwortete sie und wandte sich in Richtung der Pfeiler.

Der Lichtkegel eines kleinen Scheinwerfers tanzte auf sie zu. Boy raste ihr auf seinem Fahrrad entgegen und kam schlitternd vor ihr zum Stehen.

»Was machst du hier?«, keuchte er, während er einen Fuß abstellte, um nicht umzukippen.

»Ich war ja wohl deutlich länger als fünfzehn Minuten auf diesem Feld!«, schimpfte sie. Sie ärgerte sich, dass ihr Freund Tom verjagt hatte.

»Da hatte wohl jemand Angst!« Boy lachte.

»Hatte ich nicht! Die Mutprobe war einfach blöd!«, erwiderte sie und machte sich auf den Rückweg nach Town. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm von der Begegnung mit seinem Bruder erzählen sollte.

»Dann musst du mir jetzt ein neues Geschenk besorgen«, zog er sie auf, während er langsam hinter ihr herradelte.

Ein neues Geschenk? Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie war doch auf der Suche nach etwas Besonderem. Etwas mit Bedeutung. Was, wenn sie Tom zurückholte und Boy zum Geburtstag eine Familienzusammenführung bescherte? Das war geradezu perfekt! Und William würde sich bestimmt auch freuen.

»Hat eine der Augenpflanzen dich gebissen oder warum bist du abgehauen?«, spottete Boy.

Sie ignorierte ihn, in Gedanken ganz woanders. Macula hätte es sicher so gewollt – auf diese Weise würde Violet endlich das Versprechen einlösen, das sie Boys Mam gegeben hatte. Gleichzeitig machte sie ihrem Freund ein Geschenk, das man mit Geld nicht kaufen konnte, und den Erwachsenen zufolge waren das immer die besten Geschenke. Sie musste allerdings mit äußerstem Fingerspitzengefühl vorgehen. Seit Maculas Tod reichte es, wenn jemand Tom auch nur am Rande erwähnte, um Boy die Laune gründlich zu verhageln.

Es war im Frühjahr gewesen, als sie zum letzten Mal über Boys Zwillingsbruder gesprochen hatten. Damals hatte ein Suchtrupp unter der Leitung von Violets Dad das Draußen durchkämmt, um irgendeinen Hinweis auf den Verbleib von Tom oder Schwester Powick zu finden. Ohne Erfolg.

Powicks kleines Häuschen mit dem reetgedeckten Dach stand leer, genau wie der daran angeschlossene Wohnwagen. Auch in dem Stall auf der anderen Straßenseite, wo Hugo, der kinderfangende Zombie, und zwei ähnliche Kreaturen namens Denis und Denise untergebracht waren, entdeckten sie nicht die geringste Spur.

Danach hatte Violet Boy angefleht, noch einmal mit ihr hinzugehen und selbst nachzuschauen. Sie war überzeugt, dass die Erwachsenen etwas übersehen hatten – das taten sie schließlich meistens. Als er sich weigerte, hatte sie ihm von ihrem Versprechen, Tom und ihn zu einer Familie zu vereinen, erzählt. Daraufhin war er fuchsteufelswild geworden. So wütend hatte sie ihn noch nie erlebt. Er hatte ihr regelrecht verboten, das Thema jemals wieder anzusprechen.

Aber das war einige Monate her. Inzwischen sah Boy das doch bestimmt nicht mehr so eng, oder? Und selbst wenn er anfangs sauer auf sie sein sollte, würde er sich früher oder später daran gewöhnen. Und mit der Zeit wäre er garantiert froh, einen Bruder zu haben. Violet hatte sich jedenfalls immer eine Schwester oder einen Bruder gewünscht. Als einziges Kind zwischen zwei Erwachsenen konnte es manchmal ganz schön einsam werden. Eltern waren so langweilig – sie wollten immer bloß rumsitzen und Tee trinken.

Was, wenn es ihr gelang, Tom zu finden und zu seiner Familie zurückzubringen? Ein Bruder zum Geburtstag – konnte es ein besseres Geschenk geben? Boy würde sich nie wieder langweilen müssen! Und Macula würde glücklich auf ihre vereinte Familie herablächeln.

Violet wusste immerhin schon mal, dass Tom in der Gegend war. Da sollte es doch eigentlich nicht allzu schwierig sein, ihn zu finden. Er war in Richtung Friedhof gelaufen, wo sich der Durchgang zum Draußen befand. Anscheinend hatte sie mit ihrer Vermutung goldrichtig gelegen und die Erwachsenen hatten bei ihrer Suche irgendwas übersehen.

»Hast du dich wieder beruhigt?«, riss Boy sie aus ihren Gedanken.

»Dafür hätte ich ja wohl erst mal beunruhigt sein müssen!«, fauchte sie, während sie über die Fußgängerbrücke zurück nach Town stapfte. Das Wasser unter ihr wirkte vollkommen ruhig und unergründlich schwarz.

»Schon klar!« Er lachte. Die Reifen seines Fahrrads ratterten leise über die hölzernen Planken.

Violet bog in die Wickham Terrace ein und blieb vor Nummer 135 stehen. Boys Zuhause.

»Dad will, dass wir uns nach der Sitzung vor dem Rathaus treffen. Ich sollte also besser mal los«, sagte sie.

»Du hast mir immer noch nicht verraten, was du in der Geistersiedlung gemacht hast!« Boy klang nun doch ein bisschen frustriert, als er vom Fahrrad stieg.

»Was wohl – nichts natürlich!«, antwortete sie.

»Mädchen! Muss man nicht verstehen«, seufzte er missmutig und kramte den Schlüssel aus seiner Jeans.

»Und Jungs schon?«, spottete Violet. »Jetzt beeil dich – ich brauch meine Tasche, damit Dad glaubt, dass ich wirklich an einem Projekt gearbeitet hab!«

Boy öffnete die Haustür, die direkt in die Küche führte. Der kleine Raum war noch genauso bunt und farbenfroh, wie Macula ihn hinterlassen hatte, aber irgendwie fühlte er sich ohne sie nicht mehr so gemütlich an. Auf dem Tisch stand das schmutzige Geschirr vom Frühstück. Einige Teller schienen sogar noch vom Abendessen am Vortag zu stammen, was allerdings nicht so gut zu erkennen war, denn sie waren halb unter einer aufgeschlagenen Ausgabe der Town Tribune versteckt. Und Violet wollte nicht zu offensichtlich hinschauen. Ein Berg von Klamotten türmte sich auf einer der Stuhllehnen und Papierstapel ergossen sich vom Schreibtisch auf den Fliesenboden. Ordnung war nicht gerade Williams Stärke. Boy meinte, sein Vater habe den Kopf so voller Ideen, dass dort kein Platz mehr für so unbedeutende Dinge wie Geschirrspülen oder Wäschewaschen war.

Während Violet sich ihre kakigrüne Schultasche von der zerkratzten Tischplatte schnappte, zog Boy sich einen Stuhl heran und setzte sich vor die aufgeschlagene Zeitung.

Violet wandte sich zum Gehen, drehte sich auf der Türschwelle jedoch noch mal um. »Denkst du manchmal an Tom?«, fragte sie.

Boy sah auf und musterte sie mit seinen dunklen Augen.

»Warum fragst du?«

»Ach, ich …« Vergeblich suchte sie nach einer guten Erklärung. »Keine Ahnung, ist mir bloß so eingefallen.«

Boy widmete sich wieder der Zeitung und tat so, als sei er ganz in den Artikel vor ihm vertieft. Stille breitete sich in der Küche aus. Violet trat unbehaglich von einem Bein aufs andere.

»Und … tust du’s?«, hakte sie schließlich nach.

»Nein, Violet, tu ich nicht!«, schnauzte er.

Sie lief rot an. Doch bevor sie einen Fuß über die Schwelle setzen konnte, gewann ihr Frust die Oberhand. »Willst du denn nicht wenigstens …?«

Boys finsterer Blick schnitt ihr das Wort ab.

Mit mehr als rosigen Wangen trat Violet auf die Wickham Terrace hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Sie ging ums Haus, um ihr Fahrrad zu holen, und radelte über den Marktplatz und durch die Forgotten Road in Richtung Edward Street.

Zumindest war Boy nicht wütend geworden. Also, nicht richtig. Das war schon mal ein Fortschritt. Jetzt musste es ihr nur noch gelingen, ihm zu beweisen, dass Macula recht hatte und Tom ein guter Mensch war. Wenn sie das schaffte, würde sein dreizehnter Geburtstag der vielleicht beste Geburtstag aller Zeiten werden.

Die Mitglieder des Stadtrats kamen bereits aus dem Rathaus, als sie vor dem Gebäude anhielt. Ihr Dad saß draußen auf den Stufen und wartete geduldig.

»Und, ist dein Projekt fertig geworden, Mäuschen?« Lächelnd stand er auf und klopfte sich den Staub von der Hose.

»So gut wie, Dad«, log sie und rollte ein Stück voraus. Sie hasste es, ihn anzulügen, aber sie wusste, er würde es nicht gutheißen, dass sie sich auf dem Augenpflanzenfeld rumgetrieben hatte.

In einvernehmlichem Schweigen setzten sie ihren Weg durch die Edward Street fort.

»Dad?«, fragte Violet, als sie an Archer & Brown vorbeikamen. Sie wurde langsamer, damit er zu ihr aufschließen konnte.

»Ja, Mäuschen?«

»Was würdest du machen, wenn du die beste Geschenkidee aller Zeiten hättest und du wüsstest, die Person, für die du es … ähm … kaufen willst, würde sich megamäßig darüber freuen, auch wenn sie im Moment noch glaubt, dass sie das Geschenk auf keinen Fall will? Würdest du es trotzdem kaufen?«

Eugene Brown strubbelte sich mit den Fingern durchs Haar. Das tat er immer, wenn er ein wenig ratlos war.

»Geht es um ein Geschenk für mich?« Er runzelte die Stirn.

»Nein, Dad. Das ist bloß so eine Art Gedankenexperiment.«

»Also hast du nicht vor, mir ein Geschenk zu besorgen? Weil ich nämlich echt gern Geschenke kriege, weißt du?«

»Nein, Dad! Bitteeeeee, beantworte einfach meine Frage.«

Eugene lachte. »Schon gut, Mäuschen. Ich bin nur nicht ganz sicher, ob ich deinem Gedankenexperiment folgen kann …«

»Heißt das, du würdest es nicht … kaufen? Das Geschenk, meine ich?«, bohrte sie nach.

»Das habe ich nicht gesagt, Violet. Mach, was du für richtig hältst. Du besitzt ein gutes Urteilsvermögen. Mein Rat lautet: Hör auf dein Bauchgefühl. Wenn dieser Freund, um den es geht, ein wahrer Freund ist, wird er die gute Absicht dahinter verstehen, egal, was es auch ist. Es ist der Gedanke, der zählt, Mäuschen … Außerdem – über Geschenke freut sich doch wohl jeder!«

»Danke, Dad.« Violet lächelte und fuhr wieder voraus.

Als sie an diesem Abend ins Bett ging, stand ihr Entschluss fest.

Ihre Mam glaubte daran, dass das Universum einem manchmal Zeichen gab. Und obwohl ihr Dad steif und fest darauf beharrte, dass es für so etwas keine wissenschaftlichen Beweise gab, glaubte Violet insgeheim auch ein bisschen daran. Dass sie Tom heute, so kurz vor dem Geburtstag der Zwillinge, gesehen hatte, musste ein solches Zeichen sein. Macula wollte, dass Violet ihre Familie zusammenbrachte.

Und wie ihr Dad gesagt hatte: Jeder freute sich über Geschenke!

Versprechen

Voller Vorfreude rannte Violet am nächsten Morgen die Treppe hinunter. Das konnte daran liegen, dass Freitag war – nur noch ein paar Stunden, dann musste sie Mrs Moody ein ganzes Wochenende lang nicht sehen. Oder es lag daran, dass sie endlich wusste, was sie tun würde.

Boys Geburtstag war am dreiundzwanzigsten, nur noch ein paar Tage entfernt. Die Zeit war also knapp, aber sie würde ihr Bestes geben, um Tom bis dahin aufzuspüren.

»Du bist ja gut drauf, Mäuschen.« Lächelnd sah Rose auf. Sie war gerade dabei, die verbrannten Stellen von ihrem Toast zu kratzen. »Froh, dass heute Freitag ist?«

»So was in der Art, Mam.«

Violet hatte nicht vor, ihren Eltern von ihrem Plan zu erzählen. Jedenfalls noch nicht. Ihr Dad mochte es nicht, wenn sie die Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckte, und Boys Angelegenheiten zählten aus seiner Sicht bestimmt dazu.

Sie öffnete den Kühlschrank, um die Milch rauszuholen. Ihr Dad saß am Küchentisch, völlig vertieft in die Morgenzeitung.

»So sitzt er schon, seit ich aufgestanden bin. Was für eine tolle Gesellschaft dein Vater doch manchmal ist! Es geht wohl wieder um diesen verschwundenen Wissenschaftler.« Seufzend nahm ihre Mam gegenüber von ihm Platz.

»Es ist nicht nur ein Wissenschaftler, Rose«, verkündete Eugene und nahm einen Bissen von seinem Toast. »Inzwischen werden noch mehr vermisst. Darunter sind einige der größten Denker der Welt.«

»Hast du nicht gesagt, sie sind im Ruhestand? Dann waren sie einige der größten Denker der Welt!«

»Einmal ein großer Denker, immer ein großer Denker, Rose! Aber das Ganze ist schon sehr seltsam. Mittlerweile sind es vier. Und alle sind einfach so mitten in der Nacht aus ihrem Haus verschwunden.«

Eugene deutete auf die unscharfen Schwarz-Weiß-Fotos in der Zeitung. Zwei Männer und zwei Frauen blickten ihnen daraus entgegen. Sie sahen steinalt aus – einer der Männer hatte so lange Nasenhaare, dass sie fast den Rand seiner Oberlippe berührten.

»Sie alle haben enorme Beiträge zu unserem Verständnis der Welt geleistet!«, fuhr Violets Dad fort.

»Ein großer Denker«, brummte Rose vor sich hin. »Ich weiß ja nicht, ob ich so im Gedächtnis bleiben wollen würde. Wäre es nicht schöner, wenn sich die Leute an einen erinnern, weil man gütig oder hilfsbereit oder so was war?«

»Aber warum sollte jemand diese Leute entführen wollen, Dad? Die sind doch uralt!« Violet tippte mit dem Zeigefinger auf die Fotos.

»Das Alter ist nur eine Zahl, Mäuschen. Diese Wissenschaftler waren gute Freunde. Hier steht, sie haben sich an der Hegel-Universität kennengelernt, wo sie zu ihren größten Zeiten gearbeitet haben. Damals waren sie richtige Stars. Wie gerne hätte ich bei einem von ihnen studiert!«

»Wissenschaftler und Stars! Was es nicht alles gibt.« Rose lachte und schmierte Butter auf ihr zur Hälfte weggekratztes Brot. »Und, hast du dein Projekt gestern noch fertiggekriegt, Mäuschen?«

»Ja, als ich bei Boy war. Hat eine Weile gedauert – er hasst Mathe!« Violet konzentrierte sich auf ihre Cornflakesschüssel, um ihrer Mutter nicht in die Augen sehen zu müssen.

»Mathe ist überall, Violet.« Eugene blickte von der Zeitung auf. »Sag Boy, er soll draußen danach Ausschau halten, nicht in seinen Büchern. Vielleicht weckt das sein Interesse. Mathe findet sich in der Natur. Nimm zum Beispiel eine Sonnenblume oder sieh dir die Äste der Bäume an – ihr Wachstum folgt einem bestimmten mathematischen Schema, der sogenannten Fibonaccifolge. Jede Zahl in dieser Folge ergibt sich aus der …«

»Ich muss los, sonst komm ich zu spät zur Schule.« Violet sprang auf, bevor Eugenes Vortrag richtig Fahrt aufnehmen konnte. »Aber ich richte es ihm aus. Das klingt … äh … echt interessant!«

Sie schnappte sich ihre Tasche und stürmte in den Flur hinaus. Kurz darauf fiel die Haustür hinter ihr ins Schloss, während ihre Füße über den Kies der Auffahrt knirschten. Ihr Fahrrad lehnte wie immer an der Außenseite des Hauses. Sie schwang sich in den Sattel und machte sich auf den Weg zur Schule.

Sie war früher dran als sonst, aber das war gut so. Dadurch schaffte sie es vielleicht noch, ihr Projekt fertigzustellen, an dem sie gestern Abend hätte arbeiten sollen. Boy war bereits da. Er hockte auf der Bank am Rand des Schulhofs und starrte konzentriert in seine Bücher. Offensichtlich war er auch nicht fertig geworden.

»Ich hatte eigentlich vor, das zu machen, als ich gestern nach Hause gekommen bin. Hab’s dann aber komplett vergessen«, erklärte sie, während sie ihr Übungsheft hervorkramte.

»Oh, gut.« Boy lächelte. »Dann können wir ja zusammenarbeiten!«

»Nein, Boy! Das soll jeder für sich machen! Mrs Moody merkt es bestimmt, wenn wir einander helfen.«

»Komm schon, Violet. Du weißt, wie schlecht ich in Mathe bin.«

»Und das wird auch nicht besser, wenn du es nicht selbst lernst! Dad meint, du sollst dir die Natur angucken, dann macht dir Mathe vielleicht mehr Spaß. Wegen der Sonnenblumen und dieser Fiebermatschifolge oder so …«

»Die Fibonaccifolge.« Jack stand plötzlich vor ihnen. »Nehmt ihr die gerade bei Mrs Moody durch? Ich finde das so faszinierend. Die Natur ist echt abgedreht, auf total coole Weise. Ich meine, einfach alles folgt bestimmten Mustern – ich wette, sogar die Menschen. Erinnert mich dran, dass ich das mal nachschaue. Darüber muss es doch irgendwo ein Buch geben.« Jack war ebenfalls im Waisenhaus aufgewachsen und einer von Boys besten Freunden. Seit dem Untergang von Perfect lebte er wieder bei seiner Familie und nachdem er geholfen hatte, Town vor den Archer-Zwillingen zu retten, war er auch Violets Freund. Im Gegensatz zu Boy liebte Jack Bücher und alles, was mit Lernen und Schule zu tun hatte. Er wusste so ziemlich alles, was man nur wissen konnte.

»Jack, du kommst mir gerade recht!« Boy strahlte. »Kannst du mein Projekt übernehmen?«

»Nein!«, schimpfte Violet. »Mach das nicht, Jack. Er muss es selber hinkriegen!«

»Na danke!«, schnaubte Boy. »Das merk ich mir für das nächste Mal, wenn du bei irgendwas Hilfe brauchst!«

»Ich mach gern die Hausaufgaben für andere.« Jack nahm das Buch, das Boy ihm hinhielt, und setzte sich zu ihnen auf die Bank.

»Siehst du, ich tu ihm sogar noch einen Gefallen!« Boy grinste.

»Hat jemand Lust, meine Hausaufgaben zu machen?«, fragte Anna Nunn, die in dem Moment zu ihnen stieß. »Ich hab’s gestern nicht mehr geschafft, weil ich …«

»… mal wieder draußen rumgestromert bin?«, ergänzte Boy lächelnd.

Anna war ein paar Jahre jünger als Violet und hatte wie die beiden Jungs im Waisenhaus von Niemandsland gelebt. Boy und Jack waren wie große Brüder für sie, auch wenn Violet insgeheim manchmal dachte, dass Anna ihren Schutz gar nicht brauchte. Die Kleine war einer der wagemutigsten Menschen, die sie kannte. Anna schlich mit Vorliebe nachts aus dem Haus und ging in Town auf Erkundungstour. Das schien eine Angewohnheit von ihr zu sein, die sie aus Niemandsland mitgebracht hatte. Auch sie war nach dem Untergang von Perfect zu ihrer Familie zurückgekehrt. Ihre Mam Madeleine war ebenfalls Mitglied im Stadtrat.

»Du hast gut reden, Boy«, erwiderte Anna. »Ich hab dich letzte Nacht in der Forgotten Road gesehen!«

»Das war ich nicht«, entgegnete Boy verdattert.

»Doch, warst du. Ich hab gerufen, aber du hast nicht reagiert!«

»Ich war es wirklich nicht! Bist du dir sicher, Anna?«

»Ja.« Sie nickte nachdrücklich.

»Vielleicht … ähm … vielleicht war es ja Tom?«, wandte Violet vorsichtig ein.

Das konnte durchaus sein, immerhin hatte sie selbst Boys Zwilling ja auch gesehen. Möglicherweise war er an Maculas Grab gewesen – sie lag auf dem Friedhof in der Nähe der Schule und um dorthin zu kommen, musste er durch die Forgotten Road.

»Sag bloß, er ist wieder da!« Jack sah von Boys Heft auf.

»Ist er nicht!« Aufgebracht stand Boy auf.

»Aber wenn du es nicht warst«, folgerte Anna, »muss es Tom gewesen sein. Ich konnte seine Augen nicht gut sehen, dafür war es schon zu dunkel. Du – ich meine, Tom ist in eins von den alten, verfallenden Häusern am Ende der Forgotten Road gegangen. Ich hab angeklopft und gesagt, dass ich es bin, aber du – ich meine, er hat nicht geantwortet. Erst war ich ein bisschen sauer auf dich, aber jetzt nicht mehr. Jetzt weiß ich ja, dass er es war!«

»Welches Haus? Um wie viel Uhr war das, Anna?«, fragte Violet.

»So gegen acht vielleicht? Weil ich mich erst rausschleiche, wenn Mam zu ihren Sitzungen geht. Sie will ja immer schon früher dort sein, um sich noch vorzubereiten. Wenn sie mich erwischen würde, bekäme ich tierischen Ärger, deswegen mach ich das nur, wenn sie nicht da ist. Es war das Haus, wo wir früher immer aufs Dach gestiegen sind, um über die Mauer nach Perfect zu klettern. Glaub ich zumindest. Kann auch sein, dass es das nebendran war. Eins von denen jedenfalls!«

»Was will Tom denn wieder hier?« Jack wirkte aufrichtig besorgt. Er hatte sogar mit dem Schreiben aufgehört. »Vielleicht sollten wir dem mal nachgehen. Was, wenn er Edward und George bei der Flucht helfen will? Ich finde, das klingt gar nicht gut!«

Edward und George Archer waren seit ihrem letzten Versuch, die Macht an sich zu reißen, im Uhrenturm des Rathauses eingesperrt. Unten im Keller saßen ihre Hüter, die Bande brutaler, ungehobelter Verbrecher, die den Zwillingen geholfen hatten, Perfect unter Kontrolle zu halten.

Anders als Jack machte Violet sich keine großen Sorgen. Edward und George waren hinter Schloss und Riegel. Schwester Powick lief zwar noch frei herum, aber niemand glaubte, dass sie auf eigene Faust etwas unternehmen würde. Die Beete mit den Augenpflanzen, die überall in Town angelegt worden waren, um für Sicherheit zu sorgen, waren immer noch in Betrieb. William überprüfte täglich die Monitore im Kontrollzentrum, dem sogenannten Gehirn. Bei dem Gehirn handelte es sich um einen kleinen schwarzen Kasten von der Größe einer Gartenhütte. Es stand in der Edward Street, direkt vor dem Rathaus, und war bis obenhin mit kleinen Bildschirmen gefüllt. Jeder dieser Bildschirme war mit einer der Augenpflanzen verbunden und zeichnete alles auf, was sie sah. Zum ersten Mal seit Langem fühlte sich Town rundum sicher an. Sogar Violets Albträume hatten so gut wie aufgehört.

»Selbst wenn er wollte, könnte er sie da nicht rausholen. Dad sagt, niemand kommt ins Rathaus rein oder raus, ohne erwischt zu werden«, verkündete Boy.

»Ja, aber Tom hat sich früher auch schon unbemerkt in Town bewegt. Die Augenpflanzen haben ihn nicht gesehen«, wandte Anna ein. »Er hat das Signal gestört, wisst ihr noch?«

»Dad hat das Problem behoben!«, knurrte Boy und nahm Jack sein Schulbuch ab.

»Vielleicht hat er ja eure Mam besucht, Boy«, meinte Violet behutsam. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Vielleicht wünscht er sich seine richtige Familie zurück?«

Boy warf ihr einen mörderischen Blick zu und stopfte das Buch in seine Tasche.

»Kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte er kühl. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und verschwand im Inneren der Schule.

»Ich glaub, er möchte nicht über seinen Bruder reden!« Mit roten Wangen sah Anna die anderen an.

»Aber sollten wir nicht versuchen rauszufinden, warum Tom hier ist?«, fragte Violet in die Runde. »Könnte doch sein, dass er Freunde sucht.«

»Ach ja? Jetzt auf einmal? Selbst wenn, hat er keine verdient. Oder hast du schon vergessen, dass Macula seinetwegen gestorben ist?« Jack war wütend.

»Das stimmt nicht! Ich war dabei, ich hab gesehen, was passiert ist. Macula hat sich den Kopf angeschlagen, weil Schwester Powick sie geschubst hat. Tom war total fertig deswegen. Außerdem hat er dir Boy zurückgegeben, Jack. Hast du das schon vergessen?«

Jack seufzte. »Keine Ahnung. Ich denke einfach, wir sollten lieber die Finger davon lassen. Immerhin ist er Boys Bruder – das geht uns doch eigentlich nichts an.«

»Und wenn er wieder Ärger macht?«, wandte Anna ein. »Sollten wir nicht wenigstens William Bescheid sagen, nur für alle Fälle?«

»Nein.« Violet schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht, dass irgendjemand Tom verschreckte. Erst musste sie mit ihm reden.

»Violet hat recht«, meinte Jack, als es zur ersten Stunde läutete. »Wir sollten Boy oder William nicht unnötig damit belasten. Wenn Tom wieder auftaucht und für Probleme sorgt, sagen wir Bescheid. Vorher nicht. Abgemacht, Anna?«

Die Kleine nickte langsam. Jack stand auf, klopfte sich den Staub von der Hose und ging nach drinnen. Die beiden Mädchen folgten ihm schweigend.

Kaum hatte Violet an ihrem Tisch Platz genommen, kam Mrs Moody hereingestürmt. Ihre Kleidung war wie immer makellos: rote Strickjacke, frisch gestärkte weiße Bluse und blauer Rock. Sie zeigte auf die Aufgaben, die bereits an der Tafel standen, und fing an abzufragen. Während Beatrice Prim, die unausstehlichste Zimtzicke der Klasse, einmal mehr ihr Genie unter Beweis stellte, lehnte Boy sich zur Seite und flüsterte: »Ich kenne dich, Violet. Komm gar nicht erst auf die Idee, irgendwelche Pläne zu schmieden! Was auch immer Tom hier will, lass einfach gut sein. Wahrscheinlich verzieht er sich sowieso bald wieder.«

»Ich schmiede keine Pläne!«

»Versprochen?« Boy musterte sie eindringlich.

Sie überkreuzte die Finger hinter dem Rücken und nickte. Das hatte sie bei Beatrice gesehen, als die jemandem etwas versprechen sollte. Beatrice hatte hinterher erklärt, dass das Versprechen dadurch ungültig wurde.

Violet log Boy nicht gern an. Aber zählte es auch als Lüge, wenn sie es nur zu seinem Besten tat? Sie wusste, er brauchte seinen Bruder, selbst wenn er das im Moment noch nicht einsah. Familie ging schließlich über alles – das sagte ihre Mutter jedenfalls immer.

Die verschwundenen Wissenschaftler

Noch bevor es zum Ende des Unterrichts läutete, fing Violet an, hinter Mrs Moodys Rücken ihre Tasche zu packen. Sie hatte es eilig. Zu Boy sagte sie, dass er schon mal zu Archer & Brown vorgehen sollte. Sie müsste noch schnell etwas von zu Hause holen und würde dann nachkommen.

Dann ging sie hinter dem Schulgebäude in Deckung und wartete, bis sich der Schulhof geleert hatte. Sie wollte sichergehen, dass Boy genügend Vorsprung hatte, bevor sie sich auf den Weg machte. Als eine der Letzten nahm sie schließlich ihr Fahrrad aus dem Ständer und radelte vorsichtig in Richtung Forgotten Road.

Anna zufolge war Tom in dem Haus verschwunden, das sie benutzt hatten, um von dort über die Mauer nach Perfect zu klettern, ohne dass die Hüter sie bemerkten. Violet war sich nicht mehr ganz sicher, welches Haus das war. Aber Anna hatte es als »verfallend« beschrieben und von der Sorte gab es nicht mehr viele. Die meisten Gebäude in Town waren nach und nach renoviert worden.

Sie raste durch die Forgotten Road und hielt vor dem Haus an, das am ehesten zu Annas Beschreibung passte. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand sie beobachtete, trat sie ein.

In der Diele war es dunkel und der Boden war mit Schutt und Abfall übersät. Sie musste regelrecht hindurchwaten, um in den Raum links von ihr zu kommen. Dort schien sich früher einmal das Wohnzimmer befunden zu haben. An den Wänden, die mit schwungvollen Graffiti besprüht waren, ließen sich hier und da noch die Reste einer geblümten Tapete erkennen. Ein kaputter Kronleuchter hing bedrohlich schief von der Decke. Glühbirnen gab es keine mehr, die waren entweder gestohlen oder zerschmettert worden.

Violet konnte sich nicht erinnern, schon mal hier gewesen zu sein.

Sie stapfte zurück in die Diele und kletterte über eine löchrige violette Couch in den nächsten Raum. Der Einrichtung nach zu urteilen, war dies wohl die Küche. An den hellblauen Schränken fehlten die Griffe und eine der Türen wurde nur noch von einem verbliebenen Scharnier gehalten. Eingetrocknete weiße Farbe verunstaltete das Spülbecken und im Linoleum klafften große Löcher, unter denen der graue Betonboden zum Vorschein kam. Violet machte kehrt und wollte die Treppe hinaufsteigen. Als sie den Fuß auf die erste Stufe setzte, knackte und knarrte das Holz unter dem ausgefransten Teppich, dessen Blumenmuster vor lauter Schmutz nur noch zu erahnen war. Im nächsten Moment gab die Stufe nach. Violet trat ins Leere und schrappte sich den Knöchel am Holz auf. Was machte sie hier eigentlich? Mit weichen Knien verließ sie das Haus wieder, ohne sich im ersten Stock umgesehen zu haben.

»Ich wusste, dass ich dich hier finde!« Anna saß auf einer Bank auf der anderen Straßenseite und baumelte lachend mit den Beinen.

»Was meinst du …?« Violet lief knallrot an. »Mam hat mich gebeten …«

»Dieses Haus war es sowieso nicht«, verkündete Anna und sprang auf.