Rätselhafte Ereignisse in Perfect (Band 2) - Meister der Täuschung - Helena Duggan - E-Book

Rätselhafte Ereignisse in Perfect (Band 2) - Meister der Täuschung E-Book

Helena Duggan

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Beschreibung

Lass dich nicht täuschen! Nach dem Untergang von Perfect scheint in Town alles wieder in Ordnung zu sein – geradezu perfekt. Doch der Schein trügt. Eines Tages ziehen über der Stadt dunkle Wolken auf und Kinder verschwinden spurlos. Aber das Schlimmste ist, dass Violets bester Freund verdächtigt wird. Boy würde so etwas niemals tun! Oder etwa doch? Als Violet den Geschehnissen auf den Grund geht, wendet sich Boy plötzlich von ihr ab und die Situation in Town eskaliert. Jetzt liegt es an Violet, die Stadt erneut zu retten. Wird ihr das ohne Boy gelingen? Band 2 einer stimmungsvollen Mystery-Trilogie rund um perfekte Geheimnisse und rätselhafte Machenschaften. Band 2 einer atmosphärischen und fantastischen Mystery-Trilogie, die durch Abenteuer, Spannung und Witz besticht. Mit viel Charme, einem rätselhaften Mystery-Aspekt und einer starken Heldin werden Kinder ab 10 Jahren in eine düstere Welt entführt. Fantasy trifft Crime, Spannung und Humor. Starke gesellschaftliche Themen wie Individualismus und Überwachung werden in dieser Dystopie hinterfragt und spannend aufbereitet. Für Fans von Roald Dahl, Neil Gaiman und Tim Burton. Düster, packend und fesselnd bis zur letzten Seite! Der Titel ist bei Antolin gelistet.

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Für Dad, für alles.

Zuhause

Probleme mit dem Gehirn

Nur ein Wimpernschlag

Kindische Streiche

Lügen

Neue Freunde

Noch mehr Lügen

Getuschel

Ein Gespür für Geheimnisse

Der Kinderfänger

Schlechte Omen

Nächtlicher Besuch

Eine kleine Helferin

Schwester Powick

Das Tunnelgrab

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Ein unverhofftes Wiedersehen

Die Rückkehr

Der verlorene Sohn

Auf Wolke sieben

Das Krisentreffen

Georges Freilassung

Die Festnahme

Der Junge mit den weißen Augen

Maculas Geheimnis

Eine besorgte Bürgerin

Hoch

Eine augenöffnende Entdeckung

Powicks Puppen

Die Täuschung

Sonderausgabe

Ein guter Schmerz

Der Zeuge

Der Tausch

Ein ungebetener Gast

Die beste Medizin

Eine einfache Wahrheit

Augenzeugen

Mutterliebe

Der Rabe

Zuhause

»Es kommt mir so vor, als würden wir die gesamte Stadt ausspionieren, Boy«, meinte Violet, während sie den Blick über all die winzigen Bildschirme vor ihr wandern ließ. Sie befand sich im Inneren des Gehirns.

Das Gehirn war William Archers neueste Erfindung. Gut, so neu war es auch nicht mehr, schließlich hatte er es bereits kurz nach dem Untergang von Perfect entwickelt und das war nun fast ein Jahr her. Von außen erinnerte das Gehirn an einen schwarzen Kasten von der Größe eines Gartenhäuschens. An den Seiten gab es schwarze Rollläden, die hochgezogen werden konnten, wenn man hineinwollte – zum Beispiel, um etwas zu reparieren. Drinnen war es allerdings fürchterlich beengt. Oben auf dem Flachdach waren Hunderte rote und schwarze Gegenstände angebracht, die ein wenig wie Verkehrshütchen oder Eiswaffeln aussahen.

Das Gebilde war in der Edward Street errichtet worden, direkt vor den Stufen zum Rathaus. Das Rathaus stand im Zentrum der Stadt, hatte William gesagt, daher war diese Stelle am besten geeignet, um die Signale aller Augenpflanzen zu empfangen.

Seit ihrem Sieg über Perfect hatte William Archer in den Straßen von Town unzählige Beete mit Augenpflanzen angelegt, die als eine Art Wachposten dienten. »Ein Sicherheitssystem für Town«, hatte William erklärt, als er das Konzept vorgestellt hatte. Die Augenpflanzen funktionierten wie echte, lebendige Augen und sandten alles, was sie sahen, an das Gehirn. Und das wiederum wandelte die Signale dann in Bilder um.

Boy blickte ebenfalls zu den Bildschirmen hinüber. »Vielleicht, weil wir genau das gerade tun, Violet«, scherzte er.

»Du weißt, was ich meine!«

»Was gibt es in Town schon zu sehen? Hier macht niemand mal irgendwas Interessantes – oder jedenfalls nicht so, dass wir es mitkriegen. Aber vielleicht hast du recht, Violet … könnte ja sein, dass wir Mrs Moody dabei ertappen, wie sie ihre Wäsche aufhängt, oder dass wir Mr Bloom beim Unkrautjäten erwischen!«, spottete Boy. »Jetzt mal im Ernst: Die Augenpflanzen beobachten die Leute hier andauernd und bis jetzt hat dich das noch nie gestört!«

»Ja, aber sie machen das auch aus gutem Grund – damit sie uns sofort warnen, falls Edward zurückkommen sollte.«

»Und wir machen das hier auch aus gutem Grund – nämlich um die Augenpflanzen in Ordnung zu bringen. Sie können uns nun mal nicht warnen, wenn sie nicht richtig funktionieren, oder?«

»Was stimmt denn nicht mit ihnen?«

»Dad zufolge hatten sie in letzter Zeit ein paar Macken. Er hat die Stäbe und Kegel auf dem Dach neu justiert und will wissen, ob das was gebracht hat. Die elektromagnetischen Sig…«

»Boy, ich habe keine Ahnung, was das heißen soll. Kannst du es auch so erklären, dass es ein Normalsterblicher versteht?«

»Ach ja, ich hatte glatt vergessen, dass du nicht halb so intelligent bist wie ich«, zog er sie auf.

»Ja, ja. Red dir das nur ein, wenn du dich dann besser fühlst«, entgegnete Violet genervt. »Also, was genau will dein Dad jetzt von uns?«

»Wir sollen die Monitore beobachten, um sicherzugehen, dass sie alle funktionieren. Achte darauf, dass keiner schwarz ist oder ständig an und aus geht.«

Violet sprang von ihrem Stuhl auf und begann, im Gehirn umherzugehen. Die Monitore türmten sich dicht gedrängt in der Mitte des Raumes auf, wodurch sie ein wenig an die Augen einer gigantischen Spinne erinnerten. Ein enger Gang führte um sie herum, sodass man sie bei Bedarf erreichen konnte.

»Jeder Bildschirm ist mit einer der Augenpflanzen hier in Town verbunden«, fuhr Boy fort. »Die Zahl oben in der Ecke verrät dir, mit welcher. Wenn du merkst, dass es irgendwo blinkt oder flackert, schreib dir die Nummer auf.«

»Hier drüben scheint alles in Ordnung zu sein.« Mit einem unguten Gefühl sah Violet zu, wie Mr Hatchet auf einem der winzigen Monitore gerade draußen vor seiner Metzgerei in der Nase bohrte. »Es ist schon ein bisschen merkwürdig, andere zu beobachten, ohne dass sie etwas davon ahnen, findest du nicht?«

»Oh, Merrills Spielzeugladen hat eine neue Eisenbahn im Schaufenster«, berichtete Boy aufgeregt, während er sein Gesicht ganz nah vor einen der Monitore hielt.

»Was haben Jungs bloß immer mit so langweiligem Zeug wie Eisenbahnen?« Violet seufzte und schüttelte den Kopf.

»Was haben Mädchen bloß immer mit so langweiligem Zeug wie … Reden?«, gab Boy zurück.

»Und, irgendwelche Probleme?« William Archers bärtiges Gesicht erschien im Eingang des Gehirns.

»Nein, Dad«, antwortete Boy. »Scheint so, als würden die Anpassungen, die du vorgenommen hast, ausreichen.«

»Wäre das nicht herrlich?« Lächelnd strubbelte William seinem Sohn durch die Zottelmähne. »Dann hätte ich Vincent Crooked erst mal von der Backe.«

»Ist der Stadtrat mit seiner Sitzung fertig?«, fragte Violet.

»Ja, dein Dad ist auf dem Weg hierher. Er wollte nur noch ein paar Worte mit Vincent wechseln.«

»Was war denn diesmal?«, erkundigte sie sich.

Ihr Dad und Mr Crooked mussten ständig »ein paar Worte wechseln«. Und meistens waren diese Worte nicht besonders nett, sagte ihre Mam. Ihr Dad bezeichnete es als »Meinungsverschiedenheit«, aber Violet wusste es besser. Es hieß, dass er den Mann nicht leiden konnte. Um ehrlich zu sein, konnte sie ihren Dad verstehen. Wenn Mr Crooked auch nur ansatzweise so wie sein Sohn Conor war, würde sie ihn ebenfalls nicht ausstehen können.

»Nichts Besonderes«, winkte William ab. »Nach den kleinen Problemen der letzten Zeit hat Vincent lediglich seine Bedenken geäußert, ob die Augenpflanzen auch wirklich verlässlich sind. Dein Dad hat versucht, ihm klarzumachen, dass alles in bester Ordnung ist.« Er lächelte.

»Okay, Violet, bist du so weit?« Ihr Dad erschien auf der Türschwelle. Sein Gesicht war stark gerötet.

»Konntest du Vincent überzeugen?«, fragte William.

»Nein«, erwiderte Eugene, »aber es war wie immer ein Vergnügen, es zu versuchen. Ich weiß nicht, woran es liegt, doch ich werde mit diesem Mann einfach nicht warm. Er hat irgendwas von Raubüberfällen geschwafelt und dass wir hier in Town nicht sicher wären, wenn die Augenpflanzen nicht richtig funktionieren würden.«

»Raubüberfälle in Town?« William lachte. »Ich bin gespannt, was ihm als Nächstes einfällt!«

»Wie auch immer«, Eugene trat wieder nach draußen auf die Edward Street, »es ist Sonntagabend, Zeit fürs Bett, Violet. Deine Mutter fragt sich sicher schon, wo wir stecken.«

»Aber Dad, kann ich nicht noch ein bisschen bleiben?«, bettelte Violet und sah zu Boy.

»Nein, morgen ist Schule. Mrs Moody wird es gar nicht recht sein, wenn du mitten im Unterricht einschläfst.«

»Mrs Moody ist sowieso nie irgendwas recht, Dad!«

»Nun komm schon, Violet.« Eugene drückte zärtlich ihre Schulter.

Violet seufzte, verabschiedete sich von William und Boy und lief mit ihrem Dad durch die ruhigen Straßen von Town nach Hause.

An den Abenden, an denen ihre Mam zu ihren Kochkursen ging, nahm Violets Dad sie zu den Sitzungen des Stadtrats mit. Der Stadtrat war nach dem Niedergang von Perfect gebildet worden und so etwas wie die Regierung von Town. Er bestand aus zehn Bewohnern der Stadt. Dad zufolge handelte es sich um eine … Demoparty? Nee, das war ganz bestimmt nicht das richtige Wort! Für eine Party wurde dort eindeutig zu viel geredet. Jedenfalls bedeutete es, dass dort über alle Entscheidungen in Town abgestimmt wurde, damit es möglichst gerecht zuging.

Diese Sitzungen waren immer stinklangweilig. Diesmal hatte Violet Glück gehabt, weil sie Boy im Gehirn helfen durfte, aber normalerweise sahen diese Abende so aus, dass sie zwei Stunden rumsaß und den Erwachsenen beim Reden zuhörte. Wenigstens machte der Heimweg mit Dad das alles wieder wett.

Der Himmel über Town war ungewöhnlich klar, sodass es sich Eugene zur Gewohnheit gemacht hatte, auf ein Sternbild zu zeigen und Violet nach dessen Namen zu fragen. Inzwischen hatten sie das so oft gemacht, dass Violet die Namen der Sternbilder in- und auswendig kannte. Manchmal tat sie absichtlich so, als hätte sie einen vergessen, weil ihr Dad es liebte, mit seinem Wissen angeben zu können. Das hatte ihre Mam ihr heimlich verraten.

»Das da ist der Große Wagen«, verkündete Eugene, als sie sich ihrem Zuhause näherten.

Violet folgte seinem ausgestreckten Finger, als plötzlich etwas aus dem Gebüsch geschossen kam. Violet zuckte so heftig zusammen, dass sie einen kleinen Satz zur Seite machte und ihrem Dad um ein Haar auf den Fuß getreten wäre.

»Schon gut, Mäuschen«, beschwichtigte er, den Blick nach oben gewandt. »Das war bloß ein Vogel. Nur komisch, dass er so spät noch unterwegs ist.«

Während sie die Auffahrt zu ihrem Haus entlanggingen, beruhigte sich Violet langsam wieder.

»Glaubst du wirklich, Town wäre auch sicher, wenn die Augenpflanzen nicht mehr richtig funktionieren, Dad?«

»Mäuschen, Town ist einer der sichersten Orte, den ich kenne. Vielleicht sogar einer der sichersten Orte auf der ganzen Welt. Wir brauchen die Augen nicht, aber weil sie William so wichtig sind, lassen wir ihn eben gewähren. Ich vermute, er möchte aus etwas Schlechtem unbedingt etwas Gutes machen.«

»Aber was ist mit Edward Archer? Was, wenn er zurückkommt und wieder versucht, unsere Fantasie zu stehlen?«

»Er kommt nicht zurück, Mäuschen. Der ist längst über alle Berge.«

Eugene Brown schloss die Tür auf und ging hinein. Warmes Licht ergoss sich über die Stufen vor dem Haus in den Garten. Violet hielt einen Moment inne und nahm die sternenklare dunkle Nacht in sich auf.

Sie hatte diese Stadt nicht ausstehen können, als sie noch Perfect hieß und alles und jeder unter der Kontrolle der Archer-Zwillinge stand. Doch mittlerweile fühlte sie sich in Town wirklich zu Hause.

Probleme mit dem Gehirn

Violet schlug das Herz bis zum Hals. Sie folgte Edward Archer, dem kleineren, dickeren Zwilling, während er sich den Hügel hinaufkämpfte, vorbei an der einzelnen Straßenlaterne.

Ihr Sichtfeld war verschwommen, als hätte sich Nebel in ihren Augenwinkeln gebildet.

Sie trat durch das Drehkreuz am Friedhof. Das Quietschen der eisernen Scharniere jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

Grabsteine säumten den Pfad, der quer durch das Gräberfeld verlief. Die Nacht war so finster, dass sie Edward nirgends ausmachen konnte. Zur Sicherheit ging sie hinter einem Grabmal in Deckung.

»Ich weiß, dass Sie hier sind, Edward Archer!«, schrie sie.

Sein Gelächter schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Schweißtropfen perlten auf Violets Stirn.

Plötzlich stürzte eine Gestalt hinter einem der Grabsteine hervor. Violet versuchte, ihr nachzulaufen, doch sie stolperte und schrammte sich die Handflächen auf.

Das Geräusch von Stein auf Stein erfüllte die Dunkelheit. Violet stockte der Atem.

Sie rappelte sich auf und rannte zu der Stelle, wo sie die Gestalt eben noch gesehen hatte. Weit und breit war niemand zu erkennen.

Wo war Edward hin? Sie durfte ihn nicht entkommen lassen.

Violet stand vor dem Grabstein und versuchte, das Moos abzurubbeln, um die Buchstaben darunter zu entziffern. Im nächsten Moment stieß ein großer schwarzer Vogel vom Himmel herab und kam mit ausgestreckten Klauen direkt auf sie zu.

Violet duckte sich und hielt sich die Hände schützend vors Gesicht. Ihre Schreie gellten durch die Nacht, während über ihr das Rauschen der Schwingen lauter und immer lauter wurde.

»Violet, Violet, Violet!«, rief eine Stimme aus weiter Ferne.

***

Mit klopfendem Herzen schlug Violet die Augen auf. Wo war sie? Erleichterung machte sich breit, als sie die Deckenlampe ihres Zimmers über sich erblickte.

Sie hatte wieder diesen Albtraum gehabt. Den, in dem Edward spurlos verschwand. Doch diesmal war etwas anders gewesen: Ein Vogel hatte sie angegriffen.

»Violet, Violet …«

Jemand rief ihren Namen. Sie schoss senkrecht in die Höhe. Dann prasselte etwas gegen ihre Scheibe. Vorsichtig stieg sie aus dem Bett, schlich auf Zehenspitzen zum Fenster und zog die Vorhänge ein winziges Stück auseinander.

Ein großer silberner Mond erhellte die Nacht.

Unten in der Einfahrt vor ihrem Fenster stand eine Gestalt mit einem Fahrrad. Boy. Was hatte er um diese Uhrzeit hier zu suchen?

Das Fahrrad war nagelneu, ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk von Boys Eltern, William und Macula Archer. Auch wenn der Grund letzten Endes bloß vorgeschoben war: Seit sie ihren verloren geglaubten Sohn zurückbekommen hatten, überhäuften ihn die Archers – einschließlich seiner Großmutter Iris – nur so mit Geschenken. Manchmal wünschte Violet sich beinahe, sie wäre ebenfalls in einem Waisenhaus groß geworden und hätte ihre Eltern erst nach Jahren wiedergefunden. Zumindest würde sie dann auch mal etwas anderes als immer nur flauschige Pyjamas und rosa Pantoffeln zum Geburtstag bekommen.

»Was machst du da unten? Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Außerdem haben wir uns doch erst vor ein paar Stunden gesehen«, flüsterte sie, nachdem sie das Fenster geöffnet hatte.

»Stell dich nicht so an, Violet! Es ist überhaupt nicht spät«, antwortete er, wobei kleine weiße Atemwölkchen aus seinem Mund kamen. »Es ist früh, kurz vor Sonnenaufgang!«

»Das kommt aufs selbe raus, Boy. Ich versuche zu schlafen! Gewöhnst du dich jemals an normale Uhrzeiten? Du bist nicht mehr in Niemandsland! Andere Menschen schlafen nachts.«

»Normal ist doch langweilig. Jetzt komm, raus mit dir. Dad braucht unsere Hilfe!«

»Schon wieder? Wobei denn? Kann das nicht warten?«

»Frag nicht so viel … Mach hin!«

Violet schnaubte empört, zog sich aber trotzdem schnell an. So leise wie möglich schlüpfte sie aus ihrem Zimmer und schlich die Treppe hinunter, öffnete die Haustür und trat auf die Vortreppe hinaus. Das alles hatte nur wenige Augenblicke gedauert.

»Wieso brauchst du so lange?« Boy drehte sich um und radelte los. »Beeil dich!«, rief er ihr über die Schulter zu, während er die Einfahrt hinabsauste.

Jungs! Die können echt nie warten. Wutschäumend stapfte Violet um die Ecke und schnappte sich das Fahrrad, das sie zu Weihnachten bekommen hatte und nun an seinem üblichen Platz an der Hauswand lehnte.

Was war denn bitte so dringend, dass Boy sie dafür in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett holte?

Sie hatte gerade das Ende der Einfahrt erreicht, als plötzlich ein großer schwarzer Vogel aufflatterte und haarscharf an ihr vorbeiglitt. Genau wie der, der sie und ihren Dad letzten Abend überrascht hatte.

Violet schrie auf und riss den Lenker rum, um ihm auszuweichen.

»Ihr Mädchen seid solche Angsthasen!«, spottete Boy, der neben der Bank am Straßenrand angehalten hatte.

»Gar nicht wahr«, keuchte Violet atemlos.

»Das war bloß ein Vogel, Violet.«

»Ich weiß …« Sie brach ab und trat in die Pedale. »Es ist nur … na ja … ich hatte schon wieder diesen Traum. Aber diesmal kam außer Edward auch noch ein Vogel darin vor – deswegen bin ich so erschrocken. Mehr nicht.«

»Ich hab dir doch gesagt, Edward Archer kann dir nichts mehr tun. Keinem von uns«, versicherte Boy, während er zu ihr aufschloss. »Es gibt überhaupt keinen Grund für diese Albträume.«

»Du tust gerade so, als könnte ich mir das aussuchen«, erwiderte sie. »Außerdem war das seit langer Zeit der erste. Wahrscheinlich, weil Dad und ich uns gestern auf dem Heimweg über Edward unterhalten haben und mich dabei auch ein Vogel erschreckt hat. Bestimmt lag es daran. Ich kann nun mal schlecht kontrollieren, was in meinem Kopf vorgeht, während ich schlafe, oder?«

»Du kannst nie kontrollieren, was in deinem Kopf vorgeht, Violet!«, zog Boy sie auf. »Jetzt komm, Dad wartet am Gehirn auf uns. Und zwar pronto!«

»Pronto?«, keuchte Violet, während sie sich bemühte, mit ihm mitzuhalten. »Was soll das heißen?«

»Das heißt: Beeil dich!«, rief Boy und bog mit solchem Schwung in die Splendid Road, dass er beinahe in eines der Beete mit den Augenpflanzen krachte.

»Warum sagst du das dann nicht einfach?« Violet lachte. Gemeinsam sausten sie an dem Laden vorbei, in dem sich früher das Ocularium der Archer-Zwillinge befunden hatte.

Das Haus stand mitten in der Stadt in bester Lage. Von hier aus hatten Edward und George ihre Verschwörung vorangetrieben und Perfect mitsamt seinen Bewohnern ihrem Willen unterworfen. Nach dem Sieg über die Zwillinge hatten Violets Dad und William Archer in dem Laden ihr eigenes Brillengeschäft eingerichtet, das den schlichten Namen »Archer & Brown« trug.

Darin gingen die beiden ganz normalen Optikertätigkeiten nach: Sie verkauften Brillen und behandelten all die Augenprobleme, mit denen die Leute so zu ihnen kamen. Darüber hinaus gab es aber auch noch einen total coolen Raum, in dem Violets Dad Experimente durchführte, mit denen er blinden Menschen das Augenlicht zurückgeben wollte. Er war nämlich Ophthalmologe, das bedeutete, er operierte Augen. Diese Forschung betrieb er seit dem Untergang von Perfect mit Leidenschaft und hatte bereits zahlreiche Artikel in Auge um Auge, der Fachzeitschrift für Augenheilkunde, veröffentlicht. Violets Mutter Rose war außerordentlich stolz auf ihren Mann und erzählte jedem, dem sie begegnete, von den »ehrgeizigen« Plänen, die er noch für Archer & Brown hatte.

Violet und Boy bremsten ab und hielten vor dem Gehirn.

William Archer war bereits da. Er murmelte leise vor sich hin, während er einen der Rollläden hochzog, um sich Zugang zu den unzähligen kleinen Monitoren dahinter zu verschaffen. »Ich hab die Transistoren überprüft, die Kabel … Was stimmt nur nicht, wo liegt das Problem? Auf dieser Seite sind auch welche ausgefallen.« Er schnalzte verärgert mit der Zunge und klopfte gegen das Glas. Boy und Violet schien er noch gar nicht bemerkt zu haben. »Das ergibt einfach keinen Sinn!«

»Ähem … Dad …« Boy räusperte sich.

»Toll! Ihr habt es geschafft.« William wirbelte zu ihnen herum. »Tut mir leid, dich so schnell wieder herbestellen zu müssen, Violet. Also dann, ab mit euch. Und bitte seht zu, dass ihr vor Sonnenaufgang zurück seid. Wenn die Leute mitbekommen, dass unser Schätzchen hier weiter rumzickt, sitzt uns Crooked endgültig im Nacken. Dabei habe ich ihm gestern nach der Sitzung noch versichert, dass alles in bester Ordnung ist.«

»Was sollen wir denn machen, Dad?«, fragte Boy verwirrt. »Du hast uns noch gar nichts erklärt.«

»Ach so, ja, wie dumm von mir.«

Er kam auf sie zu und schüttelte Violet zur Begrüßung umständlich die Hand. William Archer behandelte Kinder genau wie Erwachsene. Das war einer der Gründe, weshalb Violet ihn so mochte.

»Danke, dass du dich aus dem Bett gequält hast, um uns zu helfen, Violet. Ohne dich wären wir wie immer aufgeschmissen. Wir haben es mit demselben Problem zu tun wie zuvor. Ich dachte, ich hätte es behoben, aber einige der Monitore im Gehirn sind ausgefallen und ich kriege sie einfach nicht wieder zum Laufen. Zusammen finden wir vielleicht raus, was los ist, und können es reparieren. Ihr schwingt euch auf eure Räder, klappert die Augenpflanzen ab und erstattet mir Bericht. Wir drei sind ein tolles Team. Ich weiß, die Uhrzeit ist ein wenig ungewohnt, aber ich möchte die Bewohner von Town nicht unnötig in Unruhe versetzen. Erst recht nicht nach Vincents Fragen gestern während der Sitzung. Ich hoffe, das macht dir nichts aus!«

»Wonach sollen wir denn gucken, Dad?« Boy versuchte immer noch, dem umständlichen Gefasel seines Vaters einen Sinn zu entlocken.

»Lose Transmitter oder Kabel, verschmutzte Linsen, Schädlingsbefall, all so was. Ich überprüfe währenddessen hier noch mal alle Verbindungen. Ach, und bleibt bitte die ganze Zeit zusammen. Ich weiß, Town ist sicher, auch ohne dass irgendwelche Hüter nachts durch die Straßen patrouillieren. Aber ich bezweifle, dass Rose und Eugene sonderlich erfreut wären, wenn ich Violet alleine in der Dunkelheit umherstreifen lasse.«

»Sie müssen es ja nicht erfahren.« Violet lächelte.

»Trotzdem möchte ich nicht, dass ihr euch aufteilt, Violet. Ich weiß, ihr beide seid mehr als fähig, auf euch aufzupassen, aber ich muss wenigstens versuchen, die Rolle des verantwortungsvollen Erwachsenen zu spielen.« William erwiderte ihr Lächeln. »Fahrt zu den Beeten in der Forgotten Road, auf dem Marktplatz und an der Brücke. Das sind die, die uns Probleme bereiten. Seht nach, ob euch irgendwas Ungewöhnliches auffällt, und kommt dann sofort wieder zurück.«

Boy nickte und wendete sein Fahrrad in Richtung Archers’ Avenue.

»Nehmt das mit.« William hob einen rechteckigen schwarzen Gegenstand vom Boden auf und gab ihn Boy. »Meldet euch, wenn ihr irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt. Denkt dran, am Ende ›Over‹ zu sagen, damit ich weiß, wann ihr fertig seid.«

»Alles klar, Dad«, antwortete Boy. Er verdrehte genervt die Augen, wobei er allerdings darauf achtete, dass nur Violet es sehen konnte.

»Was ist das für ein Ding, das William dir mitgegeben hat?«, fragte Violet, nachdem sie losgeradelt waren.

»Das ist ein Walkie-Talkie. Dad hat es gebaut. So kann ich mit ihm kommunizieren, wenn ich ihm bei der Arbeit helfe. Die Dinger sind extrem praktisch, vor allem wenn wir in verschiedenen Ecken von Town unterwegs sind, um nach den Augenpflanzen zu sehen.«

»So was hätte ich auch gerne.« Violet schnappte es sich aus Boys Hand, schob es in ihre Gesäßtasche und trat kräftig in die Pedale. »Wetten, du schaffst es nicht, mich einzuholen?«

Sie hörte, wie Boy sich auf die Verfolgung machte. Hintereinanderher sausten sie durch die Archers’ Avenue, bogen in halsbrecherischem Tempo nach links in die Rag Lane und rasten auf Niemandsland zu, Boys ehemaliges Zuhause.

Nur ein Wimpernschlag

Als Town noch Perfect hieß und unter der Kontrolle der Archer-Zwillinge stand, hatte Niemandsland als eine Art Gefängnis für alle gedient, die anders waren und nicht zu Edwards und Georges Vorstellung von Perfektion passten. Sie waren aus der Stadt verbannt und gleichzeitig aus dem Gedächtnis ihrer Familien gelöscht worden, die immer noch in Perfect lebten.

George Archer war während der Schlacht um Perfect gefasst worden und saß seither im Uhrenturm des Rathauses hinter Schloss und Riegel. Die Hüter, die Perfect im Auftrag der Archer-Zwillinge bewacht hatten, waren im Keller des Gebäudes eingesperrt. Einzig Edward hatte es geschafft, durch einen Geheimgang unter dem Friedhof am Rande der Geistersiedlung zu entkommen. Seitdem fehlte von ihm jede Spur.

Inzwischen waren die Bewohner von Niemandsland längst wieder mit ihren Familien vereint. Gemeinsam hatten sie die Mauer, die die beiden Stadtteile voneinander trennte, durchbrochen und die halb verfallenen Straßen und Gebäude renoviert.

Entgegen ihrem Namen war die Forgotten Road nicht länger vergessen – die meisten Häuser erstrahlten bereits in neuem Glanz. Auf dem Marktplatz hatte sich dagegen gar nicht so viel geändert. Hier herrschte immer noch ein buntes Wimmeln und Treiben, wenn sich die Menschen einmal in der Woche einfanden, um Waren zu verkaufen und Ideen auszutauschen.

Violet lief das Wasser im Mund zusammen, als sie an dem bunten Süßwarenladen vorbeifuhren, der vor einigen Monaten eröffnet und sich im Nu zu einem der beliebtesten Geschäfte von Town entwickelt hatte.

Vor dem alten Waisenhaus kam Boy zum Stehen. Die Kinder, die dort gelebt hatten, waren keine Waisen mehr. Sie waren zu ihren Familien zurückgekehrt, nachdem diese ihre Erinnerungen wiederbekommen hatten, die ihnen während der Herrschaft der Archer-Zwillinge geraubt worden waren. Das Waisenhaus selbst war in seinem ursprünglichen Zustand belassen worden und diente nun als Museum für Towns bedrückende Vergangenheit.

William hatte Violet erklärt, dass das Museum dafür gedacht war, dass die Menschen Perfect niemals vergaßen. Im ersten Moment war Violet das ziemlich bescheuert vorgekommen, schließlich war es doch genau das, was die Menschen wollten. Sie hätten die Erinnerungen an die furchtbaren Dinge, die in Perfect geschehen waren, am liebsten ein für alle Mal aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Zumindest galt das für ihre Mam. Rose regte sich jedes Mal ganz schrecklich auf, wenn Violet darauf zu sprechen kam. Doch William hatte gesagt, dass die Vergangenheit zwar manchmal schmerzhaft war, es aber gerade deswegen so wichtig sei, sie niemals zu vergessen. Nur so ließ sich vermeiden, dass so etwas noch mal passierte. »Erinnerungen sind flüchtig, Violet«, hatte er gewarnt. »Wenn wir unsere Vergangenheit vergessen, holt sie uns bald wieder ein.«

»Die sehen okay aus«, meinte Boy und riss Violet damit aus ihren Gedanken. Er untersuchte die Augenpflanzen entlang der Forgotten Road, dem ersten Beet, das sie überprüfen sollten.

Die Beete bestanden aus jeweils zwei Meter langen Ovalen, die von weiß getünchten Pflastersteinen eingefasst wurden. In der tiefroten lehmigen Erde wuchsen Reihen von etwa kniehohen Augenpflanzen. Neben jedem Beet befand sich ein kleiner Tank, der von Mr Hatchet, dem Metzger, wöchentlich mit frischem Blut befüllt wurde, damit die Pflanzen immer ausreichend versorgt waren.

Violet legte ihr Fahrrad auf dem Boden ab und ging hinüber, um sich die Pflanzen ebenfalls genauer anzusehen.

Eine von ihnen war gerade bei der Nahrungsaufnahme. Ihr roter Stängel pulsierte, während sie die Nährstoffe aus dem feuchten Boden aufsog. Ihre durchscheinenden, hautähnlichen Blütenblätter waren geöffnet und ihr Augapfel folgte Boy bei jeder seiner Bewegungen argwöhnisch.

»Pass lieber auf, dass du sie nicht reizt«, warnte Violet ihren Freund.

Sie musste an die unheimlichen Schreie denken, die die Pflanzen von sich gaben. Das letzte Mal hatte sie sie in jener Nacht gehört, in der Edward Archer verschwunden war, und wenn es nach ihr ging, konnte das auch gerne so bleiben.

»Die Dinger sind megagruselig«, raunte sie, ohne den Blick von dem blutunterlaufenen Augapfel abzuwenden, der sie nun seinerseits fixierte.

»Diese ›Dinger‹ sorgen für unsere Sicherheit, Violet«, entgegnete Boy, während er behutsam auf allen vieren im Beet herumkroch.

»Also, ich seh keine Probleme«, verkündete Violet eine Minute später. Sie richtete sich auf und klopfte sich den Dreck von der Hose.

»Wow, du hast ja wirklich gründlich gesucht!«, höhnte Boy, der immer noch mitten im Beet hockte.

»Ja, hab ich. Mindestens so gründlich wie du jedenfalls.«

»Ach ja? Und wieso sitze ich dann immer noch hier unten?«

»Bitte … können wir nicht einfach verschwinden? Ich halte es nicht länger aus, die Augen aus der Nähe anzugucken. Die sind eklig!«

Lachend rappelte Boy sich auf und griff nach seinem Fahrrad. »Na gut. Die scheinen sowieso in Ordnung zu sein. Aber ich dachte, du hättest vor gar nichts Angst?!«

»Ich hab ja auch keine Angst«, schnaubte sie empört, »ich mag die Dinger nur einfach nicht ansehen!«

Boy wollte gerade etwas erwidern, doch dann verstummte er und blickte sich um. »Erinnert dich das an was?«

Violet zuckte mit den Schultern und stieg auf ihr Rad. »Was meinst du?«

»Die Stille und die leeren Straßen.«

»Nee, warum?«

»Findest du nicht, dass das ein bisschen wie früher ist, als wir zusammen nachts durch Perfect geschlichen sind und außer uns und den Hütern niemand unterwegs war?«

»Ja, kann schon sein«, antwortete sie. »Ich weiß bloß nicht, ob ich mich so gerne daran erinnern möchte.«

»So schlimm war es auch wieder nicht.« Boy trat in die Pedale. »Manchmal war es richtig aufregend! Town ist so normal.«

»Daran ist doch nichts verkehrt! Fehlt dir die Gefahr, oder was?«, fragte Violet verwirrt.

»Nein, aber ein bisschen Abenteuer schon. Irgendwie sehne ich mich danach, mal wieder mit dem Feuer zu spielen.«

»Mit dem Feuer spielen? Was redest du denn da?«

»Ich meine ja kein echtes Feuer. Ich vermisse nur einfach den Nervenkitzel, wenn man Dinge macht, die verboten sind. So wie über die Mauer nach Perfect klettern oder die Hüter an der Nase rumführen. Hier fühlt sich alles immer so sicher und geordnet an.«

»Ist das denn nicht gut?«, fragte Violet, während sie hinter ihrem Freund herfuhr.

»Doch, schon. Aber manchmal ist es eben auch langweilig!«, rief Boy und bog in eines der Sträßchen, die zum Marktplatz führten.

»Du bist langweilig!«, spottete Violet und schoss in der engen Gasse an ihm vorbei.

Boy duckte sich und sprintete hinter ihr her. Vor dem Lumpenbaum im Zentrum des Platzes kamen sie schlitternd zum Stehen, wobei sie beinahe ineinanderkrachten.

»Gewonnen!«, keuchte Violet und riss die Hände in die Luft.

»Nein, ich hab gewonnen! Ich gewinne immer – so sind die Regeln!« Lachend sprang Boy vom Fahrrad und hüpfte in gespieltem Jubel auf und ab.

»Du kannst nicht immer gewinnen!«

»Doch, kann ich wohl. So sind die Regeln.«

»Regeln, die du dir ausgedacht hast!« Violet boxte ihn gegen die Schulter.

»Regeln sind Regeln, Violet«, erwiderte Boy achselzuckend, während er auf das nächste Beet auf ihrer Liste zuging.

Violet wollte gerade etwas erwidern, als Boy sich mit ernster Miene zu ihr umdrehte.

»Wir müssen Dad herholen. Schnell, gib mir das Walkie-Talkie!«

»Warum? Was ist los?« Sie eilte zu ihm und reichte ihm das Gerät.

In der Mitte des Beets klaffte eine unübersehbare Lücke, als hätte jemand die Pflanzen dort großflächig ausgerissen.

»Die ham zum Gotterbarmen geschrien. Hab nen Heidenschreck gekriegt!«, rief eine Stimme hinter ihnen. »Ich wollte deinem Vater gleich in der Früh Bescheid sagen. Aber jetzt bist du ja hier, da kann ich mir die Mühe sparen.«

Violet blickte sich um. Ein alter Mann beugte sich aus dem obersten Fenster eines der Häuser, die am Rand des Marktplatzes standen.

»Um wie viel Uhr war das?«, erkundigte sich Boy. »Konnten Sie jemanden beobachten?«

»Spät war’s, nach Mitternacht, würd ich sagen«, antwortete der Mann. »Das Kreischen war scheußlich, schlimmer als kämpfende Katzen. Gesehen hab ich niemanden, aber es war ja auch dunkel.«

Boy sprach ins Walkie-Talkie und wandte sich dann an Violet.

»Dad reagiert nicht. Lass uns zum nächsten Beet weiterfahren.«

Die beiden stiegen auf ihre Räder und rasten durch die Wickham Terrace, vorbei an Boys Zuhause, zu der Fußgängerbrücke, wo sich das letzte Beet befand, das sie überprüfen sollten.

»Hier sieht es genauso aus – einige Augen fehlen«, verkündete Boy außer Atem. Er warf seiner Freundin einen besorgten Blick zu.

Wieder versuchte er, William über das Walkie-Talkie zu erreichen, doch anstelle einer Antwort ertönte bloß ein leises Rauschen. Das Geräusch erinnerte Violet an Blätter im Wind.

»Dad, jemand stiehlt die Augenpflanzen. OVER!«, wiederholte Boy überdeutlich. »Dad … Dad?«

Gleichbleibendes Rauschen drang durch die Morgendämmerung.

»Ehrlich, Dad würde glatt seinen eigenen Kopf vergessen, wenn der nicht an ihm festgewachsen wär.« Genervt verdrehte Boy die Augen und schob das Gerät in seine Hosentasche. »Los, fahren wir zu ihm. Beeil dich, Violet!«

Kindische Streiche

Über Town ging gerade die Sonne auf, als Boy und Violet in halsbrecherischer Geschwindigkeit in die Edward Street bogen und so schnell sie konnten zum Gehirn zurückrasten. William Archer war immer noch mit verschiedenen Einstellungen beschäftigt. Er hing so dicht vor den Monitoren, dass seine Nase fast das Glas berührte, während er an irgendwelchen Knöpfen herumdrehte.

»Was ist los?«, fragte er, als er die beiden bemerkte. »Habt ihr was gefunden?«

»Wir haben einen Mann getroffen, der meinte, die Augen hätten letzte Nacht geschrien. In den Beeten auf dem Marktplatz und an der Brücke fehlen einige Pflanzen«, berichtete Boy atemlos.

William wirkte verwirrt. »Wie meinst du das? Sind sie eingegangen? Umgefallen? Ich kann dir nicht ganz folgen.«

»Nein, sie sind weg, Dad. Als ob jemand hingegangen ist und sie ausgerissen hat«, stellte Boy klar.

»Ach herrje. Sind die Beete denn komplett kahl?« William kratzte sich am Kopf.

»Nein, es fehlen bloß ein paar Pflanzen«, antwortete Violet.

»Aber wenn jemand sie ausgerissen hat, müssten die restlichen Pflanzen das doch mitbekommen haben. Warum ist auf den Monitoren nichts davon zu sehen? Das ist seltsam, wirklich seltsam …«

Violet und Boy beobachteten stumm, wie William Archer vor ihnen auf und ab marschierte und dabei nachdenklich vor sich hin brummte.

»Wir müssen dem Stadtrat Bescheid sagen. Wahrscheinlich hat sich da nur irgendwer einen Streich erlaubt – aber trotzdem. Ich wünschte, die Leute würden die Finger von den Augenpflanzen lassen, die sind sehr empfindlich.«

»Empfindlich? Wohl eher widerlich«, raunte Violet Boy zu.

»Für Crooked ist das natürlich ein gefundenes Fressen! Violet, würdest du Eugene ausrichten, dass ich nachher vorbeikomme, um das alles mit ihm zu besprechen?«

»Was ist denn los, Dad?«, fragte Boy.

»Keine Ahnung, mein Junge, aber wie gesagt: Ich vermute, das war bloß ein dummer Streich.« William warf Boy einen eindringlichen Blick zu. »Lass uns deiner Mutter trotzdem erst mal nichts davon erzählen. Zumindest nicht, bis wir mehr wissen. Sie hat auch so schon genug um die Ohren.«

Boy nickte.

»Ist es okay, wenn ich noch mit Violet mitfahre?«, fragte er.

»Klar, aber danach kommst du auf direktem Weg nach Hause«, antwortete sein Dad, während er sich bereits abwandte.

Boy nickte erneut und radelte los.

»Ich finde auch alleine nach Hause, Boy«, verkündete Violet, sobald sie ihn eingeholt hatte.

»Weiß ich doch – ich will bloß noch nicht zurück!« Er lächelte und setzte sich wieder an die Spitze.

»Warum hat dein Dad das über deine Mam gesagt?«, fragte Violet, als sie zum zweiten Mal zu ihm aufschloss.

»Was meinst du?«

Die Sonne lugte gerade hinter dem Uhrenturm des Rathauses hervor, als sie an Archer & Brown vorbeifuhren und von der Edward Street in die Splendid Road bogen.

»Dass du ihr nichts von den Augenpflanzen erzählen sollst, weil sie schon genug um die Ohren hat.«

Boy antwortete nicht. Er wirkte ungewohnt bedrückt.

»Stimmt was nicht?«, erkundigte sich Violet, die sich jetzt ernsthaft Sorgen machte.

»Nein … Ach, keine Ahnung, ich weiß auch nicht …«

»Du kannst es mir sagen. Ich bin deine beste Freundin.«

»Ich weiß, Violet, ich hab bloß keine Ahnung, was ich sagen soll. Mam benimmt sich merkwürdig. Sie schleicht durchs Haus und wirkt irgendwie neben der Spur. Sie hört auch gar nicht mehr richtig zu, als wäre sie in Gedanken ganz woanders.«

»Hast du schon mit deinem Dad geredet?«

»Ja, aber der hat nur so komisch rumgedruckst und meinte, sie hätte wohl Schwierigkeiten, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen, nachdem die Zwillinge sie über Jahre hinweg in dem einen kleinen Zimmer eingesperrt haben. Das kauf ich ihm aber nicht ab. Ich glaub, er weiß genau, was los ist. Ich hab sie schon ein paarmal miteinander tuscheln gehört. Warum machen Erwachsene das?«

»Das kenne ich.« Violet seufzte. »Sie tun so, als hätten wir Kinder keine Ohren! Vielleicht hat sie ja bloß Stress? Das kommt bei Erwachsenen oft vor. Scheint eine Art Grippe oder so was zu sein.«

Boy lachte. »Ich glaube nicht, dass Stress wie Grippe ist, Violet!«

»Trotzdem: Vielleicht hat William recht«, fuhr Violet fort, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. »Ich meine, ich war nur ein paar Minuten in Maculas Zimmer, aber ich kann mir vorstellen, wie schlimm es gewesen sein muss, so lange dort eingesperrt zu sein. Das Einzige, was sie tun konnte, war rumsitzen und Briefe schreiben.«

Violet dachte an den dunkelroten Teppich und die luxuriösen Mahagonimöbel. Der Kontrast zu dem baufälligen Haus in der Geistersiedlung, in dem sich das Zimmer befand, hätte kaum größer sein können. Die Gemälde an den Wänden hatten etwas Wildes, Lebendiges ausgestrahlt, ein Gefühl von Freiheit. Violet erinnerte sich, wie sie in diesem Zimmer gesessen hatte und ihr Blick auf einem der unzähligen Briefe gelandet war, die Macula im Lauf der Zeit an ihre Jungs geschrieben hatte.

»Sie spricht nie über diese Zeit.« Boy seufzte.

»Mam sagt immer, es ist wichtig, über alles zu reden, ganz besonders über schlimme Dinge. Denn wenn man das nicht macht, bleiben sie im Kopf und können dort immer größer und größer werden. Bis sie sich irgendwann viel schlimmer anfühlen, als sie es am Anfang vielleicht waren.«

»Na, in deinem Kopf scheint ja echt was los zu sein!«, scherzte Boy.

»Ha, ha, sehr witzig!« Violet grinste. Sie hatten die Treppe vor ihrem Haus erreicht.

»Alles klar, dann mach ich mich wohl besser mal auf den Heimweg. Bis nachher in der Schule.«

»Hey, Boy!«, rief sie ihm leise nach, als er sein Fahrrad wendete.

»Ja?«

»Das mit deiner Mam wird schon wieder. Denk dran, meine Mam hat ihre Fantasie verloren und stand komplett unter der Kontrolle der Zwillinge und ihr geht es auch wieder gut. Eltern machen sich einfach gerne Sorgen, das ist halb so wild.«

»Danke, Violet.« Er lächelte, wenn auch ein wenig schief.

Sie sah ihm nach, bis er am Ende der Auffahrt um die Ecke bog und aus ihrem Blickfeld verschwand. Dann stieg sie vom Rad, schob es ums Haus herum und lehnte es an seinen gewohnten Platz. Gerade als sie die Treppe zum Eingang hinauflief, ertönte über ihr ein lautes Donnergrollen.

Violet zuckte erschrocken zusammen. Am Himmel zog ein gewaltiges Gewitter auf.

In Perfect hatte immer die Sonne geschienen – oder jedenfalls hatten die Leute das geglaubt. Mit dem Untergang der Archer-Zwillinge waren die Dinge, darunter auch das Wetter, zur Normalität zurückgekehrt. Trotzdem herrschte in Town für gewöhnlich gutes Wetter. Die meiste Zeit war es sonnig, nur ab und zu gab es mal einen Regenschauer. Ein Gewitter hatte Violet hier jedoch noch nie erlebt. Sie hatte fast schon vergessen, wie sich das anfühlte.

»Wieso bist du denn so früh schon auf?«, fragte ihr Vater, als sie die Haustür hinter sich schloss. Er stand auf der anderen Seite der Diele im Halbdunkel.

»Hast du den Donner gehört, Dad?«, erwiderte sie mit großen Augen.

»Das war also das Geräusch. Ich hatte schon Angst, es wäre mein Magen!« Eugene Brown grinste. »Was hast du da draußen gemacht?«

»Boy hat mich abgeholt.«

»Um diese Uhrzeit?«

»Ja. William brauchte unsere Hilfe. Es gab ein Problem mit den Augenpflanzen.«

»Ich dachte, das hätte er gestern Abend behoben?«

Sie gingen in die Küche, setzten sich an den Tisch und Violet erstattete ihrem Dad Bericht. Gerade als sie fertig war, klopfte es und William kam herein.

»Gibt es was Neues?«, erkundigte sie sich, als er die Küche betrat.

»Leider nein, Violet. Ich bin noch mal alle Aufnahmen durchgegangen, aber da ist nichts. Die anderen Augen haben den Angriff nicht registriert. Es ist wirklich seltsam, fast so, als würde irgendwas das Signal stören.«

»Violet hat mir erzählt, was los ist, William«, sagte Eugene. »Setz dich, ich mach dir eine Tasse Tee.«

Nach dem Ende von Perfect hatte die Begeisterung für das Getränk in der Stadt stark nachgelassen – immerhin hatten die Archer-Zwillinge ihren Tee genutzt, um die Menschen erblinden zu lassen. Doch dann waren Violets Dad und William auf die Idee gekommen, die Teefabrik als »gemeinschaftsfördernde Maßnahme« wieder in Betrieb zu nehmen. Violet hatte nicht ganz verstanden, was das bedeutete, also hatte ihr Dad es ihr erklärt: Durch die Fabrik hatten die Bewohner von Perfect und Niemandsland etwas, woran sie gemeinsam arbeiten und einander besser kennenlernen konnten. In der Anfangszeit von Town war es den Menschen teilweise noch etwas schwergefallen, einander zu vertrauen. Die Fabrik war ein Weg, ihnen zu zeigen, dass sie gar nicht so verschieden waren.

Einen Monat nach Edwards Verschwinden war die Produktion wieder angelaufen. Es hatte ein wenig gedauert, doch schließlich war der Plan tatsächlich aufgegangen. Die Menschen waren einander nicht bloß nähergekommen, sondern hatten nach und nach auch wieder angefangen, Tee zu trinken.

Inzwischen war die Marke Volle Kanne in sämtlichen Haushalten der Stadt zu finden. Eugene war besonders stolz auf den ergänzenden Slogan »Vereint für Town«, der in großen Buchstaben auf die violetten Päckchen gedruckt war und als neuer Schriftzug über dem Fabriktor in der George’s Road prangte. Denn so stand nun überall: »Volle Kanne vereint für Town«.

Auch Violet freute sich, dass es den Tee wieder gab. Er wurde nämlich aus den Blättern der Chamäleonpflanze gemacht, die dafür sorgten, dass der Tee immer genau nach dem schmeckte, worauf man gerade Lust hatte. Der einzige Unterschied zu früher war, dass man nicht mehr blind wurde, wenn man ihn trank. Daran war das Mittel schuld gewesen, das die Archer-Zwillinge ihrem Tee beigemischt hatten – und auf diese Zutat verzichtete man bei Volle Kanne natürlich.

»Danke, Eugene«, sagte William. Ein sorgenvoller Ausdruck lag auf seinem Gesicht, als er sich setzte. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was da vor sich geht. Wenn ihr mich fragt, hat sich da vermutlich bloß jemand einen Scherz erlaubt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer in Town mit böser Absicht etwas stehlen würde – schon gar nicht diese Pflanzen.«

»Und niemand hat etwas beobachtet?«

»Mr Eton sagt, er hätte die Pflanzen schreien gehört und aus dem Fenster geguckt, aber weit und breit niemanden gesehen. Das Gleiche haben auch noch ein paar andere berichtet. Eine Person meinte, sie hätte Boy ganz in der Nähe entdeckt, als das Geschrei losging, was aber nicht sein kann. Boy und Violet waren erst dort, als die Pflanzen längst weg waren.«

»Wirklich seltsam.« Eugene schüttelte nachdenklich den Kopf. »Vincent wird sich bei der Sitzung heute Abend wahrscheinlich gar nicht mehr einkriegen. Aber natürlich müssen wir trotzdem den Stadtrat benachrichtigen, erst recht in Anbetracht der Umstände.«

»Ich kann mich ja mal in der Schule umhören, Dad«, schlug Violet vor. In ihr wurde ein altbekanntes Kribbeln wach. Wie sehr es ihr fehlte, Nachforschungen anzustellen und Dingen auf den Grund zu gehen! »Vielleicht waren es irgendwelche Kinder, die das einfach nur lustig fanden.«

»Lass nur, Mäuschen. Wir kriegen schon raus, wer das war«, winkte Eugene ab. »Glaubst du, es könnte …« Er unterbrach sich abrupt, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und wandte sich dann an seine Tochter.

»Mäuschen, du solltest dich langsam für die Schule fertig machen, sonst kommst du wieder zu spät.«

»Aber Dad! Ich will das auch hören! Kann ich nicht noch ein bisschen hierbleiben?«

»Violet!« Der Tonfall ihres Dads verriet, dass er keinen Widerspruch duldete.

Im Schneckentempo stand Violet auf und verließ die Küche. Eugene schloss die Tür hinter ihr. Violet ging noch ein paar Schritte, dann huschte sie auf Zehenspitzen zurück und drückte vorsichtig ihr Ohr gegen das cremeweiße Holz.

»Violet hat immer noch Albträume wegen Edward. Ich dachte, das sei vorbei, aber letzte Nacht hatte sie wieder einen. Das konnte ich hören«, erklärte Eugene auf der anderen Seite der Tür. »Deswegen wollte ich vor ihr nicht darüber reden.«

»Edward?«, fragte William.

»Ja. Glaubst du, er könnte zurückgekommen sein?«

»Violet Brown!« Die entrüstete Stimme ihrer Mutter hallte durch die Diele.

Im nächsten Moment schwang die Küchentür nach innen auf. Violet verlor das Gleichgewicht und stolperte vorwärts.

»Violet!«, rief ihr Vater. Er wirkte enttäuscht. Violet hasste es, wenn er sie so ansah. »Was hab ich dir übers Lauschen gesagt? Jetzt geh und mach dich für die Schule fertig!«

»Aber Dad, wenn Edward wieder da ist, will ich das wissen! Das dürft ihr nicht vor mir geheim halten.«

»Ist er nicht, Mäuschen. Ich habe bloß laut nachgedacht, das ist alles.«

»Mein Bruder kommt nicht zurück, Violet. Das war nicht sein Werk.« William stand auf und ging zur Tür. »Er hat es nicht nötig, die Pflanzen zu stehlen, immerhin hat er sie erfunden.«

Eugene räusperte sich. »Nicht nur er …«

Obwohl die Grundidee hinter den Augenpflanzen ganz und gar abscheulich war, war Violets Dad dennoch ein bisschen stolz darauf, dass er bei der Entwicklung geholfen hatte. Ihm zufolge waren sie an und für sich etwas Gutes und bloß von schrecklichen Menschen für ihre widerwärtigen Zwecke missbraucht worden.

William nickte und drehte sich zu Violet um. »Sollte mein Bruder eines Tages doch wieder auftauchen, seid Boy und du die Ersten, denen ich Bescheid sage«, versicherte er ernst. »Ihr habt die Menschen hier gerettet. Ihr habt meinen Brüdern das Handwerk gelegt, Violet. Wir sind ein Team, wie schon gesagt.«

»Danke.« Violet lächelte stolz.

Sie rannte nach oben, zog sich für die Schule an und stürmte zur Haustür hinaus. Im Vorbeilaufen verabschiedete sie sich von William und ihren Eltern, die immer noch in der Küche standen. Draußen angekommen, schwang sie sich auf ihr Fahrrad und sauste in Richtung Town.

Die Sonne lugte bereits wieder hinter den Wolken hervor.

Lügen

Im Schatten der Bäume flitzte Violet die Allee in Richtung Innenstadt entlang und bog in die Splendid Road. Sie winkte Mr Hatchet zu, der draußen vor seiner Metzgerei den Gehweg fegte. Er winkte freundlich zurück.

Die Leute in Town waren allesamt nett zueinander – und zwar wirklich nett, nicht so künstlich und aufgesetzt wie damals in Perfect.

In der Edward Street nahm Violet die Abzweigung nach rechts und hielt kurz darauf vor der Schule an. Sie lehnte ihr Fahrrad gegen die Mauer und machte sich auf den Weg zum Eingang.

»Besorg dir lieber mal ein Schloss dafür«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Violet drehte sich um und blickte in das Gesicht von Beatrice Prim – dem wohl nervigsten Mädchen der Schule. Oder zumindest ihrer Klasse.

»In Town benutzt kein Mensch Fahrradschlösser«, winkte Violet ab.

»Jetzt schon«, beharrte Beatrice. »Hast du es etwa noch nicht gehört?« Das rothaarige Mädchen senkte die Stimme, als würde sie Violet ein großes Geheimnis anvertrauen. »Letzte Nacht wurde Lucy Lawns Fahrrad geklaut. Direkt vor ihrem Haus! Das hat ihre Mutter meiner Mam vorhin am Schultor erzählt. Lucy hat das Ganze so mitgenommen, dass sie heute nicht zur Schule kommen kann!«

»Oh«, erwiderte Violet überrascht. Also waren nicht nur die Augenpflanzen betroffen. Bis jetzt hatte sie noch nie gehört, dass in Town irgendwem irgendwas gestohlen worden war.

Ihrem Dad zufolge war Town einer der sichersten Orte der Welt. Sogar sicherer als Perfect, wo die Leute einfach nur gemacht hatten, was die Archer-Zwillinge ihnen gesagt hatten. Sie hatten ihnen buchstäblich blind gehorcht. Doch jetzt achteten die Menschen aufeinander, weil sie gelernt hatten, sich und die anderen mit ganz neuem Respekt zu sehen.

»Aber vielleicht hat sich jemand das Rad ja bloß kurz ausgeliehen und bringt es später wieder zurück«, wandte Violet ein.

»War ja klar, dass du das sagst.« Beatrice verzog das Gesicht.

»Was soll das denn heißen?«

»Du bist seine beste Freundin – kein Wunder, dass du ihn verteidigst.«

»Wovon redest du bitte?« Langsam wurde es Violet zu blöd.

Beatrice lächelte und trat einen Schritt zurück.

»Lucy sagt, sie hat gesehen, wie Boy es gestohlen hat. Ungefähr zur gleichen Zeit, als auch diese ekligen Augen verschwunden sind. Sie hat ein Geräusch gehört und aus dem Fenster geguckt. Er war es, das schwört sie!«

»Tja, er kann es aber nicht gewesen sein«, entgegnete Violet bestürzt. »Wir waren letzte Nacht zusammen unterwegs und haben garantiert keine Fahrräder geklaut. Klär in Zukunft erst mal ab, ob das stimmt, was du rumerzählst, bevor du Lügen über andere verbreitest.«

»Du kannst Lucy ja selber fragen.« Beatrice machte auf dem Absatz kehrt, warf ihre Haare schwungvoll zurück und marschierte ins Schulgebäude.

Wie konnte irgendwer behaupten, Boy würde Fahrräder klauen? Er würde stinkwütend sein, wenn sie ihm davon erzählte. Klar, Beatrice war eine blöde Ziege, aber das ging sogar für ihre Verhältnisse zu weit.

Als Violet den Klassenraum betrat, saßen alle anderen bereits auf ihren Plätzen.

»Wie schön, dass du dich entschlossen hast, uns Gesellschaft zu leisten!«, begrüßte Mrs Moody sie. Ihr Tonfall verriet, dass sie es alles andere als »schön« fand.

Violet nickte stumm und ging mit gesenktem Kopf zu ihrem Tisch. Selbst Boy hatte es vor ihr geschafft. Sie zwängte sich neben ihn.

»Du errätst nie, was Beatrice mir gerade erzählt hat«, raunte sie ihm zu.

»Violet Brown«, schimpfte Mrs Moody, »im Unterricht wird nicht geredet!«