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Inmitten einer Operation erwacht der erfolgreiche Betriebswirt Lukas und findet sich als einzigen Überlebenden unter Toten wieder. In einer menschenleeren Welt führt er einen verzweifelten Kampf gegen quälende Fragen, erschütternde Eindrücke und eine zerstörerische Einsamkeit.
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Seitenzahl: 467
Veröffentlichungsjahr: 2024
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X
X Tag 0 Abwärts
X Tag 4 Aufstehen
X Tag 5 Aufwärts
X Tag 8 Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
X Tag 121 Standhaftigkeit
X Tag 173 Generativität
X Tag 175 Resilienz
X Tag 176 Quelle der Weisheit
X Tag 268 Das Erbe der Menschheit
X Tag 304 Raubtiere wie wir
X Tag 308 Was vom Tage übrig war
X Tag 401 Das Lagerfeuer
Gewaltenteilung
X Tag 402 Die geöffnete Käfigtür
Ruhe. Leiser als gewohnt, schwebend über allen Problemen. Das Gefühl tiefer Entspannung. Kein hektischer Traum, keine quälende Verarbeitung von Eindrücken, gefolgt von Ratlosigkeit nach dem Erwachen. Nur tiefe, unendliche Dunkelheit.
Der schlichte Satz „Das muss raus!“ hatte mich in diese Ruhe geführt. Kühl, fast beiläufig ausgesprochen durch eine junge Ärztin auf einem runden Lederhocker mit Rollen, in einem Hin und Her zwischen Monitoren und meiner Liege, jeder Richtungswechsel begleitet durch das Ächzen der kleinen Plastikrollen des Hockers auf einem wasserabweisenden Bodenbelag. Geduldig, aber angespannt hatte ich auf der mit Papier bedeckten Liege mit einem grünen Kunstlederbezug ausgeharrt, mich bis zu diesem Moment unbesiegbar gefühlt. Aber es war nur eine erste Meinung gewesen, gestützt durch ein Gesundheitssystem, welches einem medizinischen Laien wie mir eine ärztliche Meinung anlasslos in Zweifel stellen ließ. Sollte das Ergebnis nicht meinen Vorstellungen entsprechen, könnte ich weitere Ärzte konsultieren, gebilligt und ohne Gegenwehr bezahlt durch meine Krankenkasse.
Oder rührte mein Misstrauen aus der Annahme, dass Ärztinnen und Ärzte letztlich auch nur die gleichen Jungs und Mädchen waren, mit denen man zu Schulzeiten an der Bushaltestelle gestanden hatte, verunsichert im Bestreben, sich möglichst nicht zu blamieren, cool zu wirken?
Viele Dinge hatten durch das Erwachsenwerden einen Entzauberungsprozess erfahren. So auch Berufe, deren Ausübung man als Kind ehrfürchtig einer anderen Art Mensch zuschrieb, intelligenter, kompetenter als man selbst, irgendwie unerreichbar und exklusiv. Doch auf dem Weg des Erwachsenwerdens hatte man die Menschen hinter den Berufen erkannt, die gleichen Schwächen wie bei einem selbst bemerkt, die man nur zu gut kannte. Herr Gauß hatte wohl auch bei der Verteilung von menschlichen Stärken und Schwächen recht behalten sollen. Vielleicht war für das Infrage stellen einer ärztlichen Meinung aber auch nur die Kompatibilität zwischen der Botschaft und der eigenen Hoffnung entscheidend. Verblüffend kompatibel hatten sich jedoch die Aussagen Nummer zwei und drei der weiteren Ärztinnen und Ärzte gezeigt, welche ich in den folgenden Wochen konsultiert hatte. Keiner hatte es „dabei belassen“ wollen, es „erst einmal beobachten“, „abwarten, wie es sich entwickelt“, „einen Termin für eine Kontrolle in drei Monaten“ vorgeschlagen. All diese Aussagen, auf welche ich mich noch eingelassen hätte, zwar nicht wünschenswert, dennoch kompromissfähig, blieben aus. Alle hatten sich festgelegt, „es muss raus“. Ob es schlimm sei, mich gar umbringen würde? Hierzu waren alle einhellig ausgewichen, hatten keine eindeutige Einschätzung abgeben wollen. Vielmehr wurde auf ausstehende Laboruntersuchungen verwiesen, auf Begriffe wie Biopsie und histologischer Befund verwendet. Worte, oft verwendet, ohne jemals eine tiefere Kenntnis über deren Bedeutung erlangt zu haben.
„Wahrscheinlich sei es aber gutartig, jedoch müsse es dennoch entfernt werden, sonst mache es mir früher oder später Probleme! Es sei gut, dass es so früh entdeckt worden sei“. Wieso etwas Gutartiges entfernen? Warum bedienten sich die Ärzte einer derartigen Nomenklatur und beschrieben etwas, was dringend durch einen operativen Eingriff entfernt werden müsse, als gutartig?
Die großen fünf Buchstaben „Krebs“, im Alltag mit einer gewissen Distanz gegenüber der eigenen Person wahrgenommen, es auf andere beziehend, aus dem empfundenen Schutz des „Nicht-betroffen-seins“ heraus.
„Gesundheit ist der Zustand unentdeckter Krankheiten“ hatte einmal ein Freund festgestellt. Eine nebenbei zitierte, kluge, wenn auch düstere Feststellung, welche in der Lage war, Störungen des inneren Gleichgewichts bei entsprechend anfälligen Persönlichkeitsstrukturen auszulösen. Für mich plötzlich realer, als es mir zu dem damaligen Zeitpunkt hätte bewusst sein können.
Aber was sollten wir Menschen denn machen? Uns ständig um alle möglichen Erkrankungen sorgen, uns einem kontinuierlichen Stress hingeben, jedes Ziehen und Zwicken, jeden Schmerz und jede Auffälligkeit unmittelbar ärztlich abklären lassen? Ist nicht gerade auch Stress bestens dazu geeignet, Erkrankungen einen fruchtbaren Boden zu bereiten? Bot das Leben in unserer Konsumgesellschaft nicht schon genug Anlass für andauernden Stress?
„Arbeite viel, dann bekommst Du das große Haus und den großen Wagen“ hatte einer meiner Lehrer zu Schulzeiten gemahnt, welchem das Etikett „Privatschule“ besonders schmückend erschien.
„Lebe viel, dann bekommst Du die wahren Freunde und die große Liebe“ hatte ich entgegnet, mir dabei die Verachtung der reichen Söhnchen und Töchterchen meiner Klasse gesichert. Welch Luxus es für die die Menschheit doch früher gewesen sein muss, Dinge und Umstände einfach nicht zu wissen. Andererseits würden die uns nachfolgenden Generationen vermutlich das Gleiche über uns sagen werden, obgleich wir uns, wie alle Generationen vor uns, immer auf dem Zenit der Erkenntnis und des Wissens wähnten, schmunzelnd über die Einfältigkeit und Ahnungslosigkeit der Vorfahren und ihren niedlichen Annahmen. Letztlich wird es wohl das Schicksal sein, was zuletzt schmunzelt, uns schon immer als das wahrgenommen hat, was wir wirklich sind, kleine, zufällig angeordnete Atomketten in einem endlosen Raum, den wir Universum nennen.
Wie schön musste es zu früheren Zeiten gewesen sein, sich weniger zu sorgen, den Begriff „Karriere“ nicht zu kennen, seine Arbeit als nützlichen Beitrag zur Gesellschaft zu wissen, im Hier und Jetzt zu leben? Vermutlich eine zu romantische Vorstellung, welche ihren Reiz bei Wörtern wie Wurzelentzündung oder Fraktur schnell verliert.
Plötzlich wurde es für mich real, als diese fünf Buchstaben die Lippen der Ärzte verließen und meiner Lebensplanung einen Haken versetzten. Sollte mich das wirklich beruhigen, dass es gut sei, dass es früh festgestellt worden sei? Ich wertete es als Beruhigung, besonders weil es mit meinem Prozess des Vaterwerdens deutlich besser harmonierte als eine ungeplante Auseinandersetzung mit der eigenen Begrenztheit.
„Es würde wohl eine kleine Narbe unterhalb des Bauchnabels zurückbleiben, hier wäre die Operationstechnik sehr fortgeschritten!“ hatte sie gesagt. Eine kleine Narbe, der kleinste gemeinsame Nenner des einseitigen Informationsaustausches. Eine kleine Narbe würde mich nicht um den Schlaf bringen. „Sport, Ernährung… alles könnte wieder so werden wie zuvor“. Also stimmte ich dem Eingriff schließlich zu.
Vollnarkose… wieder so ein Wort! Vieles, zu dem ich mein Einverständnis am Vortag des Eingriffs abgegeben hatte, hinterfragte ich nicht. „Ich kann es ja eh nicht ändern“ vereinfachte ich die Situation. Warum also nachfragen? Die Ärztin würde wohl wissen, ob es gut geht, oder nicht. Schließlich sei die Aufklärung und die damit verbundene Aufzählung von Risiken gesetzlich vorgeschrieben und für mich gleichzusetzen mit der Verpflichtung zum Lesen eines Beipackzettels von Medikamenten.
Bisher war mein Leben immer gut verlaufen, hatte ich unangenehme schlimme Schicksale nur aus der Beobachterrolle wahrnehmen dürfen. Warum sollte sich das ausgerechnet jetzt ändern? Nach dem Eingriff würde ich wohl erleichtert und tapfer zu meiner werdenden Familie zurückkehren, bald mein Kind willkommen heißen können, mit ihm oder ihr Burgen am Strand bauen, oder Fußbälle auf der Wiese treten. Auffällig erschien mir nur das Beschwichtigen sämtlicher Risiken. Sie müsse mich halt über vieles informieren, aber ich sei in einem Alter und einer körperlichen Verfassung, welche das Auftreten von Komplikationen unwahrscheinlich erscheinen lasse.
Der Morgen auf dem Weg zum Krankenhaus, wunderschönes Wetter. Es war eine dieser sommerlichen Morgen, dessen Geruch mich immer an das „Erster-Tag-der-Sommerferien“-Gefühl erinnerte, als Kind als reine Emotion und durch ein undefinierbares Gefühl im Solarplexus wahrgenommen. Dieses Gefühl, vor Glück zu platzen, sechs ewig wirkende Wochen Sommerferien, die Freibäder geöffnet, die Fahrradreifen aufgepumpt. Die Luft des Sommers, die Geräusche der Stadt… eigenartig, dass dieses reine Glück nur retrospektiv empfunden werden kann, verbunden mit Wehmut und Melancholie. Vielleicht war dies auch eine Folge des Entzauberungsprozesses, welchen man Erwachsenwerden nennt. Wie schön wäre es, wenn man sich des Glücks doch in dem Moment des Erlebens bewusst sein könnte, anstelle sich später nur daran zu erinnern. Hatte Goethe in seinem „Faust“ nicht hierüber geschrieben? Ich ärgerte mich, dass ich es als Schüler zu meiner inneren Haltung hatte werden lassen, die Sekundärliteratur den eigentlichen Werken vorzuziehen. Der Konsum von komprimiertem Wissen führt eben nur zu komprimiertem Wissen.
Die ältere Dame an der Pforte, die gestresste, dennoch freundliche Krankenschwester, welche mich eilig in die Umkleidekabine lotste, die OP-Schwester auf der anderen Seite der Schleuse…. alle waren bemüht und versuchten meine Angst vor dem Eingriff zu lindern. War sie so offensichtlich? Scheinbar sollte es mir nicht gelingen, diese zu überspielen. Vermutlich war es die Erfahrung, welche das Personal nicht auf meine kläglichen Kompensationsmechanismen hineinfallen ließ. Sicher war es bei ihnen jedoch auch der sommerliche Morgen gewesen, welcher gute Laune in ihr Gemüt zauberte, den beruflichen Alltag angenehmer gestaltete. Teilweise bemerkte ich fast eine Albernheit, wie man sie sonst nur unter Schulkindern kennt, was ich zunächst als deplatziert empfand, diese Atmosphäre einer nüchternen und unfreundlichen eigentlich jedoch vorzog.
Sam und ich hatten in diesem Jahr einem Spontan-Trip gegenüber einer Flugreise den Vortritt eingeräumt. Eltern werden bedeutete für uns neben all der Freude und Spannung vor allem auch das Vorbereiten unseres Zuhauses, den Nestbau. Wie teuer das Leben doch geworden war, welch hohe Summen für die Kinderausstattung die Besitzer wechselten. Die Industrie schien Eltern als wehrlose Konsumenten ausgemacht zu haben, welche, bedingt durch hormonelle Schwankungen und ein wachsendes Verantwortungsgefühl, scheinbar leichte Beute waren. Wer wollte schließlich nicht die beste und sicherste Sitzschale oder die allergieärmste Wäsche für seinen Nachwuchs kaufen wollen? Wer würde schon sparen können, wenn die Fernsehwerbung und das Wettrüsten im Kinderzimmer unter Freunden und Bekannten subtil die Botschaft vermittelten, dass gute Eltern schließlich nur ausgewählte und neue Produkte kaufen würden. Es bedurfte schon großer Selbstsicherheit, mit der günstigeren Alternative in der Hand eine Rückfrage an das Verkaufspersonal zu stellen und dabei den „Wenn-Sie-wirklich-bei-ihrem-Kind-sparen-wollen-Blick“ auszuhalten. Auch wir wurden schleichend zu dieser Beute, kauften lieber teuer neu, als gut gebraucht. Proportional zu jeder Anschaffung verkleinerte sich daher auch die Wahrscheinlichkeit auf einen Sommerurlaub, welchen wir jedes Jahr unternahmen und welcher der letzte Urlaub zu zweit für eine lange Zeit sein würde. Bewusst genießend, den Babybauch am Strand streichelnd, um sich anschließend vollkommen dem Leben zu dritt widmen zu können… es blieb bei diesem unausgesprochenen Wunsch.
Nicht zuletzt war es aber auch die bevorstehende erste Operation meines Lebens gewesen, welche allen Urlaubsplänen eine Absage erteilt hatte. Fatalistisch ging ich an die Sache heran, es würde eine Erfahrung mehr in meinem Leben bedeuten.
„Jeder Tausendste wache wohl nicht wieder auf“, las ich in einem der zahlreichen Online-Beiträgen. Ich hatte mir geschworen, all den selbsternannten Experten im World Wide Web keine Beachtung zu schenken, mich nicht von diesen Menschen beunruhigen zu lassen. Mein Vorhaben hatte genau zwei Tage gehalten, dann ertappte mich Sam, wie ich abends im Bett heimlich googelte. Trotz allen Schimpfens war es zu spät, der Keim auf die fruchtbare Erde gelangt. Woran es wohl liegen würde, dass manche einfach nicht aus der Narkose erwachen würden? Waren es die Medikamente? Wurden diese vielleicht nicht vertragen? Waren es unentdeckte Krankheiten, plötzlich dramatische Verläufe unter Narkose? Oder vielleicht doch nur eine der Routine zum Opfer fallende Aufmerksamkeit eines gelangweilten und übermüdeten Arztes, welcher den weinenden Angehörigen zwar den Totenschein, nicht aber die Wahrheit übergab?
Der Wievielte von tausend stirbt wohl im Straßenverkehr, oder wird bei einem abendlichen Spaziergang ausgeraubt, verunfallt tödlich beim Herabfahren einer schwarzen Piste, stürzt am Obstregal unglücklich auf den Kopf…. Statistiken… geprägt und geleitet in ihrer Aussagekraft durch die Intentionen der verfassenden Person, überzeugend oder abschreckend, einladend oder abwehrend.
„Augen zu und durch“, dachte ich mir und huschte in einem fragwürdigenden OP-Hemd mit freier Kehrseite und blauen Gummi-Clogs nach kurzem Zögern aus meiner Umkleidekabine. Bald schon würde ich Vater werden…. nur noch drei Monate! Bald schon würde ich wissen, ob es wirklich gutartig sei, ich eine Zukunft haben würde. Sehr bald schon läge ich in meinem Bett, in einem ruhigen Einzelzimmer, würde mich durch Freunde und Familie bedauern lassen, mich erholen. Der feine Humor des Anästhesisten beruhigte meine unruhige Gedankenwelt. Verstärkt wurde dieser durch einen südeuropäischen Akzent, welcher mich an Urlaube aus Kindheitstagen am Mittelmeer erinnerte. Seine Sprüche wirkten nicht einstudiert, vielmehr aufrichtig, spontan. Spanier? Grieche? Es klang vertraut, versetzte mich in eine bessere Stimmung, wohl konditioniert.
Meine Angst wahrnehmend strich er mehrmals mit seinen warmen Handschuhen über meinen Unterarm, schien routiniert im Umgang mit meiner Patientengruppe. Der Geruch des Desinfektionsmittels lag überall in der Luft, das Licht blendete unnatürlich hell. Ich vermied es, meine Angst zu zeigen, wollte stark wirken, unbeeindruckt von dem, was kommen würde. Ein schlicht nicht zu unterdrückendes Zittern in meiner Stimme und meinem Oberkörper gewann jedoch immer wieder die Oberhand, um sogleich mit aller Kraft wieder unterdrückt zu werden. Der Arzt ging wunderbar damit um, daran erinnere ich mich noch gut. Dann ein kleiner Stich am Handrücken, das Tropfen der Infusion.
„Schläfst Du gleich gut, mein Freund!“ waren die letzten Worte, die ich von ihm wahrnahm. Ein Satz formuliert als Fragestellung, gemeint als Aussage… irgendwie beruhigend. Dann wich das helle Licht der Dunkelheit, ohne dass ich den Übergang bemerkte. Krasses Zeug, was die einem da gaben.
Ein heftiger Druck im Hals unterbrach die tiefe Ruhe. Anfangs eher ein Gefühl, dann schnell heftige Realität. Zu schnell für das Bewusstsein, für ein Begreifen der Situation. Keine klaren Gedanken, unfähig Zusammenhänge zu verstehen, ein klares Bild zu finden. Panik! Strangulation? Die Unmöglichkeit, Gefühl und Wahrnehmung in einen stimmigen Einklang zu bringen.
Der Druck wurde stärker, unerträglich, wie in den Albträumen, in welchen ich mich regelmäßig nachts wiederfand, tauchend unter Wasser, den Blick zur hell glitzernden Wasseroberfläche gerichtet. Doch das Auftauchen dauerte in diesen Träumen immer quälend lang, zu lang und der Weg bis zur Oberfläche erschien stets unerreichbar. Alles Luft anhalten schien vergeblich, die Unterversorgung des Sauerstoffes lies im Schlaf die Arme und dann den ganzen Körper todbringend kribbeln. Dann plötzliches und heftiges Erwachen, Durchatmen, erleichtert über die andersartige Realität, zurück ins Kissen sinken!
Doch dieses Mal war es anders! Mit dem Öffnen der Augen offenbarte sich mir eine fremde, ungewohnte Welt aus gleißendem Licht und einer harten Unterlage! Leise Musik, gequält von schlechten Lautsprechern eines billigen Radios. Warntöne, von Zeit zu Zeit blitzendes, rotes Licht aus einem kleinen Kasten an der Zimmerdecke. Vor dem ersten klaren Gedanken ein reflexartiger Griff zu meinem Mund. Anders als sonst konnte ich nicht endlich durchatmen, musste weiter um Luft kämpfen! Jemand drückte meine Kehle zu, versuchte mich zu töten!
Immer noch ohne klare Gedanken und weit entfernt von gezieltem Handeln, erreichten meine Hände einen Gegenstand in meinem Mund, umfassten diesen und rissen ihn intuitiv heraus!
Schmerzen, Husten, Aufrichten, endlich Atmen gegen einen unbändigen Hustenreiz! Es war geschafft! Tränen drangen aus meinen Augen. Ich blickte erschöpft umher. Natürlich! Der Operationssaal! Kein Mensch anwesend, nur das krächzend Radio und die schrillenden Warntöne.
„Hallo?“ quetschte ich kraftlos ein erstes Wort aus meinem Hals.
Trotz fehlender Vorerfahrung kam mir diese Art des Aufwachens nach einer Narkose nicht normal vor.
„Das konnte so nicht geplant sein!“, war einer meiner ersten Gedanken.
Wut folgte der Panik, dann Erleichterung darüber, wiederatmen zu können. Wieso war niemand hier? Wie konnte ein frisch operierter Patient ohne Betreuung sich selbst überlassen werden?
Ich erinnere mich noch gut daran, wie schwer mir jedes weitere Wort aus meiner geschundenen Kehle fiel. Doch jeder Hilferuf blieb unbeantwortet, brachte keine Reaktion. Ich suchte in mich zusammengesackt auf der OP-Liege sitzend mit zusammengekniffenen Augen den Raum ab, blinzelte die Tränen fort.
Überall medizinische Geräte, Schläuche, Ständer. Immer wieder blitzte das rote Licht von der Decke. Es waren mehrere Warntöne, manche ganz nah, manche fern, manche in Tonfolgen, manche eher wie eine kurze Sirene. Dazu das typische Angebot an Radiomusik, welche mich immer an das Wartezimmer bei einem Zahnarztbesuch erinnerte.
Mit Daumen und Zeigefinger wischte ich die Tränen aus meinen Augen, rieb anschließend mit meiner linken Handfläche die Stirn. Gleich würde wohl jemand kommen, sich entschuldigen, meine Wut versuchen abzufedern.
Immer noch schnell atmend blickte ich mit einem abklingenden Reizhusten auf meine Hände, an welchen ich einen wiederkehrenden Luftstoß wahrnahm, der von einem röhrenden Geräusch begleitet wurde. Ich betrachtete das warme Stück Plastik in meiner Hand, welches ich eben noch aus meinem Mund gerissen hatte. Ein Schlauch mit einem großen Ballon am Ende… Flüssigkeit tropfte von dem offenen Ende herab. Irritiert hob ich diesen Schlauch an, wollte ihn näher betrachten, doch dieses Vorhaben führte zu einem Abriss des Verbindungsschlauchs am anderen Ende des Plastiks, welcher nun haltlos unter einem lauten Geräusch auf dem Boden aufschlug. Meine Blicke folgten dem langen, geriffelten Schlauch auf dem Boden hin zu einer Maschine. Nach und nach lichtete sich der Nebel meiner Gedanken und das Bild wurde klarer. Es musste sich um den Beatmungsschlauch handeln, bei der Maschine um meine Beatmungsmaschine.
„Sind die verrückt geworden?“ schoss es nun durch meinen Kopf.
Ratlos die Maschine anblickend, erkannte ich grüne Gummiclogs auf dem Boden, die Sohle nach oben gerichtet. In Ihnen zwei nackte Füße, zwei Beine, bedeckt durch eine dunkelblaue Stoffhose, wie man sie von medizinischem Personal kennt. Zentimeter um Zentimeter folgte ich den Beinen, ohne die Situation zu verstehen, bis ich schließlich verstand, dass es sich um die Schuhe des Narkosearztes handelte, welcher bäuchlings neben meiner Liege lag.
Ein Adrenalinstoß durchkam meinen Körper, Hitze stieg auf, ich verstand. Er musste ohnmächtig geworden sein. Das rote Licht blitzte immer weiter von der Zimmerdecke, die Warntöne verstummten nicht. Der Mundschutz des Arztes, der noch vor wenigen Augenblicken große Teile seines Gesichts verdeckt hatte, lag fest umklammert in seiner Faust, die Bänder an der einen Seite abgerissen.
„Was zur Hölle…“ schoss es nun durch meinen Kopf! Ich hörte von Berichten werdender Väter, welche in der ungewohnten Atmosphäre eines OP-Saals und einem Atmen gegen einen Mundschutz während einer Entbindung plötzlich umkippten wie ein Sack Reis. Ähnliches musste ihm wohl passiert sein.
Angestrengt schob ich meine bleiernen Beine seitlich über den Rand der Liege, wollte den Arzt so besser ansprechen können, ihm helfen, als ich langsam bemerkte, wie meine Stimme wieder an Kraft gewann.
„Oh Mann, was ist mit meinen Beinen?“ sprach ich leise zu mir selbst ich, waren diese doch schwer wie Beton. Zitternd versuchte ich mich auf meine Füße zu stellen, um mich dann zu dem am Boden liegenden Mann hinabbeugen zu können. Dann ein plötzlicher und stechender Schmerz an meinem rechten Handrücken. Einige Tropfen Wasser spritzten mir ins Gesicht, als der Schlauch der aufgebauten Spannung nachgab, aus meiner Hand herausriss und dunkles Blut aus der Einstichstelle der Kanüle quellen ließ. Reflexartig drückte ich die kleine Wunde ab, wand mich erneut dem bewusstlosen Arzt am Boden zu. Wie war gleich sein Name gewesen? Er hatte ihn mir gesagt.
„Hallo? Was ist los?“.
Keine Reaktion.
Ich beugte mich tiefer, rüttelte den Mann heftig an seiner Schulter. Er fühlte sich warm an. Sein Arm ließ sich leicht und ohne Gegenwehr bewegen.
„HEY, wach auf!!“.
Keine Reaktion.
Jemand musste dem Mann helfen, gab es keinen Notdienst? Hörte eigentlich niemand diese Warntöne? Suchend richtete ich mich wieder auf. Irgendwo musste doch ein Telefon sein! Langsam und vorsichtig schritt ich an dem Arzt vorbei, als auf der anderen Seite der Liege das nächste Paar grüner Clogs zum Vorschein kam. In den Luftlöchern des rechten Schuhs steckte ein kleiner gelber Smiley-Sticker, grinste über das ganze Gesicht. Auch in diesen Clogs steckten Füße, welche zu einem ebenfalls regungslosen Körper gehörten.
Es war die OP-Schwester, welche mich von meiner Umkleide in den Saal geführt hatte. Auch ihr Mundschutz war abgerissen, gehalten in ihrer Hand. Auch sie lag bäuchlings und ohne jede Reaktion auf dem sterilen Boden des Raumes. Unter ihrem Kopf war Blut zu erkennen, ausgetreten aus einer Platzwunde an ihrer rechten Augenbraue. Was konnte nur passiert sein? Langsam wurde mir der Ernst der Situation schaurig bewusst. Die Warntöne, mein Erwachen, die regungslosen Menschen. Verunsichert richtete ich mich vollständig auf, die linke Hand wieder auf die blutende Wunde am Handrücken gepresst.
„HALLO?“ rief ich gegen die aufsteigende Verzweiflung in Richtung der großen silbernen Schiebetür des Raums. Dann ein vertrautes Geräusch! Ein altbekannter Jingle, eine gewisse Melodie, welche zu einer Ankündigung der Nachrichten im Radio passte.
„Es ist Montag, der 12. Juli, 13:00 Uhr…. sie hören Ihr Lieblingsradio mit den aktuellen News aus dem Rheinland, Deutschland und der Welt…“ sprach der Sprecher mit einer dieser wohlklingenden, tiefen Stimmen. Zunächst eher beiläufig wahrgenommen, erregte die dann folgende Stille nun meine Aufmerksamkeit. Kein Nachrichtensprecher, keine Moderatorin, keine Musik, einfach nur… Stille. Einen Moment verharrte ich, lauschte, wartete. Doch das Radio schwieg, die Warntöne warnten, das rote Licht blitzte, die Menschen reagierten nicht. Was war passiert? Dann plötzlich ein Gedanke…. mein Bauch! Hektisch riss ich mein Hemd hoch, tastete nervös meinen Bauch ab, suchte nach einem Schnitt, einer Wunde, einer frischen Narbe von der Operation. Nichts… mein Bauch schien äußerlich unversehrt, kein Blut, keine Schmerzen.
„HILFE!!!“ ächzte ich nun voller Panik.
Mit immer noch bleiernen Beinen schleppte ich mich weg von der Liege, durch die Mitte des Saals, hin zu der großen Schiebetür aus poliertem Edelstahl. Ein großer Taster mit einem Tür-Symbol deutete auf seine Funktion als Türöffner hin. Ein leises Zischen, dann schob sich die schwere Tür zur Seite, gab den Blick in den hellen Flurbereich vor den verschiedenen Sälen frei.
Auch hier blitzten in regelmäßigen Abständen rote Warnleuchten an der Decke. Auch hier ertönte ein aufsteigender Warnton, jedoch lauter als der in dem Operationssaal. Der Anblick drei weiterer, regungsloser Menschen raubte mir schlagartig die Kraft in den Beinen, ließ mich an Ort und Stelle im Türrahmen zu Boden sacken. Eine junge Frau lag vor einem mobilen PC-Arbeitsplatz, scheinbar während der Arbeit an dem Monitor einfach zusammengebrochen, nach hinten gefallen. Ein Pfleger schien beim Schieben eines Krankenbettes bewusstlos geworden zu sein, lag bäuchlings vor dem Bett, welches etwas weiter im Gang zum Stehen gekommen war. Ein wenig links den Flur hinunter saß ein weiterer Pfleger noch auf seinem Drehstuhl an einem Tresen. Sein Oberkörper vorn über auf die Arbeitsfläche gebeugt, der rechte Arm kraftlos neben seinem Körper hinabhängend, das Gesicht zur Seite gedreht, die Augen halb geschlossen. Aus seinem Mundwinkel war Speichel gelaufen.
Ich roch kein Feuer, nahm keine ungewöhnlichen anderen Gerüche wahr, konnte keinen beißenden Qualm entdecken. Nichts deutete auf eine Erklärung für das Geschehene hin. Warum lagen all diese Menschen hilflos vor mir?
„Ein Anschlag!“ schoss mir ein bedrohlicher Gedanke durch den Sinn, ließ mich etwas in den OP-Saal zurückweichen. Waren die Attentäter vielleicht noch im Gebäude? Warum hatten sie mich verschont? Aber sogleich erschien mir diese Möglichkeit unwahrscheinlich, deutete doch nichts auf ein Kampfgeschehen hin. Kein Chaos, keine ungeordneten Gegenstände oder Schusswunden an den Menschen erkennbar. Vielleicht ein Defekt der Lüftungsanlage? Wurde in Krankenhäusern nicht viel mit Gas gearbeitet? Vielleicht hatte eine Leitung leckgeschlagen, all diese Menschen ungewollt in Narkose versetzt?
Langsam kroch ich wieder aus dem OP-Saal hervor, richtete mich auf, die Knie weich, weit entfernt von einem sicheren Stand.
„Hallo?“ presste ich mit steigender Kraft heraus, so dass meine Stimme immer mehr mitklang.
Langsam schleppte ich mich zu dem Bett im Gang, die aufsteigenden Warntöne ertragend. In dem Bett fand ich einen Mann mittleren Alters, zugedeckt, den Kopf zur Seite gekippt. „HALLO! Können Sie mich hören?“ sprach ich ihn an, rüttelte heftig an seiner Schulter, so dass sein Kopf sich hin und her bewegte. Mit einem Schwung riss die Decke weg, starrte auf seinen Brustkorb, untersuchte diesen nach Atembewegungen. Doch der Brustkorb blieb unbewegt, hob sich nicht, wie erhofft. „HILFE!!!“ schrie ich nun panisch im Wettstreit mit dem Lärm der Warntöne.
Das Telefon! Gleich neben dem toten Pfleger im Stuhl. „Ich muss Hilfe holen!“ war mein einziger Gedanke, als ich mich so schnell ich konnte zum Tresen schleppte, mich auf der Arbeitsfläche abstützte, nach dem Hörer griff.
„110“… anstelle einer menschlichen Stimme ertönte nur ein Besetztzeichen. Hektisch schweiften meine Blicke über das Gerät, fanden unterschiedliche Nummern auf einem kleinen, weißen Papierstreifen unter einer Kunststoffabdeckung.
„99 - Pforte“, endlich eine Möglichkeit, Hilfe zu holen, jemanden außerhalb des Operationsbereiches zu erreichen. Ich knallte den Hörer auf die Gabel, um ihn dann direkt wieder an mein Ohr zu pressen, die „99“ hektisch wählend. Das Display zeigte „Pforte“, ein Freizeichen, endlos lang, nach einer Ewigkeit in ein Besetztzeichen übergehend.
Verzweifelt legte ich den Hörer wieder auf. Es musste das gesamte Krankenhaus betroffen sein! Ich wünschte mir aufzuwachen, war mir sicher, ich würde unter der Narkose nur heftig träumen, schlug unvermittelt mit aller Kraft gegen meine Stirn, bis helle Blitze gefolgt von einem dumpfen Schmerz vor meinen Augen entstanden.
„SCHEIßE!!!“ fluchte ich laut, rieb die schmerzende Stirn. Einen kurzen Moment starrte ich auf das Telefon, las die weiteren Kurzwahlangaben, „Steri“, „Bettendienst“, „Station eins bis zehn“, „Hausmeister“…, versuchte eine Erklärung zu finden, blickte mich dann wieder um. Was, wenn es doch Terroristen waren, diese noch im Gebäude wären, Geiseln vielleicht in der Eingangshalle festgehalten wurden, draußen bereits ein Großaufgebot der Polizei aufgefahren war, das Gebäude weiträumig abgesperrt war?
Wieder duckte ich mich unter diesen Vorstellungen, schlich in gebeugter Haltung zu einem der Notausgänge am Ende des Flurs, welcher direkt zu der Feuerleiter gleich über dem Haupteingang der Klinik führte. Vorsichtig schob ich die grüne Notausgangsicherung unter der Klinke zur Seite, löste hierdurch einen weiteren, lauten Alarmton aus, welcher in den Ohren schmerzte. Vorsichtig öffnete ich die Tür und schob langsam meinen Kopf hinaus ins Freie. Gleich hinter der Tür ein Gitterboden, von welchem eine Stahltreppe am Rand nach oben und unten führte. Behutsam trat ich auf das Gitter, die schwindelerregende Höhe von vier Stockwerken unter mir. Ich traute meinen Augen nicht, richtete mich unter den Eindrücken langsam zum vollständigen Stand auf.
Neben den Autos auf dem Parkplatz waren überall auf dem Boden liegende Menschen zu sehen. Autos waren mit anderen Fahrzeugen kollidiert. An der Ecke des angrenzenden Krankenhausflügels war ein Rettungswagen gegen die Hauswand des Krankenhauses gefahren, die Motorhaube des Fahrzeuges eingedrückt, während die Blaulichter noch blitzten.
„Was…., wie…..?“ stammelte ich überfordert durch die Situation und die nicht zu begreifenden Anblicke. Schwindel, brennende Sonnenstrahlen, Ohrensausen. Ich spürte, wie mir schwarz vor Augen wurde, drehte mich um, ließ mich zurück im Flur an der Wand hinuntergleiten, bis ich unsanft auf dem Boden aufkam. Hyperventilation, ich spürte, wie ich immer schneller begann zu Atmen. Panik, dieses Mal anders, existentieller! Ich erinnerte mich an einen Vortrag aus einem dieser Führungskräftetrainings über den Umgang mit Stress. Ich drohte die Kontrolle zu verlieren, musste den Stress in den Griff bekommen, sonst würde er mich in seinem festhalten. Schnell hob ich meine Hände, hielt sie fest vor meinen Mund, atmete in den entstandenen Hohlraum zwischen meinen Handflächen ein und wieder aus. Ich schloss die Augen, versuchte mich gegen den Stress zu wehren, konzentrierte mich auf meine Atmung. Dann Besserung!
Nach einem kurzen Moment richtete ich mich wieder beschwerlich auf, schleppte mich auf wackeligen Beinen den Flur entlang, öffnete alle Schiebetüren der OP-Säle über die großen Schalter an der Wand. Jeder Blick in die grellen Bereiche führte mich tiefer in düstere Verzweiflung. Überall glichen sich die Bilder, lagen Ärzte und Pfleger neben den OP-Tischen… mal drei, mal fünf Personen, mal Frauen, mal Männer. Auf den Tischen regungslose Patienten, angeschlossen an zahlreiche Schläuche und Maschinen. Überall die gleichen aufsteigenden Warntöne aus den Decken, die gleichen blitzenden roten Leuchten, die gleichen verstörenden Bilder.
In einem der Säle lag ein Patient mitten im Raum auf dem Boden, das medizinische Personal um den OP-Tisch verteilt. Der Patient schien noch von der Liege geklettert zu sein, sein Beatmungsschlauch bewegte sich weiter im Rhythmus der Luftstöße. Zwischen seinen Beinen bis hin zur Liege war eine breite Blutspur sichtbar, zeigte den Weg, welche der Unglückliche auf dem Bauch kriechend zurückgelegt hatte. Seine Augen halb geöffnet, der Blick leer in Richtung der Tür, den Kopf zur Seite gelegt. Anders als in meinem Falle schienen die ersten Schnitte bei ihm bereits unternommen worden zu sein, hatten ihm keine Chance auf ein Überleben gelassen. Der Raum roch nach Eisen, seine Wunde hatte eine dunkle Lache aus Blut entstehen lassen, in welcher sich das Licht der Fenster spiegelte. Aber dieser Mann hatte sich scheinbar noch bewegt, war anders als die anderen nicht einfach zusammengebrochen. So wie ich schien er aus der Narkose erwacht zu sein, dann aber arglos seinem Verderben entgegen gekrochen.
„Oh helft mir…!“ flehte ich mit leisen Worten in einem verzweifelten Versuch, die Gedanken zu ordnen, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, neue Kraft zu schöpfen. Die Gefahr müsste noch gegenwärtig sein, ich schien glückvoll verschont, musste der Bedrohung entkommen, Hilfe holen! Ich hörte auf, die regungslosen Menschen anzusprechen, nach Lebenszeichen zu suchen, schleppte mich, an die Wand gestützt, in Richtung des Umkleideraums. Die Blutspur, welche ich mit meiner rechten Hand an der Wand hinterließ, fiel mir ins Auge, irritierte mich, ließ mich wieder anhalten, die rote Farbe an der Wand verunsichert ansehen. Ein Blick in den angrenzenden OP-Saal verzögerte meine Flucht weiter. Dort lag eine Pflegerin im offenstehenden Rahmen der großen Schiebetür, welche unermüdlich den Versuch unternahm, sich zu schließen, nur um dann an kurz vor dem Körper der jungen Frau zu bremsen und wieder aufzufahren. Ich hielt inne, blickte auf die tote Frau, richtete meinen Blick dann in den Saal. Der Anblick erschütterte mich, rief sofort heftige Übelkeit hervor. Vor meinen Augen lag eine ältere Patientin mit eröffnetem Bauch. Im grellen Licht der OP-Lampe glänzte das polierte Metall mehrerer Spreizer, welche die Ränder des Operationsbereiches im Bauch der Frau auseinanderhielten. Ein grünes, gespanntes Tuch trennte den Bereich zwischen Körper und Kopf. Das Gesicht der älteren Dame schien friedlich, die Augen durch kleine, transparente Klebestreifen zugeklebt. Aus ihrem Mund ragte ein Beatmungsschlauch, welcher an einer ähnlichen Beatmungsmaschine angeschlossen war, wie zuvor meiner. Im regelmäßigen Rhythmus pumpte die Maschine stoisch und unbeeindruckt von dem Geschehenem den überlebenswichtigen Sauerstoff in die Lungen der Frau, hob ihren Brustkorb und ließ ihn wieder synchron zu den leisen Luftstößen absinken. Keine Alarme, kein Blinken, alles schien zu funktionieren. Gleich neben der Beatmungsmaschine war ein Monitor zu sehen, auf welchem die Zacken eines EKG zu erkennen waren. Diese Frau lebte! Nach all den Toten auf den Fluren und dem Parkplatz stand ich endlich einem lebendem Menschen gegenüber, welcher sich narkotisiert und inmitten zusammengebrochener Operateure in einer jäh unterbrochenen Operation befand. Welch Schicksal! Nur wenige Augenblicke später und auch mein Bauch wäre eröffnet gewesen! Zufälle, welche zwischen Stehen und Liegen, zwischen Betrachten und betrachtet werden entschieden.
Langsam näherte ich mich der Liege in der Mitte des Raums, spürte wieder diesen Druck auf meinen Ohren. Leichte Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten, schwankte. Waren es die Nachwirkungen der Narkose? Mein Kreislauf war schwach, immer wieder spürte ich die Überforderung von Verstand und Körper. In dem Unterarm der älteren Dame steckten zwei Schläuche, welche an weiteren kleineren Maschinen mit großen Spritzen angeschlossen waren. Digitale, sich drehende Symbole auf den Displays zeigten die regelmäßige und andauernde Gabe von Medikamenten an. War sie deswegen, anders als ich, nicht aufgewacht? Wurde ihr Schlaf durch diese Pumpen aufrechterhalten? Was würde passieren, wenn die Spritzen irgendwann leer sein würden, die Medikamente aufgebraucht? Würde sie langsam aufwachen, die unerträglichen Schmerzen spüren? Sich vielleicht aufrichten, nicht begreifen können, in welcher Situation sie sich befinden würde?
Um ihre OP-Liege verteilt lagen drei Menschen, eine Frau und zwei Männer. Vermutlich die Operateurin, ein Pfleger und ein Narkosearzt. So war es mir für meine Operation angekündigt worden. Alle drei lagen so verteilt, dass ich nur durch große Schritte über die Ärztin nah an die Frau herantreten konnte. Am OP-Tisch stehend, wanderte mein Blick langsam über das schlafende Gesicht, vorbei an dem aufgespannten Tuch, hin zu ihrem offenen Bauch. Der Anblick kostete mich Überwindung, war in dem grellen Licht doch der Darm in surrealen Farben von hellrot bis gelb zu erkennen. An einer Stelle schien sich eine kleine Menge Blut gesammelt zu haben, welche langsam gestiegen, schließlich als kleines Rinnsal seitlich an ihrem Bauch hinabgelaufen war. Ich konnte mich einem Würgen nicht erwehren, wendete mich schnell ab. Was hätte ich für diese Frau tun können? Welche Optionen hatte ich? Vor mir lag sie, lebend, hilflos. Unmöglich, durch mich gerettet zu werden. Hätte ich sie über meine Schulter schmeißen und hinaustragen sollen? Sie vielleicht auf einer der Liegen nach draußen schieben sollen? Für diese Varianten existierten zu viele Schläuche, welche sie mit unterschiedlichen Geräten verbanden, dazu die offene Wunde. Hilfe holen erschien mir als die einzig richtige Option!
„Ich schicke jemanden zu Ihnen! Ich hole Hilfe!“ versicherte ich, als ich meine Hand kurz auf ihre warme Schulter legte und den Saal verließ, ohne mich nochmals zu ihr umzudrehen.
Ich spürte, dass ich mein Versprechen nicht würde halten können. Selbst wenn ich jemanden finden würde, der ihr hätte helfen können, wäre sie doch nur eine von vielen in Not gewesen, welche sich außerhalb dieses Saals ihrem Schicksal ausgeliefert wiederfanden.
Die schweren Gedanken verdrängend, schleifte ich meinen Körper in den Umkleideraum, in welchem ich mich vor kurzer Zeit noch umgezogen hatte. In dem winzigen Raum angekommen, eilte ich zu meinem Fach, nahm mit zitternden Händen meine Kleider und Wertsachen heraus, zog mich an. Die schwere Tür des Umkleidebereichs schloss mit Verzögerung, fiel die letzten Zentimeter aber krachend in das Schloss. Endlich wurden die schrillen Warntöne leiser, reduzierte sich die akustische Folter. Immer noch geschwächt streifte ich meine Hose über, zog mein Polo-Shirt an. Nach ursprünglicher Planung hätte ich mittlerweile wohlbehalten in meinem Zimmer liegen sollen, stattdessen fand ich mich in einer Umgebung wieder, welche nicht zu verstehen war. Hektisch griff ich in das Fach mit meinen Wertsachen. Portemonnaie, Uhr, Schlüssel, Handy. Alles war da!
Ich musste Hilfe holen! Was war hier nur passiert? Ein Strahlenunfall? Bestand akute Gefahr? Warum ging es mir gut? Keiner dieser toten Menschen hatte irgendwelche Verletzungen außer denen, welche offenkundig durch einen Sturz oder die Schnitte der Skalpelle entstanden waren. Ein Giftgasangriff? Krieg? Es machte alles keinen Sinn. Ungeduldig starrte ich auf mein Handy, schüttelte es, wartete auf ein Einloggen in das Mobilfunknetz.
110…. Nach unzähligen Freizeichen legte ich auf. Fassungslos starrte ich auf das Display.
112… jedes Freizeichen steigerte die Verzweiflung. Sam! Ich musste Sam anrufen! Mit zitternden Händen suchte ich in dem digitalen Telefonbuch nach ihrem Namen. Wieder endlose Freizeichen, dann schaltete sich die Mailbox ein. Ihre fröhliche Stimme auf dem Band ertrug ich nur schwer, kannte den viel zu langen Text, dann endlich der erlösende Ton! „Sam! Ruf mich sofort zurück! Bitte! Ich weiß nicht, was los ist! Hier sind alle tot! Ich bin im Krankenhaus! Es geht mir gut! Ruf mich sofort zurück, wenn du das hier hörst!“
Ich nahm das Handy vom Ohr, betrachtete ihren Namen im Display, sah wie die Gesprächssekunden langsam weiterliefen, drückte die Taste mit dem roten Hörer. Ein drückender Schmerz wuchs in meiner Brust! Was, wenn auch sie nicht mehr telefonieren konnte? Das wäre unwahrscheinlich, immerhin wohnten wir eine halbe Stunde Fahrtzeit vom Krankenhaus entfernt! Wahrscheinlich war das Telefonnetz schlicht überlastet, häuften sich die Notrufe wegen des Vorfalls hier im Krankenhaus! Aber wären dann nicht eher Besetztzeichen zu hören, bzw. gar keine Töne? Jedes Jahr in der Silvesternacht brach das Mobilfunknetz unter der Masse an Neujahrsgrüßen zusammen. Wie war das noch? Klingelte es da, oder ging der Ruf gar nicht erst raus?
Ich riss mich selbst aus den Gedanken, steckte das Handy verunsichert in die Hosentasche, öffnete die andere Tür der Umkleidekabine, welche mich direkt auf einen großen Flur führte. Beim Drücken der Klinke hielt ich kurz inne, wollte das zu Erwartende nicht sehen, holte tief Luft, öffnete… doch nichts!
Der Flur sah unauffällig aus, nur das rote Blitzen und der nun wieder lautere, schrill aufsteigende Warnton störten den gewohnten Anblick.
„HAALLO!!!!“ brüllte ich in den Flur.
„Ich brauche hier sofort jemanden! Hier ist eine Frau, die Hilfe braucht!“ schrie ich durch die Gänge.
Nichts.
Eine quälende Stille legte sich über die lauten Warntöne, deren kurzen Pausen für ein Wahrnehmen von Reaktionen auf meine Schreie nicht ausreichten.
„HEYY! Ist hier jemand??“ rief ich so laut, dass die Stimme brach.
Keine Reaktion!
Der Aufzug!
Hektisch drückte ich den silbernen Rufknopf neben dem Fahrstuhl. Das Display oberhalb kündigte die herannahende Kabine an. 1 – 2 – 3 – 4 – Bing! Die Türen öffneten sich. Niemand war im Innern. Ich stieg hinein, drückte wiederholt und schnell „E“, als die Türen sich in quälender Langsamkeit zusammenschoben.
„Es muss evakuiert worden sein…“ schoss es mir durch den Sinn, als ich hinab ins Erdgeschoss fuhr. Vielleicht doch ein Anschlag? Was ist, wenn die Polizei das Gebäude geräumt hatte und nun auf der leisen Suche nach den Tätern war? Was, wenn sie mich für einen von ihnen hielten?
„Ich muss die Hände heben!“ sprach ich plötzlich laut aus. Die Möglichkeit beim Heraustreten aus dem Aufzug in der Eingangshalle in die Mündungen von automatischen Waffen zu blicken, erschien mir plötzlich als nicht unwahrscheinlich, vielleicht sogar möglich.
„E“ erschien im blauen Display in Form von kleinen weißen Strichen und nach einem erneuten „Bing“ öffneten sich die Türen.
„Stopp! Nicht schießen! Da oben sind Verletzte!“ schrie ich aus dem Aufzug und streckte die Hände vorsichtig aus der Kabine.
Keine Reaktion.
„Habt ihr gehört? Da oben sind Verletzte! Ich bin nicht der Täter!!“ wiederholte ich meine entlastenden Rufe.
Keine Reaktion.
Die Türen des Aufzugs schlossen sich. Schnell stellte ich einen Fuß auf die Schiene der rechten Tür, welche unmittelbar nach dem Kontakt wieder zurückfuhr. Langsam ging ich voran, traute mich aus der geschützten Kabine heraus in die Eingangshalle, richtete meinen Blick aus der Deckung.
„Oh Nein!“ hauchte ich und ließ die erhobenen Hände langsam hinuntersacken….
Die nette Dame an der Pforte lag vorn übergebeugt auf ihrem Tisch, das Headset noch auf ihrem linken Ohr. Ein älteres Ehepaar war direkt vor ihr zusammengebrochen, in der Hand der Frau ein schmaler, in Papier gewickelter Blumenstrauß. Auf den schwarzen Sitzbänken im Wartebereich saß eine Familie mit einem kleinen Kind. Das Kind schien auf dem Schoß des Vaters zu schlafen, der Kopf des Vaters zur Seite gekippt, gegen die Schulter seiner Frau.
„Bitte nicht…!“ hauchte ich, als ich langsam durch die weitläufige Halle schritt.
Ein gelbes Warnschild mit einem ausrutschenden Strichmännchen befand sich aufgeklappt auf dem Boden, warnte vor der Nässe. Gleich daneben lag ein junger Mann in hellgelber Funktionskleidung der Klinik. Er schien beim Reinigen des Bodens zusammengesackt zu sein, lag auf dem Stiel des Mopps. In den Glaskabinen der „Patientenaufnahme“, überall lagen die Menschen zusammengekauert auf dem Boden, den Tischen, den Stühlen.
Etwas musste sehr plötzlich passiert sein, die Menschen schienen, als wären sie im Hier und Jetzt einfach kraftlos zusammengebrochen. Keine zerborstenen Scheiben, keine Flammen oder andere Hinweise auf Gewalt. Keine bedrohlichen Gerüche, keine umgeschmissenen Stühle. Alles sah unberührt aus! Ich begann schneller zu gehen, schritt durch die lichtdurchflutete Halle und öffnete durch mein Herantreten die automatischen Eingangstüren.
„HAAALLO!“ schrie ich so laut ich konnte auf den Parkplatz hinaus.
In einigen Metern Entfernung der Rettungswagen, welcher scheinbar in der engen Kurve auf dem Parkplatz geradeaus in die Hauswand gefahren war. Der Fahrer lag bewusstlos auf dem Lenkrad, blickte mit halb geöffneten Augen aus dem Fenster. Eine kleine Platzwunde über seinem rechten Auge deutete auf die Wucht hin, welche der Aufprall freigesetzt hatte. Auf dem Parkplatz eine ältere Dame, vornüber auf ihrem Rollator liegend, der Kopf und die Beine hingen hinab. Daneben ein jüngerer Mann, regungslos seitlich auf dem Boden liegend. Ein Auto und ein Linienbus waren auf der Straße ineinander gefahren. Der Busfahrer lag ebenso wie der Fahrer des PKW scheinbar tot auf dem Lenkrad. Wohin ich auch blickte, nirgendwo war ein Mensch zu sehen, welcher aufrecht stand oder sich noch bewegte.
„HIIILFE!!!“ schrie ich und stütze mich schwer atmend mit den Händen auf meine Knie. Nach einem kurzen Moment der Besinnung, entsperrte ich mein Handy erneut. Neben der „110“ in meiner Liste der gewählten Telefonnummern wurde eine (4) angezeigt. So oft hatte ich bereits versucht, die Polizei anzurufen. Doch jedes Mal blieb mein Hilferuf unbeantwortet. Schnellen Schrittes und geleitet von Orientierungslosigkeit, wankte ich umherblickend zu meinem Auto. (5) stand hinter Sam. Jeder Anruf schlug fehl.
„So eine SCHEIßE!“ schrie ich verzweifelt in die Welt hinaus.
Mit zitternden Fingern tippte ich eine Nachricht über den Messenger im Handy, flehte auch hier Sam an, mich zurückzurufen. Einen kurzen Moment starrte ich wie gebannt auf das Display meines Handys, wartete auf die erlösende Anzeige „Nachricht gelesen“, vergeblich.
Ein Drücken auf den Schlüssel, die Türen entsperrten sich. Schnell stieg ich in das Auto. Der Motor startete und mit quietschenden Reifen verließ ich den Parkplatz des Krankenhauses.
Das Krankenhaus lag oberhalb der Stadt, idyllisch am Rand eines großen Waldes, welcher von weitläufigen Koppeln mit grünem Gras und sauberer Luft unterbrochen wurde. Noble Häuser in einer gehobenen Gegend mit großen Gärten und gebührendem Abstand zu den Nachbarn säumten die Straße runter in die Stadt. Vor den Häusern herrschaftliche Einfahrten, umrandet von hohen Mauern. Die Autos teuer, der Lack auf Hochglanz poliert. An Samstagen summten die Rasenmäher ihr eintöniges Lied, schnitten die grünen Halme auf Maß, vollendeten den Blick über das Rheintal. Waren die Menschen in so einer Gegend vielleicht glücklicher? Machte all ihr Reichtum das Leben besser? Oder waren die Probleme der Reichen nur in einem anderen Gewand gekleidet, wogen am Ende aber gleich denen der anderen? Es war eine Gesellschaft für sich, exklusiv, unerreichbar durch horrende Grundstückspreise. Dennoch war ich gerne hier oben, schlich mich unter sie, genoss lange Spaziergänge durch den Wald, die Düfte der Natur, welche in der Stadt verloren gingen. Hier oben thronte man über den anderen, blickte gelassen hinab auf überfüllte Straßen und dicht gedrängte Fußgängerzonen.
Nicht weit entfernt war ich aufgewachsen, hatte Abenteuer abseits der Wege in Steinbrüchen und Wäldern gefunden, immer an der Seite meines besten Freundes. Ein Wunder, dass wir niemals abgestürzt waren oder inmitten der Nacht, verirrt und vom Weg abgekommen, durch einen Suchtrupp aus den Fängen der Wälder befreit werden mussten. Irgendwie war immer alles gut gegangen. Fernab einer ständigen Beobachtung besorgter Eltern hatten wir ein gesundes Maß an Vorsicht und Vernunft entwickeln können.
Unsere Kindheit war frei gewesen, freier als die der nachfolgenden Generationen. Waren wir durch die Haustür, waren wir weg. Auf und davon! Ohne jede Spur oder der Möglichkeit zur Kontaktaufnahme durch die Eltern. In der Dämmerung kehrten wir mit verschmutzter Kleidung zurück, trugen den Staub in den Gesichtern und Freude im Herzen. Kein Handy, kein GPS-Tracking über eingenähte Mini-Sender, keine vorbesprochene Verlaufsplanung kostbarer Freizeit an herbeigesehnten Wochenenden! Wie oft waren wir die lange, kurvige Straße vom Krankenhaus hinab in die Stadt auf unseren Fahrrädern hinuntergejagt. Berüchtigt für ihre Serpentinen und ihr beträchtliches Gefälle war sie uns gerade recht für Geschwindigkeitsrekorde und die Anerkennung der anderen. Mutproben, meist glimpflich verlaufen, kuriert mit Pflastern und elterlichen Belehrungen.
Aber an diesem Tage bewirkte die Straße das Gegenteilige! Jede Kurve, welche ich verstört durchfuhr, raubte das, was von meinem Mut übriggeblieben war, zerstörte die Hoffnung auf die ersehnte, logische Erklärung für all das Unbegreifliche. Jede Kurve führte mich nur noch tiefer in ein verstörendes Labyrinth hinein, aus dem es keinen Ausweg gab.
„Das ist Wahnsinn!“ dachte ich bei jedem liegengebliebenen Auto, neben dem ich verlangsamte, schnell erkannte, dass auch hier die Menschen dem gleichen Schicksal unterworfen worden waren, wie jene im Krankenhaus und auf dem Parkplatz.
Bei den ersten Autos stoppte ich noch, das Beifahrerfenster heruntergefahren, hupte hektisch in der Hoffnung, endlich irgendeine Reaktion erhalten zu können. Doch erbarmungslos zementierte sich die erschreckende Realität! Keine Reaktion, kein Zucken, keine Hilferufe, kein geschwächtes Heben einer Hand. Noch nicht einmal eine Augenbewegung in meine Richtung. Passanten lagen auf den Bordsteinen, Fahrradfahrer waren bei voller Geschwindigkeit in parkenden Autos gefahren, Vögel scheinbar einfach vom Himmel gefallen. Panik ließ Druck auf meinen Ohren entstehen, störte mein Gleichgewicht, bereitete mir Schwindel! Plötzlich spürte ich einen Druck in meinem Magen, umgriff fest das Lenkrad, spürte, wie der Schweiß auf meine Stirn trat, mein Hemd am Rücken durchnässte. Ich atmete gegen die aufsteigende Übelkeit, legte meinen Kopf auf den oberen Bereich des Lenkrades, atmete tief und schnell gegen den drohenden Kontrollverlust an. Blitzschnell öffnete ich die Tür, beugte mich hinaus und würgte gegen den nüchternen Magen. Quälende Kontraktionen des ganzen Körpers, ich spuckte den Geschmack aus meinem Mund, den die bräunliche Flüssigkeit hinterlassen hatte. Langsam richtete ich mich wieder auf, lehnte mich gegen die Rückenlehne, ließ den Kopf in den Nacken fallen. Mit dem Handrücken strich ich den Schweiß von meiner Stirn, versuchte mich zu sammeln, die Kontrolle über meinen Körper zurückzugewinnen.
„Ich muss nach Hause!“ stammelte ich geschwächt, kämpfte mich zurück zur Vernunft. Ich hob den Kopf, trat erneut auf das Gaspedal, setzte meine Fahrt fort.
Gleich hinter der nächsten Kurve lag ein Fahrrad, von dem Fahrer keine Spur. Es schien mit großer Wucht gegen den Kofferraum eines am Straßenrand stehenden Taxis geprallt zu sein, lag schwer beschädigt vor dem demolierten Heck des Autos. Erneut verlangsamte ich, starrte ungläubig auf die Situation. Langsam passierte ich das elfenbeinfarbige Taxi, erkannte darin den Kopf der Fahrerin, welche gegen die Scheibe der Fahrertür lehnte, als würde sie schlafen. Wenige Meter weiter erschloss sich mir der Unfallhergang. Eine junge Frau lag regungslos vor dem Fahrzeug. Ihr gelber Fahrradhelm war geborsten, regelrecht in zwei Teile gerbrochen. Ein Teil des Helms befand sich immer noch am Kopf der Frau, ein anderer lag über den Kinnriemen verbunden gleich neben ihr. Eine große Menge Blut hatte sich unter ihrem Kopf gesammelt, floss der Neigung der Straße folgend den Berg herunter, bis es zu dünn wurde und trocknete. Ihr rechtes Bein lag unnormal abgewinkelt zur Seite, der Knochen des Schienbeins ragte durch die Haut. Der Anblick war nur schwer zu ertragen. Vor einem Augenblick noch hätte sich schnell eine Traube an hilfsbereiten Menschen gebildet, welche dem Unfallopfer beigestanden hätten und sie wenige Minuten später den herbeigerufenen Rettungskräften übergeben hätten. Doch es kam niemand! Niemand setzte einen Notruf ab, leistete erste Hilfe, kümmerte sich um die verletzte Frau. Auch ich entzog mich der Verantwortung, fuhr schnell wieder an, ließ die Situation hinter mir, bis sie nach der nächsten Kurve auch aus meinem Rückspiegel verschwand.
Heute verstehe ich die Trägheit meiner Gedanken, die Unfähigkeit, die Situation gedanklich zu durchdringen. Die Eindrücke waren doch schlicht nicht mit meinem oder irgendeinem menschlichen Erfahrungsschatz abgleichbar. Es gab kein mentales Modell, kein Bild aus der Vergangenheit, zu welchem der Verstand in Windeseile eine Verbindung hätte schlagen können, einen Abgleich vollbringen können, um die Situation begreiflich zu machen. Zu einzigartig, zu sehr dem menschlichen Vorstellungsvermögen entrückt, zu surreal der Moment, in welchem ich mich wiederfand.
Jeder zurückgelegte Meter entfernte mich weiter von allem, was ich kannte, nährte meine Verzweiflung, riss mich immer tiefer in den dunklen Schlund der Hoffnungslosigkeit. Ich wollte aufwachen, mich in meinem Bett wiederfinden, schnell atmend. In Dunkelheit die roten Ziffern „03:29 h“ auf meinen alten Radiowecker anblickend, nur um mich erleichtert wieder hinzulegen. Warum passierte es nicht? Waren das noch die Nachwirkungen der Narkose? War das alles vielleicht normal? Ein Durchgangssyndrom?
„Es kann alles nicht sein, das ist alles einfach unmöglich“ dachte ich ratlos im Stillen, stieß einen verzweifelten Luftstoß durch die Nase.
„Es muss so sein! Ich schlafe! Das ist die einzige Erklärung. Ich werde noch operiert!“ sprach ich ohne es zu wollen laut aus und schlug mir darauf wie aus dem Nichts mit voller Wucht wieder gegen die Stirn. Dreimal schnell hintereinander. Der letzte Schlag so heftig, dass ich leichte Übelkeit spürte.
Es schmerzte, kein gutes Zeichen…
In der Stadt angekommen, erwartete mich eine Fortsetzung der Grausamkeit. Zur Linken lag die breite Fußgängerüberführung über die viel befahrene Straße, auf welche sich ein Teil der Fußgängerzone erstreckte. An einem der Pfeiler stand ein völlig deformierter Linienbus, zu dieser Tageszeit immer vollbesetzt mit Fahrgästen. Ich konnte nur erahnen, welches Bild sich mir im Inneren bieten würde, vermied jeden Blick hinein. Nur kurz hinter dem Bus stand ein Streifenwagen der Polizei. Zwei Polizisten, zusammengebrochen, einer auf der Straße, der andere auf dem Bordstein. Zwischen den Blaulichtern auf dem Dach blinkte in großen roten Buchstaben „POLIZEI – FOLGEN“ abwechselnd auf. Es schien, als hatten die beiden Beamten zuvor ein anderes Fahrzeug angehalten, es überprüfen wollen. Die Warnblinker des roten Cabriolets blinkten unaufhörlich. Die Fahrerin, eine junge Frau, saß am Steuer, der Kopf nach hinten überstreckt. Kein Hinweis auf Leben. Die regungslos auf dem Boden liegenden Polizisten lösten in mir tiefe Unsicherheit aus, zeigte dieses Bild doch, dass die Chance auf Hilfe immer unwahrscheinlicher wurde.
Die sonst so mit Leben gefüllten Straßen breiteten sich in einer surrealen Kombination aus gespenstiger Ruhe und völligem Chaos vor mir aus. An den Haltelinien der Ampelkreuzungen standen dutzende Autos, ordentlich hintereinander gereiht. Die Blinker der Fahrzeuge auf den Abbiegespuren zeigten den gewünschten Abbiegevorgang an, als sei nichts geschehen, als warteten sie auf die nächste Grünphase, um ihre Fahrt fortzusetzen. Langsam fuhr ich an den stehenden Fahrzeugen vorbei, suchte auch hier nach Lebenszeichen, vergeblich.
Auf einem der heißen Autodächer lag eine kleine Amsel, regungslos wie die Menschen um sie herum war sie wohl während ihres Fluges auf das Autodach gestürzt. Dieser tote Vogel erweiterte meine Wahrnehmung, rückte all die toten Tiere in mein Bewusstsein. Auf einmal sah ich sie, hier und da lagen sie verstreut. Auch sie hatte es nicht verschont, sie einfach dahingerafft. Dort eine Katze, da ein Hund, hier ein Vogel. „So eine kranke Scheiße!“ stammelte ich fassungslos, während ich im Schritttempo um die Hindernisse auf der Straße herumfuhr.
Der nächste Abschnitt der Straße war schließlich besser befahrbar, ließ mich sogleich schneller fahren als zuvor, eilig meinem Ziel folgend. Es war dann ein Kinderwagen, welcher mich erneut stoppen ließ. Fest umgriff ich das Lenkrad, starrte auf das Gefährt, welches mitten auf der Straße zum Stehen gekommen war. Scheinbar war er von einer Straßeninsel herab auf die Straße gerollt, dort dann zum Stehen gekommen, losgelassen von den Eltern, welche nebeneinander vor der Fußgängerampel lagen.
„Bitte nicht!“ flehte ich mit verzerrtem Gesicht, presste die Lippen zusammen.
Fest schlug ich mit einer Faust gegen das Lenkrad, so fest, dass dies nach dem dritten Schlag zu Vibrieren begann. Schnell nahm ich meinen rechten Fuß von der Bremse und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch, floh so schnell ich konnte! Die kurz darauffolgende große Kreuzung, vierspurig, gleich hinter einer Bahnunterführung. Auch hier das gewohnte Bild. Fahrradfahrer lagen umgefallen an den Straßenrändern, Autos, ineinander verkeilt, auf den Gehsteigen regungslose Fußgänger. Ampeln sprangen von Grün auf Gelb, dann auf Rot. Das Rattern der Ampeln, als Hilfestellung gedacht, warnten vor einem Betreten der Straße.
Direkt neben der Kreuzung befand sich ein Fast-Food-Restaurant, dankbarer Abnehmer meines Ersparten zu Schulzeiten. Viel zu viel meines spärlichen Taschengeldes hatte ich damals hier investiert. Weniger aus Hunger, eher zur Festigung meiner sozialen Position in der Hackordnung einer Schulklasse. Machte man nicht mit, blieb das Taschengeld, doch die Teilhabe an der Gruppe verschwand.
Die Anblicke aus dem Innern des Restaurants waren erschütternd, bot sich doch auch hier das gleiche verstörende Bild, welches auch die Außenwelt bedrückte. Tote Menschen, teils übereinander liegend, vor und hinter dem Tresen. Gespenstisch, ohne das ersehnte Zeichen auf Überlebende. Fassungslos richtete ich nach einer Weile meinen Blick wieder durch die Windschutzscheibe meines Autos. Verzweifelt suchte ich nach Orientierung, kämpfte gegen die immer größer werdende Panik, versuchte, nicht den Verstand zu verlieren. Es gab nichts Vergleichbares! Kein mir bekanntes Ereignis aus der Vergangenheit, kein Nachrichtenbeitrag oder Reportage, welche von einer ähnlichen Situation je berichtet hätte. Versunkende Städte und untergegangene Zivilisationen, sie alle waren Kriegen oder Vulkanausbrüchen, Fluten oder Erdbeben zum Opfer gefallen. Doch hier gab es keinen Erklärungsansatz, keine Möglichkeit der Fokussierung, des Erkennens eines Gegners.
Mein Mund war trocken, die Zunge klebte an meinem Gaumen wie die durchschwitzte Kleidung an meinem Rücken. Immer wieder griff ich zu meinem Handy, wählte die gleichen Nummern, hörte die Freizeichen über die Lautsprecher meiner Freisprechanlage, ertrug das immer gleiche Ergebnis zusehend schlechter.
Auch ohne verkeilte Autos war der nun folgende Teil meines Weges zu dieser Zeit Tageszeit immer eine Katastrophe gewesen, eine Möglichkeit, sich in der hohen Kunst der Selbstbeherrschung zu üben. Zu viele Autos mit zu vielen Menschen wurden durch eine dem Bevölkerungswachstum nicht hinterherkommenden Infrastruktur Tag für Tag auf die Probe gestellt. Hohe Häuserzeilen umrandeten die Straße wie eine Arena, in welcher sich die Gladiatoren um jede noch so kleine Lücke im Verkehr bekämpften, ausgestattet mit niedrigen Aggressionsschwellen, hupend und schimpfend. Auch an diesem Tag hatte es sich nicht anders verhalten, war jedoch abrupt geendet. Hier war kein Durchkommen, keine Lücke, durch die ich hätte weiterfahren können. Und doch würde mich eben diese Straße jenseits der die Stadt durchziehenden Bahngleise meinem Ziel näherbringen. Eine Umkehr hätte Zeit gekostet, einen deutlich längeren Weg bedeutet. Aber wie weit wäre ich dort wohl gelangt, wann wäre ich an anderer Stelle nicht fortgekommen? Die Zeit saß mir im Nacken, übte Stress aus! Ich müsste so schnell wie möglich nach Hause fahren, nach Sam sehen, sie in Sicherheit wissen. Außerhalb der Stadt würde ich wohl auf Überlebende treffen, auf Polizeiabsperrungen, kreisende Hubschrauber, auf unzählige Feuerwehrautos mit ihren blitzenden Blaulichtern. Dort würden sie mir endlich helfen, mich befragen, wie es auf der anderen Seite der Absperrung aussehen würde, was ich berichten könnte. Ich hatte wohl großes Glück, war ich doch der Einzige, der was auch immer überlebt hatte. Anders als all die Toten um mich herum, dürfte ich am Abend wieder zurück und in Sicherheit bei meiner Familie sein. Aber warum kamen die Rettungskräfte nicht in die Stadt?
Vielleicht doch ein Anschlag, gefolgt von Taktieren der Sicherheitsbehörden aus Sicherheitsgründen, die Gefahr für die Einsatzkräfte aus einem mir noch unbekannten Grund einfach noch zu hoch? Es würde sich alles bald erklären, ich eine unglaubliche Geschichte erlebt haben, deren Beschreibung ich alsbald in dutzende Fernsehkameras richten würde.
Ich musste einfach raus aus dieser Stadt, in Sicherheit, zu Sam! Ich zog den Griff an der Tür, drückte diese mit dem Ellenbogen auf und stieg aus dem Auto. Das schweißnasse Polo-Shirt klebte an meinem Körper. Angestrengt versuchte ich irgendwelche Geräusche wahrzunehmen, vergeblich. Mehrfach atmete ich tief durch die Nase ein, versuchte über diesen Sinneskanal Informationen zu erhalten. Aber auch dieses Vorhaben schlug fehl, brachte keine Erkenntnisse hervor.
Schnell griff ich nach meinen Sachen auf dem Beifahrersitz, kontrollierte, ob mein Personalausweis in meinem Portemonnaie war, ertastete den Hausschlüssel in meiner linken Hosentasche und zog den Autoschlüssel aus dem Zündschloss. Mit einem dumpfen Geräusch fiel die Tür ins Schloss, verriegelte sich durch ein Drücken auf meinen Schlüssel. Zügig durchschritt ich die Autoreihen des vor mir liegenden Staus. Die Blicke in jedes Auto offenbarten immer wieder das gleiche marternde Bild… Personen allen Alters lagen in ihren Fahrzeugen, mal auf dem Lenkrad, mal zur Seite gekippt, mal nach hinten gelehnt in den Sitzen. Ein Haus neben der Straße, eingerüstet vermutlich zur Renovierung, durch einen Bauzaun gesichert. Von den Brettern des Gerüstes der dritten Etage hing ein Arm über die Brüstung, kraftlos, ohne Regung, umgeben durch ein grünliches Sicherheitsnetz, welches gemächlich im warmen Sommerwind Wellen schlug. Ich unterdrückte alle Emotionen, blendete sie einfach aus, blickte stur nach vorn, distanzierte mich schützend von allen Eindrücken.
Einige Autos weiter stand ein strahlend weißer Van ordentlich auf der linken Spur, inzwischen anderer Autos. Dunkle, beinahe schwarze Scheiben setzten sich scharf von dem gepflegten hellen Lack ab. Die Warnblinker blinkten. Hatte hier endlich jemand ein Notsignal absetzen wollen? Ich begann zu rennen, legte die Strecke so schnell ich konnte zurück.
„Hallo????“ rief ich bereits aus einigen Metern Entfernung den Insassen entgegen.
„Hallo???!!!“!
Endlich angekommen, riss ich außer Atem die große Schiebetür des Vans auf.
„Hallo! Ist hier….“ meine Stimme stockte, die Worte blieben mir im Halse stecken.
Ein kleiner Junge, nicht älter als drei Jahre, saß direkt vor mir angeschnallt in seinem Kindersitz. Seine kleine Hand hing reglos neben dem Sitz herab, sein Kopf war nach vorne gefallen. Speichel war aus seinem Mund getreten, ich erstarrte. Ein kleiner Bär mit hellem Fell, kaum größer als meine Hand, lag unter seinen nackten Füßen in dem Fußraum des Fahrzeuges. Es zerriss mir das Herz, schnürte meine Kehle zu! Ein Schauer erstreckte sich bis unter meine Haarspitzen, ließ meine Kopfhaut kribbeln. Ich kämpfte gegen den einsetzenden Schwindel, die Ohnmacht an, richtete mich mit einem Ruck auf und legte meine Hände auf die heiße Dachkante des Fahrzeuges. Mit hängendem Kopf atmete ich konzentriert gegen die halb geschlossenen Lippen. Tränen versuchten alle Barrieren zu durchbrechen, kämpften sich ihren Weg frei. Aus den Tiefen meiner Verzweiflung stieg eine endlose Wut empor, riss die Kontrolle über meinen Körper an sich, bündelte all meine Verzweiflung, meine Panik, meine Verunsicherung, nur um diesen Emotionen endlich den lang versperrten Weg aus meinem Körper zu weisen.
„AHHHHHHHHHHHHHHH!“.
Ein wildes Treten gegen das Auto begleitete diesen nicht aufzuhaltenden Schrei, verselbstständigt und eigenmächtig allen Frust herausbrüllend, anhaltend, bis die letzte Luft meine Lunge verließ, keine mehr zum Schreien übrig war. Ich schrie und trat immer wieder gegen die Beifahrertür des Autos! Mein Fuß schmerzte, pochte. Doch der Schmerz hielt mich nicht davon ab, immer wieder zuzutreten, bis die Tür sichtbar demoliert war, die Kraft verbraucht.