Rauch auf Rügen - Witte Wittkamp - E-Book

Rauch auf Rügen E-Book

Witte Wittkamp

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Beschreibung

Auf der Strandpromenade von Binz kreuzen sich die Wege von Danbi Park und Roland Schiller. Sie, eine junge, hübsche Koreanerin, die gemeinsam mit den Brüdern Lenz als Taschendiebin an touristischen Hotspots unterwegs ist, er ein Ex-Knacki, der mit seiner neuen Komplizin auf Rügen einen Kunstdiebstahl plant. Ziel ist die Sommerresidenz eines Hamburger Managers. Ihre Zufallsbegegnung dauert nur zwei Augenblicke, doch sie hat einen fatalen Ausgang … Am Ende einer warmen Sommernacht liegt ein junger Mann tot am Strand. Kriminalhauptkommissar Fabian Radegast aus Altefähr muss diesen Mord aufklären und einen weiteren verhindern, bevor sich am Ende noch alles in Rauch auflöst. Aber wird es ihm gelingen, im Zuge der Ermittlungen auch seine Kollegin Annekatrin Struve zu beschützen, der aus ganz unterschiedlichen Richtungen Gefahr droht? Und dann ist da auch noch Radegasts Privatleben und der Versuch, eine alte Liebe wieder aufblühen zu lassen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

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Ähnliche


Axel Witte

Rainer Wittkamp

RAUCH AUF RÜGEN

Radegasts zweiter Fall

Für Rainer (1956–2020) Freund und Co-Autor

INHALT

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

VIERUNDDREISSIG

FÜNFUNDDREISSIG

SECHSUNDDREISSIG

SIEBENUNDDREISSIG

ACHTUNDDREISSIG

NEUNUNDDREISSIG

VIERZIG

EINUNDVIERZIG

ZWEIUNDVIERZIG

DREIUNDVIERZIG

VIERUNDVIERZIG

FÜNFUNDVIERZIG

SECHSUNDVIERZIG

SIEBENUNDVIERZIG

ACHTUNDVIERZIG

NEUNUNDVIERZIG

FÜNFZIG

EINUNDFÜNFZIG

ZWEIUNDFÜNFZIG

DREIUNDFÜNFZIG

VIERUNDFÜNFZIG

FÜNFUNDFÜNFZIG

SECHSUNDFÜNFZIG

EINS

Als sie kam, war er gerade hinter seinem Haus und brachte Helga um. Er schnitt ihr den Kopf ab. Sowas hatte er noch nie gemacht. Aber es war leicht. Leichter als gedacht. Und es gab kaum Blut. Seine Finger krallten sich in ihre weißen Locken, als der Rumpf wegsackte und dann zur Seite fiel. Helga war ein Schaf. Ein weißes Schaf mit einem schwarzen Lamm. Zu seiner Überraschung blökte der Schafskopf in seiner Hand jetzt noch einmal. Und das Lamm antwortete.

Dass sie schließlich da war, spürte er, bevor er sie sah. Bevor sie überhaupt seinen Garten betreten hatte. Er drehte sich um. Sie stand da und sah ihm direkt ins Gesicht.

»Ach. Herr Schiller?«

Es klang ein wenig überrascht. Sie kam näher, selbstbewusst, mit dem ihr eigenen leicht tänzelnden Gang. Und ihrem spöttischen Blick. Schiller wusste, dass er jetzt besser nichts sagte. Da stand sie vor ihm, die Frau, die sein Leben verändert hatte. Für immer verändert. Sein Atem ging schneller. Er ließ den Schafskopf los und versuchte, bei ihr irgendeine Gefühlsregung auszumachen. Vergeblich. Aber das würde sich ändern, da war er sicher. Sie blickte auf das tote Schaf.

»Ach, Herr Schiller …«

Diesmal klang es ein wenig herablassend. Aber das störte ihn kaum. Viel mehr ärgerte er sich über das ›Herr‹. Er hatte auch einen Vornamen. Und den kannte sie. Genauso wie er ihren Namen kannte: Annekatrin. Annekatrin Struve.

Sie hatte das schwarze Lämmchen auf den Arm genommen, es schmiegte sich zitternd an ihre Brust. Sie ging über den Rasen auf das Haus zu und schaute sich systematisch um. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie einen weißen Plastikanzug trug und Plastiktüten über ihre pinkfarbenen Sneakers gezogen hatte. Wie die Spurensicherung im Fernsehen.

»Sie wissen, warum ich hier bin?«

»Natürlich«, sagte Schiller schnell. »Aber das war das erste Mal. Wirklich.«

»Sie meinen Helga? Das interessiert mich im Moment nicht«, sagte sie, während sie an ihm vorbei zur anderen Seite des Gartens ging. Offenbar immer noch auf Spurensuche. Schiller schwieg.

»Ich will Ihnen doch helfen, Herr Schiller«, sagte sie und drehte sich vor der hohen Hecke zu ihm um. »Aber dazu müssen Sie mir auch entgegenkommen.«

Den Satz hatte er von ihr schon gehört. Mehrfach. Immer wieder. Er war ihr doch immer entgegengekommen. Und zum Dank hatte sie ihn für dreieinhalb Jahre in den Knast gebracht. Diese Polizistin hatte vom ersten Tag an ein mieses Spiel mit ihm gespielt. Und aus diesem Grund war sie jetzt hier.

»Na klar, Annekatrin«, sagte er mit einem feinen Lächeln, »ich komme dir entgegen.«

Schiller ging auf Annekatrin Struve zu, die das zitternde schwarze Lamm vorsichtig auf den Boden setzte. Als sie sich aufrichtete, ließ sie beide Arme sinken, die Handflächen nach vorne, eine Geste, die wohl sagen sollte: Jetzt bin ich ganz für dich da.

»Dreieinhalb Jahre«, sagte er und ging weiter auf sie zu. Langsam zog er dabei das Fleischermesser aus seinem Gürtel. Jetzt gab es bei ihr eine Gefühlsregung, wenn auch nicht die, die er erwartet hatte. Sie lachte. Sie lachte ihn aus. Mit einer Bewegung, als wollte er sie umarmen, stieß er ihr das Messer etwas unterhalb des Schulterblatts in den Rücken. Diesmal gab es Blut. Sehr viel Blut sogar. Es kam aus ihrem Mund. Und der Kopf des toten Schafs, der auf dem Rasen lag, blökte noch einmal. Oder war sie das jetzt gewesen?

ZWEI

»Morgens siehst du aus wie der junge Sterling Hayden.«

Fabian Radegast schaute in den Spiegel und musste schmunzeln. Diesen Satz hatte Roswita gesagt, die Buchhändlerin aus Cuxhaven, mit der er vor ein paar Jahren eine Beziehung gehabt hatte. Mit dem Namen Sterling Hayden konnte er damals nichts anfangen. Aber er klang wenigstens gut. Später hatte Radegast gegoogelt und herausgefunden, dass Hayden ein Hollywoodschauspieler der 50er- und 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts war. Auf den Fotos im Netz hatte er wenig Ähnlichkeit mit sich gefunden, abgesehen von dem langen, hohen Gesicht, den meistens zusammengekniffenen dunkelbraunen Augen und dem sonnengebleichten Strubbelhaar. Aber dann hatte Radegast gelesen, dass Sterling Hayden vor und nach seiner Hollywoodkarriere ein mit allen Salzwassern gewaschener Segler gewesen war. Und ein Mann, der sich von nichts und niemandem Vorschriften machen ließ. Da hatte ihm Roswitas Vergleich dann doch gut gefallen.

Fabian Radegast spülte den Rasierer ab und wusch sich die Schaumreste aus dem Gesicht. Dann zog er die Boxershorts aus, in denen er im Sommer schlief, und trat unter die Dusche. In diesem Moment klingelte sein Smartphone auf der Fensterbank. Radegast zögerte. Er hatte dienstfrei, sollte wenigstens ein paar von seinen Überstunden abbummeln. Freizeitausgleich. Den wollte er nutzen und nach dem Frühstück mit seinem Freund und Nachbarn Ole Henning die Maschine ihres Segelboots reparieren. Aber vielleicht war Ole was dazwischengekommen. Als Radegast nach seinem Telefon griff, sah er durchs Fenster, dass Ole an Deck der Colin Archer schon mit irgendwas zugange war. Radegast nahm das Gespräch an.

»Moin, Kollege. Polizeiobermeister Vogelsang. Direktion 4.«

»Ja, moin, was gibt’s denn?«

»Wir sind hier im Einkaufszentrum Strelapark. Es wurde wieder ein Geldautomat gesprengt. Diesmal von der Pommerschen Volksbank. Keine Personenschäden, aber der Sachschaden ist heftig.«

»Okay«, sagte Radegast. »Aber da solltet ihr die Kollegin Struve anrufen. Die ist an der Sache dran. Und ich bin heute dienstfrei.«

»Ist schon klar. Haben wir ja auch«, entgegnete Vogelsang. »Aber die Kommissarin Struve ist nicht erreichbar. Nicht mobil und auch nicht übers Festnetz.«

Radegast überlegte. Es war jetzt etwa 7.30 Uhr.

»Wahrscheinlich fährt sie gerade durch ein Funkloch. Versucht es in drei Minuten noch mal.«

»Wir haben es schon seit zehn Minuten bei ihr versucht.«

Vogelsang klang jetzt etwas patzig.

»So groß ist doch kein Funkloch. Nicht mal in Vorpommern.«

»Gut«, sagte Radegast. »Ich komme rüber. Bis gleich.« Radegast duschte und zog sich dann an. Das war der sechste oder siebte Geldautomat in diesem Jahr. Immer die gleiche Methode: Die Täter leiteten Gas in das Gehäuse eines Bankautomaten, suchten Deckung und brachten das Gas zur Explosion. Dann hofften sie, dass ihnen die Kassette mit den Geldscheinen direkt vor die Füße fiele. Was sie meistens nicht tat. Die Summen, die die Täter tatsächlich erbeuteten, waren Peanuts, verglichen mit den Schäden, die sie dabei anrichteten.

In einem Fall war das Gebäude, in dem sich der Geldautomat befunden hatte, so sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, dass die Bauaufsicht es sperren lassen musste. Schließlich hatte man es ganz abgerissen.

Die Kollegin Annekatrin Struve hatte sich mit der ihr eigenen Gründlichkeit in die Sache reingekniet. Sie hatte Täterprofile entworfen, potenziell gefährdete Automatenstandorte identifiziert und inzwischen sogar so etwas wie einen Rhythmus der Täter herausgearbeitet. Die vorletzte Sprengung hatte sie fast auf den Tag genau vorhergesagt. Sie war deswegen mit ein paar Kollegen nächtelang auf Streife gewesen. Aber in jener Nacht hatten die Täter weiter weg zugeschlagen, in der Nähe von Greifswald. Radegast fragte sich, ob Annekatrin Struve vielleicht auch die Sprengung der letzten Nacht vorhergesehen hatte. Und sich dann allein auf die Lauer gelegt? Am Ende sogar am richtigen Automaten?

Radegast schüttelte den Kopf. Annekatrin hatte zwar manchmal schräge Einfälle, aber sie war ja nicht tollkühn. Oder blöd. Es musste einen anderen Grund geben, dass sie nicht erreichbar war.

Fabian Radegast zog sein weißes Sweatshirt mit den dunkelblauen Querstreifen über den Kopf und trat ins Freie. Der Rasen hinter seinem Haus, das früher mal eine Bootsremise gewesen war, fiel zum Meer hin leicht ab. Das Gras unter seinen nackten Füßen war noch taunass. Vom ziegelroten Nachbarhaus, der Bürgermeisterei von Altefähr, kam eine fröhliche Mädchenstimme.

»Hallo Fabian, moin!«

Er drehte sich um. Jana Henning winkte von der Terrasse, während sie sich aus ihrem Neoprenanzug schälte.

»Moin, Jana«, rief Radegast. »Warst du etwa schon draußen?«

»Klar«, erwiderte Jana. »Diesen Wind muss man ausnutzen. Du auch.«

Ja, schön wär’s, dachte Radegast und schaute übers Wasser. Drei bis vier Beaufort aus Ostsüdost. Würde bald wahrscheinlich noch etwas zulegen. Er dreht sich zu Jana um und beließ es bei einem wortlosen Winken. Jana, die Tochter von Ole und Laura Henning, war jetzt fast dreizehn. Schon als Fünfjährige war sie mit ihrem Vater und Radegast mitgesegelt. Vor kurzem hatte sie dann neben ihrer Schule in kurzer Reihenfolge alle notwendigen Segelscheine gemacht und ihre Begeisterung fürs Regattasegeln entdeckt.

Um nicht länger auf irgendwelche Mitsegler angewiesen zu sein, hatte sie sich für eine Einmannjolle entschieden, ein wassergängiges Turngerät namens Laser. Damit war sie inzwischen so erfolgreich, dass sie gute Chancen hatte, am Sportinternat des Olympiastützpunkts in Kiel-Schilksee angenommen zu werden. Nur ihre Mutter, die als Hebamme arbeitete, musste noch überzeugt werden.

Fabian Radegast hatte den Bootssteg erreicht, an dem die Colin Archer lag, die Ole und er gemeinsam gekauft hatten. Ein historisches Schiff, das sie nach und nach restaurierten. Oles Kopf tauchte aus dem Luk über dem Niedergang auf, ein fingerbreiter Schmier von Motoröl über seiner rechten Augenbraue.

»Na?«

»Na?«, gab Radegast zurück.

Sie kannten sich seit ewigen Zeiten und machten nie mehr Worte als nötig. Besonders morgens nicht. Aber Radegast musste seinem Freund jetzt erklären, dass er sich heute erst mal doch nicht ums Schiff kümmern konnte. Ole Henning kam ihm zuvor.

»Sieht aus, als müsstest du weg.«

»Wieso?«, fragte Radegast, ehrlich überrascht.

»Dein neuer Picasso-Pulli. Den ziehst du doch nicht an, wenn du mit mir die Maschine auseinandernimmst.«

»Stimmt. Leider«, sagte Radegast. »Dienstlich.«

»Na denn«, sagte Ole, »bis später.«

Statt einer Antwort legte Radegast die gestreckte rechte Hand an einen imaginären Mützenschirm und zwinkerte seinem Freund zu. Dann drehte er sich um und ging. Nach ein paar Schritten fiel ihm ein, dass er diese Geste neulich in einem alten Film gesehen hatte. Sterling Hayden spielte in ihm einen Kleinstadtpolizisten, der dem amerikanischen Präsidenten das Leben rettet. Einem weisen und sympathischen Präsidenten.

Knapp dreißig Minuten später stand Fabian Radegast im Strelapark vor den Trümmern eines Geldautomaten. Unterwegs im Auto hatte er selbst versucht, Annekatrin zu erreichen. Nach dem dritten Rufton war ihre Mailbox angesprungen. Daraufhin hatte er in der Dienststelle angerufen. Hella Binder, die eigentlich immer alles wusste, war überfragt. Aber sie hatte Radegast mit einem deutlichen Unterton von Besorgnis versprochen, sie werde es weiter versuchen.

Radegast drehte sich um. Polizeiobermeister Vogelsang und ein Kollege passten auf, dass niemand über das Flatterband stieg, das die beiden großzügig um den Tatort gespannt hatten. Aber da die meisten Läden hier erst um neun oder zehn aufmachten, gab es niemanden, der die Absperrung überwinden wollte. Außer den beiden Spezialisten der Kriminaltechnischen Untersuchung mit ihren weißen Anzügen und den Technikkoffern. Nachdem Radegast sie begrüßt hatte, ging er zu Vogelsang.

»Wann war die Explosion?«

»Schwer zu sagen«, meinte Vogelsang. »Hat wohl niemand gehört.«

»Bei dem Wums?«

Radegast schaute sich um.

»Da müssen doch sämtliche Alarmanlagen im Umkreis von fünfhundert Metern angegangen sein.«

Vogelsang zuckte mit den Schultern und zog seinen Block aus der Tasche. »Der Anruf kam um 6.28 Uhr von einer Arzthelferin, die bei einem Ohrenarzt hier im Gebäude arbeitet«, sagte er. »Wollen Sie sie befragen?«

»Später«, sagte Radegast und stieg über das Flatterband. »Und stellen Sie bitte die Aufnahmen der Überwachungskameras sicher.«

»Kameras?«

Vogelsang drehte sich um.

»Also, ich seh’ hier gar keine. Und das Ding aus dem Geldautomaten dürfte ja wohl hin sein.«

»Es gibt überall Kameras«, beharrte Radegast. »Zum Beispiel an der Tankstelle da drüben. Oder am Supermarkt an der Ecke, Sie sammeln bitte alles ein, was Sie finden können.«

Vogelsang setzte ein mürrisches Gesicht auf. Radegast überlegte, ob und wie er darauf reagieren sollte, als sein Smartphone klingelte.

»Ja, Hella?«

»Immer noch nichts von Annekatrin«, sagte sie. »Aber Joachim ist gerade zurückgekommen. Er war bei ihr zuhause und hat geklingelt. Niemand da. Jetzt ist die Frage, was wir unternehmen sollen. Ob wir die Haustür öffnen lassen …«

»Ihr unternehmt bitte nichts. Sowie ich hier fertig bin, komme ich rein.«

Fabian Radegast drehte sich nach Polizeiobermeister Vogelsang um, der langsam in Richtung Tankstelle schlenderte. Die Bewachung des Flatterbandes hatte er seinem Kollegen überlassen. Die Spurensicherer bewegten sich wie in Trance durch das Trümmerfeld des gesprengten Geldautomaten. Sie stellten Täfelchen auf, legten Maßstäbe aus und begannen ihre Fotos zu machen.

Radegast wusste aus Erfahrung, dass die KTU-Leute noch einige Zeit benötigen würden, und seine Gedanken kehrten zu Annekatrin zurück. Angenommen, ihr wäre tatsächlich etwas zugestoßen in ihrer Wohnung, käme es dann jetzt nicht auf jede Minute an? Er verwarf den Gedanken. Sie war verheiratet. Glücklich verheiratet. Also hätte ihr Mann längst Hilfe geholt. Es sei denn, er konnte es auch nicht. Ein defekter Gasboiler oder so etwas Ähnliches? Radegast hatte die Handynummer von Hartmut Struve nicht. Aber er war sicher, dass Hella sie kannte.

In derselben Sekunde, als Fabian Radegast das Telefon aus seiner Hosentasche ziehen wollte, klingelte es. Ihre Nummer. Er drückte die grüne Taste.

»Mensch, Annekatrin, wo steckst du denn? Alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte sie. »Alles in Ordnung.«

»Und wo bist du?« frage Radegast.

»Unterwegs zu euch.«

Bevor Radegast sich erkundigen konnte, warum sie die ganze Zeit vorher nicht ans Telefon gegangen war, hatte Annekatrin schon wieder aufgelegt. Er fragte sich, ob er sich darüber ärgern sollte. Aber er war einfach nur erleichtert. Ehrlich erleichtert.

DREI

Roland Schiller packte ein paar persönliche Gegenstände in seine Reisetasche. Viel war es ja nicht. Aber er stand vor dem Schritt in ein anderes Leben. Vor dem Schritt zurück in sein altes Leben, hätte er früher gedacht. Aber Oliver hatte ihm klargemacht, dass es ein Zurück nicht gab. Gar nicht geben konnte. Oliver war sein Freund. Und in Schillers neuem Leben würden sie Partner sein. Der Gedanke daran beruhigte ihn und machte ihn sogar irgendwie froh.

Als Schiller die Tür seines Spinds zudrückte – zum letzten Mal! –, waren die Bilder aus seinem Traum wieder da. Der Traum mit dem toten Schaf und der Polizistin. Er hatte lange nicht mehr von Annekatrin Struve geträumt. Und noch nie so deutlich und so konsequent. In seinem ersten Jahr hier in der JVA war sie ihm öfter im Schlaf begegnet, meist in irgendwelchen Verkleidungen. Oft hatte er erst nach dem Aufwachen begriffen, dass die eine oder die andere Frau in seinem Traum in Wahrheit die Polizistin war. Und es war in diesen Träumen nie so weit gekommen, dass er sie umgebracht hatte. Obwohl es diesen Wunsch auch damals gegeben hatte. Immer schon gab. Seit er sie kannte.

»Na, jetzt gib dir mal ’n Ruck.«

Roland Schiller dreht sich um. Oliver Harms grinste ihn an.

»Oder möchtest du doch noch ein paar Monate bleiben?«

»Nee, danke«, sagte Schiller, »lieber nicht.«

Harms wuchtete sich von seiner Pritsche hoch, machte zwei Schritte bis zur Tür und schlug gegen die Essensklappe.

»Hallo, Bedienung! Der Gast hier will gehen.«

Schiller lachte pflichtschuldig. Obwohl Oliver nur ein knappes Jahr älter war als er, bestand zwischen ihnen so etwas wie ein Vater-Sohn-Verhältnis. Oliver hatte sich vom ersten Tag an für ihn verantwortlich gefühlt, dem Tag nach Schillers Suizidversuch. Die Anstaltsleitung hatte ihn zu Oliver Harms in die Zelle verlegt. Und Oliver war Schillers Aufpasser geworden. Derjenige, der sagte, wo’s langging, der wusste, wie’s zu laufen hatte.

Im Unterschied zu Schiller war Oliver Harms ein richtiger Straftäter. Er saß nicht zum ersten Mal in einer JVA und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal. Das sagte er selbst. Aber vielleicht war das auch nur einer von seinen Sprüchen. Auf jeden Fall war er im Unterschied zu Schiller auch ein Menschenkenner. Und jemand, der zuhören konnte. Wenn Schiller ihm in langen Nächten von seinem Prozess erzählt hatte und von der Rolle, die Annekatrin Struve dabei gespielt hatte, war Harms nicht nur der aufmerksamste Zuhörer gewesen, den man sich wünschen konnte, er hatte seinem Zellengenossen auch klargemacht, dass der diese Polizistin vergessen musste. Sonst würde ihn das nämlich krank machen. Hier drin wären ihm doch die Hände gebunden. Dann hatte Harms ihm gezeigt, wie man bestimmte Gedanken zwar nicht auslöschen, aber zumindest vorläufig verschwinden lassen konnte. Man musste sie nur in eine Tasche packen. Richtig einpacken, am besten noch ein Handtuch drauf, dann Reißverschluss zu und ab damit oben auf den Spind. Mit ein bisschen Übung hatte das sogar funktioniert.

Jetzt allerdings stand Schillers Tasche hier vor ihm auf der Pritsche. Er zog den Reißverschluss zu. Dann hörte er den Schlüssel im Schloss. Die Tür schwang auf, und Justizsekretär Eggers streckte sein blasses Jungengesicht in die Zelle.

»Na, Herr Schiller? Bereit zum Abflug?«

»Ja, bin ich.«

»Fast«, korrigierte Harms seinen Freund. »Geh doch kurz noch mal raus, Eggers. Was jetzt kommt, das ist privat.«

Eggers zog seinen Kopf zurück. Die Tür blieb angelehnt.

Oliver Harms kam auf Roland Schiller zu und nahm ihn zwischen seine kräftigen Arme.

»Pass auf dich auf, mein Junge. Denk ab und zu mal an mich. Und vor allem: Bau keinen Scheiß.«

Seine Stimme war dabei so laut, dass sie sicher noch drei Zellen weiter zu hören war.

»Nein«, sagte Schiller nicht halb so laut, »mach’ ich schon nicht.«

»Du wirst mir fehlen, Kleiner!«

Schiller wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Und plötzlich war Olivers Mund ganz nah an seinem Ohr und seine Stimme nur ein Flüstern.

»Lass die Polizistin da in deiner Tasche. Reißverschluss zu. Und grüß meine Michaela.«

»Okay«, flüsterte Schiller zurück.

»Wenn du willst«, flüsterte Harms weiter, »gib ihr einen Kuss von mir.«

Und dann, bevor Schiller antworten konnte, ertönte wieder seine Dröhnstimme.

»So, Eggers, nu’ können wir.«

Die Tür ging wieder auf, Eggers machte eine übertrieben einladende Geste, und Schiller streifte sich den Gurt seiner Reisetasche über die Schulter. Als er die Zellentür fast erreicht hatte, klatsche Harms ihm seine rechte Pranke auf den Hintern.

»Ab dafür!«

Kurz darauf trat Roland Schiller vor die Pforte der Justizvollzugsanstalt Bützow und blinzelte in die Sonne. Obwohl die Ostsee bestimmt zwanzig Kilometer weit weg war, konnte er sie riechen. Und er schmeckte die Mischung aus Seetang und Salz auf seinen Lippen. Schiller schossen Tränen in die Augen, er konnte nichts dagegen machen. Das waren wohl Freudentränen. Er wischte sie weg und schaute auf den Zettel, den man ihm zusammen mit den Fahrkarten gegeben hatte. Gegenüber fuhr der Bus nach Schwaan, dort konnte er den Zug nach Stralsund nehmen, und in etwas mehr als zwei Stunden würde er in seinem Haus in Zirkow sein. Zurück in seinem neuen Leben. Das erste Mal nach dreieinhalb Jahren. Dreieinhalb Jahre. Für etwas, das er nicht getan hatte. Für etwas, das diese Annekatrin Struve ihm angehängt hatte. Schiller spürte, wie die Wut in ihm hochkam. Und alle hatten ihr geglaubt. Die Wut war jetzt so weit oben, dass Schiller dreimal laut ›Scheiße‹ brüllen musste. Dann nahm er seine Tasche von der Schulter und zog den Reißverschluss noch einmal auf und wieder fest zu. Obwohl er schon ganz geschlossen gewesen war. Schiller nahm die Tasche erneut auf die Schulter, als er sah, wie ein Bus an die Haltstelle rollte. Er winkte und musste ein paar Schritte rennen, um dem Busfahrer klarzumachen, dass er mitfahren wollte.

VIER

Als das Wohnmobil in die Frankenstraße einbog und dabei über eine Bodenwelle hüpfte, schlug Danbi mit dem Knie gegen den Rahmen der Nasszelle.

»Aua«, sagte sie. »Bitte langsam fahren!«

Das galt Marvin Lenz, der am Steuer saß. Marvin schaute über die Schulter nach hinten.

»Beschwerden bitte an die Stadtverwaltung Stralsund, oder wie das hier heißt.«

»Außerdem sollst du dich anschnallen, Bambi.«

Das kam von Niklas, Marvins älterem Bruder. Niklas war der Chef, der Bestimmer des Geschwisterpaars. Marvin war der Lustige. Er hatte ihr auch den Namen Bambi gegeben, einfach weil er das witzig fand.

»Ich bin angeschnallt«, sagte sie und zeigte auf den Sicherheitsgurt. »Hier!«

»Dann schraub deine Stelzen ab«, sagte Marvin und schaut in den Rückspiegel.

Danbi lachte. Die Stelzen waren sein Lieblingswitz. Sie konnte nichts dafür, dass sie größer war als die beiden Männer da vorne. Und jünger. Und hübscher. Deswegen war sie ja überhaupt hier. Denn auch wenn es anders aussah, die beiden Männer in dem gemieteten Wohnmobil und die junge Danbi Park aus Seoul, Südkorea, waren keine Urlauber.

Sie waren geschäftlich unterwegs. Gestern auf einem Rock-gegen-Rechts-Festival in Jamel und nun auf dem Sprung nach Rügen. Wie der Hochseefischer dem Fisch folgt, so folgten sie den Touristenschwärmen. Und sie warfen ihre Netze dort aus, wo gute Beute zu machen war.

Danbis Blick glitt über die roten Backsteinfassaden, die entlang der Straße im Licht der Vormittagssonne einen matten, warmen Glanz hatten. ›Gemütlichkeit‹ fiel ihr ein, das Wort, das ihr bei der Deutschprüfung solche Probleme bereitet hatte. Wegen der Bedeutung und auch wegen der Aussprache.

Danbi war nicht sicher, ob sie sie inzwischen beherrschte. Vielleicht war ›Gemütlichkeit‹ für diese Häuser auch gar nicht die richtige Bezeichnung.

»Stopp. Halt mal an. Such einen Parkplatz«, sagte Niklas plötzlich.

Marvin gehorchte seinem Bruder grundsätzlich aufs Wort. Aber selten ohne einen seiner Witze.

»Was ist denn los?«, grinste er Niklas an. »Hast du vergessen, Pipi zu machen?«

Niklas hatte es sich abgewöhnt, auf die Sprüche seines Bruders zu reagieren.

»Hast du den Wochenmarkt gesehen, an dem wir eben vorbeigefahren sind?«

»Ja, hab’ ich«, sagte Marvin, während er eine Parklücke am Straßenrand ansteuerte. »Und du meinst …?«

»Soll ich umziehen?«, fragte Danbi von hinten.

»Ich mich umziehen«, verbesserte Niklas. Er schaute kurz zurück und musterte sie.

»Nein, das ist okay so.«

Fünf Minuten später schlenderte Bambi über den Wochenmarkt von Stralsund. Obwohl sie ungeschminkt war und nur ein einfaches dunkelblaues T-Shirt zu ihren weißen Jeans trug, drehten sich einige Leute nach ihr um. Alte und junge, Männer und Frauen. Und fast alle lächelten freundlich. Eine große, schlanke Frau mit einem hübschen, exotischen Gesicht und grazilen Bewegungen. Sie fand es schade, dass sie die flachen Schuhe anhatte.

Die weißen Pumps hätten ihre ›Stelzen‹ noch mehr zur Geltung gebracht. Und ihr einen besseren Überblick verschafft. Irgendwo da vorne müssten Niklas und Marvin schon ihrer Arbeit nachgehen.

FÜNF

Fabian Radegast stellte seinen Wagen auf dem Hof des Polizeikommissariats Stralsund ab. Annekatrin Struve hatte ihn vor zehn Minuten am Tatort im Strelapark abgelöst. Sachlich und selbstbewusst wie immer. Und ohne ein Wort über ihre Verspätung zu verlieren. Blass war sie Radegast vorgekommen, aber vielleicht lag das nur an dem mintgrünen Shirt, das sie heute zu einem kurzen Tigerrock und braun-grün geringelten Pipi Langstrumpf-Leggings trug.

Natürlich hätte Radegast gerne gewusst, warum sie nicht erreichbar gewesen war. Aber da sie es nicht von sich aus ansprach, hatte er es dabei belassen. Zumal Vogelsang und die Spurensicherung ständig um sie herum wieselten. Natürlich hatte er als Chef nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich um die Belange seiner Mitarbeiter zu kümmern, aber in diesem Fall hatte das wohl Zeit. Und außerdem, erinnerte er sich gerade, hatte er heute eigentlich dienstfrei. Radegast steckte die Autoschlüssel weg und ging auf das Dienstgebäude zu.

Da fiel ihm Maike ein. Maike Boysen, eine Freundin von früher. Einen Sommer lang waren sie ein Paar gewesen, ein hübsches Paar, hatten alle gesagt. Aus Gründen, über die er heute nicht mehr nachdenken mochte, waren sie auseinandergegangen. Maike hatte irgendwo studiert, und er war nach seiner Ausbildung in Cuxhaven gelandet. Erst im letzten Jahr hatten sie sich zufällig wiedergetroffen. Maike arbeitete inzwischen als Eventmanagerin mit einer eigenen Agentur hier in Stralsund. Sie hatten sich ein paar Mal für eine Pizza und ein Glas Wein zusammentelefoniert, und bei so einer Gelegenheit hatte Radegast Maike zu sich eingeladen, in sein Haus nach Altefähr. Das kannte sie noch nicht. Ihm schien, Maike hatte sich über die Einladung gefreut. Aber dann war immer wieder was dazwischengekommen. Wie das so ist bei zwei berufstätigen Menschen, deren Jobs keine geregelten Bürozeiten kennen.

Aber heute war der Termin, der beiden gepasst hatte, am Abend so gegen halb acht. Radegast schaute auf seine Uhr und dann zu seinem Fenster hoch. Jetzt war es kurz vor neun Uhr und Dienstag, das hieß, der Wochenmarkt war schon im Gange. Radegast ging zurück zu seinem Wagen, nahm den alten Korb aus dem Kofferraum und verließ den Hof. Er nahm den Weg über den Frankenteich und die Marienkirche zum Neuen Markt und ging dabei zügig. Um diese Zeit kam er hier noch gut vorwärts und traf sogar ein paar bekannte Gesichter. Man grüßte sich im Vorbeigehen. Weiter vorne begann die Fußgängerzone. Normalerweise konnte Radegast Fußgängerzonen nicht so viel abgewinnen. In anderen Städten, die er kennengelernt hatte, wirkten sie entweder steril oder ramschig.

Aber hier in Stralsund hatte man das irgendwie hingekriegt, dachte er. Eine vernünftige Mischung aus Geschäften, die es schon zu seiner Schulzeit gegeben hatte, und den üblichen Drogerie-, Telefon- und Modeketten, ohne die es heute wohl nicht mehr ging. In den oberen Stockwerken der Häuser gab es ein paar Arztpraxen und Anwaltskanzleien, aber vor allem Wohnungen. Wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass er sich hier wohlfühlen konnte. Und die morgendliche Sommersonne, die ihm im Augenblick auf den Rücken brannte.

Auf dem Gehsteig neben der Marienkirche war eine Stadtführung stehengeblieben. Die Gruppe bestand aus ungefähr zehn Menschen, die in die Luft guckten und dabei den Worten ihres Stadtbilderklärers lauschten:

»… ist heute nur noch 104 Meter hoch. Aber bis zu einem Blitzeinschlag im Jahre 1647 war Sankt Marien zu Stralsund mit ihrem 151 Meter hohen gotischen Spitzturm für fast hundert Jahre das höchste Bauwerk der Welt.«

Mehr konnte Radegast nicht aufschnappen, während er um die Ausläufer der Gruppe herummanövrierte und Entgegenkommern auswich. Er wollte gerade die Fahrbahn überqueren, als er hinter sich eine Frauenstimme hörte.

»Fabian? Mensch, Fabian, du bist meine Rettung.«

Radegast blieb stehen, drehte sich um und schaute in das leicht gerötete Gesicht von Laura Henning, Oles Ehefrau und Janas Mutter.

»Ich weiß«, zwinkerte Radegast ihr zu, »das sagen sie alle. Wo brennt’s denn, Laura?«

»Kannst du mir vielleicht 100 Euro leihen? Ich habe gerade festgestellt, dass ich meine Karte zuhause vergessen habe. Und auf der Post liegt eine Nachnahmesendung für Jana, die ich bezahlen muss.«

»Klar doch.«

Radegast zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche.

»Schickes Sweatshirt«, sagte Laura, während Radegast seine Scheine inspizierte. »Neu?«

»Ja. Ole nennt es den Picasso-Pulli«, erklärte Radegast und schüttelte den Kopf. »Ich habe nur noch vierzig und ein paar Münzen. Aber komm, ich will sowieso zum Markt. Da ist ein Automat.«

»Ich gebe es dir heute Abend wieder, danke.«

Laura überquerte mit ihm die Fahrbahn.

»Da nich für«, sagte Radegast.

Als er drei Minuten später vom Geldautomaten auf den Neuen Markt kam, hatte er noch keine Ahnung, was er für Maike kochen sollte. Er würde sich inspirieren lassen: junge Kartoffeln, Zwiebeln und Möhren, Zucchini. Vorneweg grünen Salat, für den musste er jetzt anstehen. Zitrone und saure Sahne für die Salatsoße hatte er noch zuhause. Und als Hauptgang würde es Fisch geben. Den konnte er aber auf dem Heimweg unten am Hafen holen, direkt vom Kutter. Radegast suchte einen schönen Salatkopf aus, bezahlte ihn und legte ihn obenauf in seinen Korb.

Als er sich umdrehte, stieß er fast mit einer jungen Frau zusammen, großgewachsen, hübsch, eine Asiatin. Während sie beide zurückwichen und er jemanden streifte, der hinter ihm angestanden hatte, schaute die Frau ihn erschrocken an. Und dann lächelte sie schüchtern. Das gefiel Radegast, er nahm den Korb auf die andere Seite und lächelte zurück. Im Weggehen drehte er sich noch mal nach ihr um: Sie entfernte sich in die entgegengesetzte Richtung. Offenbar war sie allein hier. Und ohne Fotoapparat. Kaum war ihm dieser Gedanke bewusst geworden, rief Radegast sich selbst zur Ordnung. Asiaten treten grundsätzlich in Gruppen auf und knipsen alles, was ihnen vor die Linse kommt. Das war genau die Art von Vorurteil und Voreingenommenheit, die er seinen Mitarbeitern immer wieder vorhielt. Zufrieden mit sich und seinen Einkäufen, machte Radegast sich auf den Rückweg.

Kurz bevor er den Markt verlassen wollte, entdeckte er an einem Stand noch Süßkirschen. Die ersten dieses Sommers. Davon würde er auch noch eine Tüte mitnehmen. Er ließ sich ein gutes Pfund abwiegen und griff nach hinten zu seinem Portemonnaie. Es war weg!

Radegast tastete alle seine Taschen ab, schaute auch unter die Einkäufe in seinem Korb. Das Portemonnaie blieb verschwunden. Er ließ die Kirschen da. Wider besseres Wissen ging er noch einmal zu allen Ständen zurück, an denen er eingekauft hatte. Natürlich ohne Ergebnis. Radegast war längst klar: Man hatte ihn beklaut.

»Donnerlüttchen«, sagte Joachim von Plessen, der neben Radegasts Schreibtisch an der Fensterbank lehnte. »Einem Kriminalbeamten das Portemonnaie stante pede aus der Kledage zu entwenden, das entbehrt nicht einer gewissen Dreistigkeit.«

»Aus der Gesäßtasche, hier«, sagte Radegast und zeigte auf seine Jeans. Die leicht verschrobene Ausdrucksweise seines jungen Kollegen fiel ihm oft gar nicht mehr auf. »Und dass ich Polizist bin, sieht man mir ja nicht an. Hoffe ich.«

»Aber als Polizist weißt du, dass die Geldbörse da nicht hingehört. Am besten aufgehoben ist sie in einer Innentasche, möglichst mit Reißverschluss«, mischte sich Hella Binder ein, die im Türrahmen erschien.

»Ich habe aber keine Innentasche.«

Das klang gereizter, als Radegast es meinte. Deshalb versuchte er einzulenken.

»Aber nach dieser Erfahrung werde ich mir sowas vielleicht zulegen.«

»Falls es dich tröstet, Chef: Du bist nicht das einzige Opfer.«

Sie legte einen Zettel auf Radegasts Schreibtisch.

»Das hier haben die uniformierten Kollegen aufgenommen.«

»Nee«, sagte Radegast, »das tröstet mich überhaupt nicht.«

Er warf einen Blick auf den Zettel, Joachim von Plessen trat hinter ihn und schaute ihm über die Schulter.

»Fünf Taschendiebstähle in Stundenfrist, samt und sonders auf dem Neuen Markt. Es hat den Anschein, als würde da ein manuell sehr geschickter Fachmann seiner Profession nachgegangen sein. Beziehungsweise sein Unwesen getrieben haben.«

»Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen«, vermutete Hella wahrscheinlich zu Recht. »Nicht jeder bringt sowas zur Anzeige. Unser Chef ist das beste Beispiel dafür.«

»Hier«, sagte Radegast und gab von Plessen den Zettel. »Dein Fall. Bring diesen Fachmann zur Strecke. Und jetzt bitte raus hier. Ich muss die gestohlenen Karten sperren lassen und so weiter.«

»Ich gelobe, mein Bestes zu tun«, sagte Joachim von Plessen, »aber, Chef, ich brauche dann baldmöglichst Ihre Anzeige bezüglich des Taschendiebstahls.«

»Raus«, sagte Radegast, »und Tür zu.«

Als von Plessen gegangen war, machte Radegast im Kopf schnell Inventur des entwendeten Portemonnaie-Inhalts. Von den 150 Euro, die er vorhin abgehoben hatte, hatte er Laura 100 geliehen, blieben 50, minus die Einkäufe vom Markt plus die 40 Euro, die ursprünglich noch im Portemonnaie waren. Ein Verlust von ungefähr 70 Euro plus Münzen, dazu vier oder fünf Karten, zum Glück nichts Dienstliches. Seine EC-Karte war das Wichtigste, die musste er sperren lassen. Er wählte zweimal die 116, als das Telefon auf Struves Schreibtisch klingelte. Radegast legte den Hörer wieder auf und machte sich lang, um das andere Telefon zu erreichen.

»Kriminalpolizei Stralsund, Radegast.«

»Moin, Kollege. Färber aus Greifswald. Ist Annekatrin Struve zu sprechen?«

»Nee«, sagte Radegast, »im Moment nicht. Soll ich was ausrichten?«

Färber zögerte etwas, bevor er fortfuhr.

»Bestell ihr bitte, dass Roland Schiller wieder draußen ist. Schiller wie Goethe, dann weiß sie schon. Und liebe Grüße. Tschüss.«

Der Kollege aus Greifswald hatte aufgelegt. Radegast wusste, dass Annekatrin dort vor ihrer Zeit in Stralsund Dienst getan hatte. Aber der Rest war für ihn ein einziges Fragezeichen. Noch eins.

SECHS

Das Wohnmobil rollte über eine schmale Landstraße. Obwohl es ein strahlend blauer, heißer Sommertag war, lag die Fahrbahn fast vollständig im Schatten. Die Bäume rechts und links der Straße waren so groß und standen so dicht, dass ihre Kronen sich berührten. Zuhause in Korea hatte Danbi so etwas nie gesehen. Sie lehnte sich zurück und genoss den Blick zwischen den Bäumen hindurch auf Wiesen und Felder. Vorhin auf der hohen Brücke hatte sie das Meer gesehen, wunderbar blau, an den Rändern fast türkis. Aber hier unter den Bäumen gefiel ihr diese Insel noch besser. Das Smartphone in ihrer Hand gab ein Pling von sich. Danbi steckte es nach einem kurzen Blick auf das Display weg. Eigentlich sollte sie ihre Mails und Nachrichten beantworten. Die meisten davon kamen wie eben die SMS nach wie vor von ihren Schulfreundinnen oder Verwandten. Aber Korea war so weit weg. Für sie jetzt zu weit. Sie schaute lieber aus dem Fenster. Diese Insel Rügen mochte sie schon jetzt sehr.