Rauhnacht - Max Pechmann - E-Book + Hörbuch

Rauhnacht Hörbuch

Max Pechmann

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Beschreibung

Tiefenfall ist ein kleiner, verschneiter Ort mitten in den Alpen. Doch die Postkartenidylle trügt. Denn kaum ist der von einer schweren Krise gebeutelte Schriftsteller Titus Hardt in Tiefenfall angekommen, um seine Vergangenheit zu bewältigen, beginnen die Bewohner mit dem Bau einer gewaltigen Schutzpalisade. Die Angst vor Hexen, Dämonen und anderen Kreaturen der Nacht geht um. Zunächst hält Titus dies für nichts anderes als Aberglaube. Doch als zu Beginn der Rauhnächte die Alarmsirenen ertönen und die Bewohner zu den Waffen gerufen werden, wird er Zeuge eines noch nie da gewesenen Grauens. Eines Grauens, das nicht nur Tiefenfall bedroht, sondern auch Titus selbst. Denn die Bewohner haben es nicht gern, dass er in der Geschichte ihres Ortes herumschnüffelt. Aber Titus' Neugierde und seine Beziehung zu einer genauso sinnlichen wie mysteriösen Frau lösen weitere Ereignisse aus, die schlimmer sind als jeder Albtraum. Und schon bald ertönt erneuter Alarm …

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Zeit:10 Std. 27 min

Sprecher:Lutz Gottschalk

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Max Pechmann

Rauhnacht

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog: 25. Dezember 1981

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Impressum neobooks

Prolog: 25. Dezember 1981

Tim Bardin öffnete die Augen. Die Leuchtziffern des Radioweckers zeigten wenige Minuten vor Vier. Der Wind heulte um das Haus. Das war es jedoch nicht, was ihn aus seinem Schlaf gerissen hatte. Ein anderes Geräusch drang an seine Ohren, ein Geräusch, das es um diese Uhrzeit überhaupt nicht geben durfte. Anna lag neben ihm und atmete gleichmäßig. In dem hereinfallenden Mondlicht wirkte seine Frau wie eine Figur aus Alabaster. Er hatte ihre Schönheit schon immer bewundert. Und seit ihrer Hochzeit vor sieben Jahren hatte sie davon kein bisschen eingebüßt.

Er rüttelte sie sanft an der Schulter.

Anna murmelte irgendetwas und drehte sich um.

„Anna“, sagte er. Seine Stimme klang um diese frühe Stunde überraschend laut.

Endlich wachte sie auf. „Was ist?“

„Draußen ist etwas.“

Anna drehte sich auf den Rücken und schaute ihn skeptisch an. „Es ist mitten in der Nacht. Was soll draußen schon sein?“

Tim warf die Bettdecke zurück und stand auf. „Das Läuten. Jemand läutet die Friedhofsglocke.“

Anna schaute auf die Anzeige des Radioweckers. „Es ist nicht einmal vier Uhr früh.“

Tim schlich ans Fenster. „Wir sollten die Kinder wecken.“

„Bist du jetzt völlig verrückt?“

Er blieb ihr die Antwort schuldig. Vorsichtig bewegte er den Vorhang einen Spalt zur Seite. Das weiße Mondlicht erhellte die Winterlandschaft wie eine Filmkulisse. Der Schnee bedeckte einfach alles. Die Straße, die zwischen seinem Haus und dem gegenüberliegenden Friedhof verlief, schlängelte sich einsam bis zum Ortseingang. Von den Bewohnern des Ortes schien bisher noch niemand den Klang der Totenglocke wahrgenommen zu haben.

Die dunklen Konturen des Friedhofs wirkten wie das Negativ einer bizarren Fotographie. Sein Augenmerk richtete sich auf die windschiefe Kapelle. Er konnte nicht erkennen, ob sich die Glocke in dem schmalen Turm bewegte, aber das Läuten musste dort seinen Ursprung haben.

„Siehst du etwas?“, fragte Anna.

Steinfiguren, Grabsteine und steinerne Kreuze warfen längliche Schatten auf dem glitzernden Schnee. Nichts regte sich. Aber aus welchem Grund ertönte die Glocke?

„Nichts.“

„Dann ist es bloß der Wind“, versuchte Anna, ihn zu beruhigen. Ihre Besonnenheit hatte schon immer im vollen Gegensatz zu seinen eigenen Charaktereigenschaften gestanden. Tim war derjenige, der leicht außer sich geriet. Auch dieses Mal hatte Anna wohl Recht.

Er wollte soeben den Vorhang zuziehen, als er auf der Friedhofsmauer einen seltsamen Schatten wahrnahm.

Eine Steinfigur, die er übersehen hatte?

Die Konturen besaßen Ähnlichkeiten mit einer Eule, die auf der Mauer hockte. Die Schwärze des Umhangs absorbierte das Mondlicht. An eine solche Figur konnte sich Tim beim besten Willen nicht erinnern. Vielleicht hatte Gustav, der Friedhofswärter, eine neue Statue aufgestellt. Möglich wäre es.

Sein Blick blieb an dem eigenartigen Ding haften. Irgendetwas stimmte daran nicht.

Plötzlich wusste er auch, warum.

Die Figur bewegte sich. Zuerst erzitterte der schwarze Umhang, so als erwecke eine kräftige Windböe ihn zum Leben. Dann richtete sich die Gestalt unerwartet auf. Die Kapuze rutschte von ihrem Kopf.

Tim öffnete seinen Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Das Blut in seinen Adern gefror zu Eis. Das bleiche Mondlicht beschien einen runzeligen Kopf, von dessen Schädel wirres, graues Haar abstand. Das Gesicht glich einer Fratze, deren verstörendes Aussehen durch eine Hakennase und spitze Zähne, die zwischen den Lippen herausragten, verstärkt wurden. Grünlich schimmernde Augen starrten direkt zu ihm empor.

„Anna“, hauchte Tim.

Seine Frau stand endlich auf. Sie trat zu ihm ans Fenster. Kaum hatte sie das grässliche Wesen bemerkt, taumelte sie entsetzt zurück.

„Eine Lamia“, flüsterte Tim. „Hast du dich nicht an den Brauch gehalten?“

Anna funkelte ihn zornig an. „Natürlich habe ich das! Das Essen steht unten auf dem Küchentisch.“

Als er wieder aus dem Fenster schaute, packte ihn das schiere Grauen. Nun waren es zwei dieser Kreaturen. „Die Kinder! Wir müssen die Kinder in Sicherheit bringen!“

Er lief zur Kommode und öffnete die oberste Schublade. Anna verwahrte darin ihre Halstücher. Er hob ihr Lieblingstuch an. Darunter erschien der Lauf eines Revolvers. Schnell nahm er die Waffe und suchte zugleich nach der Schachtel, in welcher er die Silberpatronen aufbewahrte. Als er sie gefunden hatte, lud er damit den Revolver und steckte sich eine weitere Handvoll in die Hosentasche seines Pyjamas.

Eine Fensterscheibe klirrte.

Anna schrie auf und stürzte aus dem Zimmer. Tim folgte ihr, wobei er den Revolver entsicherte.

Das Zimmer, in dem Lisa und Thomas schliefen, lag am anderen Ende des Flurs.

Anna riss die Tür auf.

Ein eisiger Windhauch wehte ihr entgegen.

Thomas, ihr zweijähriger Sohn, kreischte, dass es in den Ohren schmerzte. Irgendetwas wirbelte auf sie zu. Ein kräftiger Schlag traf sie ins Gesicht. Sie stolperte zurück.

Tim kam sich vor wie in einem krankhaften Albtraum. Eines der Wesen, das zuvor noch an der Friedhofsmauer gelauert hatte, packte Thomas und zerrte ihn aus dem Bett.

Ein plötzlicher Gedanke hinderte ihn daran, etwas zu unternehmen.

Wo war Lisa?

Er konnte sie nirgendwo sehen. Stattdessen erblickte er die zweite Lamia. Sie ließ von seiner Frau ab und stürzte mit wehendem Gewand auf ihn zu. Reflexartig hob er den Revolver und schoss.

Die Kugel zerschmetterte ihren Schädel.

Sogleich zielte Tim auf die andere Hexe. Mit einem gackernden Kichern hielt sie ihm seinen Sohn entgegen. Thomas wimmerte. Auf einmal packte das Unwesen den kleinen Kopf und biss gierig in den Hals. Ein Knacken ertönte, als würde jemand einen Ast entzweibrechen. Thomas fiel wie eine Marionette aus ihren Händen.

Tim brüllte wie ein wild gewordener Stier. Er betätigte den Abzug und schoss die ganze Trommel leer. Bei jedem Treffer stolperte die Lamia weiter zurück. Der letzte Schuss schleuderte sie aus dem Fenster.

Tim eilte zu seinem Sohn. Um Gotteswillen!

Er schaute sich im Zimmer um. „Lisa?“

Keine Antwort.

Anna lag benommen am Boden. Blut rann aus ihrer Nase.

„Lisa? Wo bist du?“

Statt eines Lebenszeichens von ihr, vernahm Tim das gackernde Kichern weiterer Hexen. Es erinnerte an das unrhythmische Klappern von Kastagnetten. Der Boden knarrzte, als sich drei Lamien durch die Tür ins Zimmer schlichen. Zwei weitere hingen wie Fledermäuse vor dem Fenster.

Er wich zurück.

Mit zitternden Händen griff er in seine Hosentasche und holte eine Handvoll Silberpatronen heraus.

Die Albtraumwesen beobachteten ihn dabei. Ihr höhnisches Grinsen verhieß nichts Gutes.

Tim schwitzte, obwohl der eisige Wind durch das zersprungene Fenster blies. Er lud den Revolver. In seiner Aufregung fielen ihm zwei Patronen aus der Hand.

Das Gackern der Lamien wurde lauter.

Er wusste, dass sie nur die Vorhut waren von dem, was noch kommen würde.

Seine Frau kam langsam wieder zu sich.

„Bleib wo du bist, Anna!“

Ihre Bewegung lockte die Aufmerksamkeit der Lamien auf sich. Sie durften ihr nichts tun! Wo war Lisa, verflucht?

Nur vier Kugeln steckten in dem Revolver. Er hatte keine Zeit mehr, nach den anderen beiden zu suchen. Er musste seine Frau und seine Tochter vor diesen schrecklichen Kreaturen in Sicherheit bringen.

„Bleib ganz ruhig, Anna!“

Doch seine Frau hörte nicht auf ihn. Sie erhob sich unsicher. Als sie die Lamia, die sich ihr näherte, wahrnahm, zuckte sie schockiert zusammen.

„Nicht!“, schrie Tim.

Doch es war zu spät. Die Hexe stürzte sich auf sie.

Tim feuerte aus seinem Revolver.

Zugleich lösten sich die übrigen Kreaturen aus ihrer abwartenden Starre.

Ein heller Schrei drang unter dem Bett hervor.

„Lisa!“

Und dann brach die Hölle los.

1

Ein schrilles Pfeifen hallte durch den Tunnel. Kurz darauf preschte der Zug aus der Dunkelheit in eine schneebedeckte Berglandschaft. Mehrere Krähen flatterten aufgeschreckt davon.

Titus beobachtete ihre Flucht über die dunklen Tannen hinauf in den graublauen Himmel. Die Wolken hingen tief. Er konnte nur hoffen, dass er sein Ziel noch erreichte, bevor es wieder schneite. Sein Freund hatte ihn bereits davor gewarnt, dass der Zug in den letzten beiden Dezemberwochen öfters im Schnee stecken blieb und die Passagiere dann keine andere Möglichkeit hatten, als in den Wagons auszuharren. Manchmal dauerte es nur wenige Stunden, manchmal eine ganze Nacht, bis die Schienen wieder frei waren und der Zug weiterfahren konnte.

Titus lehnte sich zurück und blickte auf seinen aufgeschlagenen Notizblock. Außer einem sinnlosen Gekritzel hatte er nichts zustande gebracht. Er hatte gehofft, die Zugfahrt dazu nutzen zu können, um ein paar Ideen aufzuschreiben, aber diese Hoffnung hatte sich inzwischen in Luft aufgelöst.

Das schrille Pfeifen kehrte wieder. Die Winterlandschaft wich einer weiteren Schwärze, als der Zug einen anderen Tunnel durchquerte.

„Nächster Halt Tiefenfall.“

Außer ihm gab es nur drei andere Fahrgäste. Keiner reagierte auf die Durchsage. Titus war wohl oder übel der einzige, der in Tiefenfall ausstieg.

Bis vor kurzem hatte er überhaupt nicht gewusst, dass es einen Ort dieses Namens gab. Doch dann hatte ihn sein Freund Gregor Kranz angerufen und gemeint, ob er über Weihnachten und Neujahr nicht zu ihm kommen wolle. „Der Ort liegt mitten in den Alpen, es gibt keine lästigen Touristen und ein Tapetenwechsel wird dir sicherlich gut tun.“

Gregor hielt sich seit zwei Monaten in Tiefenfall auf. Er war Professor für Volkskunde und, wie er behauptete, auf die Spur eines seltsamen Brauchs gekommen, den es anscheinend nur in Tiefenfall gab. Um seine Forschungen ungestört betreiben zu können, hatte er sich das Wintersemester über frei genommen. Er hatte ein Haus gemietet. „So ziemlich alle Zimmer stehen dir zur Verfügung. Such dir das aus, wo du am besten schreiben kannst.“

Für einen Schriftsteller gab es nichts Schlimmeres als eine Schreibblockade. Brachte man keine Sätze mehr zusammen, begannen irgendwann unweigerlich die Depressionen. Darauf folgten der Alkohol und schließlich die Schrotflinte. Titus hatte die vorletzte Stufe bereits erreicht. Und alles nur, weil er sich abhängig von einer Muse gemacht hatte. Seitdem sie ihn grundlos verlassen hatte, hatte er kein Wort mehr auf Papier gebracht.

Gregor hatte gemeint, die Berglandschaft hätte bereits viele Künstler und Dichter inspiriert. Vielleicht war es so. Titus kannte jedenfalls keinen. Vielleicht aber verhalf ihm die neue Umgebung wenigstens zu einer neuen Idee. Daher hatte er zugesagt. Und aus demselben Grund klappte er nun sein Notizbuch zu und steckte es zurück in seine Laptoptasche. Als er aus dem Fenster blickte, sah er bereits den Bahnsteig von Tiefenfall auf sich zukommen.

2

Der Zug hielt an dem Mittelbahnsteig, der wie eine eckige Betoninsel aus dem Schienenbett ragte. Das Namensschild, an dem das zweite L des Ortsnamens fehlte, klapperte im Wind. Auf dem Dach des Bahnsteigs türmte sich eine riesige Menge Schnee.

Das Licht der mit Fliegendreck verklebten Neonröhren vermischte sich mit der noch verbliebenen Helligkeit des Nachmittags.

Titus hatte Gregor seit fast drei Jahren nicht mehr gesehen. Für Treffen hatte einfach die Zeit gefehlt. Entweder war Gregor zu sehr beschäftigt oder Titus hatte mit einem Abgabetermin gehadert.

Gregor erwartete ihn mit einem breiten Grinsen. Er trug einen hässlich violetten Anorak. Sein Kopf bedeckte eine rote Wollmütze. Auf seiner Nase saß eine große, runde Brille. „Titus!“

Beide schüttelten sich die Hände.

„Meine Güte, Titus, du weißt gar nicht, wie schön es ist, dich endlich wieder zu sehen.“

„Du hättest sagen sollen, dass wir uns hier im Nirgendwo befinden.“

Gregor lachte auf. „Ganz der Alte, Titus. Ständig am Nörgeln. Genau das hat mir die ganzen Jahre über gefehlt.“

„Tja, auf jeden Fall gleicht es schon fast einem Wunder, dass wir uns überhaupt wieder treffen.“

Gregor stieß ihn gegen die Schulter. „Du sagst es, Titus. Und genau aus diesem Grund sollten wir feiern. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe eine Haushälterin. Sie kocht gerade das Abendessen.“

„Ich meine, bevor wir hier festfrieren, sollten wir sie aufsuchen.“

Gregor kicherte. „Deine trockene Art ist unübertrefflich, Titus. Meine Güte, es gibt so viel zu erzählen. Also, worauf warten wir noch? Nimm deinen Koffer und ab geht die Post.“

Der Zug, der etwa eine halbe Minute an dem Bahnsteig gehalten hatte, fuhr mit einem quietschenden Ruck wieder los. Das Stampfen des Triebwagens entfernte sich rasch. Nach wenigen Augenblicken verglühten auch die roten Rücklampen des letzten Wagons in der diesigen Ferne. Die ersten Schneeflocken fielen. Erst jetzt nahm Titus die schneidende Luft wahr. Er zog seinen braunen Schal fester, hob seinen Koffer an und folgte Gregor über den hölzernen Bahnübergang zu dem verlassenen Bahnhofsgebäude, dessen kaputte Fenster mit Pressspanplatten zugenagelt waren.

„Der wird schon seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt“, erklärte Gregor. „Wie ich dir schon sagte, Touristen gibt es hier nicht. Ein Kommen und Gehen suchst du hier vergeblich. Die Leute von Tiefenfall bleiben unter sich. Sie mögen keine Fremden. Das wirst du bald selbst merken.“

„Hinterwäldler“, bemerkte Titus. „Du hättest ganz einfach Hinterwäldler sagen sollen.“

Gregor deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. „Die Sicht eines Großstädters. Aber ich denke, dir wird es hier gefallen. Ich bin sogar davon überzeugt, dass du hier einen neuen Bestseller schaffen wirst.“

Titus Muskeln verkrampften sich bei dem Wort Schreiben. Eine ätzende Säure brannte in seiner Brust. Trotz der Kälte trat Schweiß auf seine Stirn.

Sie umrundeten das düstere Gebäude. Dahinter lag ein Parkplatz, auf dem nur ein einziges Auto stand. Ein schwarzer Geländewagen, auf dem sich das fahle Licht einer Straßenlaterne spiegelte.

„Ich nehme an, der gehört dir.“

Gregor schloss die Fahrertür auf. „Fast. Ich habe ihn gemietet.“

„Gemietet?“

Gregor nahm Titus den Koffer ab und verstaute ihn auf der Rückbank. „Allerdings. Von einer Autowerkstatt. Ich bin wie du mit dem Zug hierher gekommen. Die klassische Art zu reisen, wenn du so willst.“

Titus öffnete die Beifahrertür und stieg ein. „Und seit wann genau bist du in Tiefenfall?“

Gregor setzte sich hinter das Steuer. Nachdem er den Motor angelassen hatte, sagte er: „Seit Mitte Oktober. Ich ging jedes Mal zu Fuß in den Ort. Ein Spaziergang von etwa zehn Minuten. Aber ich dachte mir, ein Auto zu haben ist besser. Für den Notfall.“ Er fuhr los.

„An was für eine Art Notfall dachtest du denn?“

Gregor lenkte den Wagen vom Parkplatz auf eine schmale Straße. Der Schnee knirschte unter den Reifen. „Der Ort ist klein. Für den Fall, dass ich eine Luftveränderung brauche.“

Die Straße führte in einer langen Kurve zum Ortseingang. Im Licht der Straßenlaternen schälten sich alte Fachwerkhäuser aus der zunehmenden Dunkelheit. Mit dem Schnee auf ihren Dächern glichen sie Lebkuchenhäusern mit einer gehörigen Portion Zuckerguss. Aus der Mitte des Ortes ragte ein spitzer Kirchturm in die Höhe. Titus hatte keine Ahnung von Architektur, aber der Turm vermittelte den Eindruck tiefsten Mittelalters.

Die Straße am Ortseingang wirkte verlassen. Gregor lenkte den Wagen bei einer Kreuzung nach links.

Titus riss erstaunt die Augen auf. Die Scheinwerfer erfassten eine Gruppe Männer, die große Baumstämme auf ihren Schultern transportierten. „Was geschieht denn hier?“

Gregor zuckte mit den Schultern. „Die Leute haben vor drei Tagen damit angefangen. Sie tragen diese Stämme ans nördliche Ende von Tiefenfall. Anscheinend errichten sie dort eine Art Palisade.“

„Und sonst haben die keine Probleme?“

Als sie die Gruppe überholten, erkannte Titus skeptische Blicke, die versuchten, die Insassen des Fahrzeugs auszumachen. Die Männer trugen dicke Daunenjacken, manche von ihnen auch dunkle Wollmäntel. Ihren Gesichtern haftete eine Ernsthaftigkeit an, die beinahe ins Sakrale reichte. Titus fühlte sich wie bei der Teilnahme an einer seltsamen Prozession. Das Ganze hatte etwas Unheimliches an sich. Er erkannte, dass die Stämme an beiden Enden zugespitzt waren. Das rindenlose, glatte Holz verlieh ihnen eine gewisse Nacktheit. Titus zählte neun Männer. Jeweils drei von ihnen schleppten einen Stamm.

Als sich Titus wieder nach vorne drehte, fragte er: „Zählt diese Eigenart zu dem geheimnisvollen Brauchtum, das es nur in diesem Ort geben soll?“

Gregor zog seine Mundwinkel auseinander, was wirkte, als immitiere er eine Kröte. „Ich weiß es nicht. Die Leute reden mit mir nicht darüber. Nicht einmal der Pfarrer.“

„Und deine Haushälterin?“

„Die erst recht nicht. Eine abergläubische Frau. Ich will es einmal so ausdrücken. Seit der ersten Dezemberwoche verspüre ich in diesem Ort eine gewisse Unruhe. Das energische Schweigen der Bewohner von Tiefenfall bestärkt mich darin, dass irgendetwas vorgeht.“

„Dass etwas vorgeht, haben wir ja soeben wohl oder übel gesehen.“

Gregor nickte nachdenklich.

Den Rest der Strecke legten sie schweigend zurück.

3

Das Haus, in dem Gregor wohnte, stand etwas außerhalb von Tiefenfall. Es handelte sich um ein Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert. Aus dem Schornstein qualmte Rauch, der von dem Wind davon geweht wurde. Das behagliche Aussehen des Gebäudes stand im vollen Gegensatz zu dem gegenüberliegenden Ort. Ein von einer verwachsenen Hecke eingerahmter Friedhof. In der Dämmerung erkannte Titus Steinkreuze und Grabsteine sowie eine alte Kapelle, deren windschiefe Konstruktion die Kälte des beginnenden Abends einzusaugen schien.

Das Tor der Garage, die an das Gebäude angebaut war, öffnete sich automatisch. Gregor fuhr den Wagen hinein und schaltete den Motor aus. „Willkommen daheim.“

Hinter ihnen rollte das Tor wieder herunter. „Hier hast du es auf jeden Fall ruhig.“

Gregor öffnete die Tür. „Du meinst wegen des Friedhofs? Ja, dort drüben macht bestimmt niemand Radau.“

Titus stieg aus und nahm seinen Koffer von der Rückbank. „Ein ganzes Haus nur für dich allein. Hat es die ganze Zeit über leer gestanden?“

„Soweit ich weiß, hat hier seit langem niemand mehr gewohnt.“ Gregor zuckte mit den Achseln. „Kein Wunder. Wie gesagt, in diesen Ort verirrt sich niemand.“

„Und von den Bewohnern des Ortes zog niemand hierher?“

Gregor trat an die Tür, die in das Haus führte. „Willst du in der Garage übernachten? Das Haus stand leer. Es interessiert mich nicht, wer oder ob jemand vor mir hier gelebt hat. Das Gebäude ist hervorragend für meine Arbeit. Wenn du dich mit der Geschichte des Hauses auseinandersetzen willst, dann findest du vielleicht etwas darüber in der Bibliothek.“

„Bibliothek?“

Gregor trat durch die geöffnete Tür in die Diele. „Hier im Erdgeschoss. Eine durchaus ansehnliche Büchersammlung.“

Titus folgte ihm. Er kam in einen weitläufigen Eingangsbereich, in dem eine Holztreppe hinauf in das Obergeschoss führte. Mehrere Türen öffneten sich in angrenzende Zimmer.

An einer der Wände hing ein großes Gemälde. Es zeigte eine düstere Berglandschaft, bedeckt von einem dichten Wald. Im Hintergrund erkannte Titus so etwas wie eine dunkle Gewitterwolke. Erst bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass die Wolke aus einer Unzahl dunkler, schemenhafter Teufelsfratzen bestand. Nicht gerade ein typischer Beitrag zur Landschaftsmalerei.

Es roch nach frisch zubereitetem Essen. Titus’ Magen knurrte. Seit er seine Reise früh am Morgen begonnen hatte, hatte er lediglich ein belegtes Brötchen und einen Becher Kaffee zu sich genommen.

„Ich zeige dir kurz dein Zimmer“, sagte Gregor. „Danach genehmigen wir uns ein großartiges Essen.“ Er geleitete Titus über die Treppe ins Obergeschoss.

Das Zimmer, in dem Titus übernachten sollte, war großräumig und besaß zudem ein eigenes Bad. Titus stellte den Koffer ab und legte seine Laptoptasche auf den Schreibtisch. Eine Glastür ging hinaus auf einen Balkon. Die Möbel entsprachen dem geläufigen Landhausstil.

„Gib es ruhig zu, du hast etwas anderes erwartet“, meinte Gregor.

„Was hätte ich erwarten sollen? Es ist schön hier.“

„Ich lasse dich für einen Moment alleine“, erwiderte Gregor. „Treffen wir uns unten wieder.“

Nachdem sein Freund gegangen war, schaltete Titus das Licht aus und trat ans Fenster. Natürlich. Es zeigte in Richtung Friedhof. Von hier aus sah er einzelne Grabkerzen leuchten. Er ließ seinen Blick durch die Ferne schweifen. Tiefenfall lag in einem Tal. Die hohen, zerklüfteten Berge umgaben den Ort wie die Mauern einer gewaltigen Festung. Das restliche Licht des Tages zeichnete sich als orangerote Flecken auf ihren Spitzen ab. Titus benutzte die Toilette und wusch sich Hände.und Gesicht. Er fühlte sich schwer wie Blei. Er war das Reisen nicht gewöhnt. Aus dem Erdgeschoss hörte er Gregor mit einer Frau sprechen. Wohl oder übel handelte es sich dabei um seine abergläubische Haushälterin. Titus blieb noch einen Moment in dem Zimmer stehen, bevor er hinaus in den Flur trat und im Erdgeschoss nach dem Esszimmer suchte.

„Da bist du ja schon!“, rief Gregor ihm zu. Er stand vor einem großen Kamin und schürte das Feuer. Funken stoben empor.

Die Mitte des Raumes nahm ein ovaler Tisch ein, der für zwei Personen gedeckt war. Es gab eine weiße Porzellanschüssel mit Suppe und einen Teller, auf dem ein dampfender Rinderbraten Titus’ Appetit anregte. Dazu gab es Kartoffeln und Rotkraut.

Gregor zeigte auf die Speisen. „Lisa hat bereits alles vorbereitet.“

„Lisa?“

„Meine Haushälterin.“

„Ist sie noch in der Küche?“

„Sie ist soeben nach Hause“, erklärte Gregor und trat an den Tisch. „Seit gestern will sie nicht länger als bis kurz nach Sonnenuntergang bleiben. Frag mich nicht, aus welchem Grund.“

„Hängt wahrscheinlich mit ihrem Aberglauben zusammen“, bot Titus eine Erklärung an.

„Da kannst du Recht haben. Aber was soll’s. Setz dich lieber. So wie du aussiehst, kannst du sicherlich eine Menge vertragen.“

Titus nahm sich von der Suppe. „Das kannst du laut sagen. Ich habe einen Bärenhunger.“

Gregor lächelte. „Das hört sich schon einmal gut an. Vielleicht vertreibt das Essen ja deine trüben Gedanken.“

Titus stockte in seiner Bewegung. „Merkt man mir das so sehr an?“

„Anmerken? Man braucht nicht einmal Licht dazu. Hör einmal auf deinen ältesten und besten Freund. Deine Muse war nicht die einzige Frau auf diesem Planeten.“

„Das sagt einer, der seit Jahren mit seiner Mutter zusammen lebt und noch nie eine Freundin gehabt hat.“

Gregor schmunzelte. „Oh, da kennst du nur die halbe Wahrheit.“

„Halbe Wahrheit? Sollte innerhalb der Zeit, in der wir uns nicht gesehen haben, ein Wunder geschehen sein?“

Gregor lachte auf. „Wunder? Nicht wirklich. Eine meiner Studentinnen, Titus. Sie ist jetzt meine Assistentin.“

Titus probierte die Suppe. Gut war kein Ausdruck. Sie schmeckte göttlich. Eine Kürbissuppe wie sie nicht besser hätte sein können. „Ich kann mir denken, aus welchem Grund.“

„Jetzt wirst du geschmacklos, Titus. Sie hat das Zeug zu einer hervorragenden Wissenschaftlerin.“

„Und ist zufällig auch gut im Bett.“

Gregor rückte verlegen seine Brille zurecht. „Ihre Brüste, Titus …“

„Jetzt fängst du damit an. Und wieso ist sie nicht mit hierher gekommen?“

„Sie kommt morgen.“

Titus schaute von seiner Suppe auf. „Ich dachte, ich sei dein einziger Gast.“

„In Ordnung, ich hätte es dir schon früher sagen sollen. In deiner Lage war es sicher unfein. Aber ich brauche sie hier bei mir.“

„Als Betthäschen oder als intellektuelle Unterstützung?“

„Es gibt zu viele Dinge zu untersuchen. Alleine werde ich nicht damit fertig.“

Titus löffelte seinen Teller aus. „Ich brauche Ruhe. Eine fremde Person …“

Gregor seufzte. „Streiten wir nicht, Titus. Sie kommt morgen und damit basta. Sie wird dich nicht stören. Theresa ist ein äußerst sanftmütiger Mensch.“

„Theresa heißt die Gute?“

„Theresa Chambers.“

„Engländerin?“

„Sie kommt aus den USA. Spricht aber hervorragend deutsch.“

Titus stellte den Suppenteller zur Seite. „Ich werde mir Mühe geben.“

„Mühe? Bei was?“

„Freundlich zu sein. Und jetzt schneide mir etwas von dem Braten ab. Am besten gleich zwei Scheiben. Lisa kocht hervorragend.“

Nach dem Essen holte Gregor die Kanne Kaffee, die auf der Kommode gestanden hatte. „Die gute Fee hat an alles gedacht. Setzen wir uns damit vor den Kamin. Du schaust übrigens müde aus.“

Titus unterdrückte ein Gähnen. „Die Fahrt war nicht gerade kurz.“ Er setzte sich in einen der beiden Lehnstühle, die Gregor vor den Kamin gerückt hatte.

Gregor legte Holz nach, bevor er in dem anderen Stuhl Platz nahm. Er betrachtete gedankenverloren die tanzenden Flammen. Schließlich richtete er seine Augen auf Titus. „Über sie hast du mir so gut wie gar nichts erzählt.“

Titus verkrampfte sich. Er beobachtete die Spiegelung der Flammen auf der Kaffeeoberfläche, während er sagte: „Was soll ich dir über sie erzählen? Sie inspirierte mich. In dem Zeitraum, in dem wir zusammen waren, schrieb ich zwei meiner besten Romane. Seit sie weg ist, bringe ich absolut nichts mehr zustande.“

„Sie ist einfach auf und davon?“

Titus nickte. „Ohne Grund. Ich wachte eines Morgens auf und sie war nicht mehr da. Keine Nachricht, kein Anruf, keine Email.“

„Eindeutig ein billiges Flittchen, das sich von seinen Liebhabern aushalten lässt.“

„Du musst es ja wissen.“

Gregor schenkte sich Kaffee nach. „So hört sich das für mich an. Du solltest ihr nicht nachtrauern.“

„Elvira Mohn war wie eine Droge.“

Gregor horchte auf. „Sagtest du soeben Mohn?“

„Ihr Nachname. Wieso?“

Sein Freund runzelte die Stirn. „Nur so. Ich kenne einen Wissenschaftler mit diesem Namen. Er ist … Wir sind das, was man schlechthin als Rivalen bezeichnet. Er zieht meine Artikel durch den Dreck und ich seine. Mohn versucht alles, um dahinter zu kommen, an was ich gerade forsche.“

Titus zuckte mit den Achseln. „Und wenn schon. Was hat er davon, wenn er es herausfindet?“

Gregor hob seinen Zeigefinger. „Eine ganze Menge, Titus. Er würde versuchen, mir Konkurrenz zu machen, indem er schnell irgendwelche Artikel über meine Forschungen veröffentlicht. Damit würde er meine Arbeit zunichte machen. Um es auf den Punkt zu bringen, er ist das, was man gemeinhin als Arschloch bezeichnet.“

„Und was ist so besonders an deiner derzeitigen Forschung? Ich meine, außer Männer dabei zu beobachten, wie sie Holzstämme durch den Ort schleppen.“

Gregor zog seine Mundwinkel auseinander und runzelte die Stirn. „Ich bin in einem alten Dokument auf eine sonderbare Spur gestoßen. Es handelt sich dabei um den Brief eines Gelehrten namens Theophilus Gotthelf aus dem 18. Jahrhundert. Auf seinen ausgedehnten Reisen durch Europa kam er eines Tages nach Tiefenfall. In seinem Brief erwähnt er eine rätselhafte Tradition, die im Zusammenhang mit etwas steht, dass im Volksmund als Wilde Jagd bekannt ist.“

Titus reichte ihm seine leere Tasse, damit Gregor sie nachfüllte. „So, so. Auch wenn dieser Begriff im Volksmund so heißt, habe ich trotzdem keine Ahnung, was es damit auf sich hat.“

Gregor griff nach der Kanne, die neben ihm auf einem Rauchertischchen stand. Während er nachschenkte, erklärte er: „Die Wilde Jagd ist reiner Aberglaube. Es soll sich dabei um ein Heer aus Monstern, Dämonen und Untoten handeln, die zwischen Weihnachten und Neujahr die Nächte unsicher machen. Diese Vorstellung ist in den Alpen nicht gerade unbekannt. Aber hier in Tiefenfall scheint sie eine ganz andere Dimension angenommen zu haben.“

„Das alles erwähnte er in dem Brief?“

„Er erwähnte eigentlich nur, dass er das Haus des Pfarrers besucht habe. Dieser besaß eine eigene Waffenkammer, die voll gestellt war mit Musketen, Schwertern, Sprengstoff und weiß der Teufel was noch. Gotthelf erstaunte diese Ansammlung von Waffen bei einem Pfarrer natürlich. Daher wollte er wissen, was das zu bedeuten habe. Der Pfarrer zögerte ein wenig. Er gab schließlich preis, dass Tiefenfall gelegentlich heimgesucht werde. Auf die Frage, wer oder was diesen Ort heimsuche, antwortete der Pfarrer lakonisch: ‚Die Wilde Jagd’.“

Titus nippte an seiner Tasse. „Ich nehme an, dieser Theophilus Gotthelf hielt den Pfarrer für unzurechnungsfähig?“

„Das weiß ich nicht. Mehr hat der gute Mann nicht notiert. Es gibt nur diese eine Stelle in seinen unzähligen Briefen. Keine ähnlichen Bemerkungen in seinen Tagebüchern. Nichts. Verwunderlich, nicht wahr?“

„Nur dann, wenn man dem Aberglauben der Bergleute skeptisch gegenübersteht.“

Gregor lachte laut auf. „Seit wann glaubst du an Spuk oder Hexerei?“

„Ich glaube an gar nichts. Daher bin ich für alles aufgeschlossen.“

„Ein interessantes Paradoxon. Aber zurück zum eigentlichen Thema. Es gibt keinen einzigen Ort in den Alpen, in dem sich die Bewohner gegen die Wilde Jagd im wahrsten Sinne des Wortes wappnen. Es gibt natürlich gewisse Bräuche, mit denen sich die Bewohner versuchen zu schützen. Aber nicht mit Pistolen, Gewehren, Schwertern und dergleichen. Die Rituale sind dadurch gekennzeichnet, dass als Dämonen verkleidete Männer durch die Straßen ziehen und Häuser aufsuchen, um deren Bewohner vor dem Bösen zu schützen. In manchen Gegenden achtet man auch darauf, dass nach Sonnenuntergang keine Kinder mehr auf den Straßen spielen. Aber damit hat es sich. Im Grunde genommen ist es ein Spiel, eine Art Karneval oder Fasching. Keiner hortet irgendwo Waffen, um sich gegen diese Bedrohung zu schützen.“

Titus zeigte ein flüchtiges Grinsen. „Die Leute von hier sind eben Pragmatiker.“

„Oder etwas völlig Anderes steckt dahinter. Ich hatte ein Gespräch mit dem Pfarrer. Der einzige Mann, der relativ aufgeschlossen mir gegenüber ist. Wahrscheinlich, weil er noch nicht lange die Gemeinde in diesem Ort leitet. Ich fragte ihn nach dieser Kammer. In der Tat zeigte er mir einen kleinen Raum, der ihm als Abstellkammer dient. Keine Waffen. Er lagert darin nur alte Kartons.“

„Wenn es nichts gibt, wieso hast du dann vorhin gemeint, es gebe zuviel zu untersuchen?“

„In der Kirche lagern alte Dokumente. Walter Dorn, der Pfarrer, hat sie sich noch nicht genau angesehen. Mir hat er jedoch erlaubt, die Schriften zu studieren. Auch hier in der Bibliothek gibt es ein paar Bücher, die für meine Arbeit wichtig sein könnten. Du siehst, ich stehe mit meinen Forschungen noch völlig am Anfang. Irgendetwas geht hier vor. Es kommt mir vor, als habe dieser Ort ein dunkles Geheimnis, das von seinen Bewohnern aufs strengste bewahrt wird. Wie gesagt, außer dem Pfarrer redet niemand mit mir. Und Dorn weiß so gut wie nichts über die Geschichte des Ortes.“

Titus und sein Freund saßen noch bis kurz vor Mitternacht am Kamin. Da Titus bereits ein paar Mal in seinem Stuhl beinahe eingeschlafen war, beschlossen sie, sich beim Frühstück weiter zu unterhalten.

Als Titus wieder sein Zimmer betrat, ließ er das Licht zunächst aus und ging zur Balkontür. Der Friedhof lag ruhig und vergessen inmitten der Winterlandschaft. Die Berge waren in der nächtlichen Dunkelheit nicht mehr zu erkennen.

Er öffnete die Tür und trat hinaus auf den Balkon. Die Kälte erfrischte ihn. Noch immer wehte ein Wind. Im gesamten Ort herrschte eine fast gespenstische Stille. Es gab nur ein einziges Geräusch, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein regelmäßiges Hämmern und Schlagen, so als wären mitten in der Nacht mehrere Zimmerleute am Werk.

Titus dachte an die großen Holzstämme. Gregor hatte wahrscheinlich Recht. Tiefenfall hatte ein Geheimnis.

4

Als Titus erwachte, war es draußen bereits hell. Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr, die er neben dem Bett auf den niedrigen Kasten gelegt hatte. Es war kurz nach Zehn. Die Fahrt hatte ihn wohl mehr erschöpft, als er angenommen hatte. Schnell stieg er aus dem Bett, duschte sich und verließ das Zimmer.

Aus der Küche hörte er ein emsiges Klappern von Töpfen. Lisa hatte demnach wieder ihren Posten als Haushälterin aufgenommen. Als er das Speisezimmer betrat, stellte er überrascht fest, dass Gregor nicht am Tisch saß. Es war lediglich für eine Person gedeckt. In einem Korb lagen fünf Brötchen. Es gab mehrere Marmeladen zur Auswahl, dazu Honig und Schinken. Eine Kanne Kaffee stand auf einem Porzellanstövchen mit kitschigem Blumenmuster. Neben dem Teller lag eine zusammengefaltete Tageszeitung.

Titus setzte sich. Ohne sich weiter über den Verbleib seines Freundes Gedanken zu machen, nahm er sich ein Brötchen, schnitt es auf und bestrich es mit Butter und Erdbeermarmelade.

Gerade als er sich Kaffee einschenken wollte, sagte eine sanfte Stimme hinter ihm: „Herr Kranz ist bereits außer Haus.“

Titus drehte sich um.

In der Tür zur Küche stand eine überaus hübsche Frau. Als Titus die Bezeichnung Haushälterin vernommen hatte, war in ihm das Bild einer kleinen, buckligen Alten entstanden, welche die Atmosphäre mit ihrer griesgrämigen Laune vergiftete. Die schlanke Frau, deren Äußeres eine irritierende Sinnlichkeit ausstrahlte, erstaunte ihn. Sie betrachtete ihn mit einer interessanten Mischung aus Neugierde und Zurückhaltung. Sie hatte langes, schwarzes Haar und kastanienbraune Augen. Ihre Kleidung bestand aus einer orangeroten Bluse und einer blauen Jeans. Sie faltete ihre Hände wie zum Gebet.

„Hat er gesagt, wohin er wollte?“, fragte Titus. Er hatte ganz vergessen, dass er noch immer die Kanne in der Hand hielt.

„Ich glaube, zum Bahnhof, um seine Assistentin abzuholen.“

Titus’ Stimmung verdüsterte sich augenblicklich. „Sie kommt schon in der Früh?“

„Das dürfte wohl der Fall sein.“

Titus wandte sich wieder seinem Frühstück zu. Er trank einen Schluck Kaffee und biss daraufhin in das Brötchen.

„Ich hoffe, es schmeckt Ihnen.“

Titus drehte sich wieder um.

Die Frau wirkte auf eine merkwürdige Art verunsichert. Zugleich schien sie darauf aus zu sein, mit Titus ein kurzes Gespräch zu führen.

„Schmeckt sehr gut“, antwortete er. „Ist die Marmelade von Ihnen?“

Ein zurückhaltendes Grinsen huschte über ihre Lippen. Sie trat an den Tisch, wobei sie sich hinter einen der Stühle stellte und dessen Lehne festhielt. „Alle Marmeladen sind von mir. Die Rezepte stammen von meiner Mutter.“

Titus nickte. „Wirklich gut. Mein Name ist übrigens Titus Hardt.“

„Der Schriftsteller, ich weiß.“

Titus hob seine Augenbrauen. „Sie haben schon etwas von mir gelesen?“

„Um ehrlich zu sein, nein. Aber Herr Kranz erzählte mir bereits viel über Sie. Was schreiben Sie denn?“

„Lesbenthriller.“

Die Frau errötete. „Und … können Sie davon leben?“

„Noch“, antwortete Titus. „Ich befinde mich zurzeit in einer Schaffenskrise. Seit mehreren Wochen bringe ich nichts mehr zustande. Es kommt mir vor, wie wenn ich von einer Sekunde auf die andere das Schreiben verlernt hätte.“

„Das tut mir Leid.“

Titus nickte. „Wenn ich nicht mehr schreiben kann, kann ich klarerweise nicht mehr davon leben.“

„Wahrscheinlich klingt meine Frage sehr aufdringlich, aber gibt es einen Grund dafür?“

„Dass ich nicht mehr schreiben kann?“ Titus trank einen Schluck, bevor er fortfuhr: „In der Tat, den gibt es. Meine Muse hat sich auf und davon gemacht. Eine Frau namens Elvira Mohn. Genauso wie in einem kitschigen Drama.“

Die Haushälterin schwieg. Sie betrachtete verunsichert die Tischoberfläche. Schließlich sagte sie: „Ich bin übrigens Lisa Bardin. Sie können mich einfach Lisa nennen. Ich … Nun ja, ich verwalte dieses Haus.“

Titus hielt im Kauen kurz inne. „Das ist ja interessant. Gregor meinte nämlich, er wisse nicht, wer vor ihm in diesem Haus gewohnt habe.“

„Das stimmt auch. Herr Kranz hat sich lediglich gewundert, weswegen das Haus leer stand.“

„Und weswegen stand es leer?“ Titus ließ Lisa bei der Frage nicht aus den Augen.

Die Haushälterin wich seinem Blick aus. „Die Leute glauben, dass es hier spukt. Deswegen stand es die ganze Zeit über leer.“

„Oh, der Friedhof lässt grüßen.“

„Das ist es wahrscheinlich“, erwiderte Lisa schnell. „In diesem Sinne liegt das Haus wirklich ungünstig. Es gehört meiner Familie seit mehr als zweihundert Jahren.“

„Tatsächlich? Und aus welchem Grund leben Sie mit Ihren Angehörigen nicht darin?“

„Ich lebe alleine. Mein Mann hat mich vor drei Jahren verlassen. Und meine Eltern leben nicht mehr. Was soll ich also alleine in solch einem großen Haus?“

Titus zuckte bei dem Wort Mann leicht zusammen. Er schätzte Lisa auf Anfang dreißig. Wieso verließ jemand eine solch hübsche Frau? „Haben Sie Kinder?“

„Nein.“

Titus stopfte sich den Rest des Brötchens in den Mund. Nachdem er es mit einem Schluck Kaffee hinuntergespült hatte, sagte er: „Gregor hat behauptet, dass sich so gut wie keine Touristen nach Tiefenfall verirren. Ist das richtig?“

„Touristen suchen Sie hier vergeblich. Sie und Herr Kranz sind seit längerer Zeit die ersten Besucher, die wir in diesem Ort haben.“

Titus schüttelte den Kopf. „Ein seltsames Kaff.“

Lisa betrachtete ihn furchtsam. „Wie meinen Sie das?“

„Gestern beobachteten wir eine Gruppe Männer, die Pfähle an die Nordseite des Ortes trugen. Gregor zufolge errichten sie dort einen Zaun.“

Die Haushälterin verkrampfte ihre Hände, sodass sie wie zwei weiße Knorpel wirkten, die aus der Stuhllehne ragten. „Ich habe davon gar nichts mitbekommen.“

Titus stand auf. Es war offensichtlich, dass Lisa nicht die Wahrheit sagte. „Vielleicht sehe ich mir heute Vormittag die Konstruktion einmal an.“

Lisa trat abrupt hinter ihrem Stuhl hervor. „Tun Sie das lieber nicht, Herr Hardt. Die Leute mögen es nicht, wenn man sich in ihre Angelegenheiten einmischt.“

„Dann erklären Sie mir, was hier vorgeht.“

„Sie hätten besser gar nicht nach Tiefenfall kommen sollen. Das ist das Einzige, was ich Ihnen sagen kann. Sie sollten in den nächsten Zug steigen und von hier wieder verschwinden. Zusammen mit Herrn Kranz.“

„Wollen Sie damit andeuten, dass wir in irgendeiner Gefahr schweben?“

Lisa trat zurück an die Küchentür. „Bald wird es zu spät sein.“ Damit ließ sie Titus alleine.

5

Als Titus das Haus verließ, vernahm er aus der Küche wieder das Klappern der Töpfe. Es fiel ihm schwer, Lisas Bemerkungen aus dem Kopf zu bekommen. Welche Art von Gefahr hatte sie gemeint? Titus bezweifelte, eine Antwort zu erhalten, wenn er die Küche aufsuchte, um sie danach zu fragen. Lisa war eigenartig. Mindestens soviel stand fest. Dennoch musste er sich eingestehen, dass ihn ihre Erscheinung faszinierte.

Vor dem Haus zündete er sich eine Zigarette an. Die Kälte schnitt wie eine Rasierklinge in sein Gesicht. Der Schnee blendete in den Augen, obwohl der Himmel mit graublauen Wolken verhangen war.

Er hatte vor, einen Rundgang durch den Ort zu machen, bevor Gregor mit seiner Assistentin zurückkam. Vielleicht führte ihn sein Spaziergang auch in die Nähe des obskuren Zauns, den die Bewohner aus Holzstämmen errichteten.

Während er rauchte, fiel sein Blick auf den Friedhof, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag. Der Schnee, der in der Nacht gefallen war, hatte auf den ungepflegten Hecken einen weißen Wall errichtet. Er wusste nicht, was er sich davon versprach, doch als er seine Zigarette ausdrückte, beschloss er, dem Gottesacker einen kurzen Besuch abzustatten. Er kannte einen Autor, der sich von Grabsteinen inspirieren ließ. Vielleicht hatte Titus ja dieses Mal auch Glück und kam beim Anblick der Gräber auf eine neue Romanidee.

Er überquerte die verlassene Straße und öffnete das schwarz lackierte Tor. Die moosbedeckten Grabsteine mit der windschiefen Kapelle im Hintergrund erschienen wie das Motiv für das Plakat eines klassischen Gruselfilms. Gelegentlich ragten verwitterte Skulpturen in Form trostloser Engel aus dem Schnee.

Während Titus an den Gräbern vorbeischlenderte las er die Namen der Verstorbenen. Seltsamerweise stand auf mehreren Grabsteinen dasselbe Sterbedatum: 25.12.1981. Hatte damals eine Epidemie den Ort heimgesucht? Vor einem der Grabsteine blieb er abrupt stehen. Bardin. Besaß nicht die Haushälterin denselben Nachnamen? Tim Bardin 1952-1981 und Anna Bardin 1950-1981. Unterhalb dieser beiden Namen stand: Thomas Bardin. 1979-1981. Es musste sich dabei um den Sohn der beiden handeln. Lisas Eltern und ihr Bruder waren hier begraben. Er zog seinen Mantel fester, da es ihn plötzlich fröstelte.

Er spazierte weiter bis zur Kapelle. Die Holztür hing schräg in den Angeln. Dem Aussehen nach hatte sich nie jemand die Mühe gemacht, diese zu reparieren. Er drückte dagegen. Sie öffnete sich, wobei sie über den Steinboden schabte. Fünf hölzerne Kirchenbänke reihten sich hintereinander. Am gegenüberliegenden Ende stand ein Altar. Darüber hing ein schweres Steinkreuz. Es gab keine Verzierungen, nichts, das sich lohnte, näher in Augenschein zu nehmen. Also schloss er die Tür wieder und drehte sich um.

Titus zuckte zusammen. Er blickte direkt in das mürrische Gesicht eines alten Mannes. Der Kerl musste sich regelecht von hinten angeschlichen haben. Er trug eine dunkelblaue Wollmütze und einen schäbigen Anorak. Sein grauer Stoppelbart verlieh ihm ein ungepflegtes Aussehen.

„Was machen Sie hier?“, fuhr ihn der Mann an.

Titus versuchte, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. „Mich umsehen.“

„Sich umsehen? Wer sind Sie überhaupt? Ich kenne Sie nicht.“

Titus begann sich, über diese grobe Art zu ärgern. „Darf ich fragen, wer Sie sind?“

„Sie sind fremd hier, nicht wahr?“, fuhr der Mann fort, so als ob er Titus’ Frage nicht gehört habe. „Fremde in Tiefenfall sind nicht gut. Wir mögen keine Leute von außerhalb. Besonders nicht, wenn sie sich auf unserem Friedhof aufhalten.“

Titus räusperte sich. „Gibt es dafür auch so etwas wie eine Erklärung?“

Der Mann glotzte Titus verdutzt an. „Eine Erklärung? Hören Sie, junger Mann, ich weiß noch immer nicht, wer Sie sind und was Sie hier wollen. Daher rate ich Ihnen, sich von hier fernzuhalten.“

Titus trat an dem Mann vorbei auf die Reihe von Grabsteinen zu, in welche dasselbe Sterbedatum eingemeißelt worden war. „Können Sie mir nicht einmal sagen, weswegen so viele Leute an Weihnachten einundachtzig gestorben sind?“

Die Augen des Mannes funkelten zornig. „Wer sind Sie? Ein verdammter Reporter? Hauen Sie von hier ab!“

„War nur eine Frage“, erwiderte Titus, drehte sich um und verließ den Friedhof.

Um auf der rutschigen Straße in den Ort zu kommen, benötigte er mehr als fünfzehn Minuten. Kein Mensch kam ihm entgegen. Wenn er Glück hatte, traf er in Tiefenfall auf Gregor, damit er sich den Fußmarsch zurück ersparte. Vielleicht wusste sein Freund noch nichts darüber, dass es am ersten Weihnachtstag 1981 auffällig viele Sterbefälle gegeben hatte. Normalerweise hätte er ihn mit seinem Handy anrufen können. Gregor aber gehörte zu einer Minderheit von Handy-Gegnern. Daher blieb Titus nichts anderes übrig, als abzuwarten.

Er kam nicht gerade an vielen Geschäften vorbei. Es gab unter anderem ein kleines Antiquariat, das jedoch geschlossen hatte. Titus blieb kurz vor dem Schaufenster stehen, in dem Bücher über Geister- und Hexenglauben auslagen. Anscheinend beschäftigten sich nicht wenige Leute mit Esoterik.

„Was auch immer das zu bedeuten hat“, murmelte Titus vor sich hin.

Endlich erreichte er das Ortszentrum von Tiefenfall. Direkt vor ihm ragte die Kirche wie ein abstruses Artefakt aus dem mit unebenen Pflastersteinen belegten Platz. Ihre schmutzigbraune Fassade sowie die gotischen, teils blinden Fenster trugen nicht gerade dazu bei, dass er sich in dieser Gegend wohl fühlte. Erst jetzt erkannte er auf dem Kirchturm eine dornenähnliche Spitze. Auch auf dem Dach des Kirchenschiffes ragten in regelmäßigen Abständen große, silberfarbene Dornen in die Höhe. Diese Auffälligkeiten machten ihn neugierig.

6

Im selben Augenblick, als Titus das unverzierte Kirchenportal öffnete, wurde er von einem dicken, kräftigen Mann zur Seite gestoßen, der die Kirche in rasendem Tempo verließ.

„Gehen Sie aus dem Weg, verdammt!“

Titus schaute dem Mann überrascht nach. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und um seinen Hals hatte er einen rotbraunen Wollschal gewickelt. Die Kälte schien ihm nichts auszumachen, ansonsten hätte er wohl einen Mantel getragen. Sichtbar verärgert stapfte er über den rutschigen Platz und verschwand schließlich in einer schmalen Straße.

Sein Gesicht hatte Titus nicht richtig erkennen können. Er glaubte aber, sich an einen dichten Schnauzbart zu erinnern sowie an eine breite Nase. Er zuckte mit den Schultern und betrat die Kirche.

Vor ihm erstreckte sich ein breites Kirchenschiff. Es gab keine Säulen. Das Längsschiff sowie der Chor wirkten wie aus einem Guss. Rechts und links verliefen zwei Bankreihen. Es roch nach Weihrauch und altem Gemäuer.

Direkt neben dem Altar erhob sich ein Weihnachtsbaum, der von zwei Männern geschmückt wurde. Ein Adventskranz stand auf einem Stahlgestellt, das Ähnlichkeiten mit einem Folterinstrument besaß. Neben dem Eingang lagen auf einem Tisch mehrere Faltzettel. Einer davon trug die Überschrift St. Georg – Geschichte unserer Kirche. Der Inhalt des kurzen Textes erwies sich als mehr oder weniger belanglos. Der Architekt der Kirche war unbekannt.

Der Bau wurde zum ersten Mal in einem Dokument aus dem achten Jahrhundert erwähnt. Das einzig wirklich Interessante an der Kirche hatte mit einem Wandgemälde zu tun, das auf der Nordseite angebracht war. Kunsthistorikern zufolge stammte es aus dem 15. Jahrhundert. Der Künstler konnte bisher nicht identifiziert werden, nach Art des Gemäldes aber könnte es sich um einen Maler aus dem Umfeld von Hieronymus Bosch handeln.

Titus legte den Zettel zurück auf den Tisch. Die beiden Männer waren weiterhin in ihre Arbeit vertieft. Er spazierte an den Holzbänken vorbei und hielt nach dem erwähnten Gemälde Ausschau. Ob Gregor davon wusste? Wahrscheinlich. Immerhin hatte sein Freund bereits mit dem Pfarrer Bekanntschaft geschlossen und demzufolge die Kirche bereits aufgesucht.

Nach wenigen Metern blieb Titus stehen. Das Kunstwerk besaß größere Ausmaße, als er sich vorgestellt hatte. Es war etwa zwei Meter hoch und einen Meter breit. Direkt daneben befand sich eine aus Holz geschnitzte Figur des Heiligen Georg, der mit einer Lanze den Hals eines Drachen durchbohrte. Die Farbe war fast vollkommen abgeblättert. Die Schnitzarbeit wirkte unbeholfen.

Titus richtete seine Aufmerksamkeit auf das Gemälde. Es zeigt eine kleine Stadt oder ein Dorf, dessen Bewohner von einer Horde Dämonen heimgesucht wurde. Die Ungeheuer saßen rittlings auf den Dächern der Gebäude, jagten Menschen durch den Ort, fraßen Kinder und brieten Körperteile über Lagerfeuern. Manche Personen wurden von den Angreifern durch die Luft gezerrt. Die vor Schreck verzerrten Gesichter der Betroffenen ließen erahnen, dass diesen der Spaß rein gar nicht gefiel.

Das Werk zeichnete sich durch seine durchweg düsteren, bis ins Schwarz hineingehenden Farben aus. Die Augen der Dämonen besaßen auch nach Jahrhunderten ein glühendes Rot. Manchmal ähnelten ihre Gesichter denen verwester Leichname, manchmal waren sie halb menschlich, halb tierisch und dann gab es welche, deren bizarres Aussehen Titus nicht einordnen konnte.

„Ein interessantes Gemälde, nicht wahr?“

Der Mann, der auf einmal neben ihm stand, erwies sich als einer der beiden, die vorhin den Christbaum geschmückt hatten. Mit Ausnahme seines weißen Priesterkragens war er ganz in Schwarz gekleidet. Das Hemd und die Hose, die aufgrund ihres Schnitts eine gewisse konservative Strenge ausstrahlten, passten nicht zu seinem jungen Aussehen und seiner modischen Frisur.

„Der Künstler ist tatsächlich unbekannt?“, hakte Titus nach.

„Sie haben also bereits unser Faltblatt studiert“, bemerkte der Mann mit einem süffisanten Grinsen. „Es stimmt. Kunsthistoriker können dieses Werk niemandem zuordnen. Allerdings befürchte ich, dass die Wissenschaftler gerade aus diesem Grund das Bild für belanglos halten.“

„Hat es Ihrer Meinung nach einen gewissen Wert?“

Der Mann legte den Kopf leicht schief. „Nun, es ist Teil unserer Kirche. Daher besitzt es jedenfalls für mich einen bestimmten Wert, auch wenn dieser rein persönlicher Natur ist. Mein Name ist übrigens Walter Dorn. Ich bin der Pfarrer dieser Gemeinde.“

Titus schüttelte ihm die Hand. „Titus Hardt. Wahrscheinlich kennen Sie meinen Freund Gregor Kranz.“

Dorn öffnete überrascht die Augen. „Aber ja! Sind Sie etwa auch Volkskundler?“

„Ich bin Schriftsteller. Gregor hat mich über Weihnachten zu sich eingeladen. Wir wohnen in dem Haus neben dem Friedhof.“

„Ich weiß, das Haus der Bardins. Wahrscheinlich sind Sie Lisa bereits begegnet.“

„Ich hatte ein kurzes Gespräch mit ihr.“

Der Pfarrer seufzte. „Arme Lisa. Sie tut mir richtiggehend leid. Sie ist völlig alleine.“

„Ihr Mann hat sie verlassen“, bemerkte Titus.

Dorn machte ein betroffenes Gesicht. „Nicht nur das. Ihre Eltern sind ums Leben gekommen als sie noch ein kleines Kind war. Aber trotz ihrer Schicksalsschläge lässt sie sich nicht unterkriegen. Sind Sie vielleicht schon in den Genuss Ihrer Kochkunst gekommen?“

„Sie kocht gut. So viel steht fest.“

Dorn lachte auf. „Gut? Sie kocht erstklassig. Und das Beste daran ist, es sind ihre eigenen Rezepte. Wirklich schade, dass es in Tiefenfall keine Touristen gibt. Wenn schon nicht unsere Kirche, so würde Lisas Küche die Besucher scharenweise hierher locken.“

„Sie kennen Gregors Haushälterin anscheinend recht gut.“

Dorn errötete leicht. „Sie backt die Kuchen für unsere diversen Feiern. Sonst aber mischt sie sich nur ungern in das Leben unserer Gemeinde ein. Das große Bild in ihrem Haus. Haben Sie es bereits gesehen?“, wechselte er abrupt das Thema.

„Sie meinen das mit dem Wald und der dunklen Wolke?“

„Es stammte von ihrem Vater. Er war Künstler.“

Titus betrachtete wieder das Gemälde. „Künstler.“

„Tim Bardin. Anscheinend zählte er sich zu den Surrealisten. Genau kann ich es Ihnen nicht sagen. Vielleicht hat Herr Kranz bereits erwähnt, dass ich mich erst seit etwas mehr als einem Jahr in Tiefenfall aufhalte.“

„Das hat er. Sie wissen demnach nichts von den Gerüchten, die sich um diesen Ort ranken?“

Dorn schaute flüchtig in Richtung des Weihnachtsbaums. Der andere Mann war noch immer dabei, Strohsterne an die Zweige zu hängen. „Herbert ist zum Glück taubstumm. Aber ich muss Sie dennoch warnen, nicht so laut darüber zu sprechen. Die Bewohner kennen in dieser Hinsicht keinen Spaß.“

„Können Sie mir erklären, wieso?“

Dorn richtete seinen Kragen, so als würde er ihn zu sehr drücken. „Genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Es ist nur so, dass sich die Bewohner zwischen Weihnachten und Dreikönig recht eigenartig verhalten. Es hat etwas mit Aberglauben zu tun. Sie errichten Feuer, feiern seltsame Rituale und …“

„Und bauen eine Palisade aus Eichenstämmen“, beendete Titus den Satz.

„In meinen Augen ein nicht weniger heidnisches Ritual. Kennen Sie die volkstümliche Bedeutung der Eiche?“

Titus schüttelte den Kopf.

„Sie soll vor dem Bösen schützen.“

„Und aus welchem Grund errichten sie den Zaun auf der Nordseite?“

Dorn deutete auf das Gemälde. „Ich befürchte, aus demselben Grund, weswegen sich dieses Bild an der Nordwand befindet. Mehr kann ich allerdings nicht dazu sagen.“

Titus erschauerte. Erst jetzt fiel ihm eine weitere Eigentümlichkeit des Gemäldes auf. Diese hatte mit der mysteriösen Lebendigkeit zu tun, die von den Figuren ausging. Es machte nicht den Eindruck, als hätte der Maler seiner Fantasie freien Lauf gelassen. Vielmehr erschien es, als hätte er etwas geschaffen, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. „Kam es letzte Weihnachten zu ähnlichen Reaktionen unter den Bewohnern?“

Dorn überlegte kurz. „Es herrschte eine gewisse Anspannung. Die Leute versteckten sich in ihren Häusern und gingen nur hinaus, wenn es unbedingt sein musste. Das heißt, wenn ich genau überlege, kam es zu ein paar seltsamen Zwischenfällen.“ Er hielt kurz inne. „Drei Kinder verschwanden spurlos. Mir persönlich sind die Gründe dafür unklar. Sie tauchten jedenfalls nicht wieder auf. Damals schlug ich vor, die Polizei einzuschalten. Doch mein Vorschlag stieß auf strickte Ablehnung.“

„Sagten die Betroffenen auch, weshalb?“

Vom Chorraum ertönte ein lautes Stöhnen. Herbert stand neben dem Christbaum und deutete energisch auf denselben.

Dorn zeigte ein sanftmütiges Lächeln. „Er ist mit dem Schmücken fertig. Es tut mir Leid, dass ich unser Gespräch hier abrupt beenden muss. Aber ich darf Herbert nicht weiter warten lassen. Er wird schnell unwirsch.“ Dorn reichte Titus die Hand. „Es hat mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen, Herr Hardt. Grüssen Sie Herrn Kranz von mir. Und sagen Sie auch Lisa schöne Grüsse.“ Er machte kehrt und eilte zu dem taubstummen Mann.

Titus blieb noch einer Weile vor dem unheimlichen Gemälde stehen. Es fiel ihm schwer, das eben geführte Gespräch einzuordnen. Er gehörte nicht zu den Leuten, die alles für bare Münze nahmen. Im Gegenteil, Titus gehörte zu den Zweiflern und Skeptikern. Andererseits besaß er genug Toleranz, um nicht sogleich Dinge als absurd abzutun, nur weil er sie nicht verstand. Er glaubte weder an das Übernatürliche noch glaubte er nicht daran. Er wusste einfach nicht, ob es Dinge dieser Art gab. So lange es weder Beweise dafür noch dagegen gab, lag alles, was damit zu tun hatte, im Bereich des Möglichen.

Dennoch konnte er nicht verhindern, dass er sich in diesem Ort nicht sonderlich wohl fühlte. Was passierte in Tiefenfall zwischen Weihnachten und Dreikönig? Eigentlich hatte sich Titus mit Gregors Forschung nicht weiter abgeben wollen. Nun aber kreisten seine eigenen Gedanken um dieses Thema. Was hatten die verschwundenen Kinder zu bedeuten? Waren sie vielleicht längst wieder aufgetaucht, ohne dass Dorn etwas davon mitbekommen hatte? Kinder spielten gerne Streiche. Gelegentlich büchsten sie auch von zuhause aus.

Titus holte einmal tief Luft und stieß den Atem langsam aus. Er sollte erst einmal einen Kaffee trinken, um sich aufzuwärmen.

Als er vor der Kirche stand, konnte er beim besten Willen nicht sagen, durch welche der Gassen er auf den Platz gekommen war. Aber egal. Um seinen Rückweg zu finden, hatte er noch genug Zeit. Im schlimmsten Fall konnte er den Pfarrer fragen. Zunächst brauchte er etwas Warmes zu trinken. Er entdeckte ein Café, das sich ihm direkt gegenüber befand, und schlenderte darauf zu.

Die Glastür wurde plötzlich aufgerissen.

„Titus!“ Gregor stand am Eingang des Cafés und winkte ihm zu. „Ich hab dich gerade durch eines der Fenster gesehen.“

Er versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. „Ich dachte, du holst, deine Freundin ab.“

„Sie sitzt da drinnen.“

Titus zögerte. „Dann lasst euch nicht stören.“

Gregor lachte auf. „Du wirst sie sowieso kennen lernen. Wieso also nicht gleich jetzt?“

Titus suchte vergeblich nach einer Ausrede. „Da hast du auch wieder Recht.“

„Bist du den ganzen Weg hierher zu Fuß gekommen?“, wollte Gregor wissen, als mit Titus das Café betrat.

Der Duft nach Kaffee und Sahnetorten schlug ihm entgegen. „Geflogen bin ich jedenfalls nicht.“

Gregor lachte. „Eine dumme Frage, ich weiß.“

„Ich habe mit dem Pfarrer gesprochen.“

Sein Freund blieb stehen. „Du warst in der Kirche?“

„Hätte ich nicht sollen?“

„Doch, doch. Natürlich.“

„Das Gemälde …“

Gregor wies ihn mit einer flüchtigen Handbewegung an, zu schweigen. „Nicht jetzt“, flüsterte er. „Später können wir darüber reden.“ Darauf setzte er sich wieder in Bewegung.

Titus zuckte mit den Schultern und folgte ihm. Die Inneneinrichtung verblüffte durch ihr Jugendstildesign. Ein völliger Gegensatz zu dem mittelalterlichen Ambiente des Ortes.

Gregor steuerte auf einen der Tische zu, die direkt neben dem Fenster standen. Eine junge Frau saß dort und blätterte in einem Buch.

„Das ist Theresa“, stellte Gregor sie ihm vor.