Das Geisterschiff - Max Pechmann - E-Book

Das Geisterschiff E-Book

Max Pechmann

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Beschreibung

New York 1872. Kapitän Benjamin Spooner Briggs ist auf der Suche nach einer geeigneten Mannschaft für sein Schiff Mary Celeste. Aber die meisten Seeleute machen um die Brigantine einen großen Bogen. Die Gerüchte besagen, es handele sich um ein Unglücksschiff. Manche gehen sogar soweit, zu behaupten, dass es an Bord spukt. Doch Briggs hält nichts von dem Gerede. Am 5. November 1872 sticht er in See, um eine Ladung Industriealkohol nach Genua zu transportieren. Mit an Bord ist der Waisenjunge Jim Knox, der froh ist, seinem niederträchtigen Onkel entkommen zu sein. Bereits nach wenigen Tagen sorgen seltsame Zwischenfälle an Bord für Unruhe. Und als es zu einem rätselhaften Todesfall kommt, geraten die Ereignisse zunehmend außer Kontrolle…

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Max Pechmann

Das Geisterschiff

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorbemerkung

1

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3

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5

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Impressum neobooks

Vorbemerkung

Das Rätsel um den Zweimaster Mary Celeste zählt bis heute zu den unheimlichsten Geschehnissen, die sich jemals auf Hoher See zugetragen haben.

Die folgende Geschichte basiert auf dieser wahren Begebenheit.

1

Der Tag versprach nichts Gutes. Obwohl es bereits neun Uhr früh war, herrschte eine solche Dunkelheit, dass der Hafenmeister die Gaslaternen bisher noch nicht gelöscht hatte. Das Thermometer, das neben dem Eingang der Hafenmeisterei angebracht war, zeigte weniger als drei Grad Celsius. Ein leichter Nebel bedeckte den Kai, auf dem nur wenige Matrosen ihrer Arbeit nachgingen.

Captain Benjamin Spooner Briggs stand am Fenster seines Büros und schaute hinaus auf die Schiffe, deren Masten sich wie knorpelige Bäume in die Höhe reckten. Vor wenigen Tagen war er Eigentümer einer Brigantine mit dem Namen Mary Celeste geworden. Er wusste nicht, ob dies ein guter Kauf gewesen war oder ob er sich damit ein finanzielles Grab geschaufelt hatte. Das Schiff war in Ordnung. Schon morgen würde er damit in See stechen. Doch eine andere Sache stimmte ihn zunehmend nachdenklich. Es handelte sich dabei um die merkwürdigen Gerüchte, die sich um dieses Schiff rankten. Briggs selbst war zu sehr Rationalist, um diesem Gerede Glauben zu schenken. Aber die Matrosen sahen dies aus einer anderen Perspektive. Seeleute gehörten seit jeher zu den abergläubischsten Menschen. Aus welchem Grund auch immer, hatten sie sich in den Kopf gesetzt, dass es auf der Celeste spuke.

„Mit diesem Schiff stimmt etwas nicht“, hatte erst gestern ein Mann zu ihm gesagt, den er als Koch anheuern wollte. Der Mann sagte ab, kurz nachdem er die Brigantine gesehen hatte. Ein anderer Matrose hatte seine Stelle bekommen.

Als Briggs das Rattern von Rädern hörte, blickte er gespannt nach unten. Eine Kutsche rollte den Kai entlang und blieb direkt vor dem Gebäude der Schiffseigner Goodwin und Tempelton stehen, in dem Briggs sein Büro besaß. Er sah einen alten Mann sowie einen Jungen von vielleicht zwölf Jahren, die auf dem Kutschbock saßen. Sie stiegen ab, wobei der Mann die Zügel um ein Geländer band. Als Briggs ihre Schritte im Treppenhaus hörte, setzte er sich zurück an seinen Schreibtisch und wartete.

2

Jim Knox stieg hinter seinem Onkel Steven die schmalen, hölzernen Stufen hinauf. Die Wärme umgab ihn wie ein wollenes Tuch. Er selbst trug nur eine dünne Hose, ein Hemd sowie eine leichte Jacke. Obwohl die Fahrt bis zum Hafen nicht lang gewesen war, hatte er die ganze Zeit über nur geschlottert. Auch jetzt erzitterte er noch, wenn ein Rest der Kälte durch seinen Körper drang. Sein Onkel trug einen Mantel aus Biberfell. Seine Füße steckten in hohen Stiefeln und sein Kopf zierte ein breiter, schwarzer Pastorenhut.

Jim wusste nicht genau, was sein Onkel mit ihm vorhatte. Aber instinktiv glaubte er, dass er Jim auf ewig und immer loswerden wollte. Am Sonntag in der Kirche war ihm das seltsam bewusst geworden. Er hatte Onkel Steven mit einigen Gemeindemitgliedern darüber reden gehört, dass „sein Neffe“ sehr bald zur See gehen werde. Natürlich waren alle darüber sehr erstaunt und beglückwünschten Onkel Steven deswegen. Was aber niemand wusste, war, dass dies für Jim eine völlig unerwartete Neuigkeit bedeutete. Bis dahin hatte er noch nichts über Onkel Stevens Absichten erfahren. Drei Jahre hatte er bei seinem Onkel verbracht, und an diese Zeit erinnerte er sich keineswegs angenehm.

Onkel Steven hielt im dritten Stock vor einer der weißen Türen. Sein rundes Gesicht glühte von der Anstrengung des Treppensteigens. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Er wandte sich noch einmal zu Jim um, der abwartend hinter ihm stand.

„Du sagst zunächst einmal gar nichts“, zischte er und hob dabei drohend seinen rechten Zeigerfinger. „Verstanden?“

Jim nickte.

Daraufhin klopfte Onkel Steven an die Tür.

„Ja, bitte?“

Jims Onkel öffnete und trat ein. Der Junge folgte ihm.

Das Büro war überraschend klein. An der rechten Wand reihten sich drei große Regale aneinander, die sich unter ihrer Bücherlast verbogen, so dass sie an das Aussehen windschiefer Häuser erinnerten. An der linken Wand standen zwei Aktenschränke. Ein Geruch, der Jim an eine Mischung aus Tabak und Papier erinnerte, lag in der Luft.

Hinter einem schweren dunklen Schreibtisch saß ein Mann, den Jim auf Anfang Dreißig schätzte. Er hatte schwarzes Haar und einen Vollbart. Seine Kleidung bestand aus einem dunklen Kapitänsanzug. Die kastanienbraunen Augen des Mannes besaßen einen warmen Ausdruck, ganz im Gegensatz zu Onkel Steven, dessen Blicke stets hart und kalt wirkten. Jim fiel eine schwarze Bibel auf, die vor dem Mann auf dem Schreibtisch lag.

„Hallo, Captain Briggs“, begrüßte Onkel Steven den Mann.

Dieser verzog seinen Mund zu einem leichten Lächeln. Er erhob sich und gab Jims Onkel die Hand.

„Hallo, Mr. Knox“, erwiderte er. Darauf richtete er seine Augen neugierig auf den Jungen. „Und du musst wohl Jim sein. Dein Onkel hat mir schon viel über dich erzählt.“

Jim nickte unsicher. Er spürte dabei den warnenden Blick seines Onkels, der ihm bedeutete, auf keinen Fall etwas zu erwidern.

„Aber setzt euch doch“, bot Ben ihnen an und deutete dabei auf zwei Stühle, die vor dem Schreibtisch standen.

Onkel Steve ließ sich ächzend nieder, nahm seinen Hut ab und legte ihn auf seinen Schoß. Jim fühlte sich unbehaglich. Was auch immer sein Onkel mit ihm vor haben sollte, es konnte nichts Gutes bedeuten. Zu viele schlechte Erfahrungen stachen wie Nadeln in seiner Brust. Onkel Steve, der Wolf im Schafspelz. Jim hatte früher Pastoren für ehrliche Männer gehalten. Sein Onkel erfüllte den Beweis dafür, dass es leider auch Gottesmänner gab, denen man nicht trauen sollte. Jim dachte nur, was sein Onkel mit einem Teil der Kirchengelder anstellte. Dabei war das noch das Geringste. Viel schlimmer trafen Jim die Strafen und Aufgaben, die sich sein Onkel für ihn vorbehielt.

„Captain Briggs, Sie wissen, weswegen ich hier bin“, begann Onkel Steve in seiner predigenden Stimme.

„Als wir uns vor ein paar Tagen hier am Hafen trafen, sagten Sie, es ginge um Ihren Neffen“, antwortete der Kapitän. Dabei betrachtete er Jim neugierig. „Ihr Neffe scheint allerdings nicht viel von guten Worten zu halten.“

Onkel Steve starrte Jim giftig an, trat ihm auf den linken Fuß und sagte: „Wieso begrüßt du den Kapitän nicht, Jim? Hast du etwa keine Manieren?“

„Guten Morgen“, sagte Jim verschüchtert.

„Guten Morgen, Sir“, verbesserte ihn sein Onkel.

„Guten Morgen, Sir“, wiederholte Jim artig.

Kapitän Briggs lächelte. „Ist schon in Ordnung. Der Knabe ist noch ziemlich jung. Beim nächsten Mal wird er es besser machen.“

„Die Jugend von heute“, seufzte Onkel Steve. „Da bringt man ihnen von früh bis spät bei, wie sie sich verhalten sollen, und dann tun sie erst recht etwas anderes. Ich bin viel zu nachsichtig mit diesem Bengel. Zu meiner Zeit hätte man ihn grün und blau geschlagen.“

„Es geht also um Ihren Neffen“, führte Ben die Unterhaltung zurück zum Thema.

„Ganz genau, Captain Briggs“, antwortete Steve. „Er wohnt nun schon seit drei Jahren bei mir. Seit seine Eltern gestorben sind. Sie kamen bei einem Hotelbrand ums Leben. Sein Vater war mein Bruder. Ich nahm den Jungen bei mir auf, da man ihn sonst in eines dieser üblen Waisenhäuser gesteckt hätte. Dabei versuchte ich mein Bestes, um ihn auf den Ernst des Lebens vorzubereiten. Ich gab ihm Unterricht in Lesen und Schreiben, in Mathematik und im Erlernen der Bibel. Mir wäre es am liebsten gewesen – und dabei versuchte ich mit allen Kräften, den Wunsch seines Vaters zu verwirklichen -, wenn Jim die Voraussetzungen für ein Jurastudium erhielte. Als guter Anwalt hätte er später keine Sorgen. Aber Sie sehen ja selbst, dass meine Bemühungen nicht fruchteten. Im Gegenteil, Jim entwickelte sich mehr und mehr zu einem Taugenichts. Daher dachte ich, wie es wäre, wenn man ihn für einige Jahre auf See schickte. Ich überlegte mir, ob dies vielleicht aus ihm einen ehrbaren und tüchtigen Mann werden ließe.“

„Und deshalb glauben Sie, ich würde ihn anheuern“, schlussfolgerte Kapitän Briggs.

Onkel Steve verzog sein Gesicht zu einem Rattengrinsen. „Sie stechen doch morgen in See. Ich habe gehört, dass Sie Schwierigkeiten haben, eine Mannschaft zu finden. Und für einen Schiffsjungen ist doch immer Platz.“

„Als Schiffsjunge, also“, erwiderte Ben. Nachdenklich betrachtete er Jim. Was ihm an dem Jungen als erstes auffiel, waren die knochendünnen Arme und Beine, die ihn alles andere als gesund erscheinen ließen. Seine grünblauen Augen, die ihn seltsamerweise an die Farbe des Meeres erinnerten, saßen tief in ihren Höhlen, wirkten aber aufmerksam und lebendig. Die Kleidung, die der Junge trug, war nicht nur schäbig, sondern viel zu dünn für diese Jahreszeit. Hätte sich Steve Knox tatsächlich um Jim gekümmert, so säße nun kein Knochengerüst, sondern ein wohlgenährter, gut angezogener Junge vor ihm. Ein mulmiges Gefühl schlich sich in seinen Magen, wenn er daran dachte, was der Pastor tatsächlich mit dem Waisenjungen anstellte.

„Er sieht mir alles andere als kräftig aus“, sagte er schließlich. Er merkte, wie der Pastor versuchte, seine Verlegenheit zu verbergen.

„Ja, der Junge gehörte noch nie zu den Stärksten. Um ehrlich zu sein, Jim ist ein wenig kränklich. Das hat er wahrscheinlich von seiner Mutter geerbt. Sie litt unter Blutarmut. Doch sicherlich wird ihn das Leben auf hoher See zu einem gesunden und kräftigen jungen Mann gedeihen lassen.“

„Sieht er nicht viel mehr unterernährt aus?“

Jim spürte, wie seinem Onkel der Atem wegblieb. Hatte er zunächst den Kapitän nicht einschätzen können, so spürte er nun ein klein wenig Sympathie für ihn. Jemand, der feststellte, dass Jim nicht viel zu essen bekam, konnte kein Mensch wie Steve Knox sein.

Er sah, wie sein Onkel die Hände zu Fäusten ballte. Dieses Verhalten kannte er zu gut. Mit Sicherheit aber würde er den Kapitän nicht schlagen. Er war immerhin Pastor. Und es galt, in der Öffentlichkeit den Schein zu bewahren.

„Unterernährt?“ krächzte Onkel Steve. „Jim ist … er frisst uns die Haare vom Kopf, Captain Briggs. Dass er nicht dicker wird, hängt mit seiner Krankheit zusammen. Er litt kürzlich unter einer starken Grippe.“

„War es nicht zuvor noch Blutarmut?“ hakte Ben nach.

Onkel Steve verschluckte sich beinahe. „Aber sicher, was rede ich denn da zusammen? Blutarmut, ganz recht. Jim leidet darunter. Ein Erbe seines Vaters…, ich meine, seiner Mutter. Da fällt mir ein, dass ich noch einen wichtigen Termin habe. Sie heuern ihn doch an, nicht wahr? Captain Briggs, wir beide sind doch Christen.“

Der Kapitän schien sich unschlüssig. „Wie bereits gesagt, stechen wir schon morgen in See. Die Fahrt geht nach Genua. In der Tat hatte ich große Schwierigkeiten, eine Mannschaft zusammenzustellen. Aber dennoch kann ich Kranke oder Schwache nicht an Deck meines Schiffes gebrauchen.“

Jim spürte, wie sich in seinem Innern ein dunkler Fleck bildete, der drohte, ihn völlig zu verschlucken. Er musste wohl oder übel damit rechnen, von seinem Onkel windelweich geschlagen zu werden, wenn sie wieder zurück in das Pastorenhaus kommen würden. Onkel Steve ließ es sich nie nehmen, seine Wut an ihm auszulassen. Am schlimmsten war es, wenn er zuvor Alkohol getrunken hatte.

Der Kapitän betrachtete den Jungen eingehend. Was war Steve Knox überhaupt für ein Mensch? Konnte ein Pastor, der jeden Sonntag der Gemeinde Gottes Wort verkündete, den Sohn seines Bruders so verwahrlosen lassen? Auf einmal empfand er gegenüber Steve Knox eine noch größere Abneigung, als er sie bereits zuvor verspürt hatte. Der Junge tat ihm schlicht und ergreifend leid. Er selbst besaß keine Kinder. Das heißt, seine Tochter war kurz nach der Geburt gestorben. Drei Jahre war dies bereits her. Seine Frau konnte den Schmerz darüber bis heute nicht völlig überwinden. Ihm selbst ging es ganz ähnlich.

„Nehmen Sie ihn auf Ihr Schiff?“ Die Stimme des Pastors riss ihn aus seinen Gedanken.

„Also gut“, sagte der Kapitän schließlich. „Ich versuche es mit ihm. Tatsächlich könnte ich einen Schiffsjungen ganz gut gebrauchen. Er wird seine Erfahrungen machen.“

Steve Knox schien sich zu entspannen. „Dann ist ja alles bestens. Es ist schön, dass es unter uns noch Menschen gibt, die es verdienen, als wahre Christen bezeichnet zu werden. Und wenn dies in einer Stadt wie New York geschieht, dann will das etwas heißen. Ich muss jetzt leider wieder gehen. Jim bleibt am besten gleich hier bei Ihnen, Captain. Ich kann mir denken, dass es viel zu tun gibt, bevor Sie morgen in See stechen.“ Damit stand Steve Knox auf und setzte seinen Pastorenhut wieder auf. „Jim, ich hoffe, du wirst mich nicht in Verlegenheit bringen. Denk an deinen Vater. Er wollte etwas Großes aus dir machen.“ Onkel Steve machte kehrt, schritt zur Tür und sagte: „Aufwidersehen, Captain Briggs. Schreiben Sie mir einen Brief, wenn Sie in Genua angekommen sind.“ Er öffnete die Tür, schritt auf den Flur und eilte die Treppe hinunter, so als befürchtete er, der Kapitän könnte es sich doch noch anders überlegen.

Zurück blieben Benjamin Briggs und Jim Knox, die sich schweigend gegenübersaßen.

3

„Kannst du mir sagen, was das eben zu bedeuten hatte?“ fragte Captain Briggs den Jungen. Von der Straße ertönte ein lautes „Hüja!“ als Steve Knox auf seiner Kutsche davon ratterte.

Jim betrachtete schweigend die spiegelnde Schreibtischplatte. Er wusste nicht, was er dem Kapitän antworten sollte. Was würde passieren, wenn er etwas Falsches sagte? Hätte er dann erneut mit Schlägen zu rechnen? Doch Benjamin Briggs wirkte eigentlich nicht wie ein Mann, der wie Steve Knox wegen den kleinsten Zwischenfällen Backpfeifen verteilte. Der Kapitän verbreitete eine ruhige, beinahe gelassene Atmosphäre, in der Jim sich irgendwie wohl fühlte.

„Dein Onkel scheint dich nicht gerade gut behandelt zu haben“, fuhr Ben fort.

Diese Offenheit überraschte Jim. Er schaute von der Tischplatte auf und sah dabei dem Kapitän direkt in die Augen. Sie wirkten nicht zornig wie die seines Onkels, sondern strömten eine gewisse Wärme aus, nach der sich Jim so lange gesehnt hatte. „Mein Onkel ist ein gemeiner Mensch, Sir“, sagte er. Seine Stimme hörte sich rau und trocken an.

Der Kapitän nickte. „Das dachte ich mir. Steve Knox ist mir zum ersten Mal hier am Hafen begegnet. Schon damals machte er keinen guten Eindruck auf mich. Ich dachte jedoch, dass Pastoren, die es tagtäglich mit betrunkenen Matrosen, Hafendirnen und anderen üblen Gesellen zu tun haben, eine raue Art entwickeln. Ich kenne viele Geistliche, die nach außen hin hart erscheinen, doch in Wahrheit angenehme, rücksichtsvolle und herzliche Menschen sind. Bei Knox habe ich mich anscheinend getäuscht.“

„Onkel Steve schlug mich immer wieder. Ich bekam nur wenig zu essen. Und mein Zimmer lag unter dem Dach des Pastorenhauses. Es war undicht und es zog und wenn es regnete, dann tropfte es auf mein Bett.“ Jim spürte, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten. „Ich hasse ihn, Sir.“

Benjamin Briggs meinte: „Ein seltsamer Mensch.“ Dann fügte er hinzu: „Wahrscheinlich fragst du dich, was ich nun wirklich mit dir vorhabe.“

Jim, der noch immer mit seiner Wut zu kämpfen hatte, horchte auf.

„Ich werde dich als erstes zu mir in meine Wohnung nehmen. Dort wirst du ein heißes Bad nehmen und danach wird meine Frau etwas für dich kochen. Du wirst dich den ganzen Tag über nur ausruhen. Wenn du Lust hast, dann schlaf einfach, wenn dir langweilig ist, dann lies ein Buch. Morgen werde ich dich mit an Bord nehmen. Über deine Aufgaben bin ich mir noch nicht ganz im Klaren. Aber etwas werden wir schon für dich finden. Wenn du dich an Bord bewehren kannst, dann wirst du weiterhin mit mir quer durch die Welt segeln.“

„Und wenn nicht?“ Jim fühlte sich nicht ganz wohl bei der Sache. Hatte er den Kapitän etwa falsch eingeschätzt?

„Wenn nicht? Darüber habe ich mir, ehrlich gesagt, noch keine Gedanken gemacht. Aber jetzt machen wir uns erst einmal auf den Weg. Meine Wohnung liegt hier am Hafen. Wir kommen an der Mary Celeste vorbei. Du kannst dir dabei schon einmal einen ersten Eindruck verschaffen.“

Die Zeiger der alten Hafenuhr deuteten auf zehn Uhr. Das düstere, trübe Wetter hatte bisher keine Anstalten gemacht, sich zu verziehen. Gelegentlich fielen einzelne Schneeflocken, die am Boden sofort zerschmolzen. Die grauen Wolken hingen so tief, dass sie beinahe die Masten der Schiffe berührten. Das Meer wirkte unruhig. Die Wellen brachten die Schiffe zum Tanzen und klatschten laut gegen die Kaimauer. Wie ein blätterloser Wald ragten die Fock- und Großmasten in die Höhe. Die Taue erinnerten an die Leitungen von Telegraphenmasten.

An diesem Tag herrschte am Hafen kein sehr großes Treiben. In eines der Schiffe wurden gerade die Utensilien eines chinesischen Zirkus verfrachtet. Die bunten Gewänder der Artisten faszinierten Jim. Er sah eine Frau, die ihren Körper so weit nach hinten bog, dass sie mit ihrem Kopf den Boden berührte.

„Ich habe gehört, dass sie nach Europa fahren“, erklärte Captain Briggs. „Sie sind Teil einer Tournee, die ein gewisser Barnum organisiert hat. Ein verrückter Mensch. Er präsentiert seinen Zuschauern Menschen mit zwei Köpfen oder Wesen, die halb Tier und halb Mensch sein sollen. Den Leuten gefällt es. Er macht sehr viel Geld.“

Jim nickte. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Andererseits besaß er noch immer die Scheu, überhaupt etwas zu sagen. Sein Onkel hatte ihn durch seine Schläge und fürchterlichen Strafen zum Schweigen verdammt. Jim lagen die Worte auf der Zunge, aber er brachte sie einfach nicht über seine Lippen.

Benjamin Briggs blieb nach einigen Metern stehen. Er schaute erst auf Jim, dann auf das Schiff, das direkt vor ihnen ankerte. Der Stolz stand dem Kapitän ins Gesicht geschrieben. „Das ist sie“, sagte er. „Das ist die Mary Celeste.“

Die Länge des Schiffes betrug etwa dreißig Meter. Zwei Masten, deren Segel eingeholt waren, ragten wie riesige Zahnstocher in die Höhe. Die Mary Celeste wirkte alt. Die schwarze Farbe am Schiffsbauch blätterte ab. Darunter erschienen teilweise rote Flecken, die Jim an getrocknetes Blut erinnerten. Eine unangenehme, kalte, unheimliche Atmosphäre ging von diesem Schiff aus. Und da war noch etwas. Jim hatte den Eindruck, dass ihn das Schiff beobachtete. Die Nackenhaare stellten sich ihm auf.

„Ich habe dieses Schiff erst vor wenigen Wochen zu einem spottbilligen Preis erstanden“, erzählte Briggs gut gelaunt. „Niemand wollte dieses Schiff haben. Es gehen seltsame Gerüchte über die Mary Celeste herum. Manche behaupten sogar, dass es darauf spuken soll. Und dies führte dazu, dass der Preis beinahe ins Bodenlose sank. Der frühere Eigner schien sehr erleichtert zu sein, endlich von diesem Schiff los zu kommen. Interessanterweise war es dein Onkel Steve, der mich auf dieses Angebot aufmerksam machte und den Kontakt zu dem früheren Eigner herstellte. Ich nehme an, er bekam dafür eine kleine Provision. Es ist ein so wunderbares Gefühl, sein eigener Chef zu sein, Jim. Die Fahrt nach Genua ist sozusagen die Jungfernfahrt meines Unternehmens. Wir befördern mehrere Fässer Alkohol. Meine Frau und ich können es kaum erwarten, in See zu stechen.“

Jim beobachtete, wie mithilfe eines Krans große Holzfässer an Bord gehievt wurden, wo zwei Matrosen sie in Empfang nahmen.

„Meine Mannschaft besteht aus insgesamt sieben Männern“, erläuterte Briggs. „Zwei Amerikaner, ein Däne, zwei Holländer und zwei Deutsche. Meine Frau wird als Passagier geführt. Und, wie ich schon sagte, für dich werden wir auch noch etwas Passendes finden.“

Wenige Minuten später erreichten beide die Wohnung von Benjamin Briggs. Sie lag im vierten Stock eines alten Hauses, dessen Fassade vor Schmutz nur so strotzte. Innen jedoch herrschte eine penible Sauberkeit. Sie stiegen die knarrenden Treppen hinauf. Kaum waren sie bei der fraglichen Wohnung angekommen, als die Tür geöffnet wurde und eine hübsche, lächelnde Frau mit schwarzen hochgesteckten Haaren Briggs in die Arme fiel. Sie trug ein weißes Kleid.

„Hallo, Herr Kapitän“, rief sie erfreut. „Schon wieder zurück von Ihrer Weltumseglung?“

„Sarah, wir haben einen Gast“, erwiderte Briggs.

Sarah Briggs schaute erst ihren Mann, dann Jim überrascht an. „Aha“, sagte sie dann, „Sie haben also das interessante Exemplar eines Eingeborenen der Hucka-Hucka-Inseln mitgebracht. Das nenne ich aber eine Überraschung. Herzlich willkommen in unserem bescheidenen Heim. Haben Sie auch einen Namen, der nicht zu kompliziert ist, um ihn auszusprechen?“

Jim musste alle Kraft zusammennehmen, um nicht laut loszulachen. „Ich heiße Jim“, sagte er ganz ohne Hemmungen. „Jim Knox.“

„Na dann kommen Sie erst einmal herein, Jim Knox“, erwiderte die Frau. „Vielleicht möchten Sie etwas von unserer einheimischen Küche probieren? Aber ich warne Sie, bei uns gibt es alles, außer Menschenfleisch.“

Nun konnte sich Jim beim besten Willen nicht mehr zurückhalten. Wie ein Kanonenschuss platzte das Lachen aus seiner Kehle und durchschüttelte seinen ganzen Körper. Er mochte Sarah Briggs auf Anhieb.

Zum ersten Mal seit langer Zeit badete Jim in warmen Wasser. Sarah Briggs schüttete angenehm duftende Essenzen in das dampfende Wasser, das sich zunehmend schwarz färbte. Nachdem sie ihm auch noch die Haare gewaschen hatte, trocknete sich Jim ab. Wenige Augenblicke später saß er in frischer Kleidung an einem großen Esstisch. Es gab Truthahn, ein Gericht, das früher auch seine Mutter öfters gekocht hatte. Als Nachspeise stellte Sarah Briggs einen frisch gebackenen Apfelkuchen vor ihn hin. Dazu gab es Heiße Schokolade. Jim fühlte sich auf einmal wie im Paradies.

Nach dem Essen verabschiedete sich Captain Briggs, da er noch einmal nach dem Rechten sehen wollte. Am nächsten Tag gegen 16 Uhr sollte die Mary Celeste auslaufen. Bis dahin musste noch so Einiges erledigt werden.

„Das ist ja ein Ding“, sagte Sarah, als Jim und sie alleine am Tisch saßen. „Ich habe noch nie einen Jungen soviel essen sehen.“

„So lange habe ich nicht mehr so gut gegessen, Ma’am“, erwiderte Jim. Er fühlte sich satt und wohl.

„So wie du aussiehst, hast du anscheinend so gut wie gar nichts gegessen“, meinte Sarah und warf dabei Jim einen sorgenvollen Blick zu.

Jim zögerte einen Moment. Doch dann sagte er: „Ich bekam immer nur eine dünne Kartoffelsuppe und ein Stück trockenes Brot. Mein Onkel Steve ist ein bösartiger Mensch. Er ist Pastor. Das Schlimme dabei ist, dass die Leute in der Kirchengemeinde ihn für einen freundlichen und hilfsbereiten Mann halten. Aber das ist er nicht. Er nutzt die Leute aus und er verschleudert die Spendengelder, die eigentlich für die Renovierung der Kirche gedacht sind.“

„Weswegen wohntest du überhaupt bei deinem Onkel?“

„Vor drei Jahren starben meine Eltern bei einem Hotelbrand in Boston“, erzählte Jim wehmütig. „Mein Vater arbeitete für eine Zeitung. Er war Journalist.“

„Etwa Theodor Knox, der bekannte Reporter?“ unterbrach ihn Sarah.

„Kannten Sie ihn?“ staunte Jim.

„Das kann ich nicht behaupten“, erwiderte die Frau des Kapitäns. „Aber ich bin ein begeisterter Leser seiner Artikel.“

„Soviel ich weiß, verfolgte er die Spur eines Mannes, der bereits an mehreren Orten in den USA schwere Brände gelegt hatte“, fuhr Jim fort. Er konnte es nicht verhindern, sich dabei ein wenig stolz zu fühlen. „Bis heute weiß niemand, wer dieser Mensch überhaupt war. Doch anscheinend stand mein Vater kurz davor, den Verbrecher zu entlarven.“

„Dann war es also Mord?“

„Vielleicht“, erwiderte Jim. „Auf jeden Fall kamen meine Eltern bei diesem Brand ums Leben. Seitdem wohne ich bei meinem Onkel. Ich hätte eigentlich in ein Waisenhaus sollen. Aber da ich noch einen Verwandten habe, musste dieser mich aufnehmen. Immer wieder dachte ich daran, abzuhauen. Einmal erwischte mich mein Onkel dabei, als ich versuchte, das Pastorenhaus zu verlassen. Danach schlug er mich windelweich und sperrte Türen und Fenster ab. Ich hatte nicht die geringste Chance, von da wegzukommen.“

„Aber eines verstehe ich nicht“, sagte Sarah offen. „Wenn dein Onkel dich einsperrte, aus welchem Grund möchte er dich nun auf hohe See schicken?“

Jim kam das Verhalten seines Onkels selbst merkwürdig vor. Es stand im völligen Gegensatz zu dem, was er bisher getan hatte. Wenn Steve Knox ihn aus dem Weg räumen wollte, so wäre es viel einfacher gewesen, ihn umzubringen. Jims Vater hatte immer gesagt, dass die meisten Arten von Gift im menschlichen Körper nicht festzustellen seien. Aus welchem Grund aber machte sich sein Onkel nun solche Umstände? Jim war unaussprechlich froh, nicht mehr bei seinem Onkel in dem Pastorenhaus zu leben. Doch zu denken gab es ihm schon.

„Ich glaube kaum, dass mein Onkel die gute Seite in sich entdeckt hat“, meinte er.

„Eine eigenartige Sinneswandlung“, erwiderte Sarah.

„Mein Vater sagte immer, dass früher oder später jedes Geheimnis gelüftet wird.“

Sarah grinste. „Dein Vater hat sicherlich sehr viele interessante Dinge zu erzählen gehabt. Seine Artikel waren fast so spannend wie die Kriminalromane eines Wilkie Collins oder die Schauergeschichten eines Edgar Allan Poe. Theodor Knox vertrat recht originelle Meinungen. Er glaubte an das Übernatürliche. Aber hatte dabei eine sehr nüchterne, beinahe wissenschaftliche Perspektive. Es war nicht das Geschwätz eines Spiritisten, der behauptet, Verbindungen ins Jenseits zu haben. Eine Sache stimmt mich jedoch nachdenklich. Vor ein paar Jahren schrieb er einen Artikel über ein Schiff namens Amazon. Es gingen Gerüchte um, dass es sich dabei um ein Unglücksschiff handeln sollte, denn vielen Menschen, die mit ihm in Verbindung standen, starben eines seltsamen Todes, verfielen dem Wahnsinn oder verloren aus unerfindlichen Gründen ihr gesamtes Hab und Gut. Natürlich kann ich mich nicht an alles erinnern, was dein Vater geschrieben hat, und mit Sicherheit hatte ich auch schon den Artikel über das Geisterschiff, wie dein Vater die Amazon nannte, beinahe vergessen. Doch dann, vor wenigen Tagen, kam mein Mann aufgeregt zurück in die Wohnung und rief, dass er nun stolzer Besitzer einer Brigantine sei. Eine Brigantine ist ein Segelschiff mit nur zwei Masten. Ich war unerhört froh darüber, dass Ben sich endlich seinen Traum erfüllt hatte. Doch als ich das Schiff mit eigenen Augen sah, fiel mir sofort jener Artikel ein. Denn zu diesem Artikel gab es eine Abbildung. Und diese zeigte exakt dasselbe Schiff, das Ben gekauft hat.“

Jim spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. „Mr. Briggs sagte mir, dass es unheimliche Gerüchte über die Mary Celeste geben würde. Deswegen sei es für ihn sehr schwer gewesen, eine Mannschaft zusammenzustellen. Niemand wollte auf einem Schiff arbeiten, auf dem es spukt.“

„Siehst du, auch andere scheinen da eine Überseinstimmung gefunden zu haben“, sagte Sarah. „Irgendwie habe ich ein etwas mulmiges Gefühl, wenn ich an unsere Überfahrt denke. Aber vielleicht sollte ich es so machen wie Ben und einfach alles für abergläubisches Gerede halten.“

„Mein Vater sagte immer, dass Dinge erst dann bewiesen sind, wenn sie bewiesen sind.“

Sarah lachte. „Das ist ein wahres Wort. Deswegen sollten wir uns nicht weiter darüber sorgen. Außerdem siehst du ziemlich müde aus. Du solltest dich hinlegen und schlafen. Morgen wird ein sehr anstrengender Tag werden.“

4

Es herrschte ein dichter, undurchdringlicher Nebel. Das Knarren des Schiffes sowie das Rauschen der Wellen verkamen zu dumpfen Geräuschen. Am Bug unterhielt sich eine Gruppe Matrosen aufgeregt. Jim stand backbord an der Reling. Sie machten nur langsame Fahrt. Die Segel am Großmast blähten sich kaum, sondern hingen meistens schlaff von den Quermasten.

„Verdammter Kompass!“ hörte Jim jemanden fluchen. Es handelte sich dabei um Benjamin Briggs. „Dieses Ding funktioniert nicht. Es dreht sich ständig im Kreis.“

„Ich habe schon viel über Nebel gehört, Sir“, entgegnete ihm eine andere Stimme. „Doch dieser hier schlägt alles.“

„Über diese Gegend gibt es die sonderbarsten Gerüchte, Sir“, sagte eine dritte Stimme. „Ganze Flotten sollen hier verschwunden sein. Manche behaupten, dies hier sei das Ende der Welt.“

„Ich möchte nur eines wissen: wieso funktioniert dieser dämliche Kompass nicht?“

„Das hängt sicherlich mit diesem Ort hier zusammen, Sir. Wir sollten einfach warten, bis der Nebel sich lichtet.“

Ein neues Geräusch lenkte Jims Aufmerksamkeit von dem Gespräch ab. Es hörte sich an, als würde jemand im Wasser gegen das Schiff schlagen. Das Pochen klang jedoch unregelmäßig, beinahe willkürlich. War das etwa ein großes Stück Holz, das von den Wellen gegen den Schiffsbauch getrieben wurde?

„Sir, ich glaube, der Nebel lichtet sich, Sir!“ rief eine vierte Stimme.

Der Nebel lichtete sich tatsächlich. Die zähe, graue Masse löste sich langsam auf, so dass Jim wieder das Meer sehen konnte. Dabei erkannte er auch mit Entsetzen das, was jenes unregelmäßige Geräusch verursachte. Es war eine Leiche, die wie eine Puppe im Wasser auf und ab trieb. Jim kannte diese Person. Es war die Chinesin, die ihren Körper so weit nach hinten beugen konnte. Als der Nebel sich mehr und mehr verzog, erlebte Jim einen unfassbaren Anblick. Auf dem gesamten Meer trieben tote menschliche Körper.

Jim fuhr aus dem Schlaf und konnte dabei gerade noch einen Schrei unterdrücken. Er befand sich nicht auf dem Meer, sondern noch immer in der Wohnung von Benjamin und Sarah Briggs. Es musste mitten in der Nacht sein, denn eine tiefe Dunkelheit erfüllte das Zimmer, in dem er lag. Doch etwas irritierte ihn. Ein merkwürdiges Licht, das seinen Ursprung vor dem Schreibtisch hatte. Es handelte sich dabei um zwei rot glühende Punkte, die mitten in der Luft schwebten. Als Jim sich an die Dunkelheit gewöhnte, erkannte er, dass diese leuchtenden Punkte zu einem Gesicht gehörten. Sein Onkel Steve Knox hockte wie eine Eule auf dem Stuhl, über den Jim seine Kleidung gelegt hatte, und starrte ihn mit seinen rot glühenden Augen an. Sein Mund verformte sich zu einem hässlichen Grinsen und gab dabei den Blick frei auf eine Reihe spitzer Zähne. Steve Knox kicherte.

„Na, da staunst du, was?“ zischte Knox.

Jim, der kein einziges Wort herausbrachte, sah, wie sein Onkel sich erhob und langsam auf ihn zuschritt.

„Na, da staunst du, was, Jimmyboy?“

Jim ließ sich vor Schreck zurück auf das Kissen fallen und zog die Bettdecke bis über den Kopf.

„Sieh mich an, Junge!“ rief sein Onkel. Er stand nun genau neben dem Bett. „Sie mich an. Du sollst mich ansehen, Jim!“ Dabei krallten sich die Finger von Onkel Steve in die Bettdecke und versuchten, mit Gewalt diese von Jim wegzureißen.

Jim schrie, als sich eine Hand auf seine Wangen legte.

„Jim!“

Er zappelte und schlug um sich, in der Hoffnung, diese hässliche Kreatur zu vertreiben.

„Jim, wach doch auf!“

Eine Hand legte sich auf seine Stirn und strich ihm durch das Haar.

„Jim, es ist nur ein böser Traum.“

Erst jetzt erkannte er die Stimme von Sarah Briggs. Er öffnete seine Augen, schlang seine Arme um Sarah und hielt sich ganz stark an ihr fest.

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„In gewisser Weise ist der heutige Tag ein historisches Datum“, begann Benjamin Spooner Briggs seine Rede. Er stand auf einer umgedrehten Teekiste, die direkt neben der Rampe platziert worden war, welche an Deck der Mary Celeste führte. Ein eisiger Wind wehte. Schneeflocken umspielten die Mannschaft sowie anderer Matrosen und Seeleute, die sich die Rede des Kapitäns anhören wollten. Der Himmel hing voller grauvioletter Wolken, die ein heftiges Unwetter ankündigten. „Denn heute, am siebten November achtzehnhundertzweiundsiebzig, wird die Mary Celeste zum ersten Mal in See stechen. Unsere Ladung besteht aus eintausendsiebenhundert Fässern reinen Alkohol. In zweifacher Hinsicht ist dies auch für mich eine Prämiere. Zum einen ist dies die erste Fahrt, auf der ich als selbständiger Kapitän oder soll ich sagen Unternehmer unterwegs bin, und zum anderen ist es meine erste Fahrt über den atlantischen Ozean.“

Jim stand zusammen mit Sarah links neben Ben und der Teekiste. Er betrachtete die rauen Gesichter der Seemänner. Manche schauten gebannt, andere zeigten ein spöttisches Lächeln. Diejenigen, die ihre Zweifel gegenüber Benjamin Briggs offen zur Schau stellten, gehörten teilweise zu den Männern, die daran glaubten, dass die Mary Celeste ein Schiff war, das seinem Kapitän und seiner Mannschaft nichts als Unglück brachte. Sie hielten es für ein Geisterschiff, für ein Schiff, auf dem es nicht mit rechten Dingen zuging. In den Kneipen und Spelunken am Hafen sprachen die Besucher zur Zeit kaum über etwas anderes. Zu groß erachtete man die Beweise dafür, dass frühere Besitzer wie zum Beispiel der Kapitän Jonathan Clayton aus unerfindlichen Gründen Selbstmord begangen hatten. Der Matrose Harry Schmeißer galt bis heute als spurlos verschwunden. Der frühere Reeder Ambrose Stanton wurde eines Tages schreiend ins Irrenhaus gebracht.