Rauschgoldengel - Dirk Zandecki - E-Book

Rauschgoldengel E-Book

Dirk Zandecki

4,8

Beschreibung

Ausgerechnet ein Himmelsbote, ein schwebender Rauschgoldengel, kündigt im beschaulichen vorweihnachtlichen Südwestfalen Unheil an. Statt gemütlich Glühwein zu schlürfen, muss der Olper Kommissar Ben Ruste mit Gift versetzten Schokonikoläusen, verdächtigen Weihnachtsmännern und verschwundenen Holländern hinterherjagen. Zu allem Überfluss bringt sich seine Angebetete, die Bäuerin Anna, durch eigene Ermittlungen in Lebensgefahr. Wird Ben die Fälle rechtzeitig lösen und das Fest mit seiner geliebten Anna genießen können?

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Dirk Zandecki

Rauschgoldengel

Ein bitterböser Weihnachtskrimi

Zum Buch

Weihnachtsalbtraum Ein Rauschgoldengel schwebt an den Fenstern einer Schule vorbei. Alle glauben an ein Wunder, doch stattdessen beginnt für Kommissar Ben Ruste und seinen Assistenten Schröder ein vorweihnachtlicher Albtraum. Ben, der eigentlich im idyllisch verschneiten Sauerland das Herz der Bäuerin Anna erobern will, steht einer Erpressung ungeahnten Ausmaßes gegenüber. Zudem verschwinden immer mehr holländische Feriengäste spurlos, während ein nahe gelegenes Restaurant mit dubiosem Wildgulasch Furore macht. Zu allem Überfluss gerät Bens Angebetete Anna in Lebensgefahr.

 

Dirk Zandecki arbeitet als freiberuflicher Werbetexter in Südwestfalen. Vor seiner Selbstständigkeit war der gebürtige Duisburger für Düsseldorfer Werbeagenturen als Creative Director tätig.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Windspiele (2016)

Mordsidyll (2013)

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Ricarda Dück, Frankfurt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © chribier / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4782-2

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Die Nacht war sternenklar, und im Licht des Vollmonds glitzerte der Schnee, als hätte der Himmel Tausende kleiner Diamantsplitter auf der Erde verstreut. Es war so ungewöhnlich hell, dass man die einzelnen Fichten am Waldrand erkennen konnte. Sie sahen aus, als wären sie mit einem Zuckerguss überzogen, der schwer auf den Zweigen lastete und diese tief herunterhängen ließ. Eine dicke Schneedecke hatte sich in den letzten Stunden über das hügelige Gelände gelegt. Die Weidezäune und Büsche waren darunter verschwunden und nur noch als sanft geschwungene Erhebungen zu erkennen. Das helle Mondlicht tauchte die Landschaft in einen unwirklichen bläulichen Glanz, als wollte die Natur ein perfektes Gemälde schaffen. Eine Pracht für das Auge – und zwar ausschließlich für das Auge, denn mit minus 22 Grad war es derart klirrend kalt, dass sogar eine Amsel tiefgefroren vom Ast in den Schnee fiel.

»Ist das eine Grabeskälte heute da draußen«, sagte der dicke Mann, der in dieser Nacht mit seinem Bruder in der Küche arbeiten musste. Er trat ans Fenster und blickte auf das Thermometer, das außen an der Fensterlaibung hing und dessen rote Flüssigkeit in der gläsernen Säule ganz nach unten gesunken war. »Solch eine Kälte hatten wir zuletzt vor fünf Jahren. Kannst du dich noch daran erinnern? Wir hatten so viel Schnee, dass wir drei Tage hier festsaßen.«

Der Angesprochene nickte zustimmend. Er war ebenso füllig wie sein Bruder, sodass sein Doppelkinn hin und her schwang, auch als er den Kopf wieder ruhig hielt.

»Hey! Ich rede mit dir«, beschwerte sich der Dicke am Fenster, weil er das Nicken seines Bruders nicht bemerkt hatte.

»Ja, hast recht. War ein schlimmer Winter. Und jetzt lenk mich mit deinem Gequatsche nicht von der Arbeit ab. Ich schneide mir wegen dir noch die Finger ab!« Der Mann saß an einem Tisch und trennte mit einem scharfen Metzgermesser das wertvolle Muskelfleisch vom Knochen, um es anschließend mundgerecht zu würfeln. In der rechten Hand hielt er die Klinge, während seine Linke in einem Kettenhandschuh steckte, der ihn vor Schnitten schützen sollte. Doch er war kein gelernter Fleischer, und so kam es immer wieder zu gefährlichen Momenten, wenn sein Messer an einer Sehne hängen blieb und er es mit seiner gewaltigen Kraft befreite, indem er die Sehne durchtrennte. Dabei kam die Klinge ruckartig frei, sodass er sie unkontrolliert in seinen Ober- oder Unterarm rammte. Dreimal war ihm das schon in der Vergangenheit passiert, glücklicherweise hatte jedoch die Fettschicht seiner Gliedmaßen ernsthafte Verletzungen verhindert. Zurückgeblieben waren kleine Narben, die nicht weiter auffielen, da zahlreiche Hundebisse ebenfalls ihre Spuren hinterlassen hatten.

»Wir können ja die ganze Nacht stumm wie Fische arbeiten«, meinte sein Bruder beleidigt und setzte die Knochensäge an. Der massive Edelstahltisch wankte unter den heftigen Sägebewegungen.

»Na meinetwegen, mach das Radio an«, lenkte der andere ein, während er mit der Messerschneide gewürfelte Fleischstücke über die Kante der Arbeitsfläche in eine saubere Edelstahlbox schob, die auf Rollen neben dem Tisch stand. Zufrieden betrachtete er den Knochen, den er blitzblank vom Fleisch getrennt hatte, und warf ihn in den Behälter mit den Abfällen.

Sein Bruder drehte mit blutigen Fingern an dem Sendersuchknopf des alten Radios, das in Kopfhöhe auf einem Eckregal aus Buchenholz stand. Deutsche Schlagermusik auf WDR 4 erklang leise aus dem Lautsprecher. Was den Musikgeschmack anging, lagen die Brüder auf einer Wellenlänge: Volkstümlich musste es sein oder zumindest deutschsprachig.

Die beiden trugen weiße Fleischerschürzen aus abwaschbarem Kunststoff, und ihre Füße steckten in weißen Gummistiefeln. Man konnte sie mit ihrer stattlichen Statur für gelernte Metzgermeister halten, doch sie hatten sich das Handwerk mühevoll anhand von Anleitungen aus dem Internet selbst beigebracht. Dank eifriger Jäger bot Youtube reichlich Anschauungsmaterial.

Bis auf die zwei Edelstahltische machte die Küche einen renovierungsbedürftigen Eindruck. Die meisten Geräte waren alt, die Türen der vollgestopften Schränke drohten, aus den Angeln zu brechen, und auf den Töpfen und Dosen in den Regalen hatte sich die Patina von Jahrzehnten angesammelt. Im Gegensatz zur Küche war der kleine angrenzende Kühlraum penibel sauber. Die Brüder hatten ihn erst vor zwei Jahren von der Küche abgetrennt, gefliest und mit einem Kühlaggregat ausgestattet. Die spezielle Tür mit extra dichter Isolierung hatten sie im Fachhandel gekauft und bar bezahlt, um keine Spuren zu hinterlassen.

Der Dicke mit dem Kettenhandschuh legte den großen Hebel der Tür um. Kleine Schwaden kondensierter Luft drangen in die Küche. Der Mann nahm eine Rolle breiter Klarsichtfolie, die auf seiner Arbeitsfläche bereitlag, und deckte damit sorgfältig die mit Fleischstücken gefüllte Edelstahlbox ab. Dann rollte er den Behälter in die Kühlkammer. Es war nicht nötig, dass er dazu die Neonlampe einschaltete. Der Raum war winzig und das hereinfallende Licht der Küche reichte aus, um sich zurechtzufinden.

Doch plötzlich stellten sich seine Nackenhaare auf. Von Kopf bis Fuß bekam der schwergewichtige Mann Gänsehaut. Nicht etwa wegen der eisigen Temperatur, sondern weil er etwas aus dem Augenwinkel bemerkt hatte. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Etwas hatte ihm einen ungeheuren Schreck eingejagt. Und dieses Etwas befand sich direkt hinter ihm. Er konnte es förmlich in seinem Rücken spüren. Ganz langsam, wie in Zeitlupe, drehte er sich um. Und tatsächlich: Im Regal neben der Tür des Kühlraums lagen zwei abgetrennte Köpfe. Die Augen der Toten waren geschlossen.

»Ich habe dir bestimmt hundertmal gesagt, du sollst die Köpfe in Plastiktüten packen! Ich mag es nicht, wenn sie offen daliegen. Man hat immer den Eindruck, die machen gleich die Augen auf!«, schimpfte der dicke Mann und kam wutschnaubend aus der Kühlkammer heraus. »Das ist widerlich. Los, geh jetzt rein und pack sie in eine Tüte!«

Sein Bruder ließ die Knochensäge sinken, mit der er soeben ein weiteres Bein vom Torso abtrennen wollte. Er lachte, als er den Kühlraum betrat.

»Das ist nicht witzig!«, ermahnte ihn der andere.

»Komm, krieg dich ein, die sind mausetot. Ich weiß gar nicht, was du immer hast. Glaubst du, die wollen dir noch was sagen?« Mit seinen fleischigen Händen packte er die beiden abgetrennten Köpfe und ließ sie in eine große Plastiktüte mit dem Werbeaufdruck einer Modehauskette plumpsen. »So besser?«

2

Sophia blickte müde zur Tafel, auf der ihre Lehrerin Frau Schürmann unendliche Reihen mit Multiplikationsaufgaben notierte. Rechnen langweilte Sophia. Überhaupt dauerte die ganze Schule zu lange. Wann war endlich Weihnachten? Konnte es nicht schon morgen sein, damit sie ihre Geschenke bekam? Sie hatte dieses Jahr einen sehr langen Wunschzettel verfasst. Gedankenverloren steckte Sophia die Spitze einer ihrer Haarsträhnen in den Mund und kaute darauf herum. Alle anderen schrieben eifrig die endlosen Zahlenkolonnen ab. Gott, war das öde! Wozu sollte das überhaupt gut sein, Zahlen malzunehmen? Es reichte doch aus, wenn man plus- und minusrechnen konnte, oder? Sophia ließ ihren Blick aus dem Fenster des Klassenraumes im ersten Stock wandern. An den Scheiben klebten Bastelarbeiten aus buntem Transparentpapier mit Weihnachtsmotiven. Die aufgehende Sonne schimmerte hindurch, der Himmel erstrahlte in prächtigen Orangetönen. »Christkind backt Plätzchen«, sagte ihre Mutter immer, wenn sich der Winterhimmel im Abendrot färbte. Ob es auch schon am Morgen Plätzchen backte? Sophia konnte es kaum erwarten. Weihnachten war nach ihrem Geburtstag das zweitschönste Fest. Oder doch sogar das schönste?

Mit einem Mal wurde Sophia aus ihren Gedanken gerissen. Sie starrte durch das Fenster und konnte nicht glauben, was sie sah. Ein Engel! Ein goldener Engel flog vorbei. Ungeachtet der Ausführungen ihrer Lehrerin verbreitete Sophia das Wunder lauthals: »Ein Engel! Da, seht doch, ein Weihnachtsengel!«

20 Köpfe drehten sich zu ihr um, und die Blicke folgten ihrem ausgestreckten Zeigefinger. Er deutete auf einen Engel mit hellblonden Haaren, in ein goldglänzendes Gewand gehüllt, auf seinem Rücken mächtige weiße Flügel, die im Licht der Morgensonne magisch funkelten … Dieses himmlische Wesen schwebte genau vor den Fenstern des Klassenzimmers der 2a. Sofort sprangen die neugierigen Kinder auf, um den Engel aus der Nähe zu betrachten. Einigen war die Erscheinung überhaupt nicht geheuer, obwohl sie nicht Furcht einflößend, sondern wunderschön aussah. Sie wirkte irgendwie gütig. Und da ein Engel vom Himmel kam, quasi direkt vom lieben Gott, falteten ein paar der Schüler die Hände, um zu beten. Nur was? Vielleicht war das der Weihnachtsengel und man musste ihm seine Wünsche mitteilen?

Aufgrund des plötzlichen Tumults in ihrem Rücken drehte sich Frau Schürmann von der Tafel zu ihren Schützlingen um und wollte sie zur Ruhe ermahnen. Im letzten Moment sah sie noch die Flügel des Engels, dann war er entschwunden. Sie rang um Fassung und befragte die Kinder nach dem Wunder, denn daran hatte die strenggläubige Christin keinen Zweifel: Es war ein Weihnachtswunder! Die Schüler schilderten ihr den Engel in all seinen Facetten. Alle waren sich einig: Es konnte keine Täuschung durch die tief stehende Sonne gewesen sein! Der Engel war wirklich und wahrhaftig vor den Fenstern vorbeigeschwebt. In seiner überirdischen Schönheit – auch in diesem Punkt stimmten alle überein – konnte es nur ein Gesandter des Himmels sein.

Frau Schürmann glaubte mit jeder weiteren Beschreibung der Kinder fester daran, den Engel selbst in seiner goldglänzenden Herrlichkeit gesehen zu haben. Schon nach kurzer Zeit war sie sich sicher, nicht nur einen Blick auf die Flügel erhascht zu haben, sondern höchstselbst Zeugin der gottgesandten Erscheinung geworden zu sein. Beseelt von diesem tief religiösen Erlebnis, rannte Frau Schürmann auf den langen Flur des Schulgebäudes und verkündete die frohe Botschaft: »Ein Wunder ist geschehen! Ein Wunder! Ein Engel des Herrn ist uns erschienen! Ein Zeichen der Heiligen Weihnacht! Es ist ein Wunder! Kommt alle herbei!«

3

Ben Ruste trat aus der Tür des modernen Olper Mehrfamilienhauses, in dem er ein kleines Zweizimmerapartment bewohnte. Es war zwar eiskalt, aber sonnig. Der Schnee strahlte in der Morgensonne so grell, dass der Polizeikommissar seine Sonnenbrille aufsetzen musste. Er blickte fröhlich in den klaren blauen Winterhimmel. Heute war ein glücklicher Tag. Endlich wurde seine Anna entlassen, nachdem sie ihre Haftstrafe in der JVA Willich II abgesessen hatte. Ben freute sich darauf, seine Angebetete abzuholen und sie nach Hause auf ihren Bauernhof zu fahren.

Ben sah auf seine Armbanduhr. Noch hatte er genügend Zeit. In der Nacht hatte es zwar Neuschnee gegeben, doch mittlerweile würden die Autobahnen frei sein. Erst einmal eine rauchen. Ben schob sich eine Marlboro zwischen die Lippen und wollte sie gerade anzünden, als er sich eines Besseren besann. Er schob die Zigarette zurück in die Schachtel. Anna mochte es nicht, wenn er nach Tabak roch. Ben hatte mit dem Gedanken gespielt, für sie das Rauchen aufzugeben, aber nach zwei Tagen Abstinenz hatte die Abhängigkeit die Oberhand gewonnen. Dabei war es mit 60 eigentlich höchste Zeit, einen Schlussstrich unter die Nikotinsucht zu ziehen. Zumindest gab er sich Mühe, dachte Ben und versuchte, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen.

Nach zweieinhalb Stunden Autofahrt von Olpe nach Willich traf er 20 Minuten zu früh auf dem Besucherparkplatz der JVA ein. Das Gefängnis war der modernste Frauenknast in Deutschland. Ben hatte seine Kontakte spielen lassen, damit Anna hierher verlegt werden konnte. Und nicht nur dafür hatte er sich eingesetzt: Dank seiner Beziehungen war es ihm gelungen, dass der Fall von Anna Lobbisch von einem wohlgesonnenen Staatsanwalt, einem gemäßigten Richter und dem besten Anwalt in der Region, verhandelt wurde. Versuchter Mord war keine Lappalie, doch zum Glück hatte der Mafiaboss, den Anna vor der JVA Attendorn niedergestochen hatte, ohne Folgeschäden überlebt. Zudem hatte der Richter mildernde Umstände gelten lassen und ihr aufgrund des Verlustes ihres Ehemanns eine besondere psychische Belastung zugestanden, hatte sie doch den Anschlag auf dessen vermeintlichen Mörder ausgeübt. Anna war in der Verhandlung mit einem blauen Auge davongekommen. Aufgrund guter Führung wurde sie nun nach zwei der verhängten dreieinhalb Jahre Haftstrafe entlassen. Zwei Jahre, in denen Ben ihr zur Seite gestanden hatte. Heute sollte er zum letzten Mal den Weg zum Gefängniseingang gehen.

»Ben!«, rief Anna freudig, als er den Besucherraum betrat. Sie hatte bereits ihre große Reisetasche gepackt und alle für die Entlassung nötigen Papiere unterschrieben.

Ben drückte Anna an sich. »Endlich«, flüsterte er ihr vorsichtig ins Ohr.

Er war sich nicht sicher, was Anna für ihn empfand. Es war ein ständiges Auf und Ab. Mal schien es, sie halte ihn lediglich für einen guten Freund, dann wieder glaubte er, in ihren Blicken und den kurzen Berührungen eine gewisse Leidenschaft zu bemerken. Heute jedenfalls blitzten Annas hellblaue Augen vor Freude, sodass die kleinen dunklen Sprenkel in ihrer Iris hervorstachen. Diese Besonderheit der Natur faszinierte Ben. Anna sah blendend aus. Sie schien während der Haftzeit nicht einen Tag gealtert zu sein und hatte sich ihre sportliche Figur bewahrt. Ihr blondes kinnlanges Haar glänzte in dem Sonnenlicht, das durch die Fenster in den Besucherraum hereinfiel.

»Tja, dann wollen wir mal, oder?«, forderte Ben sie auf und nahm ihr die schwere Reisetasche ab.

Anna atmete durch. »Ja, dann wollen wir mal.«

An der Besucherschleuse musste sie ihre Papiere vorzeigen, bevor sich die automatische Sicherheitstür öffnete. Ben ließ Anna den Vortritt. Anna ging hinaus und blieb stehen, holte tief Luft und genoss den Augenblick. Endlich wieder in Freiheit.

Es hätte ein perfekter Moment sein können, hätte ihr die korpulente Vollzugsbeamtin nicht jovial hinterhergerufen: »Und wir möchten Sie hier nicht wiedersehen!« Dann lachte sie rasselnd und verschloss den Ausgang.

Ben und Anna schauten sich an und rollten mit den Augen. Anna war überglücklich, dass die unüberwindbaren Gefängnismauern nun hinter ihr lagen. Auch wenn es die modernste Haftanstalt war, auch wenn der Umgang freundlich und menschlich gewesen war und das Arbeits- und Freizeitangebot gestimmt hatte – eingesperrt bleibt eingesperrt. Diese Gewissheit war ein unerträgliches Gefühl gewesen, das sich mit jedem Tag verstärkt hatte. Wem sie einmal, selbst für nur kurze Zeit, genommen wurde, wusste wirklich, was Freiheit bedeutet. Anna schien es, als sei die Luft, die sie außerhalb der Gefängnismauern einatmete, eine andere. Alle Farben wirkten intensiver, die Verkehrsgeräusche der nahen Straße lauter und die Sonne heller. Anna konnte die Tränen nicht zurückhalten, sie liefen ihr wie Bäche über die Wangen. Ohne ein Schluchzen. Als ob sich alle Schleusen geöffnet hätten.

»Hey, ist doch alles gut jetzt«, tröstete Ben sie. Er kramte mit der freien Hand nach einem Taschentuch, fand aber keines, weder in seiner Jacke noch in seiner Hose. Dabei wollte er heute der perfekte Kavalier sein, um den ersten Tag in Freiheit für sie so schön und angenehm wie möglich zu gestalten.

Anna nahm Bens freien Arm und hakte sich lachend ein. »Komm, lass uns fahren, bevor die da drin es sich noch anders überlegen!«

4

Fabian Drexler schaute ungeduldig auf seine Uhr. Sein Praktikant Thorsten Küsters hätte bereits vor einer halben Stunde mit den letzten Materialien eintreffen sollen. Drexler ließ nochmals seinen prüfenden Blick durch den langen Gang des Einkaufszentrums wandern. Er war zufrieden. Sein Unternehmen Drexler Shop- und Event-Design hatte den großen Auftrag zur Weihnachtsdekoration der Shopping-Mall erhalten. Die künstlichen Tannen waren überwiegend mit goldenen Kugeln geschmückt und von Tausenden winziger LED-Leuchten festlich illuminiert. Rundherum waren Geschenkattrappen und elektrische Eisenbahnen drapiert. Alles entsprach den Vorstellungen der Kunden von einem idealen Weihnachtsfest, und das sollte sie zum Einkaufen in den zahlreichen Geschäften animieren.

Wenn doch nun endlich dieser Praktikant käme! In einer Stunde sollte die Abnahme der Dekoration mit dem Manager des Einkaufszentrums stattfinden. Bis dahin musste alles bis aufs letzte i-Tüpfelchen stimmen, denn der Mann war kritisch. Noch fehlten einige wichtige Accessoires. Bisher hatte Drexler immer gute Erfahrungen mit Hilfskräften gemacht, aber dieser Thorsten Küsters war wahrlich eine Schlaftablette! Der Job verlangte eben, dass man länger arbeiten musste. Ja, auch mal die Nacht durch, um pünktlich fertig zu werden. Sie konnten ja schlecht alles aufbauen, wenn die Kunden durch die Gänge strömten! Aber Küsters war nun mal der Sohn des Marketingleiters einer großen Brauerei, von der sich Drexler mehr Aufträge erhoffte. Also würde er ihn nicht allzu sehr kritisieren können … Endlich, da war er!

Mit den Händen in den Taschen schritt Thorsten Küsters gemächlich auf Drexler zu, der ihm mit den Armen fuchtelnd entgegentrat. »Wo bleibst du denn? Die Zeit drängt! Wir müssen fertig werden. Wo hast du geparkt?«

Küsters zog eine Hand aus der Tasche und deutete zu den verglasten Eingangstüren. »Direkt da vorne. Wir können sofort auspacken und Zeit sparen.«

Wenigstens das hatte er gut gemacht.

»Dann aber los jetzt!«, spornte Drexler seinen Praktikanten an und lief eilig auf den Ausgang zu. Als er durch die Glastür ins Freie schritt, glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. Er wandte sich zu Küsters, der sorglos hinter ihm her getrottet kam. »Du, du … Du bist doch wohl so nicht durch die Gegend gefahren?«, stotterte Drexler.

»Wie denn sonst? Der Transporter steht schließlich hier«, gab Küsters lakonisch zurück.

»Aber, aber … Ich glaube es nicht!«

»Was habe ich denn jetzt schon wieder verkehrt gemacht?«, wollte der Praktikant genervt wissen. »Es sind wirklich alle Sachen auf der Ladefläche. Ich bin extra am Lager nochmals die Checkliste durchgegangen und habe jede Position abgehakt.«

»Und der Engel? Den hast du … Ich meine … Hast du ihn etwa so transportiert?«

»Ach der. Ich hatte ihn in Folie eingewickelt und die am Boden festgeklebt. Vielleicht hat sich auf der Autobahn etwas gelockert? Das muss kurz vor dem Einkaufszentrum passiert sein.«

Drexler blickte von der Ladefläche seines Firmentransporters in den Himmel: In über drei Metern Höhe schwebte sein Rauschgoldengel gefährlich frei in der Luft. Er sollte das Prunkstück der Weihnachtsdekoration bilden. Drexler hatte eigens dafür eine Konstruktion aus Heliumballons, dünnen Geweben und extrem leichten Kunststoffen angefertigt. Das Resultat: Der Auftrieb der unter dem Kostüm versteckten Ballons reichte aus, um den Engel fliegen zu lassen. Er war lediglich mit einer hauchdünnen, für das bloße Auge unsichtbaren Nylonschnur an einer Bodenplatte befestigt. Drexler wollte die prächtige Gestalt, wie scheinbar von selbst, knapp über einem künstlichen Weihnachtsbaum schweben lassen und hatte diesen Effekt in seiner Werkshalle getestet. Die Wirkung war verblüffend. Seine filigrane Erfindung war allerdings nicht für den Transport auf einer ungesicherten Ladefläche vorgesehen. Doch genau so hatte sein Praktikant das zarte Geschöpf durch die Stadt gefahren. Drexler war fassungslos. Wenn das mal keinen Ärger gab!

5

»Nanu? Neues Auto?«, wunderte sich Anna, als Ben auf dem Parkplatz des Gefängnisses einen schwarzen VW Polo aufschloss.

Ben stellte Annas Reisetasche in den Kofferraum. »Eigentlich wollte ich dich damit später überraschen: Der ist für dich!« Er klimperte mit den Autoschlüsseln vor Annas Nase.

»Ben!« Anna lief rot an. »Das ist sehr lieb von dir, aber das kann ich unmöglich annehmen.«

»Nun stell dich nicht so an. Es ist ein gebrauchter Wagen. Du brauchst jetzt ein Auto, um wieder auf die Beine zu kommen.«

»Das hat bisher auch ohne geklappt«, erwiderte Anna lächelnd und tätschelte Bens Wange, der betrübt dreinschaute.

Ben hatte gehofft, Anna würde ihm angesichts dieser Überraschung um den Hals fallen. Falsch gedacht.

Auf der Fahrt schwiegen Anna und Ben. Anna betrachtete die Landschaft. Zwei Jahre hinter Gittern konnten eine Ewigkeit sein. Objektiv betrachtet, war es eine milde Strafe gewesen, dessen war sich Anna bewusst, doch die Zeit war ihr endlos erschienen. Umso schöner war es nun, die Bäume, Felder und Häuser zu bestaunen, die wie im Zeitraffer am Fenster vorbeiflogen. Sie wünschte sich, die letzten zwei Jahre würden in diesem Strudel verschwinden.

Anna spürte, dass ihre Zurückweisung Ben sehr getroffen hatte. Ihr war klar, dass es dabei weniger um das Auto ging als vielmehr um die Tatsache, dass die Beziehung nicht so tief war, wie er es sich wohl erhoffte. Sie war einfach noch nicht so weit. Vielleicht würde sich das in Zukunft ändern, aber jetzt musste sie zuerst ihr eigenes Leben wieder in Ordnung bringen. Sie musste sich eine Grundlage schaffen, einen kompletten Neuanfang wagen. Das bedeutete allerdings nicht, dass diese schwermütige Stimmung in diesem Moment zwischen ihnen bestehen bleiben musste. Ganz im Gegenteil, dachte Anna. Ben hatte sie nicht nur während ihrer Haft regelmäßig besucht, sondern sich zudem rührend um ihren Bauernhof und andere Angelegenheiten gekümmert. Sie schuldete ihm sehr viel. Vor allem schuldete sie ihm einen schönen ersten gemeinsamen Tag in Freiheit.

»Und? Neue Fälle auf deinem Tisch?«, fragte Anna, weil sie wusste, dass Ben seine Arbeit über alles liebte, auch wenn er immer wieder grantig das Gegenteil behauptete.

»Och, nicht der Rede wert«, antwortete Ben und blickte weiter konzentriert auf die Straße.

»Jetzt komm, erzähl!«, forderte Anna ihn neugierig auf.

Immer wenn Ben versuchte, einen Fall herunterzuspielen, entpuppte der sich als besonders interessant. Bei seinen zahlreichen Besuchen hatte er häufig von ungewöhnlichen Fällen erzählt. Anna mochte diese Geschichten. Allerdings betrachtete sie mittlerweile das idyllische Sauerland aus einem ganz anderen Blickwinkel: Zwischen Fichten, Eichen und Kiefern geschahen zwar bei Weitem nicht so viele Straftaten wie in den Häuserschluchten der Metropolen. Doch es gab schon eine nennenswerte Anzahl. Und die Delikte hatten es in sich – von wegen Provinz! Das Verbrechen blühte im Sauerland wie der Löwenzahn auf den Kuhweiden. Anna hätte sich sehr gut vorstellen können, ebenfalls bei der Kripo zu arbeiten, wäre ihr Leben nicht anders verlaufen. Zugegeben, Bäuerin oder Kripobeamtin, das waren zwei extrem unterschiedliche Berufswege, aber in beiden Jobs musste man große Misthaufen aufräumen. Im Gefängnis hatte Anna abends oft wach gelegen und sich ausgemalt, wie sie mit Ben gemeinsam Verbrecher jagte. Es waren kindliche Gedanken, dennoch schöne. Denn eines war sicher: Sie mochte diesen großen, schlaksigen Polizeikommissar. Sie hatte Ben als etwas schmuddeligen Rebellen kennengelernt, der nicht altern wollte, im Verlauf ihrer Bekanntschaft jedoch hatte er sich zu einem attraktiven Mann gemausert. Und das jungenhafte Wesen steckte immer noch in ihm, und genau das machte ihn begehrenswert.

»Och, war wirklich nichts Besonderes«, wich Ben ihrer Frage aus. »Nur ein Jäger. Ein toter Jäger, um genau zu sein.«

»Das klingt doch schon mal spannend. Wäre ein guter Anfang für einen Krimi«, schmunzelte Anna. »Woran ist er gestorben?«

»Erstickt.«

»Nicht erschossen?«

»Nein, nicht erschossen. Der alte Witz funktioniert hier nicht: Treffen sich zwei Jäger …«

»Okay, komm zum Punkt. Was ist passiert? Wurde er erwürgt?«

»Nein, sein Tod war eigentlich ein tragischer Unfall.« Ben machte eine bedeutsame Pause und schaute kurz von der Fahrbahn zu Anna hinüber. Er lächelte sie vielsagend an. »Also, wir haben einen Handyanruf von Spaziergängern bekommen und sind daraufhin zu einem Waldstück bei Ratemicke gefahren, ganz in der Nähe deines Bauernhofes. Die Autos mussten wir stehen lassen, weil der Schnee so hoch lag. Als wir dann endlich vor Ort waren, war der Anblick schon sehr ungewöhnlich.« Ben hielt erneut inne.

»Ben, jetzt sag schon, was war los? Ein erhängter Jäger an seinem Hochsitz?«

»Nein, besser. Viel besser: Aus einem riesigen Schneehaufen lugte ein Hintern in grüner Jägerhose heraus. Darauf saß ein Rauhaardackel und kläffte uns und die verfrorenen Spaziergänger an. Wir haben gemeinsam versucht, den Mann rauszuziehen. Keine Chance. Wir hatten natürlich keine Spaten dabei. Erst die Feuerwehr konnte ihn ausgraben. Er ist nicht, wie vermutet, im Schnee stecken geblieben, sondern in einer Erdhöhle. Wahrscheinlich ist sein Dackel reingekrochen und er hinterher. Dabei muss die Höhle zusammengebrochen sein. Der Dackel kam vermutlich durch einen anderen Ausgang wieder ins Freie, sein Herrchen konnte sich allerdings nicht befreien und ist erstickt. Aber du hättest den Köter auf dem Hinterteil sehen sollen …« Ben prustete los.

»Man lacht nicht über Tote«, ermahnte ihn Anna.

»Stimmt. Der Mann sah eigentlich sehr lebendig aus. Das ist das Schöne am Winter im Sauerland: Die Leichen bleiben länger frisch.«

»Ben!«, feixte Anna. »Ich habe übrigens auch ein neues Rätsel für dich.«

Während Bens Besuchen in der JVA waren sie zufällig auf das Thema Krimirätsel gestoßen, und es hatte sich eine Art Wettstreit zwischen ihnen entwickelt, in dem Ben trotz seines kriminalistischen Berufs hoffnungslos zurücklag. Anna hatte ein Gespür für die Lösungen.

»Ein Mann kommt an einem Fenster vorbei. Kurz darauf ist er tot. Was ist passiert?«, fragte sie ihn und ergänzte: »Es ist ein Klassiker unter den Rätseln.«

»Nun …«, überlegte Ben. »Hat ihn jemand durch das Fenster hindurch getötet?«

»Nein.«

»War jemand Bestimmtes in dem Raum?«

»Äh … Nein, kann man so nicht sagen.«

»Dann wurde er vor dem Fenster überfahren?«

»Auch nicht.«

So ging es noch eine Weile hin und her, doch Ben kam der Lösung keinen Schritt näher. »Okay«, resignierte er. »Sag es!«

»Nö, musst du herausfinden. Es ist ganz einfach.«

Bens weitere Ansätze schlugen ebenfalls fehl, aber Anna weigerte sich, ihm einen Hinweis zu geben, sodass er schließlich frustriert aufgab. Mittlerweile hatten sie die A4 erreicht und Ben musste sich ohnehin beim Fahren stark konzentrieren. Die Straße war zwar vom Schnee geräumt, der sich links und rechts zu einem schmutzig grauen Wall auftürmte, doch immer wieder setzte sich auf der Windschutzscheibe ein feiner Nebel salziger Flüssigkeit ab, der von den Autos aufgewirbelt wurde. Sobald Ben die Scheibenwischer einschaltete, hinterließen sie einen milchigen Schmierfilm, der ihm jegliche Sicht nahm. Ben sorgte sich um das restliche Frostschutzmittel in der Scheibenwischanlage. War es aufgebraucht, könnte er nicht weiterfahren.

Anna schaute derweil verträumt aus dem Seitenfenster. Mit dem stetigen Anstieg der Autobahn ins Bergische Land und schließlich ins Sauerland hinauf veränderte sich auch die Landschaft. Im Rheinland hatte der Schnee noch einem verwaschenen Grau geglichen, doch je höher sie kamen, umso strahlend weißer sah er aus. Anna lächelte zufrieden, als ihre Blicke über die waldreichen Berge wanderten. Bald würde sie wieder zu Hause sein. Manchmal konnte sie es gar nicht fassen, dass sie auf einem Bauernhof in einer Region lebte, die andere für das perfekte Urlaubsparadies hielten. Annas Herz machte einen kleinen Sprung, als sie an dem braunen Autobahnhinweisschild für Sehenswürdigkeiten vorbeifuhren, auf dem groß »Sauerland« stand.

Die restliche Fahrt verging wie im Fluge. Je näher sie dem Hof kamen, desto mehr fühlte Ben sich verpflichtet, sich bei Anna zu entschuldigen. Als Anna ihre Haftstrafe angetreten war, hatte Ben zusammen mit dem alten Bauern Wernike den Hof bewirtschaftet. Mit der neuen Aufgabe schien der über 70-jährige Rentner zunächst aufzublühen. Ben kam nach Feierabend, um ihm zu helfen – vor allem bei den kaufmännischen Arbeiten, denn der alte Herr wollte nichts mit einem Computer oder Datenübertragung zu tun haben. Allerdings zeigte sich bald, dass eine moderne Viehwirtschaft eben doch kein Jungbrunnen für einen betagten Bauern war. Wernike hatte sich übernommen, und der Arzt verordnete ihm strikte Ruhe, woran sich dieser allerdings nicht hielt. Dennoch mussten die beiden Sauerländer den Viehbestand verkleinern und molken nur noch zwei- statt dreimal täglich. Aber auch dieses Pensum schaffte Bauer Wernike nicht mehr, wie er sich schließlich schweren Herzens eingestehen musste. Ben konnte den Betrieb zwar mit Aushilfskräften über Wasser halten, bei den spärlichen Milchpreisen lagen jedoch die Einnahmen bald unter den Ausgaben. Selbst wenn Ben seine gesamten Ersparnisse in Annas Hof gesteckt hätte, hätte er die Pleite lediglich hinauszögern können. Also erklärte er Anna bei seinen Besuchen im Gefängnis die Situation und empfahl ihr, den Hof bis zu ihrer Entlassung stillzulegen. Anna war sofort einverstanden gewesen, denn sie wollte nicht, dass sich die beiden Männer finanziell oder gesundheitlich für sie ruinierten. Sie hatte auch Bens Vorschlag akzeptiert, ihren geliebten Traktor zu verkaufen, um die laufenden Kredite für den neuen Kuhstall zu begleichen. Trotzdem machte sich Ben nach wie vor Vorwürfe, weswegen er die Angelegenheit jetzt auf der Fahrt nochmals zur Sprache brachte. Immerhin hatte er sie in Schwierigkeiten gebracht.

»Ben, ich bin dir nicht böse. Ganz im Gegenteil, das weißt du. Wenn du mit Bauer Wernike nicht den Hof weitergeführt und nicht frühzeitig die Tiere und den Traktor verkauft hättest, stünde ich heute vor dem Nichts. So kann ich wieder anfangen. Ich habe ein Zuhause und eine Basis. Das ist doch toll!«, beteuerte Anna.

Ben starrte verlegen auf die Straße. »Na, wenn du das so siehst, bin ich ja beruhigt.«

Als sie die Autobahn verließen und in Richtung Ratemicke fuhren, konnte Anna ihr Glück kaum fassen. Die gut geräumte und gestreute Landstraße schlängelte sich durch die verträumte Winterlandschaft. Als sie endlich Annas Heimatdorf erreichten, schaute sie aufgeregt aus dem Fenster, glücklich, die vertrauten Gebäude nach so langer Zeit wiederzusehen. Ratemicke schien in eine Art Winterschlaf gefallen zu sein. Auf den ersten Blick hatte sich nichts verändert, kein Mensch war auf der Hauptstraße zu sehen, die quer durch das Dorf führte. Die weiße Kirche mit ihrem schieferbedeckten Zwiebelturm hob sich vom blauen Himmel ab und strahlte eine idyllische Ruhe aus, die sich auf Anna übertrug. Sie fühlte sich in dieser Umgebung behütet. Sie entdeckte die Dorfschenke, links und rechts säumten die alten Fachwerkbauten die Straße, und die Hänge hinauf erstreckten sich die gepflegten Einfamilienhäuser der Ratemicker. Armdicke Eiszapfen hingen an den Regenrinnen der Dächer und brachen das Sonnenlicht wie Edelsteine. Vor einigen Gebäuden waren provisorische Schilder mit der Aufschrift »Achtung, Dachlawine« in den Schnee gesteckt worden. Der Schnee lag so hoch, dass die Bewohner auf den Gehsteigen kleine Gänge freigeschaufelt hatten. Und wo es noch eine unbebaute Fläche im Ort gab, hatte man den Schnee zu mannshohen Bergen aufgeschüttet.

Nun war sie also zu Hause. Fast jedenfalls, denn Annas Bauernhof lag etwas außerhalb des Dorfes. Nach wenigen Minuten konnte sie die Auffahrt zu ihrem Grundstück sehen. Anna wunderte sich, dass der Schotterweg, der zum Hof hinaufführte, geräumt war.

»Hast du das gemacht?«, fragte sie Ben.

»Was?«

»Na, den ganzen Schnee weggeschafft? Der Räumdienst ist doch gar nicht dafür zuständig.«

»Och, ich habe den alten Deutz-Traktor wieder flottbekommen, und im Geräteschuppen stand noch ein alter Schneepflug als Vorsatz, der an den Deutz passte«, erklärte Ben fröhlich.

»Danke«, erwiderte Anna verdattert.

Ben parkte den Polo auf dem kleinen Hof, der von dem alten Bauernhaus und der Scheune, die als Geräteschuppen diente, eingesäumt war. Etwas abseits, auf einem Hügel hinter den Gebäuden, befand sich der große Kuhstall.

»Willkommen daheim«, sagte Ben, als er den Motor abstellte.

Anna fehlten in diesem Augenblick die Worte. Sie war zu ergriffen und drückte nur stumm Bens Arm als Dankbezeugung. Dann stieg sie mit puddingweichen Knien aus. Ihr Bauernhof, das war ihr Ein und Alles. Sie betrachtete das alte Fachwerk, das vor fast 300 Jahren kunstvoll erbaut worden war und bis heute Bestand hatte.

Ben öffnete den Kofferraum und hob Annas prall gefüllte Reisetasche heraus. »Ist alles so geblieben, wie es war«, erklärte er und deutete auf die Fassade des Bauernhauses.

»Magst du reinkommen?«, fragte er Anna, die noch immer wie angewurzelt neben dem Wagen stand.

»Ja, ja … sicher … gerne.«

Als Anna über die Schwelle trat, erlebte sie eine weitere schöne Überraschung: Ihre drei Katzen, die sonst frei auf dem Hof lebten, kamen ihr in der Diele neugierig entgegen. Nach so langer Zeit erkannten sie ihre Herrin nicht sofort und beschnupperten sie zunächst vorsichtig, bevor sie sich von ihr streicheln ließen.

»Ja, wo kommt ihr denn her? Das ist aber eine schöne Begrüßung!«, freute sich Anna. Die Katzen strichen um ihre Beine. Anna schaute sich um und sah Fress- und Wassernäpfe in der Diele sowie ein ordentliches Katzenklo mit Streu.

»Ich dachte mir, die können bei diesem strengen Winter doch nicht draußen bleiben«, erklärte Ben verlegen. »Jetzt, nachdem oben der Stall leer steht, haben die ja gar kein warmes Plätzchen mehr.«

Anna gab Ben spontan einen schmatzenden Kuss auf die Wange. »Das ist lieb von dir, danke.«

Der stattliche Kommissar, der überall mit seiner schroffen Art aneckte und bereits die schlimmsten Dinge erlebt hatte, errötete wie ein kleiner Junge.

»Gerne … Das habe ich doch gerne gemacht«, nuschelte er. »Das ganze Haus ist geputzt, nur der Kühlschrank ist leer. Ich habe es nicht mehr geschafft einzukaufen. Aber ich würde dich gerne einladen.«

Anna runzelte die Stirn. Ihren ersten Tag in Freiheit hätte sie gerne in ihrem Zuhause verbracht. Sie wollte am liebsten sofort den ganzen Betrieb inspizieren. Allerdings wollte sie Ben nicht enttäuschen, immerhin kümmerte er sich rührend um sie. Warum also eigentlich nicht? Der Hof konnte warten. Mit Ben auszugehen und die Freiheit zu genießen, das wäre doch ein guter Anfang. Nie wieder wollte sie nach dem Abendessen in ihre Zelle eingesperrt werden.

»Es wäre mir eine große Freude. Unter einer Bedingung.«

»Und die lautet?«

»Ich zahle.«

»Hm … Prinzipiell habe ich nichts dagegen, aber für heute Abend habe ich einen Tisch in der ›Wildhütte‹ reserviert. Vielleicht erinnerst du dich an das Restaurant ›Bigge-Stern‹ mit dem schönen Ausblick auf den Stausee? Die beiden dicken Brüder, denen die Gaststätte gehörte, sind fast pleitegegangen und haben dann das Lokal vor Monaten als ›Wildhütte‹ neu eröffnet. Seitdem rennen ihnen die Leute die Bude ein.«

»Oh, das hört sich nach einer guten, rustikalen Küche an«, freute sich Anna.

»Die ist bestimmt gut, ich bin froh, dass ich einen Tisch bekommen habe.«

»Dann bin ich mal gespannt. Aber vorher möchte ich noch alle Zimmer sehen, so viel Zeit haben wir doch noch?«

»Sicher.«

Ben begleitete Anna bei ihrem Rundgang durch das Haus. In jedem Raum, den sie betrat, strich sie mit den Fingerspitzen über die alten Möbel. Sie musste sich mit all ihren Sinnen davon überzeugen, dass sie nicht in ihrer Zelle einem schönen Traum nachhing, sondern wirklich zu Hause war. Als Anna alle Zimmer inspiziert hatte, war sie zufrieden. Ben hatte sich wirklich um alles gekümmert. Nichts roch muffig, obwohl das alte Haus einen eigentümlichen Duft hatte, wie ein jahrhundertealter Atem.

»Picobello, Ben. Ich kann mich gar nicht oft genug bei dir bedanken.«

»Es wäre das Größte für mich, wenn du jetzt mit mir essen gehst«, sagte Ben lächelnd.

»Von mir aus können wir losfahren. Was ist denn die Spezialität auf der Speisekarte?«, erkundigte sich Anna.

»Wildgulasch. Die müssen ein vorzügliches Wildgulasch machen, nach dem die Leute ganz verrückt sind.«

6

»Mama, Papa … Guckt mal, der Weihnachtsmann!«

Aufgeregt zerrte der kleine Sven Winkler am Arm seiner Mutter. Die beiden gut situierten Olper Eltern, die ihrem einzigen Zögling jeden Wunsch erfüllten, folgten lächelnd dem Aufruf ihres Sohnes. Sven zeigte mit dem Finger jedoch auf einen Obdachlosen, der einen langen, ungepflegten grauen Bart trug. Seinen Kopf bedeckte eine löchrige rote Wollmütze, sein schmutziger Parka war mit einer Kordel lose zusammengebunden. Der Mann wühlte in einem der zahlreichen Abfallbehälter, die auf dem Olper Weihnachtsmarkt verteilt waren.

Als der Mann die Blicke des Jungen bemerkte, lächelte er ihn an. Ein Schneidezahn fehlte, was Sven aber nicht weiter irritierte. »Kommt, lasst uns zum Weihnachtsmann gehen!«, forderte der Kleine aufgeregt seine Eltern auf.

»Äh, nein, Sven. Das ist nicht der Weihnachtsmann!«, erwiderte Margot Winkler und zog ihren Sohn energisch zu sich. »Das ist ein … ein … Nun ja, jedenfalls nicht der Weihnachtsmann.«

»Ich glaube, ich habe den echten Weihnachtsmann gesehen«, mischte sich der Vater ein. Robert Winkler deutete lächelnd in das Gewühl von Menschen, die sich zwischen den Verkaufsbuden durch die Gänge schoben.

Die kleine Familie stand nahe der großen Bühne, wo soeben ein Jungendchor die ersten Töne eines bekannten Weihnachtsliedes anstimmte. Das Podium war festlich mit Tannengrün geschmückt, und davor verbreiteten zwei Metallschalen mit brennenden Holzscheiten eine gemütliche Atmosphäre. Die meisten Erwachsenen hielten einen dampfenden Glühwein in der Hand oder aßen ein Würstchen im Brötchen, die Kinder naschten aus Tüten mit Süßigkeiten und blickten fasziniert in die offenen Flammen. Einzig und allein der Anblick des Obdachlosen störte die gutbürgerlich beschauliche, frühabendliche Winterstimmung, die unter dem hoch aufragenden, hell angestrahlten Turm der St.-Martinus-Kirche herrschte.

Sven ließ sich von seinen Eltern ablenken und folgte ihnen an der Hand seiner Mutter über den Platz, auf dem die Stände wie auf einem mittelalterlichen Markt angeordnet waren. Der Junge bestaunte alles mit großen Augen. Der Besuch auf dem Weihnachtsmarkt war für ihn ein großes Erlebnis. Die weihnachtliche Musik, die Düfte von gebrannten Mandeln, Reibeplätzchen und gegrilltem Fleisch, die sich mischten, und die Strohballen an den Wegrändern ebenso wie die Holzschnitzel, mit denen die schmalen Gassen zwischen den Buden und Zelten bestreut waren, machten das Bild perfekt. Und dann gab es natürlich die lockend leuchtenden Stände, an denen auch Spielzeug auslag.

»Da ist ja der richtige Weihnachtsmann!«, rief Svens Vater, als sie an einem Waffelstand um eine Ecke bogen.

Ein Mann in rotem Mantel und mit roter Mütze, mit einem langen weißen Bart und einem prall gefüllten Jutesack wurde von einer Schar Kindern umringt. Für Robert Winklers Geschmack hatte er eine zu hagere Gestalt, um wirklich als Weihnachtsmann durchzugehen, denn sein Kostüm schlotterte lose um seinen Körper, statt sich über einen stattlichen Bauch zu spannen. Die Kinder schien das allerdings nicht zu stören, und auch Sven war nicht mehr aufzuhalten.

»Geh nur!«, ermunterte Svens Mutter ihren Sohn.

Ihr Mann legte zärtlich einen Arm um ihre Hüfte, und die beiden schauten sich glücklich in die Augen. Genau so sollte ein Abend auf dem Weihnachtsmarkt ablaufen! Strahlend und stolz beobachteten sie, wie ihr Nachwuchs zwar nicht ehrfürchtig, aber immerhin respektvoll vor den Weihnachtsmann trat.

»Wie heißt du denn?«, fragte der Bärtige den Jungen mit betont tiefer Stimme.

»Sven«, antwortete der Kleine schüchtern und schaute kurz über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass seine Eltern in der Nähe waren. Das konnte bestimmt hilfreich sein, falls der Weihnachtsmann böse auf ihn war.

»Und warst du auch immer artig?«

Sven überlegte kurz, bevor er bestimmt nickte.

»Na, dann hast du dir ein Geschenk verdient«, lobte ihn der Weihnachtsmann und tätschelte seinen Kopf.

Er griff in seinen Jutesack und holte einen Schokoladennikolaus hervor, den er dem Jungen feierlich überreichte. Sven strahlte über das ganze Gesicht und rannte mit dem Geschenk zu seinen Eltern.

»Habt ihr das gesehen?«, wollte er freudig wissen.

»Das hast du ganz toll gemacht«, bestärkte Robert Winkler seinen Sohn.

»Ja, Sie haben wirklich einen aufgeweckten Jungen. Da können Sie stolz sein«, mischte sich plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihnen in das Gespräch ein.

Robert Winkler und seine Frau drehten sich erstaunt um. Der Stadtstreicher, der die Abfalleimer durchsucht hatte, stand ihnen gegenüber. Seine schwieligen Hände hielten zwei große Mülltüten, aus denen leere Plastikflaschen herausschauten.

»Ich … äh …« Margot Winkler war sichtlich irritiert. Ihr war es nicht recht, dass der fremde Mann sie in Gegenwart ihres Sohnes ansprach. Nervös nestelte sie an ihrem Hermès-Tuch, das sie um den Hals trug.

»Als wir klein waren, gab es das nicht, dass man einfach einen so prächtigen Nikolaus aus Schokolade geschenkt bekam«, fuhr der Obdachlose redselig fort.