Rawanni und die Mafiosi - Emma Baro - E-Book

Rawanni und die Mafiosi E-Book

Emma Baro

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Beschreibung

Nachdem der Gangster Abbe Collins ihr einen Mord angehangen und ihren Mann getötet hat, ist Rawanni, die mittlerweile 17 Jahre alt ist, in New York auf der Flucht vor Abbe und der Polizei. Ihren Wunsch zum FBI zu gehen muss sie begraben stattdessen schlägt sie sich auf der Straße durch, bis sie schließlich einen Job in einem Restaurant ergattert. Leider stellt sich heraus, dass es zur Mafia gehört und schon nach kurzer Zeit steckt Rawanni bis über beide Ohren in Schwierigkeiten. Der Mafioso Scallini tötet vor ihren Augen Abbe Collins, weil er die hübsche, junge Indianerin für sich alleine haben will. Er will sie zu seiner Frau machen, worauf sich Rawanni natürlich nicht einlässt … Band zwei der Krimireihe um die schöne Indianerin Rawanni, die immer an das Gute in jedem Menschen glaubt. Sie zieht die Männer an wie Fliegen den Honig und einer nach dem anderen verfällt ihr — Polizisten, Mafiosi, Killer und FBI-Agents … keiner ist vor ihrem Zauber sicher. Obwohl sie Gewalt ablehnt kommt sie nicht umhin, sich ständig ihrer Haut zu erwehren. Der Kampf um sie wird nicht mit Worten ausgetragen …

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Seitenzahl: 359

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Emma Baro

Rawanni

und

die Mafiosi

Imprint

Rawanni und die Mafiosi Band 2 Emma Baro published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de Copyright: © 2014 Emma Baro ISBN 978-3-8442-8833-9

Inhalt
Imprint
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Wie es in Band 3 weitergeht

Kapitel 1

New York, Oktober 1990

Rawanni befand sich allein in dieser riesigen Stadt — ohne Geld, ohne Job und auf der Flucht vor dem Drogenboss Abbe Collins sowie der Polizei. Ihr gesamtes Leben war aus den Fugen geraten. Noch vor wenigen Tagen hatte sie Luke Calahan, ihrer großen Liebe das Ja-Wort gegeben, aber jetzt war er tot, von Abbe Collins ermordet. Der Schmerz brannte tief in ihrem Herzen und lähmte ihren Lebenswillen.

Sie hatte Luke in einer Vision gesehen. Er machte ihr Mut nicht aufzugeben und weiterzukämpfen. Ja, sie wollte weiterleben und Abbe für die Ermordung von Luke zur Rechenschaft ziehen. Auch wenn der Drang groß war ihn selbst zu richten, wollte sie dafür sorgen, dass er durch ein ordentliches Gericht rechtmäßig verurteilt wurde, das war sie ihrem eigenen Rechtsempfinden schuldig. Sie war keine Mörderin.

Aber es klebte bereits Blut an ihren Händen: Sie hatte Abbes Vater Ed McCurly in Notwehr erschossen, ein Umstand, den sie gerne vermieden hätte. In den letzten drei Jahren hatte sie, nachdem sie den Entschluss gefasst hatte Polizistin zu werden, ständig trainiert, um möglichst gut treffen zu können — damit ein Krimineller nur verletzt wurde, falls er sie mit einer Schusswaffe angreifen sollte. Sie wollte niemals in die Situation geraten, als Polizistin einen Menschen nur aus Unfähigkeit getötet zu haben. Doch mit 17 war sie einfach noch nicht gut genug gewesen; mit dieser Tat musste sie jetzt leben.

Nachdem Abbe Collins ihr den Mord an Jerry Dohan angehängt hatte, war ihr Berufswunsch allerdings ausgeträumt. Sie würde niemals Polizistin werden können. Zur Highschool konnte sie ebenfalls nicht mehr zurückkehren und auch nicht zu ihrem Vormund Jeff Andrews sowie seinen drei Mitarbeitern Peggy, Pete und Dan — ihrer Ersatzfamilie. Das war neben dem Tod ihres Mannes ein weiterer schwerer Verlust. Abbes perfider Plan sie an sich zu binden war zwar nicht aufgegangen, da Luke sie in seiner Eigenschaft als FBI-Agent aus der Untersuchungshaft geholt hatte, aber dies hatte seine Wut nur noch mehr geschürt und ihre Hochzeit mit Luke war für Abbe Grund genug gewesen ihn zu töten.

Abbe war jetzt allerdings der Einzige, der ihre Unschuld beweisen konnte, was er niemals freiwillig tun würde. Er hatte sie nach New York verschleppt, um sie zu seiner Frau zu machen. Erst wollte sie bei ihm bleiben, weil sie hoffte, eine Möglichkeit zu finden ihn ins Gefängnis zu bringen, aber als er sie missbrauchte, musste sie sich von ihm befreien und aus seinem Nachtklub fliehen.

Jetzt stand sie hier allein in den Schluchten der riesigen Wolkenkratzer. Das war eine denkbar schlechte Ausgangslage, um ihr Ziel weiter zu verfolgen. Nicht einmal die Polizei konnte sie um Hilfe bitten.

Es war Freitag, der 19. Oktober 1990. Die letzten 40 Stunden fehlten in Rawannis Erinnerung. Nachdem Abbe sie missbraucht hatte, war sie in eine Art Schockstarre gefallen.

Obwohl es Nacht war, machten die bunten Neonreklamen die belebten Straßen taghell. Die Digitaluhr an einem Hochhaus zeigte elf Uhr abends an. Sie befand sich auf dem Broadway, Ecke Spring-Street. Trotz dieser späten Stunde waren noch sehr viele Menschen unterwegs. Geschäfte, Restaurants, Bars — überall herrschte rege Betriebsamkeit. New York schlief auch nachts nicht.

Sie ging die Spring-Street weiter, entlang an einigen italienischen Restaurants bis zur Bowery. Sie erschrak, als sie auf dem Asphalt und in Hauseingängen zerlumpte Gestalten liegen sah. In Müllcontainern schürten sie ein Feuer und wärmten so ihre ausgezerrten Körper. Ein wärmendes Feuer könnte sie jetzt auch gut gebrauchen, denn sie trug nur sehr dünne Kleidung, aber sie wagte es nicht die Leute anzusprechen. Am Ende brachte das nur Ärger. Einige der Typen warfen ihr bereits neugierige Blicke zu.

Es erstaunte sie, wie viel Armut es in einer Stadt wie New York gab. Hier prallten so viele Nationen aufeinander und damit auch Reich und Arm. Die Spannbreite der verschiedenen Gesellschaftsschichten reichte von der High Society bis zu Menschen, die buchstäblich im und von Dreck lebten. New York war eine Welt für sich und voller Gegensätze.

Ein torkelnder Betrunkener rempelte sie an und bettelte um Geld. Würde sie bald auch hier landen? Nein, das durfte nicht geschehen — niemals! Gleich morgen würde sie sich Arbeit suchen.

Eilig lief sie weiter. In einer der Nebenstraßen lungerten im Schatten der Häuser ebenfalls Obdachlose herum, die sich mit Zeitungen und Kartons zugedeckt hatten. Flaschen in braunen Papiertüten waren ihre Begleiter. Der Inhalt dieser Flaschen war leicht zu erraten. Es war ein trauriger Anblick und erinnerte sie an die Zeit ihrer Kindheit, als sie im Reservat ähnlich betrunkene Gestalten gesehen hatte.

Aus einem Hinterhof drangen Stimmen. Im schwachen Schein einer kleinen Außenbeleuchtung erkannte sie in der hinteren Ecke zwei Jugendliche, die auf einen am Boden liegenden Mann einschlugen und traten. Es war einer dieser Obdachlosen. Er stöhnte, wehren konnte er sich nicht.

"Hey!", rief sie ohne zu zögern. "Lasst den Mann in Ruhe!"

Die beiden blickten hoch und ließen von ihrem Opfer ab.

"Oho, wen haben wir denn da?", säuselte der Dunkelhaarige und hakte seine Daumen in die Hosentaschen, während er lässig auf Rawanni zu schlenderte. Die glatten, kurzen Haare waren nach hinten gekämmt und mit Gel fixiert, eine breite Strähne fiel über das rechte Auge; im rechten Ohrläppchen steckten mehrere Ringe. Er mochte etwa so alt wie sie selbst sein. "Was meinst du, Perky", sprach er seinen gleichaltrigen Kumpel an, ohne den Blick von Rawanni zu nehmen, "wäre diese Kleine nicht etwas für uns?"

"Das würde ich meinen, Greg", grinste Perky und strich sich aufreizend mit den Fingern durch seine halblangen schwarzen Haare. Dabei leckte er sich vielsagend über die Lippen.

Beide bewegten sich betont cool auf Rawanni zu. Der Obdachlose war vergessen.

"Ich will keinen Ärger mit euch", versuchte sie die Lage zu entschärfen, doch sie erkannte sofort, dass die beiden in ihr ein neues Opfer gefunden hatten: Sie schnitten ihr den Rückweg ab.

Rawanni bemerkte den verängstigten Blick des Obdachlosen, der sich tiefer in die Ecke duckte und die Szene beobachtete. Offenbar hatte er Schmerzen.

Greg umkreiste sie und spielte mit ihren Haaren, wickelte eine Strähne um seinen Finger. Rawanni war aufs Äußerste konzentriert. Sie blieb ruhig stehen, aber ihr Körper spannte sich wie ein Bogen kurz vor dem Abschuss, jederzeit bereit den erwarteten Angriff abzuwehren.

"Was ist, willst du uns nicht ein wenig beglücken?", gluckste Perky.

"Nein", erwiderte sie immer noch in ruhigem Tonfall. "Geht nach Hause statt hilflose Bettler zu verprügeln."

"Hey, die Kleine will uns Vorschriften machen." Perky baute sich dicht vor ihr auf und sah in ihren Augen ein unheimliches Feuer lodern.

Sie roch seinen Atem, der ihr biergeschwängert und nach Tabak stinkend entgegenwehte. Sie fixierte ihn eindringlich, wendete den Blick nicht von ihm ab, behielt aber aus dem Augenwinkel heraus auch Greg im Auge.

Perky war leicht verunsichert und trat einen Schritt zurück. Diese Frau hatte keine Angst. Warum? Er wusste es in dem Augenblick, als er ihren Arm packte und sich selbst in der nächsten Sekunde auf dem Boden wiederfand.

Greg griff von hinten an. Er rang nach Luft, als er von harten Fußtritten und Schlägen getroffen gegen den Müllcontainer krachte.

Perky hatte sich inzwischen wieder erhoben und ließ ein Klappmesser aufschnappen, doch schon sah er ihren Fuß auf sich zugeschossen kommen. Das Messer flog in hohem Bogen durch die Luft. Er konnte Rawannis blitzschnellen Bewegungen mit den Augen gar nicht folgen, geschweige denn rechtzeitig reagieren. Immer wieder schlug er hart gegen eine Wand oder Müllcontainer. Zwischendurch attackierte sie Greg, der gegen ihr Können keine Chance hatte.

Perky kniete schließlich japsend vor ihr, die Lippe war aufgeplatzt, seine Rippen schmerzten. Benommen kroch er auf allen vieren über die Steine. Beide rappelten sich wieder auf, während Rawanni sie kühl taxierte. Perky stufte ihre Chancen als schlecht ein und hob die Hände zum Zeichen seiner Aufgabe. Greg tat es ihm gleich und beide trotteten geschlagen davon.

Rawanni hob das Messer auf und steckte es ein, dann wandte sie sich dem Obdachlosen zu und hockte sich vor ihn. Er blickte sie mit vor Schreck geweiteten Augen an.

"Ist alles in Ordnung?", fragte sie und lächelte ihn an, um ihn zu beruhigen.

Er nickte, noch immer ergriffen von dem, was er eben gesehen hatte.

"Wie heißen Sie?", fragte sie mit sanftem Tonfall.

"Äh … Charly."

Seine extreme Alkoholfahne raubte ihr fast den Atem. Die ergrauten Haare lugten stumpf und verfilzt unter einer schwarzen Strickmütze hervor und reichten weit über den Mantelkragen. Der Wollmantel und die Baumwollhose wiesen zahlreiche Flicken auf, die aber alle sorgfältig aufgenäht waren. In seinem ausgemergelten Gesicht zeigten sich tiefe Furchen. Er mochte um die 60 sein, was bei seinem dichten grauen Vollbart schwer zu schätzen war.

"Ich bin Rawanni", stellte sie sich vor und erfasste zum Gruß seine Hand, die in einem Handschuh steckte, dessen Fingerspitzen fehlten.

Er hielt ihre Hand fest und betrachtete sie. "Du hast sehr geschickte Hände", meinte er mit einem Lächeln. "Ich danke dir. Diese Typen hätten mich vielleicht totgeprügelt. Es wäre nicht das erste Mal, dass einer von uns auf diese Weise draufgegangen ist. Dich hat der Himmel geschickt."

"Aber ich bin nicht geflogen", scherzte Rawanni. "Wenigstens ist mir dabei warm geworden."

Charly sah sie ernst an. "Auch wenn du dich gut verteidigen kannst, solltest du in dieser Gegend nicht alleine und schon gar nicht bei Nacht herumlaufen."

"Nein, aber ich kenne mich hier nicht aus. Kannst du mir vielleicht sagen, wo ich einen warmen Schlafplatz finde?"

Charly blickte sie erstaunt an. "Du meinst einen kostenlosen?"

"Ja, ich habe kein Geld."

"Du siehst nicht gerade aus, als ob du auf der Straße lebst."

"Bisher musste ich das auch nicht."

"Du kannst bei den Nachtasylen unterkommen, aber davon würde ich dir abraten, denn dort klauen sie wie die Raben. Sogar während du schläfst rauben sie dir die Schuhe von den Füßen. Besonders sauber ist es dort auch nicht, weil viele ihre Läuse gleich mitbringen. Ich bin dort früher nur im äußersten Notfall hingegangen. Aber einigermaßen gutes Essen erhältst du da und auch Kleidung. Wie ich sehe ist deine nicht besonders warm."

"Nein. Ich musste schnell aufbrechen."

"Ich bringe dich erstmal zu meinen Freunden. Dort wird sich auch noch ein Plätzchen für dich finden."

"Ich möchte aber keine Umstände bereiten."

"Nein, das tust du nicht. Es ist das Mindeste, was ich meiner Lebensretterin als Dank anbieten kann. Komm, hilf meinen alten Knochen mal hoch."

Rawanni schob ihren Arm unter seinen und stützte ihn. Er stöhnte vor Schmerz auf.

Sie begleitete ihren neuen Freund zur Lower East Side, einer teils ärmlichen Gegend mit alten Mietskasernen. Manche Häuser boten als ausgebrannte Ruinen einen trostlosen Anblick, andere waren abgerissen worden und hatten hässliche Lücken hinterlassen, auf denen zwischen dem Schutt jede Menge Unkraut wucherte. Einige Anwohner hatten in Eigeninitiative liebevoll kleine Mini-Parks auf den leeren Flächen angelegt, doch zu dieser Jahreszeit blühten nur noch wenige Pflanzen.

Auf einem dieser leeren Grundstücke hausten Charlys Freunde in selbst gezimmerten Unterkünften. Vor einem Feuer saßen einige Leute und wärmten sich.

"Hallo, Charly", rief eine Frau mittleren Alters. "Wen bringst du denn da mit?"

"Das ist Rawanni, meine Lebensretterin", erklärte er nicht ohne Stolz und zog damit augenblicklich alle Aufmerksamkeit auf sich.

"Deine Lebensretterin?" Die Frau blickte ungläubig zwischen Charly und Rawanni hin und her.

"Zwei Jugendliche haben mich verprügelt und Rawanni kam mir zu Hilfe."

Die Frau wischte sich die Hand an ihrem Mantel ab, bevor sie sie Rawanni mit einem Lächeln reichte. "Ich bin Mally, sozusagen die Herbergsmutter. Ich sorge dafür, dass hier alles in geordneten Bahnen verläuft, wenn du verstehst, was ich meine." Sie lachte.

"Ja", stimmte ein Mann mit roter Mähne lächelnd bei, erhob sich vom Feuer und reichte ihr die Hand. "Wenn Mally nicht die Zügel führen würde, kämen wir alle unter die Räder. Ich bin übrigens Red — wegen meinem Rotschopf." Seine gelockten Haare, die bis auf die Schultern reichten, waren in der Tat kräftig rot und schienen sich kaum bändigen zu lassen. Auch seine Bartstoppeln schimmerten rötlich.

"Hallo, Red."

Ein zweiter Mann war aufgestanden und stellte sich ebenfalls vor: "Ich bin Arnie, der Autospezialist."

Rawanni ergriff auch seine dargebotene Hand. "Es freut mich, euch alle kennenzulernen."

"Rawanni sucht eine Schlafgelegenheit", erklärte Charly. "Sie sollte nichts kosten."

Mally sah sie erstaunt an. "Du siehst nicht so aus, als ob du dir kein Zimmer leisten könntest. Was ist denn passiert?"

"Mein Leben wird sich künftig ändern. Ich habe niemanden an den ich mich wenden kann, außerdem bin ich fremd in dieser Stadt. Gleich morgen will ich mir eine Arbeit suchen."

"Es wird schwer sein hier einen Job zu finden, denn es gibt viele Arbeitssuchende. Aber bis dahin kannst du natürlich gerne hierbleiben, wenn dir eine einfache Schlafstatt genügt." Mally legte mütterlich den Arm um ihre Schulter: "Und morgen besorgen wir dir noch etwas Warmes zum Anziehen, denn deine Sachen sind doch reichlich dünn."

"Ich danke euch, ihr seid wirklich meine Rettung."

Mally schob Rawanni in eine der kleinen Bretterbuden, in denen bereits drei Kinder und eine weitere Frau schliefen. Sie wies auf ein Bettgestell mit einer dünnen Matratze. "Hier kannst du schlafen. Es ist wenigsten einigermaßen warm und trocken."

Rawanni blickte auf den kleinen Ofen in der Ecke, der genügend Wärme verbreitete. Sie war froh und dankbar, nicht ungeschützt auf der Straße schlafen zu müssen, und nahm dafür auch diese schlichte Unterkunft in Kauf. Es machte ihr nichts aus, denn als Kind war sie schließlich auch mit wenig Komfort ausgekommen.

Am nächsten Morgen lernte Rawanni den Rest der Großfamilie kennen, deren Mitglieder sich aus den verschiedensten Gründen zusammengefunden hatten. Die Leute waren ihr auf Anhieb sympathisch.

Mally sorgte mit ihrer fürsorglichen Art und ihrem Organisationstalent dafür, dass das Zusammenleben dieser kleinen Gruppe, die aus zehn Erwachsenen und drei Kindern bestand, fast reibungslos funktionierte. Jeden Tag beschafften Mally und die anderen Frauen Essensreste, sodass immer eine warme Mahlzeit zubereitet werden konnte. Die Männer erbettelten Geld von den Passanten, um weitere notwendige Dinge kaufen zu können.

Mally besaß mit 45 Jahren immer noch ein sehr attraktives Gesicht, jedoch war ihre Figur nach ihrer ersten Geburt in die Breite gegangen, aber gerade das verlieh ihr etwas Mütterliches. Sie hatte ihren Mann und ihre zwei Kinder bei einem Verkehrsunfall verloren, hatte monatelang im Krankenhaus gelegen, während die Ärzte um ihr Leben kämpften. Als sie körperlich genesen war, bekam sie ihr Leben nicht wieder in den Griff, denn sie hatte den Verlust ihrer Familie nicht verkraften können. Eine Arbeit fand sie auch nicht mehr und ihr fehlte die Kraft etwas zu ändern, so ließ sie sich hängen und landete schließlich auf der Straße. Erst Red hatte sie wieder aufgerichtet und ihr gezeigt, dass das Leben sogar als Obdachlose lebenswert sein konnte. Mit ihm hatte sie eine neue Liebe gefunden. Bei allen war sie sehr beliebt und jeder konnte sie um Rat fragen. Sie spendete allen Trost, die ihn brauchten.

Red war 46 und lebte seit zehn Jahren auf der Straße, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte. Er fing damals an zu trinken und verlor dann Job und Wohnung. Inzwischen hatte er sich mit seinem neuen Leben arrangiert und wollte gar nicht mehr zurück in sein altes.

Arnie war 35 und ein hartgesottenes Raubein mit weichem Herz — wie Mally ihn beschrieb. Er hatte als Kfz-Mechaniker gearbeitet und auch an Autorennen teilgenommen, bei denen er sogar einige Preise gewonnen hatte. Nach einem selbst verschuldeten Unfall, bei dem ein Kind zu Tode gekommen war, wurde er zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt, danach saß er auf der Straße.

Charly, der Älteste unter ihnen, war einst sehr wohlhabend gewesen, aber seine Spielsucht hatte ihn in den Bankrott getrieben. Seine Ehe zerbrach daran. Er hatte sich mit Alkohol getröstet und der Weg auf die Straße war dann nicht mehr weit gewesen.

Auch die anderen wiesen ähnliche Schicksale auf, warum sie hier gelandet waren.

Charly erzählte allen von Rawannis mutigem Eingreifen und obwohl sie vehement protestierte, schmückte er die Geschichte erheblich aus, während alle an seinen Lippen hingen. Er konnte schon immer gute Geschichten erzählen und niemand wusste, ob sie wahr oder erfunden waren, aber das spielte auch keine Rolle.

Vormittags ging Mally mit Rawanni zu einer Kleiderkammer, wo sie eine dicke Jacke, zwei Pullover, zwei Hosen, Unterwäsche und warme Stiefel bekam.

Danach zeigte sie ihr die beeindruckende Stadt. In den Schaufenstern waren die teuersten Artikel ausgestellt; Prunk-Paläste mit kostbar verzierten Fassaden und Türen aus Messing, bewacht von Portiers in Uniformen, protzten neben einförmigen rotbraunen Brownstone-Häusern. Restaurants, Theatersäle, Boutiquen — überall ein Meer von Konsumgütern in den Auslagen. Und dann das gewaltige Finanzzentrum an der Wall Street … hier regierte das Geld. Rawanni wurde schwindelig von diesen vielen Eindrücken und ihr wurde noch stärker bewusst, wie dicht Arm und Reich in diesem Moloch beieinanderlagen.

Besonders gefiel ihr der Central Park, diese grüne Insel inmitten von Wolkenkratzern, in dem man sich wie in einer anderen Welt fühlen konnte. Auf den großzügigen Rasenflächen konnte man bei schönem Wetter herrlich ausspannen. Außerdem war der Park hervorragend dazu geeignet sportlichen Aktivitäten nachzugehen, was von vielen New Yorker offenbar intensiv genutzt wurde, denn überall waren Jogger, Radfahrer und Inline-Skater unterwegs — natürlich auch jede Menge Spaziergänger.

Die Suche nach einem Job gestaltete sich schwieriger als erwartet. Die Arbeitslosenquote war hoch und jede freie Stelle schnell wieder besetzt. Immer neue Einwanderer drängten nach und suchten nach Arbeit. Besonders waren die Stellen begehrt, für die keine Ausbildung erforderlich war.

Von Zeit zu Zeit ging Rawanni auch bei Abbes Nachtklub vorbei, achtete aber darauf nicht gesehen zu werden. Sie war sich immer noch nicht im Klaren darüber, wie sie ihn packen sollte. Zur Polizei konnte sie nicht gehen und freiwillig würde er wohl kein Geständnis ablegen. Es schien ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein. Musste sie ihn tatsächlich ungestraft davonkommen lassen und sich in ihr Schicksal fügen?

Einmal sah sie, wie er seinen Klub verließ; er humpelte auf einen Stock gestützt zum Wagen. Sie musste ihn erheblich am Knie verletzt haben. Der Mann, der ihm die Wagentür aufhielt, war sein Bodyguard Wes. Der hatte seine Verletzungen also gut überstanden. Aber wenn er hier war, dann wusste Abbe inzwischen auch, dass sie seinen Vater getötet hatte. Wie würde er reagieren, wenn er sie zu fassen bekam? Das war ein Grund mehr, ihm nie wieder zu begegnen.

Der Hass auf ihn würde vielleicht niemals aufhören. Manche Nächte hatte sie sich in den Schlaf geweint. Mally und die anderen halfen ihr über die schlimmste Zeit hinweg, aber sie konnte ihnen nichts über die Gründe ihrer Trauer erzählen, damit musste sie allein fertig werden.

Kapitel 2

November 1990

Oft begleitete Rawanni Mally auf ihren Rundgängen, bei denen sie Reste von Restaurants und Lebensmittelgeschäften organisierte. Man kannte Mally und ihre nette fröhliche Art; nirgendwo wurde sie abgewiesen. Dabei trafen sie eines Tages einen jungen Mann in sportlicher Kleidung und Turnschuhen. Sie schätzte ihn um die 30.

"Hey, Mally", begrüßte er sie mit einem herzlichen Lächeln und umarmte sie freundschaftlich. "Wie läuft das Geschäft?"

"Könnte nicht besser sein", antwortete Mally und klopfte ihm bei der Umarmung kameradschaftlich auf den Rücken. "Al, darf ich dir Rawanni vorstellen? Sie wohnt seit Kurzem bei uns. — Rawanni, das ist Detective Al Lawson, der netteste Polizist von New York."

Ein kalter Schauer lief über ihren Körper und verursachte eine Gänsehaut. Ihr Puls beschleunigte sich.

"Du schmeichelst mir, Mally". Sein Lächeln war ungemein attraktiv, aber es schien eher Rawanni zu gelten, als er ihre Hand ergriff. "Schönen guten Tag", sagte er höflich und hielt ihre Hand länger als üblich. Er bemerkte ihr kurzes Zögern.

"Guten Tag", entgegnete Rawanni knapp und zog ihre Hand zurück.

Obwohl ihr Kopf in einen dicken Schal eingehüllt war, zog ihr Gesicht ihn magisch an, besonders diese dunklen großen Augen. Sekundenlang verharrte er wie gebannt, bis Mally sich räusperte.

"Wir müssen wieder, Al. Alle warten auf das Essen."

"Äh … ja, natürlich. Ach warte … " Er fingerte aus seiner Hosentasche eine Zwanzigdollarnote hervor und steckte sie in Mallys Jackentasche. "Alles Gute."

"Danke, Al. Wir seh'n uns."

Sie gingen weiter und Rawanni drehte sich kurz um. Er stand noch immer da und blickte ihnen nach. Verdammt, hoffentlichhat er mich nicht erkannt. Möglicherweise hatten alle Polizeistationen ihr Fahndungsfoto erhalten und er würde es jetzt überprüfen.

"Mmmmh", schwärmte Mally. "Das ist vielleicht ein Mann. Wenn ich ein wenig jünger wäre und nicht Red hätte, könnte ich glatt schwach bei ihm werden."

Rawanni lächelte.

"Und er ist immer sehr großzügig", sagte Mally weiter. "Manchmal können wir ihm mit ein paar Informationen weiterhelfen. Wenn wir uns sehen, steckt er mir immer Geld zu und nicht gerade wenig. Er ist schon ein prima Bulle, ganz anders als die anderen." Sie lächelte Rawanni an. "Ich habe bemerkt, wie er dich angesehen hat."

"Ach Unsinn."

"Nein, nein, ich weiß, was ich gesehen habe. Du gefällst ihm. Er wird dich bald besuchen kommen. Du wirst schon sehen."

Rawanni fühlte sich nicht wohl bei der Vorstellung, dass er sie vielleicht aus anderen Gründen, als Mally glaubte, so intensiv angesehen hatte.

Mally hatte recht. Es dauerte nicht lange bis er beim Lager auftauchte. Aber sie wollte nicht mit ihm reden, denn wenn sein Interesse an ihr dienstlicher Natur war, sollte sie ihm besser aus dem Weg gehen, bevor sie sich durch ein falsches Wort verriet.

Aber er ließ sich so schnell nicht entmutigen und kam fast jeden Abend nach Dienstschluss. Manchmal wechselten sie ein paar belanglose Worte oder begrüßten sich nur, bevor Rawanni das Lager fluchtartig mit einer fadenscheinigen Begründung verließ. Auch eine Einladung zum Essen lehnte sie jedes Mal ab. Aber sie erkannte schnell, dass sein Interesse an ihr wirklich nur rein private Gründe hatte. Daher brauchte sie die Stadt nicht zu verlassen, was sie bereits in Erwägung gezogen hatte.

Aber auch seine vorsichtigen Annäherungsversuche waren ihr unangenehm, denn sie konnte einem anderen Mann höchstens freundschaftliche Gefühle entgegenbringen. Außerdem war die Gefahr zu groß, dass er sie doch eines Tages erkannte. Aber wie sollte sie ihm erklären, dass sie kein Interesse an ihm hatte, ohne ihn zu sehr zu kränken? Zugegeben, er war sehr nett und sie hätte auch seine Einladung angenommen, wenn die Situation eine andere gewesen wäre.

An diesem Tag kam Al wieder zum Lager, aber sie war nicht da, sondern klapperte gerade die Restaurants nach einem Job ab. Stattdessen musste er mit Mally vorliebnehmen. "Hallo, Mally."

"Hallo, Al", begrüßte sie ihn mit einem Schmunzeln. "Du kommst in letzter Zeit aber oft."

"So?" Er stützte seine Arme auf die halb verfallene Mauer und starrte blicklos an Mally vorbei.

"Mhm — und sicherlich nicht wegen meiner schönen Beine. — Sie ist nicht da."

"So!"

Mally stemmte die Fäuste in die Hüften und sah ihn mit hochgezogenen Brauen an, sagte aber nichts.

"Nun ja", gab er schließlich zu, "ich würde sie ja gerne mal zum Essen einladen, aber sie weicht mir immer wieder aus. Was weißt du eigentlich über sie?"

"Ah, jetzt spricht wieder der Polizist aus dir. Ich weiß nicht viel, weil sie kaum über private Dinge spricht. Allerdings glaube ich, dass sie etwas Schlimmes erlebt haben muss. Manchmal höre ich sie nachts schluchzen. Bevor sie zu uns kam, hat sie nicht auf der Straße gelebt. Sie besaß nur die Sachen, die sie auf dem Leib trug. Offenbar wurde sie von einem Tag auf den anderen aus ihrem bisherigen Leben herausgerissen."

"Weißt du, wie alt sie ist?"

"17. Sie hat anscheinend keine Angehörigen, sonst hätte sie dort längst angerufen. Vielleicht ist sie irgendwo weggelaufen, möglicherweise wurde sie sogar in einem Bordell festgehalten."

"Wie kommst du darauf?"

"Na ja, als sie zu uns kam, haben wir am nächsten Tag für sie warme Kleidung besorgt. Als sie sich umzog, hatte sie knallrote Reizwäsche an, einen String und BH aus feinster Spitze. Mann, die hat vielleicht einen verteufelt tollen Körper, da wurde selbst ich als Frau neidisch und musste hingucken."

"Du machst mir den Mund wässrig."

"Hey, alter Lüstling." Sie boxte ihm verspielt gegen die Schulter.

Er lächelte verschmitzt. "Ich komme morgen wieder."

"Okay, mach das."

Er hob die Hand zum Gruß und trottete mit gesenktem Kopf davon. Junge, dachte Mally, den hatte es aber erwischt.

Inzwischen war es Dezember und die Arbeitssuche immer noch nicht erfolgreich. Es war kalt und Rawanni fror, denn die Temperaturen waren unter den Nullpunkt gesunken. Einen Versuch wollte sie noch unternehmen, bevor sie zum Lager zurückging. Sie klopfte an der Hintertür eines Restaurants und wartete. Als die Tür sich öffnete, kam sie gar nicht dazu ihr Anliegen vorzutragen, denn der Mann hielt einen Eimer in der Hand und ehe sie sich versah, war sie von oben bis unten nass.

"Verschwinde!", fauchte er. "Eure ständige Bettelei reicht mir jetzt." Die Tür schlug mit lautem Knall zu.

Völlig verdutzt starrte Rawanni auf die Tür. Er hatte geglaubt sie wollte betteln. Mit einem Schwall Schimpfwörter, die niemand hörte, klopfte sie das Wasser aus dem Mantel und wischte es aus ihrem Gesicht. Verdammt, jetzt fror sie noch mehr.

Im Laufschritt lief sie an den Geschäften entlang zum Lager. Sie musste sich schnellstens trockene Sachen anziehen. An einer Hausecke stieß sie mit einem Mann zusammen.

"Entschuldigung", stammelte sie und blickte hoch.

"Rawanni!"

"Al!"

"Du bist ja ganz nass."

"Ja, ich habe gerade eine Dusche genommen."

"Wer war das? Soll ich ihn verhaften?"

"Nein. Er hat geglaubt, dass ich betteln wollte. Dabei wollte ich doch nur nach Arbeit fragen."

"Hast du immer noch kein Glück bei der Arbeitssuche gehabt?"

"Nein, na ja, so wie ich aussehe, würde ich mich auch nicht einstellen wollen." Sie sah an sich herunter und bot in ihrem dicken Wollmantel und dem um den Kopf gewickelten Schal wirklich keinen ansehnlichen Anblick.

"Du siehst reizend aus, nur ein bisschen nass", meinte Al neckend. "Aber du solltest dich schnell umziehen, sonst holst du dir noch eine Erkältung."

"Ich war gerade auf dem Weg zum Lager."

"Meine Wohnung liegt näher und ist schön warm."

"Nein, nein, das geht nicht." Sie ging gleich in Abwehrhaltung.

"Keine Sorge, ich bin ganz brav", versuchte er sie zu beruhigen.

"Trotzdem."

"Komm, überleg nicht lange — deine Zähne klappern bereits. Oder liegt es daran, dass ich Polizist bin?" Diese Frage war ihm spontan in den Sinn gekommen, aber ihr kurzer erschrockener Augenaufschlag war ihm nicht entgangen.

"Also gut", gab sie nach, um ihn nicht noch misstrauischer zu machen.

"Sehr schön." Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er nahm sie an der Hand, trat an den Straßenrand und winkte nach einem Taxi.

Nur wenige Häuserblocks weiter lag Als Mietwohnung in einem dreigeschossigen Mehrfamilienhaus aus rotbraunem Sandstein in East Village. Sein Dreizimmerapartment lag im zweiten Stock.

"Am besten, du nimmst erst einmal ein heißes Bad." Er wartete eine Erwiderung gar nicht erst ab und ging gleich ins Badezimmer, um das Wasser einzulassen. Aus einer Flasche schüttete er einen duftenden Zusatz hinein, der gleich Schaumberge bildete.

Sie sah ihm mit verhaltener Skepsis von der Tür aus zu.

"Na, ist das nicht verlockend?" Sein Lächeln war umwerfend. Als sie immer noch unsicher am Türrahmen stehen blieb, zog er sie ins Zimmer. "Dort liegen ein Badetuch, Waschlappen und Seife. Shampoo findest du da. Danach kannst du meinen Bademantel anziehen", er zeigte hinter die Tür, an dem der Mantel an einem Haken hing, "bis deine Sachen trocken sind. Und wenn du fertig bist, gibt es was zu essen."

Sie starrte ihn nur wortlos an.

Mit einem Augenzwinkern schloss er die Tür.

Al stieß einen freudigen Seufzer aus. Der Zufall war ihm zu Hilfe gekommen und hatte sie sogar in seine Wohnung geführt. Hier konnte sie ihm nicht so schnell wieder weglaufen, denn er wollte endlich ihre Geschichte erfahren. Was verheimlichte sie? Warum weinte sie so oft in der Nacht? Aber er durfte sie nicht zu sehr bedrängen und musste sehr behutsam vorgehen. Seine polizeilichen Verhörmethoden musste er diesmal außer Acht lassen.

Rawanni starrte noch eine Weile unschlüssig auf den Schaum, der sich zu immer größeren Bergen türmte. Ein heißes Bad war natürlich nicht zu verachten — sie fror inzwischen erbärmlich. Schließlich legte sie ihre nasse Kleidung ab und auch ihre Skepsis. Mit einem genussvollen Stöhnen streckte sie sich in der Wanne aus und schloss die Augen …

Von weit entfernt hörte sie ihren Namen und schreckte auf. Al saß auf dem Wannenrand. Automatisch verschränkte sie die Arme über ihre Brüste.

"Keine Sorge", sagte er lächelnd, "ich sehe nichts. Du wirst noch von Schaum bedeckt. Entschuldige, aber ich bin hereingekommen, weil du auf mein Rufen nicht reagiert hast. Du bist schon ziemlich lange im Wasser. Ich wollte dir nur sagen, dass das Essen fertig ist."

"Ja, ich komme", murmelte sie benommen.

Er ließ sie wieder allein.

Sie beeilte sich mit dem Waschen und schlüpfte anschließend in seinen Bademantel, der viel zu groß war, aber gut roch. Die Ärmel krempelte sie um.

Er saß bereits am Esstisch und füllte gerade dampfende Lasagne auf die Teller. Eine große Schale mit Salat stand auf dem Tisch sowie eine Karaffe mit frisch gepresstem Orangensaft.

"Na, wie fühlst du dich?"

"Ich muss sagen: sehr gut."

Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln und er schmolz dahin. Sein Herzschlag nahm unwillkürlich einen stärkeren Rhythmus an.

"Du bist anscheinend nicht nur Polizist, sondern auch Koch", sagte sie nach den ersten Bissen, "und gar kein schlechter."

Er lächelte. "Dabei kann ich nur Kleinigkeiten, denn ich esse meistens bei uns in der Kantine und außerdem habe ich wenig Lust für mich allein zu kochen. Deshalb freut es mich umso mehr einen Gast zu haben."

"Dann hast du keine Freundin?"

"Nein, ich bin schon lange Single. Meine Mutter drängt mich dauern, weil ich schon dreißig bin und ich womöglich die Zeit für die Gründung einer Familie verpassen könnte. Sie möchte natürlich Enkelkinder haben, möglichst mehr als eins. Ich habe keine Geschwister und daher liegt es an mir unsere Familie fortzuführen. Nun ja, für mich ist das nicht so einfach. Du musst wissen: Ich stand vor drei Jahren kurz vor der Hochzeit, doch wenige Tage zuvor verunglückte meine Verlobte tödlich. Bis heute fällt es mir schwer eine neue Beziehung einzugehen."

"Das tut mir leid." Sie konnte ihm nicht sagen wie sehr sie diese Gefühle aus eigener Erfahrung nachempfinden konnte. Sie begegnete seinem Blick, der sekundenlang intensiv auf ihre Augen geheftet blieb.

Er vergaß das Kauen und ein warmes Kribbeln durchflutete seinen Körper. Dieses Gefühl hatte er schon lange nicht mehr erlebt. "Äh, möchtest du noch was?" Er musste sich von seinen Gedanken losreißen, die ihn plötzlich befielen: Gedanken, was sein könnte, wenn …

Sie nickte und schob kauend den Teller näher. Es freute ihn, dass es ihr schmeckte. Schweigend beobachtete er sie und überlegte, über welches Thema er mit ihr reden konnte. Bisher hatte sie alle Fragen nach ihrem Leben abgeblockt und dabei hatte er so viele Fragen, wollte alles von ihr wissen.

"Was hat dich eigentlich nach New York verschlagen?", fragte er schließlich, obwohl diese Frage auch ihr Leben betraf.

"Das Schicksal." Sie zuckte mit den Achseln.

Da war es wieder, sie wich aus.

"Du redest nicht gerne über dich, nicht wahr?"

"Nein."

"Worüber können wir dann sprechen?"

"Dein Essen schmeckt hervorragend."

Er lachte. "Ich verstehe. Dann iss bitte auch noch den Rest auf."

"Ich glaube, mein Magen ist in den letzten Wochen kleiner geworden, ich schaffe nicht mehr, obwohl es so gut schmeckt. Danke Al."

"In zwei Wochen ist Weihnachten", sagte er nach einer Weile und wagte einen neuen verwegenen Vorstoß, bei dem er sich eine Abfuhr und ihren Zorn einhandeln konnte. "Willst du nicht hierbleiben und mir Gesellschaft leisten? Dann wäre ich nicht allein." Er setzte seine artigste Miene auf, als sie ihn mit großen Augen ansah, aber er redete sofort weiter. "Sonst fahre ich Weihnachten immer zu meiner Mutter nach Boston, aber sie macht dieses Jahr mit ihrem neuen Freund eine Kreuzfahrt in die Karibik. Ich habe ein Gästezimmer, das sonst meine Mutter benutzt, wenn sie nach New York zum Shoppen kommt." Er hatte Angst mit dem Reden aufzuhören und holte kaum Luft. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder, als die Worte weiter aus ihm heraussprudelten. "Außerdem haben sie im Wetterbericht für die nächsten Tage starken Schneefall angekündigt, dann wird es draußen sehr ungemütlich und hier ist es schön warm."

Sie fing an zu lächeln. Er stockte.

"Du gibst dir wirklich sehr viel Mühe, mich zu überreden."

Er stützte die Arme auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände. "Ja, und ich gehe noch weiter. Ich würde dir nämlich ein paar neue Sachen spendieren, damit sie dich beim nächsten Mal nicht wieder wegen deines Äußeren abweisen."

Sie lehnte sich zurück. "Danke, dein Angebot ist wirklich sehr verlockend, aber es geht nicht."

"Warum nicht?"

"Weil ich dich nicht ausnutzen möchte, Al. Und sicherlich machst du dir gewisse Hoffnungen, aber … "

"Bitte, Rawanni", unterbrach er sie, "ich verlange nichts von dir, was du nicht selbst möchtest. Wenn du willst, bin ich nur ein netter Gesellschafter. Und außerdem macht es mir große Freude dir etwas Gutes zu tun."

Rawanni senkte den Blick und überlegte. Es wäre sicherlich gut, wenn Mally ein Maul weniger zu stopfen hätte, zumal sie bisher keinen einzigen Cent zu ihrem Aufenthalt hatte beitragen können.

Er sah sie mit einem treuen Hundeblick an und reizte sie damit unwillkürlich zum Lachen. "Also gut", willigte sie schließlich ein. "Ich bleibe — aber nur bis nach Weihnachten. Und stell mir bitte keine Fragen mehr über mein Leben."

Al zeigte seine makellosen Zähne. "Okay, ich verspreche es. Er hob drei Finger zum Schwur. "Morgen beantrage ich gleich Urlaub, denn mein Captain hat mir den Dienst zwischen Weihnachten und Neujahr aufgebrummt, weil ich alleinstehend bin."

"Das solltest du aber nicht wegen mir tun."

"Doch, doch, ich möchte ein paar Tage mit dir verbringen und wenn sie mich brauchen, werden sie mich sowieso anrufen. Ein Polizist ist immer im Dienst."

Sie wusste genau, dass es nicht richtig war bei ihm zu bleiben … obwohl seine Gesellschaft sehr angenehm war. Er benahm sich nicht aufdringlich, nur wie ein guter Freund, und doch spürte sie, dass er mehr wollte; aber sie gab ihm keinen Anlass sich weiter vorzuwagen. Er schien es offenbar zu akzeptieren. Sie war noch nicht bereit für eine neue Beziehung, wenn sie es überhaupt jemals sein würde. Und dann war da noch seine Polizeitätigkeit — eine äußerst brenzlige Situation. Er könnte sie verhaften, ja, er müsste es sogar, wenn er erfuhr, dass sie gesucht wurde. Sie fühlte sich wie auf einem Pulverfass, das jeden Augenblick hochgehen konnte.

Später zeigte er ihr das Gästezimmer, in dem sich auch ein Schreibtisch befand, auf dem sein Computer stand. Das Bett hatte er zwischenzeitlich frisch bezogen. Sie standen an der Tür, als er ihre Hand nahm, seine Lippen darauf legte und sie sanft küsste.

"Gute Nacht, Rawanni, schlaf gut."

"Gute Nacht, Al. Und danke für alles."

Er nickte und seine Augen hatten einen traurigen, fast verzehrenden Ausdruck angenommen.

Sie schloss die Tür und lehnte sich mit einem tiefen Seufzer dagegen. Es gab keine andere Wahl; sie musste Al morgen wieder verlassen. Eine unerfüllte Liebe konnte ebenso schmerzhaft sein wie der Verlust des Partners, und das wollte sie ihm nicht antun.

Am nächsten Morgen war es draußen weiß. Al klopfte leise an ihre Tür. Sie knurrte etwas Unverständliches, woraufhin er die Tür öffnete und hereinkam. Er hockte sich neben das Bett und betrachtete ihr Gesicht, ihre geschlossenen Augen, ihre wunderschönen schwarzen Haare, die wirr über ihrem Rücken gebreitet lagen. Sie trug ein ärmelloses Hemd und er konnte es nicht verhindern, dass seine Finger über ihren bloßen Arm streichelten.

"Hast du gut geschlafen?", fragte er leise.

Sie murmelte ein verschlafenes Ja, während sie sich rekelnd auf den Rücken drehte. "Ich habe schon lange nicht mehr in einem richtigen Bett geschlafen", murmelte sie und blinzelte mit einem Auge.

"Ich muss leider gleich zur Arbeit. Das Frühstück steht auf dem Tisch, du kannst aber noch ein wenig weiterschlafen. Es hat nämlich geschneit. Also bleib besser im Bett."

"Mhm."

"Ich komme mittags vorbei und wir können zusammen essen gehen."

"Mhm."

"Ich werde Mally Bescheid sagen, dass du hier bist."

Ungern verließ er schließlich die Wohnung.

Bevor Al zum Department fuhr, machte er einen Umweg beim Lager vorbei. "Hi, Mally", grüßte er gut gelaunt.

"Hi, Al. Rawanni ist nicht da. Ich mache mir etwas Sorgen, sie hat heute Nacht nicht hier geschlafen." Sie blickte ihn verschmitzt an. "Aber nach deinem Strahlen zu urteilen, weißt du, wo sie ist."

"Ja, sie ist bei mir. Sie hat gestern einen Eimer Wasser abbekommen, als sie bei Perrys Restaurant nach Arbeit fragen wollte. Der Typ hat geglaubt, dass sie betteln wollte. Passt also auf, da braucht ihr nicht nach Resten fragen."

"Oh je, ich hätte sie vorwarnen sollen. Den Laden meiden wir bereits. Und sie ist dann einfach zu dir mitgekommen?"

"Ja. Ich musste sie natürlich ein wenig überreden, aber sie fror heftig und meine Wohnung lag näher."

"Du weißt: Ich sähe es gern, wenn ihr beiden zusammenkommen würdet. Du bist ein guter Mann, Al, und würdest sie sicherlich glücklich machen. Außerdem brauchst du endlich wieder eine Frau."

"Ja, Elisa ist jetzt seit drei Jahren tot. Rawanni ist die erste Frau, die meine Gefühle geweckt hat, aber leider ist das nur einseitig. Sie scheint wie in einem Schneckenhaus zu sitzen, aus dem sie nicht heraus kann."

"Du solltest ihre Sachen mitnehmen", schlug sie vor.

"Glaubst du, sie bleibt bei mir?"

"Du etwa nicht?"

"Ich weiß es nicht. Sie ist verängstigt wie ein scheues Reh, lässt niemanden an sich ran und spricht nicht über sich. Ich darf keine Fragen über ihr Leben stellen. Wo ist sie aufgewachsen? Wer sind ihre Eltern? Nichts erzählt sie mir. Was verbirgt sie? Vor was hat sie Angst? Du hast recht, es muss ihr Schlimmes passiert sein."

"Dann finde es heraus, Al, du bist schließlich Polizist."

"Damit könnte ich aber das bisschen Vertrauen, das sie mir entgegenbringt, vollständig zerstören."

"Möglich", meinte Mally, "aber du wirst dich ständig fragen und quälen, welches Geheimnis sie verbirgt. Eines aber fühle ich mit Sicherheit: Sie ist keine Verbrecherin."

Al lächelte und gab ihr einen Kuss auf die Wange. "Danke, Mally."

Nachdem Al die Tasche mit Rawannis Sachen in den Kofferraum gelegt hatte, drängte es ihn hineinzuschauen. Er fand die rote Reizwäsche, von der Mally gesprochen hatte, und ließ den Spitzenstoff durch seine Finger gleiten. Er beschloss hinter ihr Geheimnis zu kommen.

Rawanni stand am Fenster und betrachtete die Schneeflocken, die gleichmäßig vom Himmel fielen. Als Wohnung war bei diesem Wetter natürlich weit bequemer und wärmer als die kalte Behausung des Lagers. Sie haderte mit sich. Was sollte sie tun? Schließlich entschloss sie sich, noch einige Tage zu bleiben, wenigstens so lange, bis das Wetter wieder besser werden würde.

Al kam gegen Mittag strahlend und gut gelaunt nach Hause. Er hatte sich für den Nachmittag freigenommen.

Nach dem Essen in einem italienischen Restaurant ging er mit ihr einkaufen. Er musste sie bei jedem Kleidungsstück überreden es zu nehmen. Es war ihr unangenehm, wenn er die Sachen bezahlte.

Danach machten sie einen Spaziergang durch die verschneiten Straßen. Mit staunenden Augen betrachtete sie die weihnachtlich geschmückten Geschäfte. Der 30 Meter hohe Weihnachtsbaum am Rockefeller Center war besonders beeindruckend und lockte jährlich viele Touristen aus aller Welt an.

Es war ein schöner Nachmittag mit Al. Für ein paar Stunden hatte sie ihre Probleme vergessen können. Sie würde gerne bei ihm bleiben, seine Gesellschaft tat ihr gut, aber es war nicht möglich.

Am nächsten Morgen brachte Al ein Glas mit ihren Fingerabdrücken zum Labor und bereits einen Tag später lag das Ergebnis vor. Wie erstarrt blickte er auf den Bildschirm seines Computers. Sie wurde mit Haftbefehl wegen Mordes gesucht. Es war eindeutig ihr Bild und ihr Name. Die Beweise waren erdrückend. Nein, das konnte nicht sein — es durfte nicht sein. Sie wurde außerdem verdächtigt, in die Ermordung des Millionärs Ed McCurly und des FBI-Agenten Luke Calahan verwickelt zu sein. Er las den Text zweimal und ein drittes Mal, weil er es nicht glauben wollte. Rawanni konnte doch keine Mörderin sein! Er musste unbedingt mehr darüber erfahren, die Fahndungsdaten erzählten nicht die Geschichte, die dahintersteckte.

Aber er musste mit seinen Nachforschungen sehr vorsichtig sein, denn wenn er an den Falschen geriet oder die falschen Fragen stellte, konnte das für Rawanni schwerwiegende Folgen haben. Er bemerkte bei seinen Überlegungen, wie er ihre Partei ergriff, obwohl er nicht die Tatsachen kannte. Es war einfach aus dem Gefühl heraus — sie war unschuldig. Aber was war, wenn sie doch eine Mörderin war? Er musste dann seinem Polizeieid folgen und sie verhaften. Aber das würde er nicht über sich bringen. Er stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und rieb sich die Augen.

Dann wusste er auf einmal, was er zuerst tun musste. Es war einen Versuch wert. In ihrer Akte stand der Name Luke Calahan. Dieser FBI-Agent hatte mit Sicherheit einen Partner, der ihm vielleicht mehr erzählen konnte. Denn an die obersten Stellen wollte er sich auf keinen Fall wenden, um nicht Gefahr zu laufen, dass Rawanni aufgrund seiner Fragen entdeckt wurde. Sollte dieser Partner wütend reagieren und Rawanni verwünschen, müsste er die Befragung einstellen. Als Nächstes könnte er unter ihrer alten Wohnanschrift in Denver mit ihrem Vormund Jeff Andrews sprechen, aber eins nach dem anderen.

Er wählte die Nummer des FBI-Hauptquartiers in Washington, D. C. Seine Hände schwitzten, während er wartete. Der Dame in der Telefonzentrale sagte er, er rufe wegen der Ermordung des FBI-Agenten Calahan an und würde gerne dessen ehemaligen Partner sprechen. Sie stellte durch.

"Colby", meldete sich eine angenehme Stimme am anderen Ende.

"Guten Tag, ich bin Detective Al Lawson vom New Yorker Police Department. Spreche ich mit dem früheren Partner von Luke Calahan?"

"Ja, ich bin Ray Colby und habe bis zu seiner Ermordung mit ihm zusammengearbeitet."

"Kennen Sie eine junge Frau mit Namen Rawanni?"

Sekundenlanges Schweigen. Al hörte deutlich schweres Atmen, dann ein Räuspern. War es ein gutes oder schlechtes Zeichen? Seine Nervosität stieg.

"Ja, ich kenne sie", kam die zögernde Antwort.

"Können Sie mir Näheres über sie erzählen?" Wieder ein Zögern.

"Äh, nein. Ich weiß nur, dass sie wegen Mordes gesucht wird."

"Ja, das steht in ihrer Akte, aber ich möchte mehr über die Hintergründe erfahren. Hat sie mit der Ermordung Ihres Partners zutun?"

"Das kann ich definitiv verneinen. Sie hat ein Alibi."

"Gott sei Dank", entfuhr es Al leise, aber Ray hatte es gehört und wurde neugierig.

"Darf ich fragen, was Sie an Rawanni interessiert? Sie sind doch aus New York, wenn ich richtig verstanden habe."

"Ja, das stimmt." Wie sollte er die Antwort bloß formulieren? "Nun … sagen wir mal, es ist eher ein inoffizielles Interesse."

Ray horchte auf. "Dann kennen Sie Rawanni persönlich?"

"Ja." Al wischte seine schweißnasse Hand an der Hose ab. Er hörte seinen eigenen Pulsschlag im Ohr. Colby schwieg wieder, er schien zu überlegen. Was nun?

"Kann ich Sie treffen?", schlug Colby auf einmal vor. "Ich möchte nicht am Telefon darüber sprechen."

"Ja, gerne. Wo?" Al machte innerlich einen Freudensprung.

"Ich komme morgen nach New York. Bleiben Sie im Department, ich werde gegen Mittag bei Ihnen sein."

"Sehr gut. Ich hätte noch eine Bitte: Erwähnen Sie nicht, dass Sie vom FBI sind."

"Okay." Das hatte Ray sowieso nicht vor.

***