REBEL AGENT - Der Verräter - Ron McGee - E-Book

REBEL AGENT - Der Verräter E-Book

Ron McGee

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Beschreibung

Ryan Quinn: sympathischer junger Held und Kämpfer für das Gute

Es war eine Lüge: Ryans Eltern sind mitnichten UN-Mitarbeiter; sie gehören dem Emergency Rescue Committee an, das heimlich politisch Unterdrückte unterstützt. Ryan wurde also, ohne es zu wissen, von klein auf als Agent geschult, um später brandgefährliche Operationen zu meistern. Doch ein Verräter in den Reihen des ERC will nun nicht nur Ryans Eltern, sondern das ganze ERC hochgehen lassen. Ryans hochbrisante Mission beginnt im afrikanischen Lovanda, wo der Tod hinter jeder Ecke lauert …

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EPUB

Seitenzahl: 284

Veröffentlichungsjahr: 2018

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DER AUTOR

Foto: © Andy Keilen

Ron McGee ist preisgekrönter Drehbuchautor, Produzent zahlreicher TV-Serien und hat etliche Kinofilme fürs Fernsehen adaptiert. Er lebt mit seiner Familie in Kalifornien.

Mehr über cbj Jugendbücher auf Instagram unter @hey_reader

Ron McGee

Der Verräter

Aus dem amerikanischen Englisch

von Tanja Ohlsen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage 2018

Erstmals als cbt Taschenbuch Dezember 2018

© 2017 by Ron McGee

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Ryan Quinn and the Lion’s Claw« bei Harper, einem Imprint von HarperCollins Children’s Books, a division of HarperCollins Publishers, 195 Broadway, New York 10007

© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Tanja Ohlsen

Lektorat: Ulrike Hauswaldt

Umschlaggestaltung: init |Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen

Umschlagmotive: iStockphoto (filrom, squashedbo, ghoststone); Thinkstock (Stocktrek Images)

TP · Herstellung: eR

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-22783-8V001

www.cbj-verlag.de

Abenteuer machen am meisten Spaß, wenn man sie gemeinsam mit guten Freunden besteht. Zum Glück habe ich die besten! Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

RM

Prolog

New Jersey, USA

Die Musik würde sie noch beide umbringen.

Das sagte Lawrence immer und wahrscheinlich hatte er damit sogar recht. Aber ohne die Musik schien alles irgendwie leer und sinnlos. Wie soll man mit der einzigen Sache aufhören, die dem Leben einen wirklichen Sinn gibt?

Nadia hatte nicht viel Zeit. Bald würde Lawrence nach Hause kommen und davor wollte sie noch den letzten Track aufnehmen. Den neuen Song hatte sie zuvor während ihrer Schicht beim Coffee Hut geschrieben. Text und Melodie kamen ihr, während sie doppelte Mocca-Lattes und fettarme Cappuccinos machte, und in jeder Pause kritzelte sie schnell die Noten auf, bevor sie sie vergaß.

Der Song war fast fertig. So aufgeregt war sie seit Jahren nicht mehr gewesen. In ihrer Kindheit war die Musik oftmals ihre Flucht vor einer Furcht einflößenden und gefährlichen Welt gewesen. Lawrence hatte Nadia schließlich gezeigt, dass ihre Musik viel mehr sein konnte als bloß eine Fluchtmöglichkeit.

Sie konnte eine Waffe sein.

Eine Weile war sie das auch gewesen. Doch das war schon Jahre her. Jetzt servierte sie tagsüber Kaffee und verbrachte die Nächte sicher in dieser schäbigen kleinen Wohnung. Auch wenn sie versucht hatte, das Beste daraus zu machen, würde sie es wohl nie als Zuhause bezeichnen können.

Also war die Musik erneut zu einem Ausweg für sie geworden.

Die Aufnahme war einfach. Sie hatte nur einen Laptop, ein elektrisches Keyboard und ein altes Mikrofon, das sie bei einem Pfandleiher gekauft hatte. Sie setzte die Kopfhörer auf und drückte auf die Aufnahmetaste, woraufhin ein Hip-Hop-Rhythmus erklang. Nadia holte tief Luft, neigte sich zum Mikrofon und …

In diesem Moment krachte die Wohnungstür auf! Unter der Wucht splitterte das Schloss und zwei schwarz gekleidete Männer stürmten in den Raum. Nadia kreischte auf und rannte zur Hintertür.

Schnell griff sie nach einem leeren Tisch und stieß ihn ihren Verfolgern in den Weg. Doch die wurden kaum langsamer und sprangen lässig darüber hinweg. Nadia sauste um die Ecke und rannte durch die Küche. Sie riss die Tür auf … und blieb abrupt stehen.

Eine Pistole mit Schalldämpfer war auf ihre Brust gerichtet. Den Mann dahinter erkannte sie augenblicklich. Nie würde sie die grässliche Narbe vergessen, die sich über sein Auge und die Wange zog.

»Hallo, Schnecke.« Sein eleganter britischer Akzent konnte die Drohung in seiner Stimme nicht verbergen. »Ich kenne jemanden, der sich sehr freuen würde, dich wiederzusehen.«

Nadia wirbelte herum, doch ein weiterer Mann versperrte ihr den Weg. Die würden sie nicht kriegen! Mit einem heiseren Schrei sprang sie vor und fuhr ihm mit ihren langen Fingernägeln über die Wange.

Überrascht taumelte der Mann zurück. Sie schoss an ihm vorbei, doch im Laufen bekam sie einen Schlag auf den Hinterkopf, der sie in die Knie gehen ließ. Sie bemühte sich, bei Bewusstsein zu bleiben, doch der Raum begann sich zu drehen, und vor ihren Augen verschwamm alles.

Ihr letzter Gedanke galt Lawrence, und sie betete darum, dass sie ihn nicht auch noch kriegten. Dann stürzte sie zu Boden und Schwärze umfing sie.

Teil I

Im Abseits

1

New York, USA

»Pass auf, Quinn!«

Ryan fuhr herum und entdeckte, dass Brendan Jackson einen schnellen Durchbruch zum Korb versuchte. Er hätte sich ohrfeigen können. Schon wieder war er unaufmerksam gewesen und mit den Gedanken ganz woanders.

Er versuchte aufzuholen, doch es war zu spät. Jackson sprang zum Korb und erzielte einen perfekten Treffer. Zwei Punkte.

»Mann, Quinn!«, schrie Coach Harris. »Hör auf zu träumen oder verschwinde vom Platz!«

Ryan nickte frustriert und verlegen. Seine Leidenschaft galt eigentlich dem Baseball, doch das fing erst im Frühling an, weshalb er es mit dem Basketballteam versucht hatte. Er war in die Mannschaft gekommen, weil er ziemlich sportlich war, aber ihm fehlten die Grundlagen. Er wäre gerne besser geworden, doch dazu müsste er sich auf das Spiel konzentrieren.

Während der nächsten halben Stunde zwang er sich, an nichts anderes zu denken als an das Training. Nicht an seine Eltern, nicht an das ERC – nur an Rebounds, Anzeigetafeln und Korbbälle.

Es funktionierte sogar. Wenn er sich erst mal auf das Spiel konzentrierte, war er richtig gut. Gegen Ende des Trainings erzielte er sogar einen schönen 3-Punkte-Wurf. Als die Spieler den Platz verließen, kam Coach Harris zu ihm und fragte: »Willst du eigentlich hier sein, Quinn?«

»Ja, Sir, auf jeden Fall.«

»Du bist ein Naturtalent. Aber Basketball spielt man mit dem Kopf.« Nachdenklich hielt Coach Harris inne. »Wenn du auf dem Platz bist, musst du alles andere vergessen. Algebratests, das nette Mädchen von neulich oder den Streit mit deiner Mutter am Morgen. Mir egal, welches Problem du hast, ich will nicht, dass du es zum Training mitbringst.«

Ryan wünschte, dass seine Probleme so einfach wären. Vor knapp vier Wochen hatte sich sein ganzes Leben verändert. Er hatte gesehen, wie seine Mutter entführt worden war, und hatte seinen verletzten Vater Tausende von Meilen entfernt in einem gefährlichen Land allein lassen müssen. Die Entdeckung, dass seine Eltern zum Rettungsnetzwerk ERC gehörten, dem Emergency Rescue Committee, war für Ryan völlig überraschend gekommen. Die Mitglieder dieses Komitees arbeiteten seit Jahrzehnten verdeckt und riskierten ihr Leben, indem sie rund um die Welt Leute retteten, die für ihren Kampf gegen Unterdrückung und Tyrannei verfolgt und zum Schweigen gebracht wurden.

Einerseits war Ryan stolz darauf, was seine Eltern taten. Doch gleichzeitig war er auch verletzt und wütend. Warum hatten sie ihm nicht die Wahrheit gesagt? Hatten sie vorgehabt, es ihm je zu sagen?

Doch das sagte er seinem Trainer natürlich nicht. Der würde Ausreden sowieso nicht gelten lassen.

»Verstanden, Coach. Wird nicht wieder vorkommen.«

Coach Harris lächelte. »Genau das will ich hören.«

Beim Hinausgehen entdeckte Ryan seinen Freund Danny auf der Tribüne.

»He, Mann! Bist du fertig?«

Dannys Haare standen heute noch wirrer ab als sonst. Über seinem Konzert-T-Shirt – heute eines von der New-Order-Europa-Tour von 1988 – trug er eine alte lederne Bomberjacke. Danny war eigentlich immer ein Energiebündel, aber in den letzten Wochen war er förmlich im Viereck gesprungen.

»Du wirst nicht glauben, was ich gefunden habe«, verkündete er.

»Lass mich raten«, vermutete Ryan. »Irgendein verzweifelter Mensch in irgendeinem weit entfernten Land muss unbedingt gerettet werden?«

Seit Danny vom ERC erfahren und Ryan bei seiner ersten Mission geholfen hatte, war er auf der Suche nach einer Möglichkeit, damit weiterzumachen.

»Na ja«, gab er zu, »aber dieser Kerl braucht uns wirklich! Er sitzt schon seit fast zwanzig Jahren in einem Knast in Nordkorea, und das nur, weil er einen Studentenprotest angeführt hat.«

»Und wie stellst du dir den Einbruch in ein nordkoreanisches Gefängnis vor?«, erkundigte sich Ryan. Er bewunderte Dannys Hingabe, doch das war diese Woche schon der vierte politische Häftling, mit dem er ankam.

Danny zuckte die Achseln. »Also, ich habe noch keinen exakten Plan ausgearbeitet …«

»Du weißt doch, was meine Eltern gesagt haben. Sie lassen uns auf keinen Fall bei einer weiteren ERC-Mission mitmachen.«

»Aber das ist doch total unfair!«, protestierte Danny. »Es ist doch gar nicht so etwas Schlimmes passiert!«

»Du bist mit dem Messer verwundet worden«, erinnerte ihn Ryan. »Und auf mich wurde geschossen. Ziemlich oft.«

»Ja, ja«, stöhnte Danny. »Stell dich ruhig auf ihre Seite.«

Doch eigentlich ging es Ryan ebenso wie Danny.

Seit ihrem Abenteuer in Andakar hatte er ständig das Gefühl, etwas zu verpassen.

»Ich gehe jetzt rüber in die Bibliothek und lerne für die Physikprüfung«, verkündete er. »Kommst du mit?«

»Na gut.« Danny lief neben Ryan her zurück zur Schule. »Aber du musst schon zugeben, dass es mehr Spaß macht, einen Gefängnisausbruch in Nordkorea zu planen.«

2

New York, USA

Der Winter in New York City war besser, als Ryan gehofft hatte. Die frische Dezemberluft schien den in dicke Mäntel und Schals eingepackten Menschen mehr Energie zu verleihen. Sie waren in Festtagsstimmung und überall leuchteten Weihnachtsdekorationen. Es würden die ersten Weihnachtsferien in ihrer neuen Heimat werden, und Ryans Eltern waren entschlossen, sie zu etwas Besonderem zu machen.

Allein in der letzten Woche hatten sie sich das Nussknacker-Ballett angesehen, die Schaufensterdeko in den Warenhäusern betrachtet, und jetzt gingen sie zum Eislaufen am Rockefeller-Center. Über ihnen ragte der größte Weihnachtsbaum auf, den Ryan je gesehen hatte. Eigentlich war es ziemlich touristisch, aber andererseits auch lustig, weil er sich selbst immer noch ein wenig wie ein Tourist vorkam. Seine Eltern bemühten sich wirklich, alles »normal« wirken zu lassen.

»Weg da, du Schnecke!« Ryan drehte sich um, als seine Freundin Kasey ihn überholte, obwohl sie rückwärtsfuhr. Ihre strubbligen Haare hatte sie unter pelzigen lila Ohrwärmern versteckt und vom beißenden Wind hatte sie ganz rote Backen. »Pass auf!«

Ryan drehte sich gerade noch rechtzeitig wieder um, um zu verhindern, dass er ein kleines Kind umfuhr. Schlittschuhlaufen war nicht sein Ding und das abrupte Bremsmanöver brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er stürzte aufs Eis und Kasey glitt zu ihm hinüber.

»Sorry«, sagte sie. »Alles klar?«

Ryan grinste sie an. »Angeberin!«

»Ich habe fünf Jahre lang Eiskunstlauf gemacht«, erklärte Kasey, während sie Ryan aufhalf. »Ich fühlte mich auf dem Eis mehr zu Hause als sonst wo.«

»Warum hast du aufgehört?«

»Man kommt irgendwann an den Punkt, wo man sich hundert Prozent dafür einsetzen muss, wenn man gewinnen will. Dann muss Eislaufen dein ganzes Leben sein. Aber ich interessiere mich für zu viele andere Dinge.«

Je besser Ryan Kasey kennenlernte, desto mehr mochte er sie. Sie war neugierig auf alles. Sie stellte ihm ständig Fragen über die Orte, an denen er gelebt hatte, und wollte darüber sprechen, was in der Welt vor sich ging. Sie waren seit ein paar Wochen ständig zusammen und nie ging ihnen der Gesprächsstoff aus. Und außerdem war sie wirklich total süß.

»Habe ich irgendetwas im Gesicht?«, wollte Kasey wissen.

»Was? Nein.«

»Warum siehst du mich dann so an?«

Glücklicherweise retteten seine Eltern ihn davor, die Frage beantworten zu müssen, weil sie Händchen haltend ankamen, vor ihnen abbremsten und fragten: »He, ihr beiden, wollt ihr eine heiße Schokolade?«

Wenn man John und Jaqueline Quinn ansah, würde man nicht vermuten, dass sie einer supergeheimen Organisation angehörten. Sie sahen aus wie ganz gewöhnliche Eltern, vielleicht sogar ein bisschen schräg, wegen ihrer zusammenpassenden gestreiften Mützen mit den großen Bommeln. Seine Mutter hatte gewollt, dass auch Ryan so eine trug, doch dieser Erniedrigung hatte er sich bislang entziehen können.

Seit er vom ERC erfahren hatte, hatte Ryan seine Eltern mit einer Million Fragen bombardiert. Doch die waren der Meinung, dass er noch zu jung war, um bei der Organisation zu arbeiten, und dass es für ihn umso sicherer war, je weniger er wusste. Es war unglaublich frustrierend.

Sie versuchten, so zu tun, als sei alles wie früher. Doch das war es nicht.

»Sollen wir zum Maison du Chocolat gehen?«, schlug seine Mutter vor, als sie vom Eis glitten. Da Jaqueline in Frankreich aufgewachsen war, war sie ein noch größerer Schokoladengourmet als Ryan, und La Maison machte so ziemlich die beste Schokolade der Welt. Normalerweise hätte er sich darauf gefreut, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass all diese Aktivitäten nur verhindern sollten, dass er noch mehr Fragen stellte.

In den letzten Tagen hatten sich seine Mutter und sein Vater ziemlich merkwürdig benommen und hektisch miteinander geflüstert, wenn sie glaubten, dass er es nicht merkte. Selbst ihr Vorschlag, dass Kasey an diesem Abend mitkommen sollte, wirkte wie eine weitere Ausflucht, um nicht über etwas Wichtiges reden zu müssen.

Jaqueline nahm Ryans Arm. »Wir könnten auch ein paar von diesen fantastischen Nougatpralinen besorgen.«

»Klingt gut«, meinte Ryan und grinste sie zuversichtlich an, während sie sich auf den Bänken ihre Schlittschuhe auszogen.

Kasey ließ sich neben ihm nieder und fragte: »Was ist denn los?«

Sie kannten sich zwar noch nicht sehr lange, doch sie nahm seine Stimmung ziemlich genau wahr. Ryan sah sich verstohlen nach seinen Eltern um.

»Ich glaube, da geht wieder irgendetwas vor sich«, erklärte er dann. »Irgendetwas, von dem ich nichts erfahren soll.«

»Etwas mit dem ERC?« Kasey wusste darüber Bescheid. Ihre Hilfe im vergangenen Monat war unschätzbar gewesen. Doch anders als Danny konnte sie ein Geheimnis für sich behalten und redete nur darüber, wenn Ryan das Thema aufbrachte.

»Es muss wohl darum gehen. Es ist so ärgerlich! Sie verheimlichen mir immer noch etwas, obwohl ich jetzt davon weiß!«

»Lass ihnen Zeit.« Kasey nahm ihre Schlittschuhe in die Hand. »Komm, eine heiße Schokolade lässt dich das alles schnell vergessen.«

Ryan bezweifelte das. Als sie zu seinen Eltern traten, sahen diese auf das Telefon seines Vaters und lasen mit besorgten Mienen eine Nachricht.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Ryan.

Sie sahen auf und schnell schaltete sein Vater das Telefon aus. Seine Mutter setzte ein Lächeln auf, doch es kam Ryan falsch vor.

»Alles bestens«, meinte sie und stand auf. »Das hat Spaß gemacht, nicht wahr? Sollen wir uns dieses Wochenende das Radio City Christmas Spectacular ansehen? Wir könnten ja auch Danny einladen. Kasey, hast du schon mal die Rockettes gesehen?«

Seine Mutter ging zu Kasey, während Ryan seinen Vater fragte: »Dad, was ist eigentlich los?«

Einen Augenblick sah er, wie sein Vater zögerte, und glaubte schon, er würde ihm tatsächlich etwas erzählen. Doch dann lächelte John nur schwach.

»Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.«

Liebevoll raufte er Ryan die Haare und legte ihm beim Hinausgehen den Arm um die Schultern.

Nun wusste Ryan, dass er recht hatte. Irgendetwas stimmte nicht, und sie sagten ihm nicht, worum es ging. Als sie ihn das letzte Mal im Dunkeln gelassen hatten, hätte er beinahe beide Eltern verloren. Das würde nicht noch einmal geschehen.

Und das hieß, dass er irgendwie selbst herausfinden musste, was los war.

3

New York, USA

»Halt dich fest, Dad!«

Ryan hing über der Klippe und streckte die Hand nach seinem Vater aus, der an einem Felsvorsprung hing. Seine Finger verloren langsam den Halt. Unter ihm erstreckte sich eine abgrundtiefe Schlucht und endete in einem schwarzen Loch.

Ryan packte ihn am Handgelenk und zog. Mit baumelnden Beinen hing sein Vater an seinem Arm und versuchte vergeblich, mit den Füßen irgendwo Halt zu finden.

»Nicht loslassen!«, flehte er.

»Tu ich nicht – versprochen!« Doch Ryan verlor den Kampf. Er konnte seinen Vater nicht wieder hinaufziehen, dazu war er nicht stark genug.

»Ryan, ich verlasse mich auf dich! Du musst mich retten!«

»Das versuche ich ja. Du bist zu schwer. Ich kann nicht …«

Ryan spürte, wie ihm das Handgelenk seines Vaters entglitt. Er schaffte es nicht. Er konnte ihn nicht länger halten.

»Warum lässt du los?«

»Tue ich doch gar nicht!«, schrie Ryan. Doch plötzlich fiel sein Dad schreiend und mit wedelnden Armen in die Tiefe, dem schwarzen Abgrund entgegen.

»Dad!«

Ryan riss die Augen auf, doch er brauchte ein paar Sekunden, bis er erkannte, dass es nur ein Albtraum gewesen war. Er atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen.

Seit er aus Andakar zurückgekehrt war, hatte er diese Albträume gehabt. Seinen Vater zurückzulassen und dessen Mission zu Ende zu führen, war die schwierigste Entscheidung gewesen, die er je hatte treffen müssen, und er hatte deswegen immer noch Schuldgefühle.

Zuerst hatte er geglaubt, dass alles gut gehen würde. Er hatte die Aufgabe zu Ende gebracht, die sein Vater angefangen hatte, und hatte die rebellische Bloggerin Lan aus dem feindseligen Land in die USA gebracht. Das ERC hatte ein älteres, kinderloses Ehepaar gefunden, das sie aufgenommen hatte, und Lan hatte ihr gefährliches Leben als Spionin gegen die Sicherheit und die Bequemlichkeit in Washington DC eingetauscht. Ryan hatte vor ein paar Tagen über einen anonymen Server mit ihr gechattet, und sie hatte ihm erzählt, wie sehr es ihr dort gefiel.

Mithilfe von Tasha Levi hatte sein Vater es aus Andakar hinausgeschafft. Die toughe, reizbare Agentin war die Erste gewesen, die Ryan von der Beteiligung seiner Familie am ERC erzählt hatte. Drei Tage hatten die beiden zurück nach New York gebraucht. Doch über den Zustand seines Vaters nach dessen Rückkehr war Ryan entsetzt gewesen.

Er war schwach und konnte sich kaum ohne Hilfe bewegen. Und was noch schlimmer war, er konnte sich an nichts erinnern, was in den letzten paar Tagen passiert war. Es war, als wäre sein Gehirn völlig durcheinandergeraten. Und am merkwürdigsten war, dass er überhaupt keine Erinnerung an die ganze Andakar-Operation mehr hatte.

Ryan konnte das Gefühl nicht loswerden, dass das zum Teil seine Schuld war. Hätte er gewusst, dass sein Vater in so einer schlechten Verfassung war, hätte er ihn nicht allein gelassen. Es war reines Glück gewesen, dass Tasha sein Versteck in dem alten Tempel gefunden und ihn nach Hause gebracht hatte. Ryan hätte es sich nie verziehen, wenn noch Schlimmeres passiert wäre.

Wenn er so einen Albtraum gehabt hatte, fiel es Ryan immer schwer, wieder einzuschlafen. Seine Gedanken gingen in tausend verschiedene Richtungen. In den letzten Wochen war so viel geschehen, was er erst noch verarbeiten musste.

Leise machte Ryan die Tür auf und schlurfte in den Gang. Er wollte sich im Bad ein Glas Wasser holen, als er ein Geräusch hörte.

Von unten erklangen Stimmen. Es war nach Mitternacht und das klang nicht nach seinem Vater. War jemand eingebrochen? Ryan ging zur Treppe und lauschte.

Dann erkannte er die Stimme seiner Mutter. Ihr französischer Akzent stach überall heraus. Sie klang besorgt, und Ryan vermutete, dass es etwas mit dem ERC zu tun hatte. Er musste sich näher heranschleichen.

Das alte Sandsteinhaus, in dem Ryan mit seiner Familie wohnte, hatte schon seinen Großeltern gehört. Ryan liebte es. Das dunkle Holz, die hohen Fenster und seine Geschichte. Doch war es schwierig, sich darin geräuschlos zu bewegen. Er ging ganz langsam und versuchte, die Stufen zu vermeiden, die am lautesten knarrten.

Als er näher kam, konnte Ryan mindestens vier Leute ausmachen, die sich unterhielten. Sie befanden sich im Keller. Dort unten hatte sein Großvater Declan ein großes Arbeitszimmer eingerichtet sowie einen verborgenen Raum, in dem alle Geheimakten zum ERC aufbewahrt wurden. Letzte Woche hatte Ryan ein paar der Akten lesen wollen, hatte aber feststellen müssen, dass sein Dad ein neues Schloss angebracht hatte. Was nicht sehr viel Sinn ergab, da er ihm im Alter von sieben Jahren schon beigebracht hatte, wie man ein Schloss knackt. Zu gerne hätte er versucht, einzubrechen und die Akten trotzdem zu lesen. Bislang hatte er dieser Versuchung widerstanden und hoffte, dass seine Eltern ihm bald genug vertrauten, ihm alles zu erzählen, ohne dass er sie hintergehen musste.

Als er die letzten Stufen zum Keller hinunterschlich, wurden die Stimmen deutlicher.

»… das kann kein Zufall sein«, hörte er seinen Vater sagen. »Nicht zwei in einer Woche.«

»Aber die beiden Vorfälle müssen doch nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben«, wandte eine Frauenstimme ein.

»An solche Zufälle glaubt hier niemand«, entgegnete seine Mutter.

Mittlerweile war Ryan ganz unten bei der Tür zum Arbeitszimmer angekommen, hinter der das flackernde Feuer unruhige Schatten an die Wände warf. Doch die Leute, die redeten, konnte er nicht erkennen.

»Ich habe auch gehört, dass Salim Shah heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen ist«, erklärte sein Vater gerade. »Und bei ihm zu Hause geht niemand ans Telefon. Wir können nicht bestätigen, dass er verschwunden ist, aber es ist wahrscheinlich.«

»Und niemand hat den Notruf gewählt?«, fragte die Frau.

»Die Notrufnummer ist abgeschaltet. Das ist uns erst heute aufgefallen, und ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist. Es wird sicher ein paar Tage dauern, bis das wieder in Ordnung ist«

»Ganz offensichtlich ist das ERC verraten worden.« Der Mann, der jetzt sprach, musste dem Akzent nach aus Indien oder Pakistan stammen. »Es muss ein Leck bei uns geben.«

»Da sind wir uns einig«, stellte Ryans Mutter fest. »Deshalb wollten wir, dass Sie hierherkommen. Wir haben keine Ahnung, woher sie die Informationen haben, aber …«

»Kleiner Schleicher!«

Ryan fuhr überrascht herum, als ihm eine Stimme ins Ohr flüsterte. Hinter ihm stand Tasha Levi. Die toughe, temperamentvolle Frau war eine der besten Agentinnen des ERC. Irgendwie hatte sie sich lautlos an ihn herangeschlichen. Und jetzt war er voll aufgeflogen.

Tasha betrachtete ihn einen Moment und richtete sich dann auf.

»Zu deinem Glück mag ich kleine Schleicher.«

Ryan sah seine Chance und nutzte sie: »Ich habe gehört, wie sie von einem Leck geredet haben. Was glaubst du, wer das ist?«

»Deine Eltern wollen nicht, dass du da mit hineingezogen wirst.«

»Vielleicht kann ich ja helfen.«

»Ich denke, wir werden schon damit fertig«, meinte Tasha offensichtlich amüsiert. »Und jetzt husch, husch ins Bett!«

Ryan warf einen letzten Blick auf die Tür. Drinnen wurde weiter geplant. Frustriert ging er wieder nach oben. Er verstand zwar immer noch nicht, was los war, aber zumindest hatte Tasha ihn nicht verraten.

Oben an der Treppe drehte er sich noch einmal um. Aus dem Dunkeln starrte ihm Tasha nach, die keineswegs mehr belustigt schien.

Ganz im Gegenteil, sie schien ziemlich verärgert.

4

New York, USA

»Die ist so was von scharf auf dich«, meinte Danny, knallte seinen Schrank zu und wandte sich an Ryan. »Du solltest sie anrufen und fragen, ob sie mit dir ausgeht.«

Ryan verdrehte die Augen und ging mit ihm den Gang entlang.

»Tasha ist mindestens zwanzig!«

»Na und? Sie hat dir ins Ohr geflüstert.« Danny ahmte Tashas Stimme nach und verlieh ihr einen flirtenden Tonfall. »Zu deinem Glück lieebe ich kleine Schleicher!«

»Wenn sie dich hören könnte, würde sie dich dafür erwürgen«, lachte Ryan.

»Nee, ich würde sie mit meinem Charme ablenken. Da hätte sie keine Chance.« Doch plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck.

»Was glaubst du denn, was mit den Leuten passiert ist, von denen deine Eltern meinen, dass sie vermisst werden?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Besorg mir die Namen. Vielleicht kann ich online etwas herausfinden, das uns zu ihnen führt.«

Danny war ein unglaublicher Hacker. Er konnte sich Zugang zu Webseiten und Datenbanken verschaffen, der für Zivilisten ansonsten streng verboten war. Dabei achtete er zwar stets sorgfältig darauf, seine Spuren zu verwischen, doch Ryan fürchtete immer, dass sein Freund eines Tages in ernsthafte Schwierigkeiten geraten würde. Aber wenn diese Leute in Gefahr waren, war es das Risiko ja vielleicht wert?

»Ich versuche mal, etwas herauszufinden«, versprach er.

»Das ist genau, was wir brauchen: eine Möglichkeit, deinen Eltern zu beweisen, dass sie uns in ihr Team aufnehmen sollten«, behauptete Danny und blieb vor einer Klassenzimmertür stehen. »Na gut, dann widmen wir uns mal der letzten Prüfung in diesem Halbjahr. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, sind wir frei und haben Winterferien!«

Ryan eilte in seine Englischklasse. Sie hatten gerade T. H. Whites König auf Camelot gelesen und der größte Teil der letzten Prüfung bestand aus einem Aufsatz über König Arthur. Den ersten Teil des Buches, in dem der Zauberer Merlin den jungen Arthur in verschiedene Tiere verwandelt hatte, hatte Ryan gemocht – das klang nach ziemlich viel Spaß. Aber zum Schluss hin wurde es eher deprimierend. Arthur verlor alles und wurde sogar von seiner Familie betrogen. Er hatte die Lektion, die Merlin ihm als Kind hatte beibringen wollen, zu spät verstanden: dass ein guter Anführer weiß, dass der, der über Macht verfügt, nicht automatisch auch recht hat.

Dazu hatten die Jungen und Mädchen in Ryans Klasse eine Menge zu sagen gehabt und sie hatten viele lebhafte Diskussionen geführt. Das war das Tolle an der Internationalen Schule in New York. Die meisten Schüler waren Kinder von Leuten, die im nahe gelegenen Hauptsitz der Vereinten Nationen arbeiteten. Sie kamen aus aller Welt, und viele von ihnen hatten zumindest einen Teil ihres Lebens in Ländern verbracht, in denen unsichere Zustände herrschten.

Als er den Gang betrat, blieb er überrascht stehen. Vor dem Klassenzimmer stand seine Mutter und unterhielt sich mit Direktor Milankovic. Was hatte sie denn hier zu suchen? Hatte er Ärger? Als er näher kam, bemerkte er, dass sie sich stritten. Milankovic war ein Bär von einem Mann und überragte Jaqueline bei Weitem. Doch über was auch immer sie diskutierten, sie wich keinen Zentimeter zurück, sondern schüttelte nur hartnäckig den Kopf.

Ryan fragte sich, ob ihr Streit etwas mit der seltsamen Bemerkung zu tun hatte, die Direktor Milankovic letzten Monat ihm gegenüber geäußert hatte.

»Du verdienst die Wahrheit«, hatte der Direktor gesagt. »Die Wahrheit darüber, wer du eigentlich bist.«

Was sollte das denn heißen? Und wieso konnte der Direktor etwas über ihn wissen, obwohl er erst seit ein paar Monaten an seine Schule ging?

Als er ihn ein paar Tage später an der Schule wiedergesehen hatte, hatte Ryan ihn danach gefragt, doch der Direktor war ihm nur verlegen ausgewichen und hatte etwas davon gesagt, dass er ihn mit einem anderen Schüler verwechselt hätte. Das war ganz offensichtlich gelogen, besonders, weil er Ryan seitdem sichtlich aus dem Weg gegangen war.

Als Ryan näher kam und Milankovic ihn bemerkte, unterbrach er sich. Er war ganz offensichtlich wütend. Jaqueline drehte sich um, und Ryan fiel auf, dass sie seine Reisetasche über ihrer Schulter trug.

»Was gibt es denn?«

»Tut mir leid, dass ich einfach so auftauche. Ich weiß, dass du gleich einen Test schreibst.«

»Der in einer knappen Minute beginnt«, bemerkte Direktor Milankovic mit einem Blick auf seine Taschenuhr. »Beeilt euch bitte!«

Damit nickte er Jaqueline knapp zu und ging davon.

»Habt ihr euch gestritten?«, erkundigte sich Ryan.

»Hör zu, ich weiß, dass das ein wenig kurzfristig ist«, überging seine Mutter die Frage, »aber dein Dad und ich müssen heute Abend noch nach Chicago.«

»Es ist noch etwas passiert, stimmt’s?«, flüsterte Ryan. Die letzten seiner Klassenkameraden gingen an ihm vorbei und die Glocke läutete zur sechsten Stunde. »Ist noch jemand verschwunden?«

Seine Mutter blickte ihn misstrauisch an.

»Was weißt du denn davon?«

»Ich wüsste einiges mehr, wenn ihr mir vertrauen würdet.«

»Nein, Ryan, du musst uns vertrauen. Vielleicht kannst du unsere Gründe nicht verstehen, aber wir tun, was wir für das Beste halten.« Sie sah ihn besorgt an und reichte ihm seine Tasche. »Wir werden uns weiter darüber unterhalten, wenn wir zu Hause sind, aber das hier müssen wir allein regeln, verstanden?«

Ryan schwang sich die Tasche über die Schulter und fragte: »Wie lange werdet ihr denn weg sein?«

»Hoffentlich nur heute Nacht. Ich habe Dannys Mutter angerufen und ihr gesagt, dass Dad dieses Wochenende in letzter Sekunde zu einer Konferenz reisen muss. Du kannst bei ihnen bleiben. Ich habe dir alles eingepackt, was du brauchst. Jetzt geh lieber, dein Test fängt gleich an.«

»Nimm mich mit!«

»Nicht dieses Mal.« Seine Mutter küsste ihn auf die Wange. »Ich schicke dir eine SMS, wenn wir da sind. Und ehe du dich’s versiehst, sind wir wieder da. Ich hab dich lieb.«

Als sie ein paar Schritte weit gegangen war, rief Ryan ihr nach: »He, Mum!« Sie drehte sich um. »Ich hab dich auch lieb!«

Das brachte sie zum Lächeln. Sie warf ihm noch eine Kusshand zu. »Viel Glück für deinen Test! Jetzt rein mit dir, bevor du noch Ärger bekommst!«

Dann war sie fort. Ryan betrat zögernd das Klassenzimmer, doch König Arthur war im Moment seine geringste Sorge.

5

New York, USA

»Das ist eine ganz blöde Idee.«

Kasey sah sich um, als hätten sie etwas Verbotenes vor, als Ryan die Tür zu seinem Haus aufschloss. Es war später Nachmittag, aber es dämmerte schon, denn jetzt im Winter ging die Sonne früh unter.

»Das ist sein Haus«, verwies sie Danny. »Er hat einen Schlüssel.«

»Ihr wollt also nicht ins Arbeitszimmer hinunter und in den ganzen ERC-Akten schnüffeln?«, erkundigte sich Kasey und sah von einem zum anderen, doch keiner der beiden Jungen erwiderte ihren Blick. »Dachte ich’s mir doch.«

»Wenn wir nur die Namen derjenigen herausfinden können, die verschwunden sind, dann bekomme ich vielleicht online etwas heraus, womit wir sie finden können,« meinte Danny.

Doch Kasey war noch nicht ganz überzeugt. »Ich will genauso gern dazugehören wie ihr, Jungs. Aber das scheint mir einfach nicht richtig.«

Damit hatte sie durchaus nicht unrecht. Ryan überlegte, ob er nicht lieber wieder gehen und warten sollte, bis seine Eltern aus Chicago zurück waren. Aber er hatte gesehen, wie besorgt sie gewesen waren. Wenn sie auch nur eine Chance hatten, ihnen zu helfen, sollten sie es dann nicht zumindest versuchen?

Er wandte sich an Danny. »Bist du sicher, dass du online suchen kannst, ohne dass jemand davon erfährt?«

»Klar doch«, erwiderte Danny. »Ich setze eine virtuelle Suchmaschine auf und benutze einen eigenen verschlüsselten Kanal. Außerdem werde ich nur über die Hintertür auf die Datenbanken zugreifen, und zwar mit einem Botnet und ein paar Webfiltern.«

Ryan sah Kasey an, die auch nur die Achseln zuckte, und meinte dann: »Ich habe zwar keine Ahnung, was du da gerade von dir gegeben hast, aber es klingt gut. Also los!«

Er führte sie nach unten. Ohne das Feuer im Kamin kam ihm das Arbeitszimmer kalt und abweisend vor. Ryan schaltete das Licht ein und ging zur hinteren Wand, die aus festem Ziegelmauerwerk zu bestehen schien. Doch eigentlich war sie eine große Tür, hinter der sich der geheime Raum befand, in dem die Geräte und Akten des ERC verborgen waren. Ryan nahm die falschen Ziegel heraus, die den Türgriff kaschierten.

»Kannst du es knacken?«, fragte Danny hinter ihm.

Das Schloss, das Ryans Vater angebracht hatte, war nagelneu und sollte vor Einbruchswerkzeugen sicher sein. Doch Ryan bereitete das keine Kopfschmerzen.

»Gib mir drei Minuten«, verlangte er.

An seinem Schlüsselbund befanden sich die Haustürschlüssel und ein merkwürdig geformtes Metallobjekt, das sein Vater ihm zu seinem zwölften Geburtstag geschenkt hatte. Es war ein Multi-Tool, das man sowohl als Schraubenzieher als auch als Flaschenöffner, Drahtschere oder Pinzette benutzen konnte. Außerdem enthielt es einen Spanner und einen Dietrich mit einem Haken am Ende. Kein gewöhnliches Geburtstagsgeschenk für einen Zwölfjährigen, aber für Ryan war es perfekt gewesen. Vorsichtig setzte er die Werkzeuge an und machte sich an die Arbeit.

»Vielleicht solltest du ein bisschen mehr daran wackeln?«, schlug Danny vor.

»Lass das«, sagte Ryan knapp, ohne sich umzudrehen.

Zögernd trat Danny zurück und machte ihm Platz. Der Trick dabei, ein Schloss zu knacken, war, sich vorzustellen, was in dessen Inneren vor sich ging, und sich genau vorzustellen, wie die einzelnen Zacken in Position sprangen. Ryan schloss die Augen und konzentrierte sich nur auf das, was seine Fingerspitzen spürten. Einer nach dem anderen bewegten sich die Zacken.

»Du warst ja ein niedliches Kind«, stellte Kasey fest.

Ryan machte die Augen auf und sah sich um. Sie stand am Bücherregal und hielt ein Fotoalbum in der Hand.

»Ein bisschen moppelig«, fand Danny, der ihr über die Schulter sah.

»Nur am Bauch.« Kasey lächelte Ryan an. »Du hattest ein Winnie-Puh-Bäuchlein. Wie süß!«

»Ent-zü-ckend!«, neckte Danny.

Klick! Ryan spürte, wie die letzte Zacke zurücksprang.

»Ich bin drin!«, verkündete er, dankbar für die Ablenkung. Hinter der Tür eröffnete sich ihnen ein kleiner Raum. Danny folgte ihm und wies auf die Akten, die auf dem Tisch lagen. »Vielleicht sind die von den Leuten, die verschwunden sind.«

Kasey kam mit dem Fotoalbum zu ihnen und blätterte darin.

»Wo sind denn die Babyfotos?«

»Hast du dir die nicht gerade angesehen?«

»Ich meine die Fotos von dir als Neugeborenem. Auf diesen hier bist du schon etwa ein Jahr alt.«

»Soweit ich weiß, sind das alle.« Ryan hatte sich das Album schon lange nicht mehr angesehen. Da er mit seiner Familie so oft umgezogen war, hatte es meist in einer Kiste gesteckt. Erst jetzt, wo sie hier auf Dauer leben sollten, hatte seine Mutter es wieder hervorgeholt. Er sah das Foto an und wurde verlegen – Kasey hatte recht, er hatte tatsächlich ein dickes Bäuchlein gehabt!

Er klappte das Album zu und legte es beiseite.

»Schluss mit den Babybildern!«

»He!«, unterbrach ihn Danny. »Deine Eltern sind doch in Chicago, oder?«

»Ja.«

»Auf keiner dieser Unterlagen steht ein Name – das ist alles verschlüsselt. Aber sieh mal hier!«

Danny reichte Ryan einen ausgeschnittenen Artikel aus einer Zeitung. Die Überschrift lautete: »Schullehrer verschwunden. Die Polizei bittet die Bevölkerung um Hilfe.«

»Das ist aus Chicago. Wahrscheinlich sind sie deswegen dorthin.«

Ryan nickte. Im gleichen Augenblick ließ ein dumpfer Knall von oben sie zusammenzucken.

Danny sah zur Decke hinauf. »Ihr habt doch keine neue Katze, von der ich noch nichts weiß, oder?«

Ryan schüttelte den Kopf. Das war keine Katze.

Es war jemand im Haus.

6

New York, USA

Ryan schnappte sich ein Stück Holz vom Stapel neben dem Kamin. Das war zwar keine großartige Waffe, aber es musste ausreichen.

»Ihr bleibt hier!«, wies er Kasey und Danny an.

»Nix da«, widersprach Kasey.

»Genau.« Danny nahm ein weiteres Stück Holz und reichte es Kasey, und dann noch eines für sich selbst. »Drei sind besser als einer.«

Ryan sah, dass Widerspruch nichts ausrichten würde. »Na gut. Aber sobald wir eine Pistole sehen, hauen wir ab!«

»Guter Plan!«, flüsterte Danny.

Gemeinsam schlichen sie die Treppe hoch. Die Sonne war untergegangen und das Haus lag bereits im Dunkeln. Oben an der Treppe blieb Ryan stehen und lauschte. Er hörte, wie im hinteren Teil des Hauses jemand herumschlich. Er musste vom Garten her in die Küche eingedrungen sein.