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Jennifer Rush

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Beschreibung

Die Sektion ist zerschlagen, doch für Anna, Sam, Cas und Nick ist die Gefahr noch nicht vorbei. Noch immer werden sie von Mitgliedern der mächtigen Organisation verfolgt und bedroht. Auch die Flashbacks aus ihrem früheren Leben flammen immer öfter und stärker auf, besonders bei Nick. Mithilfe von Erinnerungsbruchstücken und Hinweisen aus seiner Akte bei der Sektion macht sich Nick allein auf die Suche nach Antworten – und nach dem Mädchen, das er in seinen Träumen sieht. Doch die verschlafene Stadt, in der er es schließlich findet, steckt voller gut gehüteter Geheimnisse. Schon bald stellt sich heraus, dass der Versuch, ihre gemeinsame Vergangenheit zu entschlüsseln, lebensgefährlich ist … Das lang erwartete Finale der »Altered«-Buchserie aus Nicks Perspektive.

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Seitenzahl: 327

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JENNIFER RUSH

 

 

REBORN

 

 

THRILLER

 

 

 

 

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulrike Brauns

 

 

 

 

 

 

 

Über das Buch

Die Sektion ist zerschlagen, doch für Anna, Sam, Cas und Nick ist die Gefahr noch nicht vorbei. Noch immer werden sie von Mitgliedern der mächtigen Organisation verfolgt und bedroht. Auch die Flashbacks aus ihrem früheren Leben flammen immer öfter und stärker auf, besonders bei Nick.

Mithilfe von Erinnerungsbruchstücken und Hinweisen aus seiner Akte bei der Sektion macht sich Nick allein auf die Suche nach Antworten – und nach dem Mädchen, das er in seinen Träumen sieht. Doch die verschlafene Stadt, in der er es schließlich findet, steckt voller gut gehüteter Geheimnisse. Schon bald stellt sich heraus, dass der Versuch, ihre gemeinsame Vergangenheit zu entschlüsseln, lebensgefährlich ist …

Über die Autorin

Jennifer Rush ist eine begeisterte Kinder- und Jugendbuchautorin. Geschichten hat sie bereits erzählt, noch bevor sie einen Stift halten konnte. Sie lebt mit ihrer Familie und zwei Wildkatzen in einem alten Farmhaus im Norden des US-Bundesstaats Michigan. Mit »Reborn« erscheint nun der lang ersehnte Abschluss ihrer »Altered«-Buchserie auf Deutsch.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Reborn« bei Little, Brown and Company, New York.

 

 

Deutsche Erstausgabe Oktober 2022

 

 

Copyright © 2015 by Jennifer Rush

Published by Arrangement with Jennifer Von Drak

c/o NEW LEAF LITERARY & MEDIA, INC.,

110 West 40th Street, Suite 2201, NEW YORK, NY 10018 USA

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

 

© Verlagsrechte für die deutschsprachige Ausgabe 2022:

Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth,

Hammergasse 7–9, 98587 Steinbach-Hallenberg

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

 

Umschlaggestaltung: Frauke Spanuth, Croco Designs

unter Verwendung von Motiven von Alexander Potapov (stock.adobe.com) und OGphoto, enjoynz (istockphoto.com)

 

Lektorat: Anja Lerz

Korrektorat: Isabel Wieja

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

ISBN 978-3-948457-10-5

 

www.second-chances-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Widmung

1

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DANKSAGUNG

 

Für Lacy »Loose Cannon«,

die mir half, den Mut nicht zu verlieren.

1

NICK

 

Ich hab mich nie so für das Kämpfen begeistert wie die anderen. Ich konnte es. Vielleicht sogar ganz gut. Aber gemocht habe ich es nicht. Oder vielleicht auch einfach zu sehr.

Sam hat nur gekämpft, wenn es einen Grund gab. Flucht. Überleben. Beschützen. Für Cas war das Kämpfen wie tanzen – eine Möglichkeit, damit anzugeben, wie flüssig er sich bewegen konnte. Weil er einfach ein Idiot ist.

Wenn ich kämpfte, fiel es mir schwer, mich zu bremsen.

Ich leerte das Whiskey-Glas, irgendeinen billigen Fusel, und spürte, wie sich meine Bauchmuskeln verhärteten. Hol dir die Kraft aus der Körpermitte, sagte Sam immer. Gut möglich, dass er das früher schon gesagt hatte, bevor die Sektion uns die Erinnerungen nahm – die zwielichtige Organisation, die uns erst zu Supersoldaten gemacht und dann versucht hatte, uns abzumurksen, als wir nicht länger gehorchen wollten wie abgerichtete Hunde.

Mir fällt es schwer, zwischen alten und neuen Erinnerungen zu unterscheiden.

»Hast du mich gehört?«, fragte der Mann neben mir.

»Habe ich.« Die trübe Stimmung der Bar legte sich über mich. Dunkle, verrauchte Bars mochte ich schon immer, sie hatten etwas Vertrautes.

»Und? Hast du nichts zu sagen?«, fragte der Mann.

Er war ein paar Zentimeter größer als ich. Und bulliger, allerdings weniger durch Muskelmasse, eher durch Fett, also war er auch langsamer. Und Schnelligkeit gab immer den Ausschlag, wenn man mich fragte. Mich fragte bloß nie jemand.

Ich drehte mich zu ihm und schwankte dabei leicht, um den Eindruck zu erwecken, betrunken zu sein. Was ich nicht war. Zumindest nicht richtig. Mit schweren Lidern schaute ich erst ihn an, dann über seine Schulter hinweg seine Freundin oder Frau, oder vielleicht war das auch seine Mutter. »Deine Mom ist hübsch. Tut mir leid, dass ich sie angemacht hab.«

Die Frau runzelte die Stirn, der Blick des Mannes verfinsterte sich. »Davon rede ich nicht. Mein Kumpel sagt, du hast mir vorm Klo das Portemonnaie geklaut. Stimmt das?«

Ja. »Nein.«

»Er sagt das aber.«

Wenn ich mir Mühe gegeben hätte, gäbe es keinen Zeugen. Gut möglich, dass ich absichtlich schlampig gewesen war.

Vielleicht mochte ich das Kämpfen ja doch. So, jetzt ist es raus.

Annas Stimme meldete sich in meinem Kopf. Erst heute Morgen hatte sie gesagt: Sei ehrlich zu dir. Und wenn du das nicht kannst, dann sei wenigstens ehrlich zu mir.

»Her damit.« Der Mann machte einen Schritt auf mich zu. Meine Hände wollten sich zu Fäusten ballen.

Explodier doch nicht immer gleich, hatte Anna gesagt. Du wärst sofort glücklicher.

Annas Problem war, dass sie etwas in mir sah, das da nicht war. Ich war ein hoffnungsloser Fall.

»Rück es raus und wir vergessen, dass das Ganze passiert ist«, fuhr der Mann fort.

Seine Freundin legte ihm die Hand auf die Schulter, rüttelte ihn sachte. »Raymond, das ist doch noch ein Kind. Ist mir schleierhaft, wie der überhaupt hier reingekommen ist.« Sie warf dem Barkeeper einen Blick zu, als wäre er schuld.

Tatsächlich war ich über zwanzig, höchstwahrscheinlich durfte ich also hier drin sein. Ich sah einfach nur jünger aus. Winzige Nebenwirkung davon, dass jemand an meiner DNA rumgepfuscht hat. Und weil keiner von uns – weder Sam, Anna, Cas noch ich – echte Papiere hatte, hatte uns ein Typ, den Sam von früher kannte, Ausweise gefälscht.

Zwei Freunde des Mannes kamen nun ebenfalls näher. Der Barkeeper ließ das Geschirrtuch sinken. »Bitte, Leute, nicht hier drin. Regelt das draußen.«

Raymond stützte sich mit einer Hand auf die Theke und lehnte sich zu mir. Er roch nach Zigarren und Wodka. Seine Augen waren rot. Als ich reinkam, war er schon hier, war also bereits länger mit Trinken beschäftigt als ich.

»Gib mir mein Portemonnaie, bevor du es bereust.«

Oh, das bezweifelte ich. Ich kannte keine Reue.

»Herrgott noch mal, Raymond«, sagte seine Freundin.

Der Kumpel zu seiner Linken schob seine Daunenweste ein Stück auf, wodurch eine Pistole an seinem Gürtel zum Vorschein kam. Als würde mir das Angst machen. »Gib es her«, sagte er. »Wir haben alle gesehen, dass du es genommen hast.«

Ich blinzelte träge. »Egal, was ihr sucht, ich hab’s nicht.«

Raymond holte tief Luft, pumpte sich auf. Die Adern an seinem Hals traten hervor wie kleine Schlangen. Er war bereit zuzuschlagen. Nur allzu deutlich konnte man an ihm ablesen, was in ihm vorging. So gewinnt man keinen Kampf.

Dazu muss man das Gesicht ausdruckslos halten. Den Körper geschmeidig. Die Füße leicht aufsetzen. Wenn man alles richtig macht, weiß der Gegner hinterher nicht, was ihn getroffen hat.

Raymonds Gesicht lief blutrot an, bevor er nach meinem Handgelenk griff. Er riss meinen Arm zu sich, als wollte er ihn mir auf den Rücken drehen.

Aber ich war schon von meinem Stuhl gerutscht, längst bereit.

Ich trat mit dem rechten Fuß nach ihm, traf ihn am Knie. Er heulte auf, ließ meinen Arm los, und ich nutzte die Gelegenheit, um ihm schnell mit der Rückhand eins gegen die Schläfe zu verpassen. Da mischte sich der Kumpel mit der Waffe ein.

Ich griff nach meinem leeren Schnapsglas und warf es ihm ins Gesicht. Es knallte ihm laut gegen die Stirn, die Haut platzte auf, sofort lief ihm Blut über die Nase.

Der zweite Freund überrumpelte mich mit einem Schlag in die Seite, dicht gefolgt von einem ins Gesicht. Aber weder im einen noch dem anderen lag viel Kraft, der Schmerz ließ sich leicht ignorieren. Ich rammte ihm die Faust gegen den Kiefer. Er taumelte rückwärts, stieß gegen den Tisch hinter sich und verschüttete alle darauf stehenden Getränke.

Jemand brüllte, man müsse die Polizei rufen.

Raymond war wieder auf den Beinen, stürzte sich auf mich und rammte mich mit seinem gesamten Körpergewicht gegen die Wand, was mir die Luft aus der Lunge presste.

Dann donnerten seine fleischigen Fäuste auf mich ein. Meine Nase brach, warmes Blut lief mir die Kehle hinunter und ich schmeckte Eisen.

Ich rutschte an der Wand hinunter, knallte auf den Boden. Raymond hob schon den Fuß mit dem schweren Arbeitsstiefel, als ich einen Stuhl zu packen bekam und wie einen Schild über mich riss.

Der Stuhl zerbrach, ich hielt nur noch ein Bein in der Hand.

Schnell kam ich auf ein Knie und rammte Raymond das Holzstück erst gegen das Schienbein, dann gegen das Knie. Sofort rappelte ich mich auf und hämmerte ihm ein-, zweimal auf den Kopf.

Raymond schlug dumpf auf dem Boden auf.

Ich wandte mich dem bewaffneten Kumpel zu, der gerade nach seiner Pistole griff. »Lass das.«

In der Bar herrschte Stille, abgesehen von Raymonds Stöhnen und dem Klacken der alten Jukebox, die gerade die Platte wechselte.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und endlich fühlte ich mich lebendig.

Ich holte Raymonds Portemonnaie aus der Innentasche meiner Jacke und warf es ihm hin. Es landete klatschend auf seiner Brust. Seine Freundin starrte mich einfach nur an.

Alle starrten mich an. Ein berauschendes Machtgefühl schoss mir durch die Adern.

Sirenen näherten sich, also eilte ich zur Hintertür hinaus, das Stuhlbein noch in der Hand.

 

***

»Du kommst jetzt zum dritten Mal in diesem Monat so nach Hause.«

Ich ignorierte Anna und nahm die Stufen nach oben. Sie folgte mir.

»Nick. Sprich mit mir, verdammt noch mal.«

Ich ging ins Bad und versuchte, die Tür hinter mir zu schließen, doch Anna hielt sie mit dem Fuß auf und schob sich auch herein. Ich stöhnte.

Das Bad im ersten Stock war kaum größer als das im Erdgeschoss und für zwei Personen definitiv zu klein.

Ich wich mit dem Oberkörper übers Waschbecken aus, stützte mich mit den Händen darauf. »Ich bin gegen einen Türknauf gelaufen«, sagte ich, woraufhin sie mir in die Seite stieß. Frischer Schmerz folgte auf dem Fuße, und ich krümmte mich. »Ach Scheiße, Anna.«

»Hat der Türknauf etwa auch eine von deinen Rippen erwischt?«

Ich drehte ihr den Rücken zu. Plötzlich hatte ich das Gefühl, kotzen zu müssen.

»Was ist passiert?« Sie schloss die Tür. So war wenigstens genug Platz, dass sie sich neben das Waschbecken stellen konnte. »War es jemand von der Sektion?«

Die Panik in ihrer Stimme entlockte mir die Wahrheit. »Nein.«

Sie atmete auf. »Gott sei Dank. Ich dachte schon …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende und seufzte dann.

Von uns reagierte Anna besonders nervös auf alles, was mit der Sektion zu tun hatte. Ihr Onkel, Will O’Brien, hatte sie gegründet, eine Organisation, um Bio-Waffen zu erforschen und produzieren, und er hatte seine eigene Familie zur Teilnahme rekrutiert, indem er ihnen dafür bot, was sie am meisten brauchten. Im Fall von Annas älterer Schwester Dani war es Hilfe für ihren tablettenabhängigen Vater.

Und später, als Anna fast an einer Schusswunde starb, die besagter Versagervater ihr verpasst hatte, ließ Dani sich auf einen Deal mit Will ein, um Annas Leben zu retten. Dafür hatte sie uns dann alle verraten. Sam, Cas und mich. Ich wusste noch immer nicht, was ich davon halten sollte. Danis Verrat war der Grund dafür, dass ich fünf Jahre lang in einer Zelle im Keller gehalten und wie ein exotisches Tier behandelt worden war. Und so war Anna überhaupt erst in die Arbeit der Sektion verwickelt worden. Aber weil sie deshalb noch lebte, wog das die lange Zeit als Gefangener wieder auf, egal, wie scheiße das gewesen war.

Fünf Jahre später, als Annas Erinnerungen zurückkehrten und ihr die Wahrheit bewusst wurde, erschoss sie Will und erledigte damit den Kopf der Sektion. Sein Vize – Riley – war aber immer noch auf der Flucht. Und solange Riley noch lebte, war niemand von uns wirklich frei. Wir hatten den einen oder anderen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort bekommen, doch schlussendlich hatten sie sich alle als Sackgassen entpuppt. Wo immer Riley steckte, er hielt sich bedeckt, und das beunruhigte uns. Mittlerweile war viel Zeit vergangen, in der er alte Kontakte hätte reaktiveren und die Sektion wieder aufziehen können, vorausgesetzt, er hatte die nötige finanzielle Unterstützung.

Anna stupste mich an. »Setz dich, damit ich mir das mal genauer ansehen kann.« Ihre Panik war nun spurlos verschwunden, auf ihrem Gesicht nur noch Verärgerung, in ihren Bewegungen das Bedürfnis, sich um etwas Kaputtes zu kümmern. Leider war ich dieses Etwas.

»Du musst mir nicht …«

»Ich weiß, dass ich das nicht muss.« Verkniffenes Gesicht. »Hinsetzen.«

Ich schloss den Klodeckel und setzte mich. Der Schmerz der Prügelei meldete sich langsam in meinen Gelenken. Ich brauchte Schmerzmittel. Etwas Stärkeres als die Tabletten, die man rezeptfrei bekam.

»Wo ist Sam?«, fragte ich.

»In der Stadt, Benzin holen.«

»Cas?«

Sie beugte sich vor, um das Erste-Hilfe-Set unter dem Waschbecken herauszufischen. »Der ist vor ’ner halben Stunde ’ne Runde laufen gegangen.« Sie öffnete den Reißverschluss und holte Mullbinden aus der Packung. Ich griff nach ihrer Hand, und sie starrte mich an.

»Warte«, sagte ich. »Du musst doch nichts davon verschwenden. Ein Lappen tut’s auch.«

Sie runzelte die Stirn, aber fing keine Diskussion an, sondern holte einen Waschlappen aus dem kleinen Schrank. Sie machte ihn nass und hockte sich vor mich, so dass unsere Gesichter auf einer Höhe waren.

Ihre blonden Haare waren zu einem Zopf geflochten, der ihr über die Schulter hing. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab. Sie schlief schon eine Weile schlecht. Flashbacks und Dämonen der Vergangenheit jagten sie aus dem Bett. Ich konnte das bestens nachfühlen, keiner von uns schlief gerade gut. Außer Cas. Der würde sicher sogar einen Luftangriff verpennen.

Anna wischte sorgfältig das Blut von meinem Gesicht und reinigte die Platzwunde an meiner Schläfe mit dem Selbstvertrauen einer medizinischen Fachkraft, obwohl sie das nie gelernt hatte.

»Wieso machst du das immer wieder?«, fragte sie leise.

Ich schaute finster. »Wieso fragst du das immer wieder?«

Ein weiteres Stirnrunzeln. Ihr Standardgesichtsausdruck für mich. »Was ist los, Nick? Mehr Flashbacks?«

Ja.

Mein Blick wanderte über ihre Schulter zum Handtuch am Handtuchhalter. Das war mal braun gewesen. Jetzt hatte es die Farbe von ausgeblichenem Matsch.

Ich sah ein Mädchen. Es tauchte immer wieder auf. Immer dasselbe. Und jedes Mal zitterte es. Nein, es schlotterte.

Immer war da Blut auf ihrem Gesicht, Tränen liefen darüber. Blut quoll aus einer Schusswunde an ihrer Brust, und sie hielt sich die linke Seite, als hätte sie dort Schmerzen.

Ich wusste nicht, wer sie war. Ich wusste nicht, woher ihre Verletzung kam, ob ich sie ihr beigebracht hatte. Manchmal zweifelte ich an der Zuverlässigkeit meines Hirns. Vielleicht war das Mädchen auch ein Relikt aus der Zeit vor der Sektion. Eine Figur aus einem Film. Oder einem Buch.

Wenn es sie wirklich gab, konnte ich nicht mit der Vorstellung weiterleben, dass ich ihr etwas angetan hatte. Allerdings hätte ich das auch nur getan, wenn sie versucht hätte, mich umzubringen. Wenn sie irgendwie mit der Sektion in Verbindung stand, war sie nicht unschuldig. Niemand, der mit dieser Organisation in Verbindung stand, war unschuldig. Das galt auch für mich.

»Du hast doch meine Akte gelesen«, setzte ich an. »Stand da was über eine Mission mit einem Mädchen? Sie müsste so in deinem Alter gewesen sein. Vielleicht auch etwas jünger.«

Anna dachte kurz nach. »Ich glaube nicht, aber ich könnte noch mal nachsehen.« Sie legte mir einen Finger ans Kinn, wollte, dass ich sie anschaute, aber ich wich schnell aus.

Anna gehörte zu den Menschen, die andere ohne Scheu berührten. Für sie war das ein Zeichen von Fürsorge. Für mich waren Berührungen gleichbedeutend mit Schmerz. So ist das halt, wenn dein Vater seine Freizeit damit verbringt, dir die Scheiße aus dem Leib zu prügeln. Mein Leben war schon beschissen gewesen, bevor ich zur Sektion kam.

»Ist das der Grund?«, fragte Anna. »Ein Mädchen?« Da schwang Sorge in ihrer Stimme mit. Als hätte sie Angst davor, dass ich mich in irgendeinem Liebeskram verstricken würde, um in direkter Folge abgeknallt zu werden. Schwachsinn.

Ich antwortete ihr nicht, sondern machte, was ich am besten konnte: sie finster anfunkeln. »Kannst du einfach noch mal die Akte durchgehen?«

Sie runzelte die Stirn, nickte dann aber.

»Danke.« Ich zwängte mich an ihr vorbei zur Tür hinaus. Diesmal folgte sie mir nicht.

2

ELIZABETH

Ich ließ den Blick über das Regal oberhalb meines Schreibtischs wandern, fuhr mit dem Finger über die kobaltfarbenen Glasfläschchen mit den sich stellenweise lösenden Aufklebern, auf denen Dinge standen wie DER TAG MIT DEM STROMAUSFALL, FRÜHLING und RUMMEL.

Meine Erinnerungen waren sorgfältig in Duftöle umgesetzt, angemischt, in kobaltfarbene Fläschchen gefüllt, beschriftet und in diesem Regalfach angeordnet worden.

Mein Finger verharrte vor dem Fläschchen – dem Aufkleber –, das ich gesucht hatte.

GABRIEL.

Ich hatte letzte Nacht von ihm geträumt.

Gleich beim Aufwachen wurde mir wieder bewusst, wie lange er schon nicht mehr Teil meines Lebens war, genauso schnell und plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Es ist schwer, jemanden zu vergessen, der dir das Leben gerettet hat, ganz egal, wie wenig du selbst daran hängst.

Gabriels Fläschchen war das älteste. Das erste. Direkt verbunden mit dem entscheidenden Moment meines Lebens – der Nacht, in der ich gerettet wurde, der Nacht, in der ich den Leuten entkam, die meine Mutter und mich gekidnappt und sechs Monate gefangen gehalten hatten.

Ich nahm das Fläschchen aus dem Regal. Obwohl der Korken noch fest in dessen Hals saß, wusste ich sofort wieder, wie Gabriel roch. Moschus. Kiefer. Eine Spur von Zimt. Bergamotte. Und schließlich Zedernholz.

Die Narbe, die über meine linke Seite bis zum Hüftknochen führte, fing an zu brennen, ein Phantomschmerz, wo ein Messer meinen Körper aufgeschlitzt hatte, direkt durch Muskel und Fleisch gedrungen war, Knochen angeritzt hatte.

Die zweite Narbe, die alte Schusswunde an meiner Brust, pulsierte.

Er fehlte mir. Er fehlte mir auf eine so sonderbare Art, denn ich kannte ihn eigentlich gar nicht. Ich hatte nicht mal viel Zeit mit ihm verbracht. Aber immer, wenn ich an ihn dachte, war da ein niederschmetternder Schmerz in meinem Kopf, als hätte Gabriels Abwesenheit ein Loch in mich gerissen, das von nichts wieder ausgefüllt werden konnte. Er hatte mein Leben gerettet und doch einen Teil davon mitgenommen.

Ohne das Fläschchen zu öffnen, stellte ich es zurück ins Regal und schob es hinter eins mit der Aufschrift WILDBLUMEN.

Ich konnte Gabriel heute einfach nicht heraufbeschwören. Morgen vielleicht auch nicht. Sein Fläschchen, vielmehr dessen Inhalt, stand für alles, was ich liebte und hasste, vor dem ich mich fürchtete und was ich verzweifelt zu vergessen versuchte.

Aber es war das Einzige, was ich nicht mal vergessen könnte, wenn ich es wollte.

 

***

Als ich die Treppe hinunterging, hörte ich aus der Küche das Klappern von Töpfen und Pfannen. Ich fand meine Pflegemutter, Aggie, halb in einem der unteren Küchenschränke steckend vor. Die Haare hatte sie mit einem Tuch zusammengebunden. Auf der Arbeitsplatte warteten verschiedene Zutaten.

»Was suchst du?«, fragte ich.

Sie zuckte zusammen und stieß sich den Kopf am Schrank. Sie kam ganz zum Vorschein, rieb sich die schmerzende Stelle. »Du hast mich erschreckt.«

»Tut mir leid.« Ich steuerte geradewegs die Kaffeekanne an. Aggie hatte meine Lieblingstasse schon bereitgestellt, und ich füllte sie bis zum Rand.

»Ich suche meine Gugelhupfform.«

Ich deutete zum Schrank ganz links. »Sieh mal da nach.«

Sie legte die Stirn in Falten, warf trotzdem einen Blick hinein und holte die gesuchte Form heraus. »Na, da schau an.«

Von allen Pflegeeltern, die ich bisher hatte, war Aggie mit Abstand die beste. Bevor ich hier einzog, war ich schon in fünf anderen Familien untergebracht gewesen.

Aggie war schon über sechzig, als sie mich aufnahm, eine alleinstehende Frau, die ihre einzige Tochter vor Jahren an Brustkrebs verloren hatte. Sie verstand Verlust wie keine andere meiner Pflegestellen.

Unsere Trauer war nicht gleich, trotzdem war es Trauer. Aggie war von Anfang an geduldig mit mir. Freundlich. Ruhig. Ich könnte nicht sagen, wo ich ohne sie wäre.

Nach meiner Rettung fühlte ich mich wie eine Boje, die haltlos im Meer trieb. Meine Mutter war immer mein Anker gewesen – stark, entschlossen, klug. In mancherlei Hinsicht war das Leben ohne sie schlimmer als ein Leben in Gefangenschaft.

Viele meiner anfänglichen Panikattacken hingen mit der Abwesenheit meiner Mutter zusammen. Sobald mich etwas an sie erinnerte – eine Duftkerze, ihre Lieblingsschokolade, ein alter Pulli –, brach der alte Schmerz über mich herein.

Immer wieder hatte ich ihr Gesicht vor Augen, die Angst in ihrem Blick, wenn meine Kidnapper uns bedrohten, um mich zur Kooperation zu zwingen. Sie sprachen es zwar nie direkt aus, aber es war auch so überdeutlich, dass sie, sollte ich nicht alles machen, was sie wollten, meine Mutter ohne jeden Skrupel töten würden.

»Arbeitest du heute?«, fragte Aggie und reichte mir eine Banane. »Wenn du die aufgegessen hast, habe ich auch die Eier für dich fertig.«

Aggie würde nie aufhören, mich mästen zu wollen, fand mich immer zu dünn. Im direkten Vergleich mit ihr war ich das auch – sie war eine rundliche Frau mit breiten Schultern und beträchtlicher Oberweite –, nahm man aber Chloe oder eine ihrer Freundinnen als Maßstab, fiel ich doch eher in die Kategorie durchschnittlich gebaut.

»Ich habe frei«, antwortete ich und schälte die Banane. »Hast du viel zu tun? Wir könnten sonst einen Film gucken.«

»Ich muss heute Nachmittag zum Seniorentreffpunkt, sonst würde ich nur zu gern den Tag mit dir verbringen. Kommst du allein klar?«

»Sicher«, log ich. Um ehrlich zu sein, war ich nicht gern allein zu Hause. Üblicherweise versank ich dann nämlich in Gedanken, und dort lauerten sämtliche Schrecken meiner Vergangenheit.

Aggie musterte mich lange, bevor sie an den Herd zurückkehrte. »Ach, was sag ich, die finden sicher eine andere Freiwillige. Ich ruf da gleich an und gebe ihnen durch, dass ich es doch nicht schaffe.«

»Das musst du nicht.«

»Quatsch, ich bleib gern hier.« Sie wedelte mit dem Pfannenwender in der Luft. »Heute werden dort Blumentöpfe bemalt, und mal ganz ehrlich: Brauche ich wirklich noch mehr?«

Auf der hinteren Terrasse wimmelte es nur so von Blumentöpfen. Große am Boden, kleine entlang des Geländers. Viele weitere standen im gesamten Haus verteilt, aber nicht in allen stecken Pflanzen. Mindestens ein halbes Dutzend war voller Krimskrams. Sie hatte recht, mehr brauchte sie nicht, aber darum ging es gar nicht. Mir war es einfach zuwider, sie zu bitten, meinetwegen ihre Pläne zu ändern.

Ich brachte es bloß auch nicht fertig, ihr zu widersprechen. Die Vergangenheit breitete sich heute langsam über mich wie ein Leichentuch.

»Wenn dir das wirklich nichts ausmacht«, sagte ich, woraufhin sie nickte. »Danke, Aggie.«

Sie lächelte. »Kein Problem.«

Kaum hatte sie sich abgewandt, schloss ich die Augen und drückte mir zwei Finger gegen die Nasenwurzel, weil sich ein Kopfschmerz meldete. Ich sah meine Mutter in der Dunkelheit, die meinen Namen schrie, während meine Kidnapper sie davon zerrten.

Ich war entkommen, meine Mutter hatte weniger Glück gehabt.

Hätte ich beim letzten Mal, als wir uns gesehen haben, stärker gekämpft, hätte ich sie noch ein letztes Mal umarmt. Ich hätte sie fest umarmt und ihr gesagt, wie sehr ich sie liebte.

3

NICK

Ich wachte mitten in der Nacht auf und kämpfte eine Erinnerung an Dad zurück, die den Weg in meine Träume gefunden hatte. Ich blieb eine Weile im Bett liegen und versuchte, mich zum Einschlafen zu zwingen. Weil das nicht funktionierte, schlug ich die Decke zurück, zog mir was über und ging ins Erdgeschoss.

Alle schliefen, im Haus war es dunkel und still. Ich machte einen Schritt über die knarzende Diele zwischen Treppenaufgang und Wohnzimmer und steuerte den Kühlschrank an. Darin war alles, was man zum Überleben brauchte – Essensreste und Bier. Nach dem Abendessen hatte Anna das, was vom Hühnchen noch da war, in mundgerechte Stücke geschnitten. Perfekt, um es mit den Fingern zu essen.

Ich ließ gerade genug übrig, dass noch was da war, aber zu wenig für eine richtige Mahlzeit. Cas würde rumjammern, wie immer, wenn’s ums Essen ging. Grinsend nahm ich mir ein kaltes Bier.

Mit einem Plopp öffnete sich das Schloss der Haustür, und schon war ich draußen, dankbar über die kühle Luft. Der Mond war fast voll, ich brauchte also keine Taschenlampe, um den Weg zum Waldrand zu finden, wo ein hohler Baumstamm unter einem Ahorn lag. Ich tastete darin herum, bis ich die Packung Zigaretten und das Feuerzeug fand, die ich dort versteckt hatte.

Mit beidem in der Hand ging ich zurück zur Veranda, setzte mich in einen der Stühle und legte die Beine aufs Geländer.

Still war es nicht gerade, die verdammten Grillen machten wie immer einen Höllenlärm. Manchmal heulte ein Kojote oder auch zwei.

Ich lehnte mich im Stuhl zurück, bis die vorderen Stuhlbeine vom Boden abhoben, zündete mir eine Zigarette an und zog daran. Das Rauchen war eine alte Angewohnheit. Irgendwann hatte ich es mir offenbar mal abgewöhnt, aber ich wusste nicht mehr, ob ich bewusst damit aufgehört oder einfach vergessen hatte, weiter zu rauchen, nachdem mein Gedächtnis gelöscht worden war.

Wie dem auch sei, Bock auf Zigaretten hatte ich immer noch, genauso wie ich Bock auf guten Whiskey hatte. Und manchmal half das Nikotin dabei, den Scheiß aufzubrechen, der endlos durch meinen Kopf quirlte.

Mir ging es nämlich schon besser.

Ich trank noch einen Schluck Bier und stellte die Flasche neben mich auf den Boden. Dann holte ich einen platten Papierkranich aus der Hosentasche und betrachtete seinen spitzen Kopf.

Meine Mutter hatte mir beigebracht, wie man die faltete. Da war ich fünf oder sechs gewesen. Anfangs waren die Kraniche schief und krumm geworden, hatten wesentlich mehr Knicke gehabt als nötig. Origami war eine unserer wenigen gemeinsamen Beschäftigungen gewesen, und mir hatte mehr an ihrer Aufmerksamkeit als an den Kranichen gelegen.

Die Erinnerungen an mein früheres Leben waren nach wie vor unklar und lückenhaft, aber es kehrten immer mehr zurück – manches wollte ich gar nicht wieder wissen, bei anderem ärgerte ich mich, dass ich überhaupt imstande gewesen war, es zu vergessen. Die Papierkraniche gehörten zu den ersten wiederbelebten Erinnerungen an meine Mutter. Alles andere über sie kam erst später.

Meine Mom war keine gute Mutter gewesen.

Als mein Gedächtnis sich so langsam zurückmeldete, tauchte als Erstes mein Vater auf, und das Wissen, dass meine Mutter uns verlassen hatte, als ich noch klein war. Ich hatte mich an die Vorstellung geklammert, dass sie aus gutem Grund abgehauen war, vielleicht weil sie den ganzen Scheiß, den mein Vater veranstaltete, nicht mehr ertrug.

Jetzt wusste ich es besser.

Mom war abgehauen, weil sie ein Junkie war und Drogen wichtiger als ihre Mutterrolle. Sie hatte gute Tage, an denen sie einfach high genug war, um glücklich zu sein, und nicht so zu, dass nichts mehr ging. An den Tagen falteten wir zusammen. Das war das einzige Kreative, was sie konnte, vielleicht, weil man dafür keinen klaren Verstand mehr brauchte, wenn man einmal wusste, wie man es machte, und die Kraniche konnte sie auswendig.

An den allerwenigsten Tagen hatte ich beide Eltern gleichzeitig. Dad nahm mich oft mit zum Angeln am Little Hood Creek, und dann legte Mom sich mit einem Buch ans Ufer, die Augen hinter einer riesigen, runden Sonnenbrille verborgen. Wenn es ihr zu heiß wurde, legte sie das Buch weg, watete bis zum Knie ins Wasser und zeigte auf die Bitterfische, die zwischen ihren Beinen rumschwammen.

Das alles war so verdammt schön.

Und so verdammt zerbrechlich.

Die guten Tage endeten in schlimmen Nächten, und aus den schlimmen Nächten wurden schlechte Wochen. Irgendwann war Mom weg, und Dad fing an, noch mehr zu trinken, und dann war jeder Tag schlimm, bis ich vergaß, was ein guter überhaupt war.

Als mein Vater mich zum ersten Mal schlug, war ich acht. Er hatte sich mit billigem Tequila besoffen und wurde von alten Dämonen gepiesackt. Ich hatte im Garten mit einem Ball gespielt und ein Fenster eingeschlagen. Das war das einzige Mal, dass er sich danach entschuldigte. Und es war das einzige Mal, dass ich glaubte, er würde es nicht wieder tun.

Als ich größer wurde, wehrte ich mich. Manchmal war ich genauso betrunken wie er. Zwei besessene, dunkelhaarige Männer, die hämisch grinsend mit fliegenden Fäusten herumstolperten. Wir müssen unfassbar lächerlich ausgesehen haben.

Als ich ihn das letzte Mal sah, hat er mich so krass verprügelt, dass ich kaum noch laufen konnte. Danach habe ich mich drei Tage lang in meinem Zimmer versteckt und bin nur rausgekommen, wenn er in der Stadt war, um sich in einer Bar zu besaufen, oder in der Fabrik, um so zu tun, als würde er arbeiten.

Am vierten Tag nahm ich, nachdem er endlich eingepennt war, seinen Autoschlüssel von der Arbeitsfläche in der Küche und ein Sixpack aus dem Kühlschrank und schlich in die Nacht.

Ich habe mich nicht umgeschaut. Nicht ein einziges Mal.

Aber jetzt, aus irgendeinem kranken Grund, blickte ich zurück. Ich konnte nicht aufhören, über ihn nachzudenken. Und über mich. Und die Frage, ob ich nicht genauso war wie er.

Und manchmal, wenn ich jemanden umbrachte, fragte ich mich, ob ich nicht sogar noch schlimmer war. Soweit ich wusste, hatte er nie getötet. Ich hingegen so oft, dass ich nicht mal mehr sagen konnte, wie viele.

Vielleicht grub ich deshalb gerade so nach alten Erinnerungen, damit ich wieder zu den Einzelheiten der Mission fand, bei der mir dieses Mädchen begegnet war.

Ich zog noch einmal an der Zigarette und trat sie dann mit dem Stiefel aus.

Wenn ich herausfinden würde, dass ich dieses Mädchen ermordet hatte – vielleicht konnte ich dann mein Schicksal akzeptieren. Könnte mich damit arrangieren, dass das Blut in meinen Adern verflucht war.

Aber wenn sie noch lebte …

Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung auf Rettung für mich.

4

NICK

Irgendwie brachte ich es doch noch auf ein paar Stunden Schlaf, und als ich aufstand, starrte Cas mich an.

Ich versuchte, mir den Schlaf und die Spuren der letzten Nacht aus den Augen zu reiben. Mein Kopf schmerzte so derbe, dass es sich anfühlte, als würden meine Augäpfel von innen rausgedrückt. »Was glotzt du so?«

»Du hast im Schlaf geknurrt«, antwortete er.

»Schwachsinn.«

»Ich hab gedacht, du verwandelst dich in einen Werwolf. Immerhin bekäme man dich sicher schneller stubenrein.«

Ich griff nach der leeren Bierflasche auf der Kommode und schleuderte sie in seine Richtung. Er fing sie gekonnt aus der Luft und grinste. Er war immer so widerlich selbstgefällig.

»Ich bin so krass.«

Ich ignorierte ihn und steuerte die Tür an.

»Zieh dir was an!«, brüllte er. »Anna will deinen Sack garantiert nicht sehen.«

Ich schaute an mir hinunter zu meiner Boxershorts und zog mir schnell eine Hose über, bevor ich runterging. Anna und Sam waren schon wach und hatten ihre Laufklamotten an.

»Wollt ihr los oder kommt ihr grad zurück?«, fragte ich.

»Wollen los«, sagte Sam. »Willste mit?«

Wenn etwas dabei half, den Kopf klarzukriegen, dann das Laufen. »Gebt ihr mir fünf Minuten?«, fragte ich, und Sam nickte.

Ziemlich genau sechs Minuten später liefen wir auf den Wald hinterm Haus zu. Ich hatte ein T-Shirt und eine weite Jogginghose übergezogen. Ich erschwerte mir das Training gern, weshalb ich mir immer zu viel anzog und fast nie eine Sonnenbrille trug. In den Klamotten konnte ich zwar leicht laufen, aber nach fünfhundert Metern schwitzte ich schon eimerweise. Es war ein heißer Tag und die Sonne brannte wegen des wolkenlosen Himmels gnadenlos herab. Gut, auf je mehr Szenarios ich vorbereitet war, desto besser.

Als wir dieses Haus im Wald anmieteten, waren wir losgezogen und hatten uns eine Laufrunde gesucht, die zehn Kilometer durch dichten Wald führte. Das Gelände war uneben und der Weg so selten genutzt, dass man praktisch nicht ungehindert laufen konnte. Alle paar Meter schlug mir ein Ast ins Gesicht und drohte, mir ein Auge auszustechen. Anna, die kleinste von uns, hatte es da leichter. Sie schwebte durch den Wald wie ein Geist.

Gegen zehn waren wir wieder zurück. Anna wollte als Erste duschen, also blieben Sam und ich noch für ein bisschen Sparring draußen. Wir zogen unsere schweißdurchtränkten Shirts aus, um einander weniger Angriffsfläche zu bieten.

Ich wich Sams linkem Haken mit Leichtigkeit aus, traf ihn jedoch mit der Rechten voll in die Rippen, woraufhin er sich krümmte und erst mal keuchte.

»Fuck«, zischte er und hielt sich die Seite.

So sehr ich Anna auch mochte, Sam war mir ohne sie lieber. Zum einen fluchte er dann mehr. Zum anderen war er wesentlich brutaler.

»Na, komm schon, du Schönling«, sagte ich. »Mehr hast du nicht drauf?«

Er richtete sich wieder auf und grinste, aber in seinen Augen brannte das Versprechen, dass er mich verletzen würde. Das wollte ich sehen. Er war zwar technisch besser, aber ich kämpfte selbst verkatert explosiver. Wenn ich traf, traf ich hart, und obwohl Sam sich nichts anmerken lassen wollte, war mir klar, dass ich ihm wehtat.

Wir umkreisten einander. Sam zuckte nach links, griff dann aber doch überraschend über rechts an. Seine Faust landete in meinem Gesicht, knallte komisch gegen meinen Kiefer. Ich stolperte rückwärts, spuckte Blut auf den Boden.

Sein Grinsen wurde breiter.

»Na, also«, sagte ich. »Schon besser.«

Ich zögerte nicht, ließ ihn nicht verschnaufen, schlug ein-, zwei-, dreimal schnell zu, doch Sam wehrte alles gekonnt ab. Dann zielte er erneut auf mein Gesicht, aber ich duckte mich rechtzeitig weg. Als ich wieder hochkam, landete seine Faust auf meiner Nase.

»Verdammt noch mal«, sagte ich, während mir das Blut schon die Kehle runterlief.

»Komm schon, du Schönling«, höhnte er. »Mehr hast du nicht drauf?«

Ich lachte. »Manchmal bist du so ein Arschloch. Wenn Anna wüsste, wie gnadenlos du in Wirklichkeit sein kannst.«

Er setzte zum Kinnhaken an, ich wehrte ihn ab.

»Anna ist nicht verblendet«, sagte er. »Sie weiß, dass ich dich zum Spaß verprügeln würde.«

Da lachte ich noch mal und holte mit dem Bein aus, um ihm gegen das Knie zu treten, aber er war schon weg, bevor das möglich war. Eine Sekunde später hatte er mich im Schwitzkasten.

Ich packte seine Handgelenke und riss ihn über meinen Rücken. Er knallte laut vor mich und kicherte stockend, als er auf alle viere kam.

Weil ich so furchtbar nett und rücksichtsvoll bin, wartete ich drei Sekunden, bis ich ihm in die Nieren trat. Er flog rücklings, bekam seine Beine aber unter sich und rannte los, noch bevor er richtig Bodenkontakt hatte.

Er rammte mich gegen einen Baum, presste mir die Luft aus der Lunge. Ich riss das Knie hoch und traf ihn damit an der Brust, er konterte, indem er mit dem Ellbogen noch mal meine Nase grüßte.

Ich wollte ihn gerade abschütteln, als kaltes Wasser auf uns niederprasselte.

Ein paar Meter entfernt hielt Anna den Gartenschlauch in der Hand. »Ihr wisst echt nicht, wann ihr aufhören solltet. Irgendwann bringt ihr euch noch gegenseitig um.«

Sam schlenderte zu ihr. »Wir haben doch gerade erst angefangen, niemand ist verletzt.«

»Du hast frisches Blut im Gesicht«, sagte sie. »Und Nick hat Nasenbluten. Außerdem ist deine Lippe aufgeplatzt und …«

Während Sam sie ablenkte, rannte ich zu ihr, griff nach dem Schlauch und riss ihr die Düse aus der Hand.

»Nick!«, schrie sie noch und schon war sie von oben bis unten nass.

Sam warf den Kopf in den Nacken und lachte lauthals. Annas Belustigung hielt sich in Grenzen. Sie stand einfach da, triefnass, und starrte mich an. »Ich hasse euch beide!«, schrie sie und wandte sich ab, um ins Haus zu rennen. Doch Sam erwischte sie, schlang die Arme um ihre Taille, bevor sie wegrennen konnte. Er gab ihr einen Kuss auf den Hals und flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie rot anlief.

»Das ist dann wohl mein Stichwort«, sagte ich und haute ab.

Cas lehnte mit einem Steak in der Hand an der Spüle, als ich die Küche betrat.

Ich holte mir ein Handtuch aus der Wäschekammer. »Du siehst aus wie ein scheiß Barbar.«

»Und du wie ein Vollpfosten.«

Ich nahm zwei Stufen auf einmal und belegte das Bad, bevor es jemand anders tun konnte. Nach den zehn Kilometern, dem Sparring mit Sam und Annas kalter Dusche tat das warme Wasser richtig gut. Ich ließ es viel länger über mich laufen, als nötig gewesen wäre – bestimmt war kein warmes Wasser mehr da, wenn Sam an der Reihe war –, aber das war mir scheißegal.

Als ich aus dem Wasserstrahl trat und mir die Tropfen aus dem Gesicht wischte, fing es an, in meinem Nacken zu pulsieren, sofort schnellte ein Schmerz bis in meinen Schädel.

Ich kniff die Augen zu. Ich kannte das bereits, so kündigte sich ein Flashback an.

Bilder flackerten vor meinen Lidern, als wäre meine Vergangenheit ein Film, der erst langsam wieder ins Rollen kommen musste. Da war wieder das Mädchen – das gleiche, das ich im Wald gesehen hatte –, diesmal aber woanders. Ein weißer Raum mit weißem Boden, das dunkle Haar stand wild von ihrem Kopf ab. Sie sah mich an, durch das wilde Haar, und sagte meinen Namen.

Aber sie sagte gar nicht Nick.

Sie sagte Gabriel.

5

ELIZABETH

Als ich Merv’s Bar & Grill durch den Seiteneingang betrat, stieß ich fast mit meiner besten Freundin, Chloe, zusammen.

»Heeeeyyy«, sagte sie freudig und steckte den Notizblock in ihre Schürzentasche. »Jetzt hätte ich dir fast eine verpasst.«

»Sorry«, antwortete ich und steuerte den Pausenraum an. Chloe war mir dicht auf den Fersen.

»Bis wann arbeitest du heute?«, fragte sie, setzte sich auf den Tisch und ließ die Beine baumeln.

»Hm … ich meine, bis elf.«

»Oh?«

Obwohl ich ihr den Rücken zugewandt hatte, wusste ich, dass sich da gerade ein verschlagenes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.

»Wieso fragst du?«, wollte ich wissen und drehte mich zu ihr um.

»Evan arbeitet heute Abend«, flötete sie und hob mehrfach die Augenbrauen.

»Ich dachte, der hat heute frei?«

»Tja.« Sie nahm einen Stift vom Tisch und spielte damit. »Möglich, dass ich John, der heute Abend eigentlich arbeiten sollte, gesagt habe, dass wir überbesetzt sind, und genauso möglich, dass ich Evan gesagt habe, dass wir unterbesetzt sind. Also …«

»Chloe!«

»Was denn?« Sie zuckte mit den Schultern. »So hast du eine ganze Schicht mit Evan. Obwohl«, sie warf einen Blick zur Uhr, »wenn er in den nächsten zwei Minuten nicht aufkreuzt, ist er zu spät. Was soll man davon halten!«

Ich hängte meine Tasche in den Spind, holte meine Schürze heraus und tat so, als wäre es mir egal, dass Evan und ich zusammenarbeiten würden, als wäre ich nicht dankbar dafür, dass Chloe genau dafür gesorgt hatte.

Ich mochte Evan. Sehr. Aber ich war auch hochgradig gestört und die Wahrscheinlichkeit, mal mit jemandem zusammenzukommen, war äußerst gering. Es half nämlich nicht, dass der komplette Ort wusste, was mir vor sechs Jahren Schreckliches passiert war. Die Entführung. Das ganze Trauma danach. Drei Monate nach meiner Befreiung hatte ich im Supermarkt einen Nervenzusammenbruch, durch den ich fast in die Lokalnachrichten gekommen wäre. Aber das hätte auch keinen Unterschied gemacht, innerhalb eines Tages hatten sowieso alle davon gehört.

Im Gang mit dem Klopapier hatte ich angefangen zu schreien und mich dann zitternd und schluchzend zwischen die gestapelten Packungen gepresst. Damals hatte ich zum ersten Mal die Pflegefamilie gewechselt, aber nicht zum letzten Mal.

»Die Mühe hättest du dir sparen können«, sagte ich. »Wir reden hier schließlich von Evan. Und mir.«

Chloe biss auf den Stift. »Jetzt komm mir bloß nicht wieder mit dem Mist, dass du nicht liebenswert wärst.«