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Hauptkommissar Gregor Klar steht unter Druck. Er muss den Mord an dem verheirateten, erfolgreichen Unternehmensberater Roland Geber aufklären. Dieser hatte eine Freundin, Tochter des Landrats und Verwaltungsratschef der Bavariabank, und einen Geliebten. Zur Seite wird Klar der analytisch begabte doch nervende Kettenraucher Loiperdinger gestellt. Während beide im Münchner Schwulen- und Bankermilieu recherchieren, verschlimmert sich der Zustand des an MS erkrankten Patenkindes von Klar. Der Hauptkommissar schaut immer tiefer in die Abgründe der aus Geldgier, Eifersucht und Hass dominierten Münchner Finanzszene, als ein weiterer Mord geschieht.
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Seitenzahl: 286
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Ein Buchautor recherchiert intensiv und arbeitet nachhaltig, um sein Projekt zu fundieren und abzuschließen.
Bei Informationssuche und Schreiben sind gute Freunde wichtig.
Ich danke insbesondere Irmgard Kierek, Bertha Morin Arocha, Martin Kierek, Fidel Chinique Rabelo sowie Dr. Martin Baranowski für motivierenden Zuspruch.
Ein Textverfasser macht ohne gute Lektoren Fehler. Wertvolle Unterstützung leisteten Christiane Geldmacher sowie Enneke Siedler.
Ein Buchverkäufer vertreibt sein Werk über stationäre und virtuelle Vertriebskanäle. Bei Marketing und Vertrieb halfen Inga Oldewurtel sowie Sandra Johnson. Die Gestaltung der Website übernahm Karin Reheis, das Cover konzipierte Peter Jakob.
Den Vieren bin ich ausgesprochen dankbar für kreative Ideen und professionelle Arbeit.
Ich wünsche den Lesern von Rechenfehler viel Spaß und Spannung.
Rüdiger Frischmuth, München/Havanna im März 2015
München, Aberlestraße, 20. August 2008, 03:50 Uhr
München, Landsberger Straße, 31. August 2008, 19:00 Uhr
München, Theatinerstraße, 1. September 2008, 16:10 Uhr
München, Buttermelcher Straße, 1. September 2008, 21:00 Uhr
München, Hans-Sachs-Straße, 2. September 2008, 22:00 Uhr
München, Herterichstraße, 3. September 2008, 23:00 Uhr
München, Herterichstraße, 3. September 2008, 23:45 Uhr
München, Herterichstraße, 3. September 2008, 00:00 Uhr
Oberösterreich / Berlin-Zentrum, 12. April 1945, 09:55 Uhr
München, Herterichstraße, 4. September 2008, 1:10 Uhr
München, Südliche Auffahrtsallee, 4. September 2008, 2:38 Uhr
München, Maxburgstraße, 4. September 2008, 9:00 Uhr
München, Maxburgstraße, 4. September 2008, 14:00 Uhr
München, Auenstraße, 4. September 2008, 22:50 Uhr
Altaussee / Berlin-Zentrum, 12. April 1945, 11:00 Uhr
Grünwald bei München, Münchener Straße, 5. September 2008, 19:30 Uhr
Berlin, Charlottenburger Chaussee, 16. April 1945, 10:00 Uhr
München, Hans-Sachs-Straße, 6. September 2008, 22:00 Uhr
Berlin, Charlottenburger Chaussee, 16. April 1945, 11:00 Uhr
München, Maxburgstraße, 7. September 2008, 8:00 Uhr
Ammerland, 7. September 2008, 10:10 Uhr
München, Sonnenstraße, 7. September 2008, 16:00 Uhr
Berlin, Wilhelmstraße, 16. April 1945, 11:00 Uhr
München, Sonnenstraße, 9. September 2008, 17:00 Uhr
München, Poschinger Straße, 10. September 2008, 18:30 Uhr
Berlin, Wilhelmstraße, 16. April 1945, 19:30 Uhr
München, Poschinger Straße, 10. September 2008, 18:30 Uhr
München, Sonnenstraße, 11. September 2008, 9:50 Uhr
München, Maxburgstraße, 12. September 2008, 8:00 Uhr
Altaussee, Bahnhofstraße, 2. Mai 1945, 15:24 Uhr
München, Maxburgstraße, 15. September 2008, 19:25 Uhr
München, Königinstraße, 15. September 2008, 20:00 Uhr
München, Sonnenstraße, 16. September 2008, 13:50 Uhr
Altaussee, Bahnhof, 2. Mai 1945, 16:45 Uhr
Ammerland, Seeufer, 16. September 2008, 12:00 Uhr
München, Maxburgstraße, 17. September 2008, 8:05 Uhr
München, Hans-Sachs-Straße, 17. September 2008, 10:00 Uhr
München, Hans-Sachs-Straße, 17. September 2008, 11:00 Uhr
Altaussee, nördlich des Altaussees, 8. Mai 1945, 7:00 Uhr
München, Balanstraße, 17. September 2008, 17:00 Uhr
München, Sonnenstraße und Maxburgstraße, 18. September 2008, 13:40 Uhr
München, Maxburgstraße, 18. September 2008, 18:00 Uhr
München, Waldfriedhof, 18. September 2008
München, Mühlbaurstraße, 18. September 2008, 20:00 Uhr
München, Aberlestraße, 19. September 2008, 5:30 Uhr
Moskau, Gorki-Park und Sergijev Posad, 15. April 1961, 14:15 Uhr
München, Sonnenstraße, 20. September 2008
Ascona (Schweiz), Via de Verità, 22. September 2008, 8:50 Uhr
Ascona (Tessin), Flughafen, 22. September 2008, 12:30 Uhr
München-Salzburg-Ascona 24. September 2008, 11:00 Uhr.
Ascona (Tessin), Via de Verità, 24. September 2008, 14:30 Uhr
München, Isarhochufer, Maxburgstraße, 25. September 2008, 8:00 Uhr
München, Auenstraße, 25. September 2008, 19:30 Uhr
München, Maxburgstraße, 26. September 2008, 13:00 Uhr
München, Maxburgstraße, 29. September 2008, 14:00 Uhr
München, Belfortstraße, 29. September 2008, 16:00 Uhr
München, Sonnenstraße, 30. September 2008, 11:00 Uhr
München, Maxburgstraße, 14. Oktober 2008, 12:29 Uhr
München, Sonnenstraße, 16. Oktober 2008, 10:36 Uhr
Sein tansanischer Stammtaxifahrer hatte ihn nach Hause chauffiert. Gregor Klar sank wie ein Stein ins XXL-Wasserbett. Eine Frau hatte er nicht aufgerissen. Exzessiver Alkoholkonsum, fünf Mass waren zu viel. Eine andere Interpretation verhinderte das Ego. Ruckzuck war die Decke über dem Kopf. Der Münchner Hauptkommissar schlief sofort ein. Zita hatte es sich auf dem weißen Angorateppich am Fußende des Bettes, mit Herrchen um die Wette schnarchend, bequem gemacht.
„Schleicht´s eich, ihr Saugribben, ihr elendigen!“
Eine dralle Blondine um die dreißig in tadellos sitzender, weißblauer Schürze schob sich mit sechs Krügen durch die Tischreihen. Tellerklappern und Gläserschlagen, dazu eine Mischung aus Brathendlduft, gegrilltem Steckerlfisch sowie lange fertiger Zuckerwatte. Gregor Klar saß im Biergarten unter farbig leuchtenden Glühbirnen und blickte zu Zita. Die Rhodesian Ridgeback Hündin war vier Jahre sein Schatten. Das Tier lag unter dem Tisch und blinzelte Herrchen aus halb geöffneten Augen an.
Vor ihm lag der Finanzteil des Handelsblatts. „Schieflage der Hypo Real Estate Auslöser eines globalen Finanzsystemkollaps.“ Der Hauptkommissar überflog den Leitartikel. Ihn fröstelte. Hoffentlich trat dieses Szenario nie ein. Sein Vater hatte den Großteil der Altersversorgung in Aktien investiert.
„So, do hobt`s eire Schorln, de Mass und zwoa Broo´n! Macht Zworazwanz´ge grodaus!
Mit einem Ruck knallte die Bedienung Essen und Getränke auf den Tisch und riss den Polizisten aus den Gedanken.
„Vierundzwanzig, bitte sehr!“
Die Frau steckte das Geld ein und zog ohne Dank und ohne Gesichtsregung weiter. Seinen Kumpel fixierend, faltete Klar die Wirtschaftszeitung zusammen.
Der Polizist kannte Christoph Morgenthaler seit dem ersten Schultag in der Wittelsbacher Straße. Seit 35 Jahren waren sie eng befreundet. Immer wieder beeindruckte er mit geologischem Wissen. Der Hauptkommissar zog die Augenbrauen hoch.
„Was ist eine tektonische Verschiebung?“
Klar nahm einen kräftigen Schluck Apfelschorle aus dem Literglas, wischte sich über die Lippen, und schaute erwartungsvoll sein Gegenüber vor dem dampfenden Schweinebraten an.
„Kein Stein bleibt aufm anderen.“
Christoph Morgenthalers Lippenenden zogen sich nach oben. Auf die Ellenbogen gestützt starrte er auf den derben Holztisch. Sein glasiger Blick sprach Bände. Er hatte einige Liter bestes oberbayerisches Starkbier intus.
„Die Banker kriegen die Krise also nicht in den Griff. Logisch, die ruhen sich aus und zahlen kaum Zinsen, wenn man ihnen Geld bringt. Dafür zocken sie dich bei den Krediten ab.“
Klar schlug sich auf den Oberschenkel und sprang mit krebsrotem Kopf auf.
„Diese verdammten Stechfliegen.“
Gebückt rieb er seine Kniescheibe.
Nachdenklich kratzte sich Morgenthaler am Hinterkopf. Vielleicht steckte Wahrheit hinter dem, was sein Freund von sich gab. Er fühlte sich zwar deutlich intelligenter als der Gleichaltrige und ging Themen differenzierter an, schließlich war er promovierter Wissenschaftler, der andere Beamter. Zugegebenermaßen ein gehobener Beamter, aber eben nur ein Staatsdiener. Doch ab und an imponierte dem Wissenschaftler die pragmatische Sichtweise des Hauptkommissars.
Das Polizistenhandy musizierte in mittlerer Lautstärke, feinste Mozarttöne. Verärgert schaute Klar aufs Display. Er war privat im Biergarten. Heute war allerdings Bereitschaft.
„Hallo!“
„Was heißt Hallo? Hier spricht Schulte!“
Stotternd entschuldigte sich der Hauptkommissar für die unprofessionelle Gesprächsannahme. Er kannte die Strenge des Staatsanwalts mit ostpreußischen Wurzeln. Einen Fehler am Tag ließ der ehrgeizige Schleifer durchgehen. Außerdem notierte er sich die Fauxpas jedes Einzelnen der zuarbeitete, in einem kleinen, roten Notizbuch. Bei zehn Verstößen war die Karriere beendet. So meldete es der Flurfunk beständig seit Jahren.
„Am Abend ist über die Notrufzentrale die Meldung einer Frau mit ausländischem Akzent eingegangen. Sie hat offensichtlich einen Mann tot in einer Wohnung gefunden, vermutlich war es Gewalteinwirkung. Machen Sie sich sofort mit diesem, wie heißt der niederbayerische Stinkstiefel, jetzt hab ich´s, diesem Loiperdinger, fahren Sie mit dem Grantler Richtung Süden. Der Krankenwagen ist auf dem Weg und die Schupo mit vier Beamten zur Tatortsicherung vor Ort. Ich kann nicht kommen. Bin auf dem Empfang unseres Ministerpräsidenten im Festsaal des Bayerischen Hofs.“
„Natürlich ...“
Mit näselnder Stimme schob der Staatsanwalt hinterher, dass er dem Hauptkommissar offiziell die Ermittlungen übertrug. Danach legte er auf, ohne die Antwort abzuwarten.
Eine deutliche Ansage. Knieschwellung und Schweinebraten waren vergessen. Die Pflicht rief.
Zita schüttelte sich. Ihr siebter Sinn sagte, wann Herrchen aufbrechen wollte. Mit nach rechts geneigter Rute trottete das Tier stolz hinterher.
Klar erwachte langsam mit schmerzendem Kreuz. Sein ausgetrockneter Hals dürstete nach Wasser. Die Erinnerung an den Traum wurde durch den Gedanken an die hübsche, im Verlauf des gestrigen Abends unglücklicherweise in den Dauersprechmodus gefallene Blondine Ende zwanzig überlagert. Knapp zwei Meter entfernt ragten zitternde Füße unter der Bettdecke hervor. Der Hauptkommissar schluckte. 41, sportlich, nach Meinung der Assistentin gut aussehend, aber nun das. Gott sei Dank schien sein Erinnerungsvermögen nicht vollständig verschwunden zu sein. Mit aufgerissenen Augen schaute er sich im Schlafzimmer um. Der Schädel brummte. Ein Aspirin musste her, damit sich sein Stand auf dem Parkett stabilisieren ließ. Danach würde er den Kollegen anrufen.
Fabian Runkel rettete sich mit weitem Sprung über die Pfütze. Ein heftiger Windstoß hatte die graue Sommerjacke aufgebläht, wodurch sich die Breite seines athletischen Oberkörpers ein paar Sekunden lang verdoppelte. Seit einer Woche regnete es ununterbrochen wie aus Kübeln.
Er war auf dem Weg ins Fitnessstudio. Direkt neben ihm schaltete der Fahrer des beschleunigenden schwarzen Porsche hoch. Konnte dieser Typ nicht langsamer fahren?
Neugierig blickte er auf das blinkende Handydisplay.
Ein dunkler Wasserschwall spritzte in meterhohem Bogen auf den Bürgersteig.
Runkel wischte mit dem Jackenärmel die Tropfen vom Blackberry.
„Ich bin´s, der Ralf.“
Der Banker musste schnell weg von der Straße, sonst wären seine nagelneuen Sneaker komplett aufgeweicht. Die hatte er erst gestern in Sendling gekauft. Die Bremsen der 19er Tram quietschten auf den nassen Schienen zwischen den beiden Doppelfahrstreifen der Landsberger Straße.
Eine nervtötende MVV-Hupe überlagerte für mehrere Sekunden den Straßenlärm. Die kleine Fußgängergruppe wollte die Gleise kreuzen.
Runkel hörte keinen Ton durch das Handy. Seine Jeans war von oben bis unten mit kleinen hellbraunen Punkten besprenkelt. Mit der Jacke konnte er sich nicht sehen lassen.
„Hi! Was gibt´s?“
„Hallo, Fabi! Cool, dass ich dich erreiche.“
Ralf Maslaton atmete ruhiger als kurz zuvor.
„Ich habe Probleme mit dem Chef wegen unserer Softwaregeschichte.
Die Revision hat sich bei ´ner Routineprüfung den Beleg mit der Provisionszahlung rausgezogen.“
„Wolltest du die Kohle nicht auf ´nem Konto parken und im nächsten Jahr verteilen?“
Runkel rubbelte mit dem Daumennagel über seine Jeans. Die Hose war ruiniert. In Gedanken würgte er den Sportwagenfahrer bis zur Ohnmacht.
„Stimmt. Ich hab eins im Kleinwalsertal eröffnet, natürlich nicht unter meinem Namen, sondern mit gefälschtem Personalausweis. Die Österreicher haben‘s nicht gespannt. Mein Boss hat die Überweisung unterschrieben, das Geld ist raus.“
Maslatons Stimme klang gepresst. Er war wegen der Hintergrundgeräusche kaum zu vernehmen.
Runkel presste das Handy fest an‘s Ohr.
„Doch seit gestern ist die Revision am Thema dran. Ich soll die Identität vom Kontoinhaber nachweisen. Die Drängler haben eine Frist bis Monatsende gesetzt. Ansonsten wollen sie bei der Ösi-Bank nachfragen.
Dann haben wir den Salat. Mein Chef ist ungenießbar seit die Sache hochgekocht ist.“
„Kann ich verstehen. Ist ein Karrieremensch, was du erzählt hast. Solche Typen mögen keine Unruhe. Kenne das aus unserm Laden.“
„Ich bin nervös, Fabi!“
„Sehr uncool, was kann man tun?“
Reifen quietschten, als der silbergraue Audi auf den Mittleren Ring abbog.
„Was ein irrer Raser!“
Runkel schüttelte heftig den Kopf. Der Avant mit Starnberger Kennzeichen kam in den nassen Spurrillen ins Schlingern und näherte sich bedrohlich den parkenden Autos am Seitenstreifen.
„Kannst du deinen Kumpel fragen, ob dem ´ne Lösung einfällt?“
Endlich war es trocken. Die Automatiktür des Fitnessstudios summte.
Ein Strahl lauwarmer Luft aus dem Deckengebläse umströmte den Banker und ließ ihn erschauern. Dem Wetter wie der leichten Sommerkleidung hatte er es zu verdanken, dass er bis auf die Haut durchnässt war. Hoffentlich waren die Trainingsklamotten in der Sporttasche vom Wasser verschont geblieben. Dann könnte er seine Sachen während der zwei Fitnessstunden in der Umkleidekabine über der Heizung trocknen.
„Kann ich machen. Man muss hören, was er zu sagen hat. Der weiß in der Bankenszene Bescheid.“
Seine Augen fanden den kleinen, weißen Balken rechts oben auf dem Handy. Der Empfang war schwach, abwechselnd hielt er das Mobiltelefon an beide Ohren. Bestimmt war Ralf nicht mehr in der Leitung. Er stand im Aufzug.
„Außerdem ...“, Maslaton zögerte, … will ich dich mal wieder sehen, Fabi.“
„Grundsätzlich nichts dagegen zu sagen. Ich muss rein, der Spinning-Kurs ist gestartet. Sag dir morgen Bescheid, was ich erreicht habe.“
Fabian mochte Ralf, war sich allerdings unsicher, was Ingo sagen würde, wenn er sich mit dessen Lover treffen würde. Außerdem hatte er selbst einen Partner. Seine Gedanken wanderten zu Roland Geber. Wo war der nur? Seit Tagen hatten sie sich weder gesehen noch gesprochen.
Darunter litt der Banker. Er wusste, das war dem Freund gegenwärtig.
Diesem Macho gefiel es, ihn zappeln zu lassen. Oder war er sadistisch und das Abtauchen Teil eines Spiels? Bisher hatte er nie Liebeskummer gehabt. Für den nächsten Tag nahm er sich vor, seinem Partner zu sagen, dass er mit ihm zusammen ziehen wollte. Ralfs Sache genoss keine Priorität. Dessen Problem würde sich von allein lösen. Fabian Runkel hatte es bereits vergessen.
Der Federzug bewirkte, dass sich die schwere Eichentür im Zeitlupentempo mit leisem Zischen automatisch zuzog. Langsamen Schrittes betrat Flussmüller den Hauptraum des Cafés. Die beiden Frauen hinter dem Tresen hatten ihn bemerkt und schauten demonstrativ weg.
„Grüß Gott, die Damen!“
Kurz streifte sein Blick die Torten sowie das Plundergebäck in der Glasvitrine. Einen Augenblick schloss er die Augen und sog genussvoll den Geruch frischen Kaffees, Schokolade und Mandelgebäcks ein.
„Mir läuft das Wasser im Mund zusammen!“
Die Bedienung hinter der Theke fegte sorgfältig die Krümelreste mit der Hand in einen Aschenbecher.
„Da schau her, ein neuer Gast! Was für ein fescher Mann! Groß, in den besten Jahren, grau meliert, gute Figur! Selten heutzutage.“
Sie richtete sich auf. Schnell war die weiße Schürze glatt gestrichen.
„Na, des is da Landrat, Rita. Der kimmt scho seit dreiß´g oder vierz´g Joahr her, a netter Mo. Er sitzt oiwei in da Nischn am Fenster, weil er de Leit auf da Straß´ gern beobachtn duad. I ko mi net dro erinnern, dass er ned jedsmoí a guad´s Trinkgeld ned geb´n hätt, des Monat für Monat. Nur vui red´n wui er hoit ned so recht.“
„Dann probiere ich nachher, ob er bei einer Neuen gesprächiger wird.“
„Lass eahm wenigstens a bissal Zeit, bis er am Diesch is.“
Leise kicherten die beiden Frauen.
Flussmüller hatte alles genau gehört und lächelte vor sich hin. Er strich sein volles Haar mit beiden Händen zurück. Schon in der Studienzeit war er oft mit Katrin im Theatiner gewesen. Schnell schluckte er den aufsteigenden Kloß runter.
Alles sah wie eh und je aus, selbst die weißen Rüschengardinen schienen dieselben wie vor vier Jahrzehnten zu sein, wenn auch vom Nikotin des letzten halben Jahrhunderts vergilbt. Die Stirn des Landrats kräuselte sich. War es der intensive und vertraute Geruch des Bohnerwachses, den das sorgsam gepflegte Parkett verströmte, warum er seit langer Zeit hierher kam?
Ein kurzes, entspanntes Schmunzeln umflog seine Lippen, während er vorsichtig auf der mit weißblau-kariertem Stoff bezogenen Bank aus Nussbaumholz Platz nahm. Von hier hatte man die Tür im Blick, ohne vom Eintretenden sofort erkannt zu werden.
Heute würde er aufs obligatorische Tortenstück verzichten müssen. Zu eindeutig war die Ziffer auf der Waage gewesen, die ihn seit zehn Jahren jeden Morgen eisern im Griff hielt. Seufzend schlug er die Beine übereinander.
„Guten Tag!“
Mit freundlichem Gesichtsausdruck nickte die Kellnerin.
„Hallo! Ich habe Sie nie hier gesehen, hübsche Frau! Einen doppelten Espresso und ein Glas Wasser bitte.“
Konzentriert griff der Landrat in die Aktentasche. Es blieben fünfzehn Minuten bis zum Termin. Wenigstens den Leitartikel im Wirtschaftsteil der FAZ sollte er bis dahin gelesen haben. Der Blick blieb an der Überschrift hängen. „Warum die Krise an den Aktienmärkten kommen musste.“ Das genau war sein Thema. Im nächsten Moment war die Kellnerin vergessen, die federnd Richtung Küche zu schweben schien. Über dem Espresso las er sich fest.
Hommel war vor der verabredeten Zeit am Treffpunkt und checkte das Café durchs Fenster ab. Dieser Mann im marineblauen Zweireiher musste es sein. Er kannte ihn nur vom Telefon. Außer dem Anzugsträger waren zwei Frauen in seinem Alter zu sehen. Auf Zehenspitzen betrat er das Café.
„Ich habe Sie nicht kommen hören. Nehmen Sie Platz!“
Flussmüller legte die Zeitung auf den Tisch und reichte ihm die Hand, ohne sich zu erheben.
Kaum wahrnehmbar, nickte Hommel.
„Doppelter Espresso für den Herrn.“
Ausdruckslos schaute die Bedienung den neuen Gast an, nachdem sie die Kaffeetasse abgestellt hatte. Der Mann schien ihr unsympathisch zu sein. Der brutale Gesichtsausdruck schreckte ab.
„Hätten Sie für mich ´ne Tasse Roibuschtee?“
Die deutliche Ablehnung der Frau bewirkte einen Schweißausbruch bei ihm. Hommel erinnerte sich in solchen Situationen an seine psychologische Grundausbildung bei der Armee. Auch jetzt half der simple Trick, sich einen Zehn-Kilometermarsch mit vollem Gepäck in der sibirischen Tundra vorzustellen. Schnell hatte er sich kontrolliert.
„Haben Sie mich nicht verstanden, werte Dame?“
Verblüfft starrte Flussmüller den Sachsen an. Die dialektgefärbte Sprache überraschte. Der Typ sprach so leise, dass man Mühe hatte, ihn zu verstehen. Diese Stimme passte nicht zur massigen Erscheinung des mittelgroßen Glatzkopfes.
Flussmüller beugte sich, sein Gegenüber aus schmalen Augen anblickend, vor.
Kommentarlos verschwand die Bedienung. Der erste Eindruck gab ihr recht. Ein Grobian ohne Benimm, noch dazu Ossi.
„Lassen Sie uns keine Zeit verlieren und gleich zum Geschäftlichen kommen. Ich kann mich Ihnen nicht lange widmen. Um Fünf treffe ich Dr. Aurus.“
Hommel hüstelte. Die Augenbrauen des Privatdetektivs zuckten.
Sein Gesprächspartner kannte den Banker, das war sicher. Die linkische Nervosität hatte den Mann verraten. Doch es war egal.
„Ich bin neugierig, was Ihre Recherchen ergeben haben.“
Blitzschnell griff Hommel in das Sakkoinnere und schwenkte einen weißen DIN-A4-Umschlag.
„Geben Sie her“, fuhr der Landrat den Mann an.
Wie ein verunsichertes Eichhörnchen im niedrigen Gras blickte der Haarlose nach allen Seiten. Eine Minute später grunzte Flussmüller.
Die Schwarz-Weiß-Fotos waren in fünf Zweierreihen auf dem Tisch ausgebreitet. Hommel beugte sich auf eine eigenartig konspirative Weise darüber, als müsse er die Aufnahmen vor fremden Blicken schützen.
Sein Gesicht war von einem glänzenden Schweißfilm überzogen.
Es war wie vom Landrat vermutet. Auf den Rückseiten war es vermerkt.
Die Aufnahmen wurden in den letzten Wochen im Englischen Garten sowie in Österreich geschossen. Das Paar hatte sich in der Steiermark und im Salzburger Land Schäferstündchen gegönnt. Breitbeinig lehnte sich Hommel mit fiesem Grinsen zurück, nachdem die Bilder in einer schwarzen Plastikhülle verschwunden waren.
„Nehmen Sie das als meine Wertschätzung.“
Bedächtig schob Flussmüller den cremeweißen Briefumschlag über den Tisch, der seit zehn Minuten vor ihm gelegen hatte.
„In der Tat: Gute Arbeit, muss ich sagen! Die Scheinchen fühlen sich gut an, nicht wahr?“
Brav dankte Hommel und stand auf.
„Der USB-Stick in der Tischmitte ist ein Bonbon, Augenfutter.“
Vorwurfsvoll schaute die Bedienung zur Eingangstür. Der Tee auf dem Tablett in ihrer Hand dampfte. Schweigend schüttelte die Frau den Kopf. Sie war zu spät gekommen.
Die Geräusche von der geschäftigen Theatinerstraße waren verstummt.
Flussmüller nickte ihr zu.
„Ich übernehme die Rechnung, meine Dame! Dieser Mann ist in Eile gewesen.“
Entspannt lehnte sich der Landrat in den Leitartikel vertieft zurück. Es schien ein runder Tag zu bleiben. Morgen würde sich der Lauf fortsetzen.
In den Nischen der Bar standen kleine, runde Metalltische, um die mit dunkelrotem Samt bezogene, plüschige Sessel gruppiert waren. Ornamentreiche, an den Seiten überhängende Decken bedeckten sie.
Die Pächter hatten vor wenigen Monaten die Decke blau gestrichen. Einmal in der Woche war Fabian Runkel mit Freunden im Mano. In diese Stühle fläzte er sich für sein Leben gern. Genussvoll nippte er am Daiquiri, während er den glitzernden, karibischen Abendhimmel bewunderte. Der Dreißigjährige spürte Schweißperlen am Rücken trocknen. Er hatte es pünktlich zum Date geschafft. Zeitmanagement war nicht seine Stärke, sagte Ayse, wenn er deutlich verspätet zu Verabredungen kam.
Roland Geber hielt, seit fünf Minuten unverändert auf die schrumpfende Schaumkrone stierend, ein Bierglas in den Händen. Er schien unglücklich.
Eine Vinylscheibe drehte sich auf dem anthrazitfarbenen Plattenteller. Jeden Donnerstag spielten sie chill-out-Musik. Die Raummitte war leergeräumt, an Stelle der Tische befand sich auf einem erhöhten Podest das Mischpult. Der DJ hatte zur Musik wippend den Kopfhörer über eine Skimütze gestülpt. Mit zusammengekniffenen Augen las er den Namen des nächsten Covertitels. Kurz darauf kam die Interpretenansage. Runkel reckte das Kinn und zeigte auf zwei Männer.
„Ich kann mit solchen Typen nicht.“
Um seiner Abneigung Nachdruck zu verleihen, schüttelte er heftig den Kopf.
Der Ältere blickte finster herüber. Er war um einiges größer als sein Partner, dessen Hinterkopf er mit der Hand umschlossen hielt. Im nächsten Moment verpasste er dem Athleten einen tiefen Zungenkuss.
„Warum regst du dich auf, Kleiner? Menschen, die mir auf den Geist gehen, sind Luft. Ignorier sie! Das mache ich auch.“
Errötend wischte sich Runkel mit Zeigefinger und Daumen die Augen aus. Ein Themenwechsel würde dem Gespräch eine neue Richtung geben. Er drehte den Kopf und blickte zur ockerfarbenen Seitenwand, in die eine schmale Durchreiche zur Küche gefräst war. Ein Klingelton ertönte. Der thailändische Koch steckte den Kopf durch die Verbindungsluke.
„Eine Tasse Tom Kha Gai für die Dreizehn.“
Die hohe, helle Männerstimme des Asiaten harmonierte nicht mit den dunklen Blank & Jones Bässen, die sich aus Lautsprecherboxen verteilten. Geschäftsmäßig schoss der schlanke Kellner um die 25 in weißer Schürze und schwarzem Hemd heran, um eine dampfende Suppe für die vier Männer im Eck zu holen.
„Die Decken haben was von den Freskenmalereien in den italienischen Kirchen, die wir besucht haben. Florenz? Vor allem die geile Szene mit den androgynen, halbnackten Typen ist super.“
Runkels Augen glänzten.
Kommentarlos verschwand Gebers Gesicht im Literglas. Er nahm einen tiefen Schluck und wischte die Schaumreste mit dem Handrücken vom Mund. Einige Tropfen vom süffigen Augustiner Bier benetzten die Lippen des Unternehmensberaters. Stolz schaute er an sich hinunter. Trotzdem seit der Jugend dem Gerstensaft zugetan, trug er seit zwanzig Jahren Konfektionsgröße 102.
„Soll ich den Sessel kippen? Dann musst du mich auffangen, Prinzenretter werden.“
Runkel presste die Worte mit leiser Stimme schnell heraus. Im nächsten Moment blickte er an die Decke, um nicht in die Augen des Freundes schauen zu müssen.
Geber verzog das Gesicht. Seine Ellbogen waren auf die Knie gestützt.
„Dein schwules Getue macht mich aggressiv. Meine Tage sind stressig.
Geht das in dein hübsches Birnchen?“
Der Mittvierziger presste, die Arme verschränkt, den Rücken an die Stuhllehne.
Mit einem Ruck bewegte sich der Sessel des Jüngeren nach vorne und fiel krachend in die natürliche Position. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und die Stimme sprang von einer Sekunde auf die andere eine Oktave höher. Tränen schossen ihm in die Augen.
„Wieso behandelst du mich so?“
Geber verzog keine Miene.
„Mein Junge, du findest Machos cool! Ich habe letztes Wochenende, beim Ausflug, nichts anderes gehört. Tucken suchen sich große, maskuline Männer, um Defizite auszugleichen.“
Selbstverliebt betrachtete der Unternehmensberater sein Profil im Wandspiegel und fuhr sich durch die Haare. Was er sah, gefiel ihm. Leise lachte er vor sich hin. Provozierend schaute er in die feuchten Augen seines Gegenübers. Für ihn war die Sache von Anfang an klar gewesen. Sie waren nicht zusammen, würden es nie sein. In dieser mit Krimskrams überladenen Schwulenbar nahmen sie am frühen Abend einen Drink. Manchmal waren es zwei. Wenn er gut drauf war, genehmigte er sich sogar drei oder mehr. Der Kleine vertrug nichts, war aber mit Alkohol im Bett gefügig. Später gingen sie in seinem Apartment in die Kiste. Das war es dann bis zum nächsten Date. Der Fickkumpel musste sich die Frage beantworten, warum er bei diesem Spiel mitmachte.
Breitbeinig stolzierte Geber zur Bar.
„Gib mir ein Glas London Gin ohne Eis, mein Junge.“
Lässig zeigte er auf die Flaschenwand hinter dem Barkeeper. Der Mann schien ihn nicht zu verstehen. Verträumt schaute der Beau den deutlich Älteren mit geneigtem Kopf an.
„Entweder ist die Saftschubse schwerhörig oder blöd, dafür zugegebenermaßen geil“, murmelte Geber, Kopf schüttelnd, vor sich hin. Er musste sich zusammenreißen. Der Bartyp könnte eine Bettalternative werden, falls der Kleine durchdrehen würde. Kurz darauf wiederholte er grinsend seine Bestellung und deutete nochmals hinter die Theke.
Wasserperlen traten auf die Stirn des Barmanns. Nervös beobachtete der Mittzwanziger aus den Augenwinkeln seinen Gast, während er den Schraubverschluss einer grünen, bauchigen Flasche öffnete und das Glas auf dem Tresen halb füllte.
„Geht doch. Praktikant?“
Geber nickte zwinkernd dem Bartender zu. Hinten im dunklen Raum saß Runkel mit nach vorne gezogenen Schultern im Sessel, hielt den Kopf mit den Händen umschlungen und blickte verzweifelt zu Boden.
„Geht´s unserer Dame besser?“
Der Ältere überwand sich zu einem Lächeln, während er einen Arm auf die schmale Schulter des Geliebten legte.
Brüsk schob Fabian Runkel die Hand zur Seite.
„Warum zickst du? Eingeschnappt? Langsam musste wissen, wie ein geiler Macho wie ich tickt.“
Erbost schüttelte Geber den Kopf.
„Du bist mir ans Herz gewachsen. Ich denke jede freie Minute an dich.
Doch dieses Hin und Her halte ich nicht länger aus.“
Fabian Runkels Stimme zitterte. Mit feuerrot glühenden Wangen blickte er den Freund an.
Im nächsten Moment erinnerte er sich, mehrmals ein und aus atmend, an den Meditationskurs in der Bank. Sofort war es nicht mehr so schummrig. Er holte ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte hinein.
„Entscheide dich. Ich oder die Weiber!“
Geber kippte den Rest Alkohol hinunter. Großkotzig stand er mit in die Seiten gestemmten Armen da. Ein verächtliches Schnauben folgte. Der Mittvierziger grinste.
„Das ist nicht wahr! Willst du mich mit so ´nem Satz provozieren?
Wahrscheinlich macht dich die Vorstellung spitz, wie ich es mit zwei Frauen gleichzeitig treibe, oder du willst mitmachen, Männlein spielen.“
Die Stirn des Unternehmensberaters kräuselte sich. Drei Passive in einer Nacht konnte ein Roland Geber sich nicht vorstellen. Das würde sogar seine Manneskraft überfordern.
Runkels Hände zitterten. Die seit Monaten erduldeten Beleidigungen und Unterstellungen vermochten ihn nicht mehr runterzuziehen. Diesem Ekel durfte nicht der Triumph bleiben, das Schlachtfeld als Sieger zu verlassen. Tränen liefen über sein Gesicht. Lediglich das summende Geräusch der Klimaanlage war zu hören. Der DJ hatte den Übergang zwischen zwei Platten nicht hinbekommen.
„Hör auf, mich wie so ´nen räudigen Köter zu behandeln. Entscheide dich! Mir reicht´s, endgültig!“
Mit einem Satz sprang der Jüngere auf und stieß den Tisch um. Das Geräusch zerspringender Gläser durchschnitt den Raum. Sofort breitete sich schaler Biergeruch vom Boden aus. Alle Gespräche verstummten auf einen Schlag. Mit neugierigen und betroffenen Blicken schauten die Gäste auf.
Der Koch meldete sich zurück. Erschrocken glotzte der Thai durch die Luke.
„Den Hühnerspieß für Tisch fünfzehn kannst abholen.“
„Pass auf, du Trottel, wo du verdammt nochmal hinrennst!“
Der größere der beiden Haarlosen war aufgesprungen und versuchte mit hektischem Reiben vergeblich das ursprünglich blütenweiße Hemd von den sich in Sekundenbruchteilen vergrößernden Alkoholflecken zu reinigen. Runkel achtete nicht darauf. Er wollte schnell weg von Roland und lief mit großen Schritten leichenblass Richtung Ausgang.
„So ein Arschloch ...“, schrie er die ockerfarbene Wand an.
Mit einem Ruck sprang die Tür zur Buttermelcher Straße auf. Penetrantes Fahrradklingeln und zwei kernige oberbayerische Männerflüche drangen herein.
Geber schlenderte mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen an die Bar. Leise pfiff er die den Raum füllende Melodie von Street Live mit. Der DJ hatte sich gefangen und den aktuellen Remix des Klassikers aufgelegt.
„Mach mir noch ´nen Gin ohne Eis, mein Junge. Der Tanqueray schmeckt verdammt gut.“
Mit arrogantem Wink an die Bar orderte Geber die Rechnung.
Der Kleine hatte die Nerven verloren. Morgen würde er seinen Lover anrufen und rumkriegen. Er brauchte wieder guten Sex mit einem athletischen, devoten Typen. Dann würde der Druck im Job verschwunden sein.
Beide Plastikeinkaufstüten lehnten an den Längsstreben des Holzgeländers. Durch das Flurfenster waren mit Phantasie hinter der grauweißen Wolkenkette Mondkonturen im Münchner Abendhimmel zu erkennen.
Runkel tupfte mit einem Papiertaschentuch über die Stirn und wühlte mit der anderen Hand in der Hosentasche. Endlich, da war der Wohnungsschlüssel. Wenigstens das klappte, wenn auch erst nach minutenlanger Suche. Der Banker neigte den Kopf. Die Bude roch nach Räucherstäbchen von vorgestern. Erst mal lüften, dann war Urlaub. Zehn Tage keine Arbeit. Der Blackberry vibrierte.
Ayse nervte mit ihren Anrufen. Eigentlich wollte er sie nicht sprechen, sondern Ordnung schaffen, seine nassen Sachen in die Waschmaschine schmeißen und eine SMS senden. Für den Rest des heutigen Tages hatte er Ruhe verdient.
„T´schuldigung, ziemlich hektisch heute.“
„Fabi …? “
Gekonnt touchierte der Zeigefinger den roten Hörer auf dem Tastenfeld. Sofort lag der Blackberry abgeschaltet auf der Kommode. Er putzte über die glatte Oberfläche des rostbraunen, chinesischen Möbelstücks. Runkel war Sauberkeitsfanatiker und duldete in der Wohnung keinen Fussel. Einzig und allein bei Katzenhaaren zeigte er sich tolerant.
Nach den Nachrichten spielten sie in Bayern 2 Bach sowie andere Klassiker im Free Jazz. Das würde seine Laune verbessern. Vorher musste er die 60-Grad-Taste an der Miele betätigen, die Mutter beim Wohnungseinzug spendiert hatte. Ob es sich lohnen würde, nach der Musik den Rechner hochzufahren?
Liebevoll betrachtete er die Katze. Penelope schmiegte sich, ihn mit hochgestellter Rute umkreisend, an seine Beine. Mit einem Mal sprang sie auf und huschte davon.
Fabian Runkel bekam die schwarze Flitzerin nicht zu fassen. Die Tür zum Schlafzimmer mit französischem Balkon stand offen. Neugierig schaute das Tier durchs Stabgitter auf die Hans-Sachs-Straße.
Seit einem Jahr war das BWL-Studium an der LMU abgeschlossen. Eine Wohngemeinschaft kam nicht in Frage. Er wollte sein eigener Herr sein. Als der von der Bavariabank gegengezeichnete Arbeitsvertrag über die Anstellung als Mitarbeiter im Risikocontrolling im Briefkasten lag, hatte er nach kurzer Überlegung entschieden, zweieinhalb Zimmer mit Wohnküche zu mieten. Im Glockenbachviertel fühlte er sich zu Hause. Ayse hatte sich vor knapp zehn Monaten mit ihm angefreundet, als sie nach einer langweiligen Geburtstagsfeier eines Kollegen im Club um die Ecke weiter feierten und danach in seiner Wohnung mehrere Flaschen Prosecco köpften. Die Clubmachos aus dem P1 gruben sie dauernd an, das langweilte. Jeder Schwule brauchte eine beste Freundin. Seitdem telefonierten sie jeden Tag und trafen sich häufig zum Essen oder auf einen Drink in der Innenstadt. Die Türkin arbeitete im Wertpapierhandel der Bavariabank. Dort führte sie Orders im Wertpapierhandel aus.
Seufzend schaute Runkel zur Tür. Was Roland jetzt machte? Vergeblich hatte er die Gedanken an den Geliebten zu verdrängen versucht. Penelope kam aus dem Schlafzimmer geschlichen. Langsam umstrich die Katze seine Beine und erwartete sehnsüchtigen Blickes ein Streicheln. Der Banker kniete hin. Aus den glänzenden Barthaaren des Tieres tropfte Milch und hinterließ eine lange Tropfleiste auf dem frisch geölten, hellen Eichenparkettboden. Das Tier lag unter Fingerkraulen zusammengerollt schnurrend auf dem schwarzen Läufer. Der vom Fressen sowie Trinken aufgeblähte Bauch erstaunte.
Die Lust auf Kontakt mit den Jungs wuchs. Neben der Musik konnte er problemlos chatten. Auf der Homepage von Gay Julian grüßte das Bild dreier junger, spärlich bekleideter Modellathleten. Runkel grinste. Seit Jahren waren es dieselben Gesichter. Langsam konnte sich die Betreibergesellschaft was Neues einfallen lassen. Schnell gab er Nutzernamen sowie Passwort ein und drückte die Enter-Taste. Das System reagierte prompt mit der erfolgreichen Anmeldung. Schnell verwarf er den hypothetischen Gedanken, ob er scharf auf die Jungs der Eröffnungsseite wäre, wenn es Roland nicht geben würde. Er stand nicht auf junge Athleten, sondern auf bodenständige Männer in den besseren Jahren. Die Leiste am unteren Rand des Bildschirms war mit zwei durchgezogenen pinkfarbenen Linien unterlegt. Darüber las er die gespeicherten Nutzernamen. Er hatte seit seiner Abmeldung gestern fünf Nachrichten. Drei Chatpartner waren online, Liability, Moet für ihn und Suche nur Sex. Neben den Namen waren drei schwarze Smileys in gelben Kreisen zu sehen. Runkels Handflächen schwitzten als er die erste Nachricht aufrief.
„Bist ´ne geile Sau. Sex?“
Ein rein Aktiver war was Feines. Liability mühte sich seit Wochen um ein Date. Runkels Finger flogen über die Tastatur. Die Antwort kam postwendend und weckte den Jagdinstinkt. Der Chatpartner hatte ihn abgepasst.
„Suche für sofort ´nen Boy, glatt rasiert, süßer Po. Kann gut rannehmen, kannst ins Gästebuch gucken. Find dich hammergeil!“
Runkel öffnete die Anlagen. In der nächsten Sekunde waren die Nacktbilder im virtuellen Papierkorb entsorgt. Sein Interesse war erlahmt. Das Teil war nicht so groß wie erhofft. Die Botschaft von Suche nur Sex folgte aus dem gleichen Grund samt Anlagen direkt hinterher. Endlich, die dritte Nachricht von 22:48 Uhr gestern war von Roland.
Runkel jubelte.
„Ich war heute nicht gut drauf - im Mano - sorry. Lass uns in zehn Tagen abends im Englischen Garten an der alten Stelle treffen. Bin bis zum 12. mittags auf Geschäftsreise in Ossiland. Mache alles wieder gut, versprochen. Kuss, Roland. PS: Bin morgen auch dort ...“
„Typisch Roland. Emotional rauf und runter, doch bei der zeitlichen Planung krass spießig.“
Runkels Herz klopfte bis zum Hals. Er fand den Typen sehr geil, doch das Hin und Her ging an die Substanz. Was sollte das mit dem Englischen Garten?
Der Blackberry vibrierte. Sie wieder. Ärgerlich, dass er die Kiste doch nicht abgeschaltet hatte. Kurz überlegte der Banker, ob er ablehnen sollte.
„Ayse! Hallo, meine Beste! Cool, dass du anrufst. Bin aufgeregt.“
„Warum? Was is´n los? Muss ich mir Sorgen machen?“
„Roland will mich im Ledernest treffen.“
Sie kicherte.
„Heten haben Null Ahnung, was in so ´ner Cruising Area abgeht. Das ist im E-Garten, beim Monopteros.“
Der Informationsvorsprung gegenüber der Freundin gab ein Überlegenheitsgefühl.
„Okay, bleib locker. Klar habe ich schon von der Location gehört. Dort treffen sich nachts Gays und Bi-Typen, um Sex zu haben oder zuzugucken.“
Das Telefonat stockte.
„Nicht nur das. Ist voll crazy. Vor der Zeit mit Rolli bin ich dort hin.“
„Stimmt das, oder schwindelst du?“
Ayse hatte kurzatmig nachgehakt.
„Neugierig warst schon immer, nun denkst, ich lüg dich an.“
Enttäuscht überlegte Runkel die rote Hörertaste zu drücken.
„Wieso will dich dein Stecher an so einem üblen Platz treffen?“
Im Grunde gab er der Vertrauten Recht. Roland Gebers Wunsch war schräg. Außerdem war ein Treffen in der Nacht in jener Gegend nicht risikolos.
„Pass auf dich auf, Fabi. Ich mache mir Sorgen.“
Mit stockender Stimme starrte Runkel auf den Bildschirm und öffnete die nächsten Nachrichten, die kurz nach der ersten abgesandt worden waren.
„Wo bist du? Warum antwortest du nicht? Will dich sehen. Tausend Küsse, R..“
Runkels Herz schlug bis zum Hals. Was würde er dafür geben, jetzt beim Geliebten zu sein!
„Weiß schon, ich nerve mit sinnlosen Kommentaren oder Tipps. Sorry dafür.“
„Stimmt nicht.“
„Egal, ich wünschte dir ´ne gute Nacht. Schlaf gut, Fabi.“
Erleichtert legte Runkel das Handy zur Seite. Manchmal konnte Ayse über ihren Schatten springen und wollte nicht alles detailliert wissen.