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Die Stockholmer Mordkommission beginnt erneut zu ermitteln. Eines der ersten Opfer ist Jana Vasilijevna Bogdanova. Ihr Vater ist Inhaber einer Reederei, die durch gewinnbringende, nicht immer legale Geschäfte mit Oligarchen aufgebaut wurde. Doch der Fall ist wesentlich komplexer und schlägt internationale Wellen. Lars-Erik Hallak, der beim "Stockholm Kurieren" als Russlandexperte gilt und fließend Russisch spricht, gerät schnell an seine Grenzen, als klar wird, dass außer russischen Konzernen auch eine große koreanische Reederei involviert ist, die sich zudem bei den Schweden eingekauft haben. Doch es kommt noch schlimmer und Hallak gerät zwischen die Fronten. Dies ist nach "Die Macht der Akademie" und "Shitstorm" der dritte Band in der Reihe "Edda Valby" von Neal Skye. Die Romane der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 384
Veröffentlichungsjahr: 2023
Neal Skye
RECHNE
mit dem
TOD
EIN EDDA-VALBY-KRIMI
Schweden-Krimi
Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG
Cover: Simone C. Franzius
Bildlizenzen: shutterstock
Korrektorat/Lektorat Sigrid Wohlgemuth
Verantwortlich für den Inhalt des Textes
ist der Autor Neal Skye
Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH
Druck und Bindung: BoD, Norderstedt
ISBN 978-3-96050-242-5 (E-Book)
Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH
Hogen Kamp 33, 26160 Bad Zwischenahn
Copyright © 2023 Franzius Verlag GmbH, Bad Zwischenahn
www.franzius-verlag.de
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Meinen herzlichsten Dank an Barbara, Cherry, Katja, Christian, Manfred, Björn, Roisemarie B. und den vielen anderen, die mir bei diesem Projekt zur Seite gestanden haben!
Als die russischen Panzer am 24.02.2022 die Grenze zur Ukraine überschritten haben, waren bereits zweihundert Seiten geschrieben und sechszehn Monate in dieses Buch investiert worden. Natürlich stellte sich die Frage, ob man einen Krimi veröffentlichen kann, der zu einem großen Teil in Sankt Petersburg spielt, wenngleich im Winter 2018, weit vor den alles verändernden Ereignissen. Und natürlich kam das Projekt für einen Moment komplett zum Erliegen. Aber es handelt von Menschen, die wie wir alle ihren ganz eigenen Antrieb haben, ihre ganz eigenen täglichen Kämpfe austragen und die somit Teil einer Geschichte geworden sind, die es zu Ende erzählen galt.
»Und? Siehst du was?«
»Ja, ihn. Er setzt sich an einen Tisch direkt am Fenster. Er zieht sich die Jacke aus und – Achtung! Jetzt nähert sich ihm eine junge Frau. Er spricht mit ihr.«
»Na endlich! Kannst du schon erkennen, wer es ist?«
Aufgeregt löste Berglund seinen Sicherheitsgurt und riss seinem Kollegen das Fernglas aus der Hand, als dieser nicht gleich reagierte. Vielleicht erfuhren sie nun endlich, was Hallak für ein Spiel spielte.
Hatte es überhaupt etwas mit seinem merkwürdigen Auftreten in Kristianstad zu tun? Eine seltsame Andeutung in einem Telefonat mit der Leiterin der Stockholmer Mordkommission in Verbindung mit einem Bauchgefühl, das diese nicht näher zu erläutern gedacht hatte, war eine ausreichende Begründung für eine Kurzzeitobservierung gewesen.
Mit wem traf er sich? Berglund spähte gespannt durchs Fernglas und bemerkte Morlands Grinsen erst viel zu spät.
»Ich wollte gerade von seinen Lippen ablesen, was er sich bei ihr bestellt«, sagte Morland mit übertrieben schmollendem Unterton.
»Wann wirst du endlich erwachsen?«, fragte Berglund und schleuderte das Fernglas in Morlands Schoß, dass diesem abrupt das Schmunzeln verging.
»Ach, komm schon! Wir verfolgen ihn jetzt seit zwei Stunden und alles, was der Typ macht, ist shoppen. Erst die Buchabteilung und die Parfümerie im Warenhaus, eben der Whisky aus dem Scotland-Store und jetzt bestellt er sich wahrscheinlich einen Kaffee. Und ich komme mir langsam vor wie ein verdammter Stalker.«
»Das ist auch mein freier Sonntag, der hier flöten geht«, erwiderte Berglund unwirsch. »Mensch, das ist doch nicht deine erste Observierung.«
Morland stieß einen abfälligen Zischton aus.
»Observierung nennst du das? Wir sollten froh sein, wenn wir nichts finden, was wir in einen Bericht schreiben müssten. Ich sehe die Alte schon im Zeugenstand, wie sie verzweifelt versucht, diesen Einsatz zu legitimieren.«
»Du siehst zu viel fern, oder? Und glaube mir mal, wenn Edda vor Gericht aussagen würde, dann hätte niemand Zweifel daran, dass die Beschattung legitim war.«
Kopfschüttelnd lehnte sich Morland zurück.
»Er ist nicht mal ein Verdächtiger!«
»Weißt du ja nicht«, antwortete Berglund gelassen. »In jedem Fall hält er Informationen zurück und behindert damit unsere Ermittlungen.«
»Pff. Er ist einfach schneller als wir. Und als wenn das nicht peinlich genug wäre, stalken wir ihn in der Hoffnung, über ihn zu erfahren, wer hinter all dem steckt.«
Berglund verzog den Mund.
»Wenn man dir so zuhört, könnte man denken, du redest über einen verdammten Rockstar. Geh doch hin zu ihm und lass dir ein Autogramm geben.«
Morland schüttelte den Kopf.
»Was hast du gegen ihn? Das klingt fast, als sei das was Persönliches. Der macht doch auch nur seinen Job!«
»Der Typ verarscht uns seit Jahren. Was sag ich, seit Jahrzehnten.« Berglund schnaufte verächtlich. »Mag so acht oder neun Jahre her sein. Bei überraschend vielen Einsätzen war plötzlich die Presse vor Ort. War nicht das erste Mal, daher war uns relativ schnell klar, dass da irgendwer den Polizeifunk abhörte und die Informationen wahrscheinlich meistbietend versteigert hat. Das hat unsere Arbeit erheblich erschwert. Wir haben daraufhin der Brut eine Falle gestellt. Gezielt Falschinformationen gestreut. Eine Geiselnahme in einem Bürokomplex. Alle sind darauf reingefallen. Nur Hallak nicht. Der war sonst immer als Erster vor Ort, aber in dem Fall? Keine Spur. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass ihn irgendjemand gewarnt hat. Einer von uns.«
»Lass mich raten: Es ist nie herausgekommen, wer ihn gewarnt hat.«
Berglund nickte. »Er weiß etwas über die Sache und rückt damit nicht raus.«
Morland grinste.
»Doch, ich schätze, eines Tages erfährst du alles auf der Titelseite des ›Stockholm Kurieren‹.«
Berglund stöhnte.
»Und genau das werden wir verhindern!«
Morland schmunzelte und führte das Fernglas wieder vor seine Augen.
»Du, jetzt kommt wirklich jemand. Aber keine Ahnung, wer das ist.«
»Gib mir mal das Fernglas«, forderte Berglund ihn auf. »Wie sieht er denn aus?«
Morland grinste.
»Jung, schlank, sportlich, halblange, dunkelblonde Haare – hübsch, soweit ich das sehe.«
»Eine Frau?«, fragte Berglund irritiert und vergewisserte sich selbst.
»Vielleicht eine Geheimagentin«, spottete Morland. »Oder wir vertrödeln Zeit, während er ein heißes Date hat.«
»Du vertrödelst Zeit«, raunte ihn Berglund an. »Los, rein da mit dir. Der Nachbartisch ist frei. Worauf wartest du denn noch? Setz dich dahin und versuch mitzukriegen, worüber sie reden! Und beeile dich!«
»Wieso ich?«, maulte Morland.
»Dich kennt er noch nicht«, antwortete Berglund gereizt.
Morland fluchte. Schwer stöhnend öffnete er die Wagentür, stieg aus und gab der Tür einen ordentlichen Schwung. Berglunds verärgerten Kommentar überhörte er. Dann zog er den Jackenkragen hoch, überquerte die Straße, die entlang des Vasaparken führte, und betrat das kleine Restaurant, das typisch schwedische Gerichte anbot. Er setzte sich mit dem Rücken zu dem Tisch, an dem Hallak mit seiner Begleitung saß. Aber er hörte sie nicht sprechen. Für einen Moment ärgerte er sich, dass er sich nicht für die andere Seite des Tisches entschieden hatte, um wenigstens mitzubekommen, was sie überhaupt taten. Hielten sie Händchen? Dafür war die Frau ein wenig zu jung gewesen. Fünfundzwanzig vielleicht, während Hallak schon die Vierzig ein gutes Stück überschritten hatte. Er hörte ein schelmisches Schnaufen, offensichtlich von ihm und dann steuerte die Bedienung mit zwei Latte Macchiato auf einem kleinen Tablett zum Tisch hinter ihm.
»Danke, stimmt so«, hörte er Hallak sagen.
Morland traute seinen Ohren nicht. Ein Stuhlbein quietschte am Boden – offenbar war einer der beiden am Nachbartisch aufgestanden. Irritiert drehte er sich um. Hallak grinste und wandte sich dann wieder der Kellnerin zu.
»Einen bekommt der Kommissar am Nachbartisch und einen bring doch bitte dem anderen, der sich in dem silbernen Volvo da draußen den Arsch abfriert.«
Hallak zwinkerte Morland zu und verließ das Restaurant. Die junge Frau, die keinen Ton gesagt hatte, folgte ihm, ohne Morland eines Blickes zu würdigen.
»Guten Morgen, Mats!«, flötete Edda Valby. »Gut geschlafen?«
Niemand lachte, auch wenn allein das missmutige Gesicht von Mats Berglund dazu einlud.
»Hej«, antwortete er kaum hörbar. Es ist sieben Uhr morgens, dachte er. Und es hatte zu Hause nicht mal zu einem Kaffee gereicht, um die vorverlegte Einsatzbesprechnung der Stockholmer Mordkommission nicht zu verpassen. Das war eigentlich das Schlimmste gewesen.
»Sebastian hat es mir schon erzählt. Euer Einsatz von gestern Abend war ja offenbar ein voller Erfolg. Bravo.«
Berglund holte tief Luft.
»Also, wenn ich dazu …«
»Nicht jetzt«, unterbrach ihn Valby mit einem breiten, künstlichen Lächeln, das umgehend erstarb.
»Da wir jetzt vollständig sind, können wir ja nun endlich anfangen. Also was haben wir?«
Sie deutete auf das Whiteboard, auf der ein Foto einer Frau und eines mit einem ausgebrannten Auto zu sehen war.
»Die Frau wurde gestern Abend etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht auf Riddarholmen gefunden. Wir gehen zumindest davon aus, da um elf Uhr zweiunddreißig im ›Stadssjukhuset Marieberg‹ ein Notruf einging. Der Anrufer meldete, er habe einen Körper aus dem Wasser gezogen und umgehend Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet. Der Anruf kam von einem Handy eines russischen Anbieters und der Mann sprach mit einem russischen Akzent. Ich verspreche mir nicht viel von den Nachforschungen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass der russische Provider uns einen Namen angeben kann. Ob der Anrufer nur Zeuge oder auch Täter ist – da sollten wir offenbleiben. Sollte er lediglich Zeuge sein, bleibt die Frage, warum er den Notruf anonym getätigt hat. Sie liegt im Koma und die Ärzte können noch nicht sagen, ob sie durchkommen wird. Sie hat Hiebverletzung am Hinterkopf, verursacht wahrscheinlich mit einem Hammer oder der stumpfen Seite einer Axt. Könnte auch ein Pflasterstein gewesen sein – das wird derzeit noch zu präzisieren versucht. Gefunden wurde am Tatort nichts dergleichen. Sie hat offenbar nur wenige Minuten im Wasser gelegen, doch ohne den Notruf hätte sie in jedem Fall nicht überleben können.«
»Wissen wir schon, wer es ist?«, fragte Gudmundsson.
Valby schüttelte den Kopf und verzog den Mund zu einem breiten, falschen Lächeln.
»Das wäre mein nächster Punkt gewesen, Pelle. Nein, die Identität ist noch nicht geklärt, obwohl durch die schnelle Entdeckung es noch möglich war, Fingerabdrücke zu nehmen. Leider sind diese nicht im System, sodass uns das für den Moment nicht hilft. Das Opfer ist weiß, weiblich, Mitte zwanzig, einen Meter sechzig groß, schlank, keine besonderen Merkmale, außer … Stella?«
»Das Opfer weist multiple Frakturen im rechten Arm und einige Hämatome an Schulter, Oberarm und Bauch auf«, begann Lindbergh. »Also Hinweise auf häusliche Gewalt, auch wenn die Spuren nicht unterschiedlichen Alters sind. Genau kann es die Rechtsmedizin noch nicht sagen, aber erste Einschätzungen sprechen von mehr als drei Monaten, aber weit weniger als ein Jahr. Vielleicht wurde das ja zur Anzeige gebracht. Sehr wahrscheinlich war sie aufgrund der Frakturen auch in medizinischer Behandlung. Ich denke, dass wir da ein paar Ansätze haben, die die Identität offenbaren werden. Es gibt allerdings ein kleines Problem. Sie hatte keine Brieftasche dabei, was die Identifizierung erschwert. Aber nach einem Raubüberfall sieht es auch nicht aus. Das Opfer trug eine hochwertige Armbanduhr russischen Fabrikats.«
»Moment! Russisches Fabrikat?«, wiederholte Berglund. »Also erst ein russisches Handy, dann ein Anrufer, der mit einem russischen Akzent sprach und nun eine russische Armbanduhr? Russische Mafia? Ist das wieder ein Fall für das NOA?«
»NOA?«, fragte Bára Joensen.
»Abteilung für Nationale Operationen«, erklärte Berglund und zwinkerte ihr zu. Joensen kam von den Färöer-Inseln und war für einen gemeinsamen Fall aus Tórshavn nach Stockholm gesandt worden. Nach dessen Abschluss hatte sie sich auf eine frei gewordene Stelle beworben und gehörte nun seit zwei Wochen fest zum Team, zumindest, bis die Formalitäten geklärt waren. Sie war ursprünglich ausgewählt worden, weil sie aufgrund ihrer schwedischen Mutter die Sprache beherrschte. Zudem hatte sie die ersten zwei Jahre ihres Lebens in Schweden verbracht und war somit zweisprachig aufgewachsen. Allerdings musste sie daran arbeiten, sich den starken Småland-Akzent abzugewöhnen. Es war ihr unangenehm, wenn Valby sie korrigierte oder gar nachfragen musste, wenn diese sie nicht beim ersten Mal verstanden hatte. Ebenso unangenehm wie diese Frage. Natürlich war allen außer ihr klargewesen, was Berglund mit NOA gemeint hatte.
»Eine Beteiligung der Russischen Mafia zu vermuten wäre natürlich eine vorschnelle Schlussfolgerung«, bemerkte Lindbergh.
»Und die Mafia ruft auch nur äußerst selten in Krankenhäusern an, weil sie versehentlich eine Frau versenkt haben«, stichelte Valby und gab Lindbergh ein Zeichen, dass sie fortfahren sollte.
»Aber neben der Uhr weist das Textilpflegesymbol ihrer Hose darauf hin, dass diese in Russland hergestellt worden ist. Also ja, eine Meldung an das NOA ist raus, um eine mögliche Zusammenarbeit mit den russischen Behörden zu koordinieren.«
»Und was hat das brennende Auto auf der Tafel zu suchen?«, fragte Almgren.
»Das wäre eine der Aufgaben, die wir schnellstens zu lösen haben«, sagte Valby.
»Russische Mafia.« Berglund hob wie zur Entschuldigung die Schultern. »Ich sag es ja nur. Das Bild von dem Auto deutet auf einen Brandbeschleuniger hin. Damit schätze ich, werden wir im Wagen keine brauchbaren Spuren finden. Wäre daher passend zu ihrer Handschrift.«
Gudmundsson schüttelte den Kopf.
»Das mag ja sein, aber dagegen spricht, dass sie einen noch lebenden Menschen offenbar ziemlich dilettantisch einfach ins Wasser geschmissen haben – noch merkwürdiger: Sie hat überlebt. Würde mich nicht wundern, wenn die Spurensicherung da noch weitere Spuren findet. Vielleicht sogar am Auto – an der Scheibe zum Beispiel. Da könnte man auch trotz Brand verwertbare Spuren finden.«
Klugsch …, dachte Berglund, ließ sich aber nichts anmerken und sah Gudmundsson an.
»Weiß man schon etwas über das Fabrikat des Autos? Ein Lada vielleicht?«
Berglund ignorierte Valbys ärgerlichen Blick. Ironische Kommentare mochte sie nicht. Zumindest nicht die von anderen.
»Ein weißer Opel Combo«, antwortete Lindbergh. »Ein Lieferwagen einer Malerfirma, die diesen prompt heute Morgen als gestohlen gemeldet hat.«
»Hm …« Berglund stand auf und ging zum Whiteboard, um sich das Bild von dem Wagen näher anzusehen. Eher zufällig fiel dabei auch sein Blick auf das Foto mit der Frau. Das hatte er von seinem Platz aus so genau gar nicht sehen können, aber jetzt stand er mit offenem Mund da und, ohne es zu merken, hatte er den Arm gehoben und seinen Zeigefinger ausgestreckt. Einen Moment blieb er so regungslos stehen, bis er bemerkte, dass ihn alle anderen anstarrten.
»Kennst du diese Frau?«, fragte Valby irritiert.
»Sebastian«, sagte er nur. »Du hast sie von Nahem gesehen. Das ist sie, oder?«
Morland verzog die Augenbrauen. Wen meinte er? Er zuckte mit den Schultern, stand auf und näherte sich der Tafel.
»D-das«, stotterte er, nachdem er das Bild der Frau sah. »Das ist sie.«
Morland sah Berglund fassungslos an.
»Möchte einer von den Herren auflösen? Bitte?«, fauchte Valby. Berglund erlangte als Erster die Fassung.
»Wir wissen nicht, wer sie ist.«
»Aber«, ergänzte Morland, »wir wissen, wer es weiß.«
»Lars-Erik Hallak vom ›Stockholm Kurieren‹.« Berglunds Stimme klang wütend. Sie hatten sie gestern noch gesehen. In dem kleinen Restaurant am Vasaparken. Und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie einen Weg gefunden, ihn weiter zu beschatten. Aber sein Kollege hatte es ihm ausgeredet. Und nun stand Morland neben ihm und rang nach Luft.
Ulf Mårtensson leitete die Buchhaltungsabteilung der Östersjön Feeder AB nun seit über zwanzig Jahren. Leif Sylvegård, der Gründer der Reederei, persönlich hatte ihn noch eingestellt. 2008, kurz vor der Weltwirtschaftskrise, hatte dieser das Unternehmen an seine Tochter Hanna Sylvegård übergeben. Sie hatte es durch äußerst schwieriges Fahrwasser zurück in ruhigere Gewässer geführt. Die Östersjön Feeder AB galt bei den Dienstleistern und Banken wieder als kreditwürdig und immer häufiger nahmen sie größeren Konkurrenzunternehmen namhafte Kundschaft ab. Auf der Weihnachtsfeier sechs Jahre zuvor hatte Sylvegård in ihrer Rede zum Ausblick auf das neue Jahr den Einstieg der koreanischen Sang-eo Shipping Line Ltd. mit dreißig Prozent verkünden können. Frisches Kapital, verbunden mit einem starken Partner, nur so konnten sie sich gegen die immer stärkere Konkurrenz behaupten. Im Folgejahr waren die Buchungszahlen explodiert, das Personal musste aufgestockt werden und erst ein Jahr zuvor war der Bau von zwei eigenen Schiffen in Auftrag gegeben worden. Doch die Anforderungen des wichtigsten Partners führten auch Nachteile mit sich. Und diese schlugen nun mit voller Härte zu. Trotzdem wollte Mårtensson es nicht glauben. Bisher war es nur ein Gerücht gewesen, das sich seit dem frühen Morgen hartnäckig gehalten hatte. Doch als er den Namen Hanna Sylvegård auf dem Display seines Telefons gelesen hatte, fürchtete er das Schlimmste. Nach ihrer Bitte nach einer Außenstandanalyse für die Sang-eo Shipping Line hatte er sich bestätigt gefühlt. Und nun war es bittere Gewissheit.
»Ulf, hej«, begrüßte Sylvegård ihn.
»Hej.«
Sein Blick traf auf betretene Gesichter. Stina Andersson, General Sales Managerin und stellvertretende Geschäftsführerin, Human Ressource-Manager Bjarne Sundström, Anders Olsson, Leiter der Marine-Abteilung und letztlich Camilla Wiberg, stellvertretende Leiterin der Customer Service Abteilung und damit die jüngste in der Runde.
Das versteinerte Gesicht von Hanna Sylvegård sprach Bände.
»Stina?«, forderte sie Andersson auf, ohne den Kopf in ihre Richtung zu bewegen.
»Ja, also«, begann diese. »Die Gerüchte sind leider wahr. Die Niederlassung von Sang-eo in Hamburg hatte heute eine Mitarbeiterversammlung und da wurde ihnen mitgeteilt, dass das Unternehmen Insolvenz angemeldet hat.«
»Unser Hamburger Büro ist sogar schon kontaktiert worden, ob die dort einen ihrer Auszubildenden übernehmen könnten«, ergänzte Sundström.
Sylvegård blieb ein hysterisches Lachen im Halse stecken.
»Reden wir doch mal Tacheles! Wenn so ein Riese wie Sang-eo insolvent geht, gibt es einen ordentlichen Strudel, der alles mit in den Abgrund reißt, was sich zu nah an ihm befindet.«
Niemand widersprach.
»So viel zu ›too big to fail‹«, murmelte Andersson.
Das ist niemand, dachte Mårtensson. Gerade erfolgreiche Unternehmen fällen in den fettesten Jahren schwerwiegende Entscheidungen, die sich bei rückläufigen Buchungen oder fallenden Frachtraten schnell auf die Liquidität auswirken können. Zudem: Wer in solch goldenen Zeiten warnend den Finger hebt, wird nicht ernstgenommen. Es gab eben immer einen Spielverderber, der in jeder Suppe ein Haar sah. Mårtensson war so einer. Aber auch er wusste, dass ohne die Partnerschaft mit den Koreanern längst die Lichter ausgegangen wären. Nun schienen sie mit einer Verspätung von einigen Jahren zu erlöschen.
»Wie hoch sind die Außenstände?«, fragte Sylvegård.
Alle drehten ihre Köpfe in Mårtenssons Richtung.
»Etwa fünf Komma zwei Millionen Kronen.«
»Und wie viel schwimmt davon noch?«
»Etwa neunhunderttausend könnten wir noch kriegen.«
Das war das Erste, was Mårtensson überprüfte, nachdem er von den Insolvenzgerüchten gehört hatte. Immerhin eine knappe Millionen Kronen konnten noch kassiert werden, denn diese Zahlungen würden auch Insolvenzverwalter freigeben, damit die Container freigestellt, sprich ausgeliefert werden konnten.
»Wissen es die Russen schon?«, fragte Olsson.
»Oh ja!«, platzte es aus Sylvegård heraus. »Die haben Angst um die Allianz.« Sie schluckte und atmete tief durch. »Und das ja nicht zu Unrecht. Die beiden Neubauten brechen uns nun das Genick.«
Mårtensson nickte. Zwei neue Schiffe hatten sie Anfang des Jahres in Auftrag gegeben, um die immer höheren Anforderungen von Sang-eo nach mehr Platz auf ihren Schiffen gerecht werden zu können. Langfristig sollte sich das rentieren, die eigene Flotte weiter aufzubauen und nicht nur von Charterschiffen abhängig zu sein. Das hatte jedoch einen Nachteil: Charterverträge konnte man einfach auslaufen lassen, die Kosten für die Neubauten dagegen konnten nicht mehr abgewendet werden.
Stina Andersson sagte nichts. Niemand bemerkte, wie sie leicht die Augenbrauen hob. Die Kosten für die zusätzlichen Schiffe waren die eine Sache. Die andere war, dass durch das erhöhte Angebot es schwieriger werden würde, genug Ladung zu generieren. Und das zu Raten, die noch verantwortet werden konnten. Aber hatten sie eine Wahl? Der Umsatz von Sang-eo machte zuletzt ein gutes Viertel vom Gesamtumsatz aus und die neuen Schiffe waren für den Sankt Petersburg-Le Havre-Loop und für den neuen Dienst nach Felixstowe und Grangemouth geplant. Eine Anforderung von Sang-eo, die auf diese Weise die Abhängigkeit der kleinen Feeder-Company komplett gemacht hätte. Von den lokalen Anbietern war kaum Ladung dorthin zu erwarten. Zumal sie mit Boman & Boman AB gerade erst einen großen Direktkunden, also einen, der nicht über eine Spedition, sondern direkt beim Reeder buchte, verloren hatten, weil sie ihnen mehrfach keinen oder zu geringen Platz auf den Schiffen hatten anbieten können. Stina Andersson hatte Sylvegård gewarnt und war auf offene Ohren gestoßen. Aber längst war die Abhängigkeit zu groß geworden, um sich gegen den starken Partner aufzulehnen.
»Sie können mit uns wachsen oder sterben«, hatte Lee Yin-Song, der Leiter des europäischen Hauptquartiers in Hamburg, ganz offen zu Sylvegård gesagt. In einem äußerst freundlichen Ton.
»Sprichst du jetzt wieder mit mir?«
Vasilij Léonidovitch Bogdanov ließ sich in seinen Sessel fallen, sah seine Frau Sonja kurz an, schüttelte dann den Kopf und griff nach dem halb vollen Glas ›Vodka Russkaya‹.
»Warum?«, fragte sie mit kühler Stimme. »Weil du Jana ins Bett gebracht hast? Einmal über den Kopf streicheln, Gutenachtkuss und schlaf schön? Erwartest du einen Orden dafür?«
»Was soll ich denn machen?«, rief Vasilij und ärgerte sich darüber, wie laut er die Frage gestellt hatte. Ratlos sah er Sonja an und sprach betont leise weiter. »Wie oft wollen wir darüber noch diskutieren?«
Früher hatte sie ihn für diesen hilflosen Welpenblick geliebt. Ein Bär von einem Mann, kein Beau, aber von stattlicher Statur, der ein gesundes Maß an Selbstbewusstsein ausgestrahlt hatte. Und dann dieser Blick, der ihr das Gefühl gegeben hatte, dass sie sich gegenseitig beschützen konnten. Die berühmte harte Schale, die einen weichen Kern in sich barg. Der Klassiker. Und sie war darauf hereingefallen.
Aber jetzt verabscheute sie ihn, diesen unschuldigen Blick. Je länger er sie so ansah, desto mehr stieg die Aggression in ihr auf.
»Trink ruhig noch ein Glas«, antwortete sie schnippisch. »Ist ja seit neustem deine Antwort auf alles. Warum soll ich da noch was zu sagen?«
Vasilij stellte das Glas zurück auf den Tisch, ohne davon auch nur genippt zu haben.
»Geht es immer noch um gestern? Bist du immer noch sauer?«
»Er weiß es ja doch.« Sonja hob die Augenbrauen, als sei sie überrascht. »Wir hatten eine Abmachung.«
Vasilij ruderte hilflos mit den Armen. Sie hatte recht, das war nicht zu bestreiten. Den ganzen Samstag war er in der Firma gewesen, um die Verhandlungen mit der koreanischen Containerreederei vorzubereiten. Dafür hatte sich Sonja allein um ihre Tochter gekümmert. Am Sonntag hatte ihre Mutter Geburtstag und sie waren bei ihren Eltern eingeladen. Vasilij hatte es nicht vergessen, aber es gewagt anzurufen, als es absehbar war, dass er es nicht mehr schaffen würde. Zu wichtig war dieses Geschäft für die junge Firma.
»Ich kann mich nicht zerreißen!«, rief er. Wieder viel zu laut.
»Genau das verlangst du aber von mir«, antwortete Sonja kühl.
»Es ist auch …«
Vasilij stand auf und Sonjas Blick fiel auf sein leuchtend rotes Gesicht.
»Ja, es ist auch mein Kind! Und mein Kind hat das Recht auf eine sorgenfreie Zukunft!«
Sonja gab einen abfälligen Laut von sich.
»Sie hat vor allem ein Recht auf eine sorgenfreie Gegenwart. Ich habe ein Recht auf eine sorgenfreie Gegenwart! Du schiebst seit Jahren die Firma vor. Und gestern …« Sonja faltete die Hände wie zum Gebet und presste die Fingerspitzen an ihr Kinn. »… hast du nur wieder eine Ausrede gesucht, nicht zu meinen Eltern zu müssen.«
»Du weißt, dass das nicht stimmt«, feuerte er ihr entgegen.
»Ach nein? Wolltest du nicht wenigstens die Blumen für sie besorgen? Ich hoffe ja schon gar nicht mehr, dass du mir mal Blumen schenkst, aber ein bisschen Anstand gegenüber meiner Mutter wäre da angebracht gewesen. Deiner Mutter musste ich immer Blumen besorgen!«
»Das ist ja jetzt vorbei.« Konnte sie nicht einfach aufhören zu streiten?
»Ja entschuldige, dass meine Eltern noch leben!«
»Wir können sie ja nächstes Wochenende besuchen«, versuchte es Vasilij mit einem versöhnlicheren Ton. »Oder Donnerstag. Dann haben wir vielleicht etwas zu feiern.«
»Oh nein!«, fauchte Sonja. »Das endet nur wieder im Streit, wenn du vor meinem Vater mit deinen Geschäften prahlst. Die letzten Male hast du ihn fast zur Weißglut gebracht und dich hinterher stundenlang noch über ihn beschwert.«
Vasilij winkte ab.
»Dein Vater ist ein ewig Gestriger. Reaktionäres Geschwafel über den Verrat an der Sowjetunion und über den Teufel, der mit dem Klassenfeind Geschäfte macht. Klar, sie arbeiteten beide in Forschungslaboren, sie gehörten zu den Privilegierten des Systems. Das System, das sich ja um alle so toll gekümmert hat! Schon vergessen? Dein Vater hält Jelzin für einen Abgesandten des Teufels persönlich.«
»So ein Quatsch! Außerdem musste ich mich auch immer zusammennehmen, wenn dein Vater …« Sonja schluckte.
»Musst du ja nun auch nicht mehr!« Wutentbrannt schleuderte er die Hand gegen sein Glas, das mit voller Wucht gegen die Bodenvase knallte.
»Sag mal, hast du einen Knall?« Sonja stand auf und betrachtete das gute Stück. Das Glas hatte einen langen Riss in der Vase verursacht.
»Spinnst du jetzt völlig?« Sie stemmte ihre Hände in die Hüfte und baute sich bedrohlich vor ihm auf. »Hast du dir jetzt den letzten Funken Verstand weggesoffen, dass du mit Gläsern rumwirfst?«
Tut mir leid, lag ihm auf der Zunge, aber angesichts ihres wütenden Blickes und der beleidigenden Worte vermochte ihm dieser Satz nicht über die Lippen zu gehen. »Es ist eine scheiß Vase! Eine hässliche, scheiß Vase!«, schrie er stattdessen.
Mit wütendem Blick sah Sonja ihn an. Dann lächelte sie, ohne ihre Mimik oder ihre Körperhaltung zu verändern, die auf Angriff ausgelegt war.
»Weißt du, was noch hässlich ist?« Entschlossen drehte sie sich um, nahm eine Karaffe aus dem Regal und schleuderte sie zu Boden, auf dem sie mit einem lauten Knall zersplitterte.
»Meine Vase, deine Karaffe. Wir sind quitt.«
Vasilij hatte eine Sekunde daran gezweifelt, dass sie es wirklich tun würde. Nein, sie waren nicht quitt. Das mit der Vase war keine Absicht. Das mit der Karaffe schon. Und sie wusste, dass diese ein Geschenk seiner Eltern war. Er hörte ihr nicht mehr zu. Mit einer schnellen Bewegung schoss er vorwärts und schlug ihr mit aller Kraft seine flache Hand ins Gesicht.
»Hör auf!«, schrie er und schlug sie ein zweites Mal. Noch härter, sodass sie zu Boden sank. Dann drehte er sich um und trat mit voller Wucht gegen die Vase, die daraufhin in tausend Teile zerbrach.
»Jetzt«, schrie er, »sind wir quitt!«
Nur eine Wand weiter lag ein vierjähriges Mädchen hellwach auf ihrem Bett und wünschte sich, sie wäre nie geboren worden.
Vielleicht würden Mutti und Papa dann nicht so viel streiten, dachte sie.
»Also gut. Ich bin Lars Erik Hallak, geboren am 14. März 1974 in Uppsala und ich arbeite für den ›Stockholm Kurieren‹. Wars das?«
Edda Valby verzog keine Miene.
»Sie sind kein Kriegsgefangener. Sie können sich nicht auf die Genfer Konventionen berufen. Sie sind lediglich ein Zeuge.«
»Ein Zeuge – für was?«, fragte Hallak verächtlich.
Valby legte den Stift feinsäuberlich neben einen Block und hob den Kopf.
»Ich weiß nicht. Sagen Sie es mir.«
Mit einem Ruck ließ sich Hallak in seinen Sitz zurückfallen. Laut aufstöhnend trommelte er mit den Händen auf die Oberschenkel und sah erst Valby, dann Berglund an. Danach kräuselte sich seine Stirn.
»Sie kenne ich doch, oder? Der Volvo vor dem ›Litet Kök‹, das waren Sie, stimmt's? Hat Ihnen der Latte Macchiato geschmeckt?« Hallak grinste. »Soll ich Ihnen bei der Arbeit helfen? Ich kann ein paar Quellen anzapfen, wenn Sie wollen. Und wenn etwas für mich dabei herausspringt ...«
»Es geht nicht mehr um Kerstin Boman«, antwortete Berglund. Nicht nur, dachte er. Er war überzeugt, dass Hallak auch dazu viel mehr sagen konnte, als er es bislang getan hatte. Nur ein Motiv konnte er nicht erkennen.
»Oh, dann wurde der Mord aufgeklärt?«, fragte Hallak mit bissigem Ton.
»Leider nicht«, antwortete Valby. »Wir werden herausfinden, welche Verbindung Sie zu ihr hatten. Mag dauern, aber eines Tages …«
Hallak lachte laut. »Ehrlich? Das heißt also, ihr habt gar nichts?« Er deutete auf den Notizblock, der vor Valby auf dem Schreibtisch lag. »Völlig blank?«
»Nicht völlig«, antwortete Valby kühl. »Wir haben die Leiche der Inhaberin eines Herstellers für Hebe- und Fördergeräte aus Kristianstad. Sie wurde vor zwei Wochen tot in ihrem Büro aufgefunden. Einen Tag zuvor hat sie noch quicklebendig die Polizei von Kristianstad angerufen und sie um Unterstützung gebeten gegen einen Eindringling, der den Sicherheitsdienst der Firma …« Valby sah Hallak an. »… wie nannten Sie es? ›davon abgehalten hat, eine Dummheit zu begehen‹.«
Hallak lachte erneut, dieses Mal noch lauter.
»Ja, das klingt nach mir. Er wollte mich anfassen, da habe ich ihn freundlich gebeten, es zu unterlassen.« Frech zwinkerte Hallak ihr zu. »Die sollten hübsche junge Frauen einstellen für solche Posten. Dann hätte ich auch kein Problem damit.«
Edda Valby schüttelte den Kopf. Aber sie verspürte wenig Lust auf eine Debatte über Sexismus.
»Sie können sagen, was Sie wollen«, sprach Hallak amüsiert weiter. »Aber ich habe die Situation deeskaliert.«
»Deeskaliert?«, wiederholte Valby verwundert.
»Ja. Niemand wurde verletzt, oder? Und ich bin direkt danach gegangen. Und nein, ich erzähle Ihnen immer noch nicht, warum ich mich mit Kerstin Boman betroffen habe.« Er blickte zu Berglund rüber und schmunzelte. »Deswegen das Versteckspiel gestern Abend? Das ist so armselig, dass es schon wieder traurig ist. Ja, wenn Sie jetzt wüssten, wer meine charmante Begleitung war, nicht wahr?«
Valby nickte ganz langsam.
»Wir haben da eine vage Vermutung.«
Langsam schob sie ein Bild der jungen Frau über den Tisch, die erst mit Hallak zusammen im Restaurant gesessen hatte, bevor Berglund und Morland sie um ihre Henkersmahlzeit gebracht hatten. Zumindest für den Fall, dass sie aus dem Koma nicht mehr aufwachen sollte.
Hallak warf einen Blick auf das Bild und wandte sich Berglund zu.
»Das ist ein lausiges Foto. Zu dunkel, an der Schärfe könnte man noch arbeiten. Sie sollten da mal einen Kurs belegen, wenn Sie planen, das beruflich zu machen.«
Berglund gab einen tiefen Seufzer von sich.
»Gut, sprechen wir über Ihre missliche Lage«, fuhr Valby fort. Sie holte ein zweites Bild aus der Mappe und schob es Hallak ebenfalls hin. Dieses Mal war es ein Bild vom Tatort, das dieselbe Person zeigte, nachdem sie bewusstlos aus dem Wasser gezogen worden war.
»Das war gestern Abend. Ist Ihnen die Belichtung recht? Ist es scharf genug, um zu erkennen, dass wir hier über dieselbe Frau reden?«
Hallak schluckte. Als ging ein Ruck durch seinen Körper, der alle Regler gleichzeitig verstellte, baumelten seine Arme nun ohne jene Spannung an den Seiten herunter, sein Blick wechselte von einer Mischung aus Schalk und Arroganz auf unsicher und irritiert und er schien das Atmen zu vergessen.
»Haben wir nun endlich Ihre Aufmerksamkeit«, sagte Valby und betonte es eher als Feststellung denn als Frage. Ihr Blick konnte ihre Abscheu kaum verbergen. Es war schon jemand gestorben. Die Unternehmerin Kerstin Boman und Hallak hatte am Tag zuvor mit ihr gesprochen. Dennoch hatte ihr Tod ihn nicht so sehr zu erschüttern vermocht wie der Anblick der jungen Frau. Noch wusste sie nicht, ob es eine kurze Bekanntschaft war oder eine Affäre. Eine Beziehung gar? Wurde er deswegen so blass oder war es, weil ihm gerade klar geworden war, dass nach dem Tod der Unternehmerin eine zweite Frau um ihr Leben kämpfte, mit der er sich kurz zuvor getroffen hatte? Er würde nun reden, dessen war sie sich gewiss.
»Das …« Hallak ärgerte sich offenbar, dass er stammelte. Entschlossen setzte er sich aufrecht und sah Valby mit festem Blick an. »Das ist ja furchtbar! Ist sie tot?«
»Sie lebt«, sagte Berglund. »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Gefunden wurde sie auf Riddarholmen. Ich nehme an, Sie haben ein Alibi für den Zeitraum?«
Hallak begann, langsam die Fassung wiederzuerlangen.
»Na ja, ich war gegen zehn zu Hause. Das kann meine Frau bestätigen. Und wenn Ihnen das nicht reicht: Ich habe an der Haustür meinen Nachbarn getroffen. Yasan Cetin.«
Seine Frau? Valby war überrascht. Es gab tatsächlich eine Frau Hallak?
»Ihr Nachbar hilft da wenig. Letztlich könnten Sie kurz nach zehn das Haus wieder verlassen haben.«
»Da haben Sie natürlich recht. Und meine Frau werden Sie als befangen einstufen.«
»Jedenfalls ist das Alibi nicht so gut wie das beim Mord an Kerstin Boman.«
Hallak sah Berglund an und zuckte mit den Schultern.
»Ich kann nur sagen, wie es war.«
»Das wäre ein Anfang«, erwiderte Valby.
Hallak nickte.
»Weiß man schon, wer sie ist?«, fragte er und jetzt war es Valbys Mund, der wie erstarrt offen stand. Tiefe Furchen bildeten sich auf ihrer Stirn.
»Sagen wir mal so«, begann sie, »wir waren eigentlich davon ausgegangen, dass Sie uns da weiterhelfen können. Sie haben sich immerhin mit ihr in einem Restaurant getroffen und haben es gemeinsam verlassen. Und da wollen Sie uns weismachen, dass Sie ihren Namen nicht kennen?«
»Das klingt unglaubwürdig, das verstehe ich total.« Er breitete seine Hände mit den Handflächen nach oben vor sich aus als wollte er zeigen, dass seine Hände leer waren. »Aber es ist die Wahrheit.«
Valby atmete schwer, nickte langsam mit dem Kopf und spitzte den Mund. Berglund wusste, dass Valby damit versuchte, nach außen hin ruhiger zu wirken als es in ihr tatsächlich aussah, aber er wusste es besser. Das war der Ausdruck des Vulkans vor dem Ausbruch.
Er konnte nicht einschätzen, ob Hallak die Wahrheit sprach. Bis vor fünf Minuten hätte er ein kleines Sümmchen darauf gesetzt, dass er sie anlog, ohne zu zögern. Nun wirkte er aber sehr ernst.
»Vielleicht erzählen Sie dann einfach mal von vorne«, sagte Berglund ruhig.
Hallak holte tief Luft, als bereitete er sich auf eine längere Geschichte vor.
»Also gut. Den Tipp mit Boman & Boman AB habe ich von ihr. Sie sagte, ihr lägen Beweise vor, dass die Firma Schwerlastgabelstapler nach Istanbul verschifft haben soll. Offiziell sollte der Endabnehmer in der Türkei sitzen, in Wirklichkeit aber saß dieser auf der Krim. Die Container sollen letztlich von dort auf die Krim weiterverladen worden sein.«
Berglund rieb sich die Nase.
»Und Schwerlastgabelstapler fallen unter die Embargo-Bestimmungen der EU?«
»Das ist richtig. So etwas kann sehr teuer werden, wenn man ein Embargo umgeht.«
»Deswegen der Besuch in Kristianstad«, stellte Valby fest.
»Ja.«
»Das ist zwei Wochen her«, fuhr Valby fort. »Ich habe nichts dergleichen in der Zeitung gelesen.«
Hallak schnaufte.
»Sehen Sie, es gibt noch eine andere ziemlich teure Straftat. Verleumdung. Rufmord. Genau damit hat Kerstin Boman mir gedroht.«
Sie hat ihm gedroht und einen Tag später wurde sie ermordet, fasste Valby das Gehörte zusammen.
»Erst hatte ich gar keine Beweise. Nur Hinweise und Vermutungen. Und dann schickte mir eines Tages diese Frau eine Freundschaftsanfrage. Ich dachte, was soll ich mit einer Freundschaft zu einer jungen Russin? Ich habe schon eine Frau. Also habe ich sie abgelehnt. Aber dann kam diese Nachrichtenanfrage und ich dachte, Himmel, ist die hartnäckig.«
»Also haben Sie geantwortet?«, fragte Valby.
»Ja. Sie schrieb: ›You're a journalist? Need to talk.‹ Das machte mich neugierig und ich konnte nicht anders als sie zu fragen, worüber sie mit mir sprechen wollte.«
»Und dann haben Sie sich gestern mit ihr getroffen. Hatte sie Beweise dabei?«
»Nein. Sie wollte Geld für die Information. Hatte zudem etwas eigene Vorstellungen, wie viel man dafür verlangen kann. Sie hielt das für einen Riesenskandal, aber so sehr sich die EU dafür interessiert, hier in Schweden wäre es wohl kaum eine Schlagzeile wert.«
Valby musterte Hallak genau. Die Reaktion auf die nächste Frage erschien ihr besonders wichtig, da durfte ihr nichts entgehen.
»Und doch haben Sie sich mit ihr getroffen. Warum, wenn Sie meinen, dass die Geschichte keinen besonderen Wert hat? Dass die Dame finanzielle Interessen hatte, war doch sicher vorher schon mal besprochen worden, oder nicht?«
Hallak lächelte und sah sie mit einem Blick an, als wolle er ihr sagen, dass er sie durchschaut hatte. Dieser vermeintliche Widerspruch lockte ihn aber nicht aus der Reserve.
»Es ist mein Job«, antwortete er achselzuckend. »Natürlich wäre das eine Story wert gewesen. Nur eben keine, die man teuer einkaufen würde. Ich hatte gehofft, ihr das klarmachen zu können. Außerdem war für mich die eigentliche Story, wieso eine Russin Interesse daran hatte, einem schwedischen Unternehmen zu schaden. Um ehrlich zu sein, war diese Story für mich eigentlich die interessantere. Leider bin ich da keinen Deut weitergekommen.«
Berglund verzog das Gesicht. Der Typ ist reine Zeitverschwendung, dachte er, immer noch abwägend, wie viel er Hallak abkaufen sollte. Er wirkte inzwischen wieder deutlich kontrollierter, was für Berglund die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass er log. Oder wenigstens irgendetwas wegließ, was von Bedeutung sein konnte.
»Wie haben Sie sich unterhalten?«, fragte er schließlich. »Englisch oder sprechen Sie Russisch?«
Hallak schien darüber nachdenken zu müssen.
»Kontaktiert hat sie mich auf Englisch, also haben wir Englisch miteinander gesprochen. Ich kann ein wenig Russisch. Aber nachdem wir nach unserem ersten Treffen das Restaurant verlassen hatten, rief mich meine Frau an und wir unterhielten uns, natürlich auf Schwedisch. Sie ärgerte mich mit der Frage, ob mein Date hübsch sei, und ich sagte Nein, sie habe eine hässliche Nase. Da reagierte sie mit einem bösen Blick. Sie hatte also zumindest diesen Satz verstanden.«
Berglund fuhr sich mit der Hand durch seinen spärlichen Haarschopf.
»Und wie ging es dann weiter? Haben Sie sich getrennt? Wie sind Sie verblieben?«
Hallak zögerte einen kleinen Moment, bis er den Blickaustausch zwischen Valby und Berglund wahrnahm.
»Sie sagte, sie sei noch eine Weile in Stockholm und ich könnte es mir ja überlegen. Online waren wir vernetzt, daher mussten wir keine Karten oder so was austauschen.«
»Wie hat sie sich eigentlich vorgestellt? Wie heißt das Profil?«, fragte Valby.
»Russian Tiger«, antwortete Hallak grinsend. »Genau mein Beuteschema.«
Dieses Mal rollte Valby für alle sichtbar mit den Augen und ihr Blick amüsierte Hallak.
»Aber so haben Sie die Frau nicht genannt, oder? Oder hat sie sich auch persönlich so vorgestellt?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Hallak ernster. »Alina.«
»Alina und weiter?«
»Nur Alina. Nichts weiter. Wie Cher«, alberte Hallak.
Oder Idiot, dachte Valby.
Auf diesen Anruf hatte Hanna Sylvegård schon den ganzen Morgen gewartet. Also nicht nur auf diesen. Auch auf den der Bank, den der Werft, den einiger Großkunden und Lieferanten – nur war dieser anders. Auf alle anderen war sie vorbereitet. Sie hatte die Fragen vorab geahnt und die Antworten so gut es ging parat gehabt. Wie konnte sie den Schein wahren, wenn um einen herum alle Lichter ausgingen? Aber sie hatte alle vertrösten können. Abgesehen von dem Herrn von der Bank.
Aber dieser Anruf hatte ihr Kopfzerbrechen bereitet. Sie brauchte nicht darüber nachzudenken, wie ihr Vater reagiert hätte. Niemals hätte er Teile der Firma an eine große koreanische Reederei verkauft. Und Hilfe von den Russen? Zum Teufel hätte er sie geschickt. Natürlich hatte sie alles mit Stina und Anders durchgesprochen. Ohne Ergebnis. Dabei war Sylvegård eigentlich eine entschlussfreudige Frau. Sachlich pflegte sie Für und Wider gegeneinander aufzurechnen und entschied sich danach für eine Richtung.
»Guten Morgen, Hanna«, hörte sie die ruhige, freundliche Stimme von Vasilij Léonidovitch Bogdanov, dem Eigner der ›Baltika Container Line‹, aus dem Lautsprecher.
»Guten Morgen, Vasilij Léonidovitch«, antwortete sie so neutral, wie sie es gerade vermochte. »Es gab schon bessere, oder?«
»Ja.«
»Ich kann mir denken, dass Sie wahrscheinlich hundert Fragen haben, aber für uns kam das ziemlich aus dem Nichts. Wir müssen uns erst mal sortieren.«
Sylvegård vernahm ein lang gedehntes, tiefes A, das wie eine väterliche Ablehnung klang. So, als habe sie etwas Dummes gesagt.
»Warum Zeit verlieren?«
»Zeit verlieren? Ich kann Ihnen jetzt noch nichts Genaues sagen, wir …«
»Wir sind doch in derselben Branche«, unterbrach sie Bogdanov. »Ich weiß, welche Auswirkungen das auf Ihre Situation hat. Und ich rufe als Freund an. Ich mache mir Sorgen um unsere kleine Allianz. Das verstehen Sie doch? Ihr habt Ware auf unseren Schiffen, wir welche auf euren, unsere Geschäftspartner sind auch verunsichert.«
»Ich kann Sie jetzt noch nicht beruhigen, aber ich bin sicher, wir werden alle gemeinsam eine Lösung finden.«
»Dann lassen Sie mich mitsuchen. Wissen Sie, ich mag Ihr Unternehmen. Schon bei unserem ersten Gespräch damals wusste ich, das wird eine fruchtbare und langfristige Zusammenarbeit. Und sie muss nicht vorbei sein. Wir hatten heute Morgen auch schon eine Besprechung und wir möchten helfen.«
Das waren warme Worte, aber Sylvegård gefielen sie so gar nicht. Sie wusste, worauf das hinauslaufen würde. Genau darüber hatten sie im kleinen Führungskreis ebenfalls schon diskutiert.
»Das hören wir uns gerne an, aber natürlich müssen wir erst mal selber …«
»Oder Sie hören mir erst mal zu. Ich möchte Ihnen ein Angebot unterbreiten.«
Stille. Sylvegård hatte es geahnt, aber noch keine Antwort darauf. Es war möglicherweise die einzige Chance, den Standort und einen Teil der Arbeitsplätze zu erhalten. Aber zu welchem Preis?
»Sie«, Sylvegård stockte. »Sie überlegen, die dreißig Prozent von Sang-eo Shipping zu übernehmen? Wir haben von dem Unternehmen noch nichts gehört, wie das genau nun weitergeht. Es wird sicher einer der ersten Maßnahmen des Insolvenzverwalters sein, das Kapital aus unserem Unternehmen zu ziehen.« Als Bogdanov nicht direkt antwortete, fuhr sie fort. »Grundsätzlich, wenn die Bedingungen stimmen, könnte das sicher eine Option sein, aber es ist noch zu früh«, sagte sie schließlich. Sie merkte, wie sich ihr Magen bei ihren eigenen Worten zusammenzog, aber eine mögliche Kooperation mit den Russen musste sie sich zumindest anhören.
»Ich fühle mich sehr geschmeichelt«, antwortete Bogdanov in einem verständnisvollen Ton. »Ich sage das nicht aus Höflichkeit. Ich habe sehr viel Respekt vor Ihnen. Eine so kleine Reederei, die es schafft, der Weltwirtschaftskrise die Stirn zu bieten, die eine Partnerschaft mit einem Containerreedereigiganten wie ›Sang-eo Shipping‹ eingeht – das verdient den größten Respekt. Niemand konnte vor zehn Jahren ahnen, wie sich der Markt verändern würde. Aber er hat sich verändert und Sie stehen mit dem Rücken zur Wand. Ich bin Geschäftsmann. Ich trage eine Verantwortung für meine Familie, meine Firma, meine Kollegen. Die wissen, wie es um euch steht. Jeder weiß, dass ihr viel Geld in die Hand genommen habt mit den beiden Neubauten. Das war sehr mutig, aber auch riskant.«
Bogdanov machte eine kleine Pause. Er erwartete aber nicht wirklich eine Antwort.
»Ich sagte, ich rufe als Freund an. Wissen Sie, ich schätze sehr, dass Sie darüber nachdenken, die Anteile von ›Sang-eo Shipping‹ uns zu überlassen. Ich weiß, wie sehr Sie das quält. Sie waren nie glücklich damit, dass ›Sang-eo Shipping‹ mit deren dreißig Prozent euch in eine Abhängigkeit gebracht hat. Ich sage es Ihnen aber auch ganz ehrlich, dreißig Prozent Einstieg in eine kleine Küstenreederei, die sich zudem in Schieflage befindet, ist für uns keine Option.«
Sylvegård erschrak. Die Hiobsbotschaft war keinen halben Tag alt, da begann schon die Leichenfledderei.
»Das, Vasilij, das …«
»Sie können Nein sagen«, unterbrach er sie. »Es wäre in Ordnung und ich wäre Ihnen nicht böse. Sagen Sie Nein, lege ich auf und wir machen einfach etwas anderes. Aber für Sie ist dann die Reise vorbei. Sie haben keinen Plan B.«
»Das empfinde ich, bei allem Respekt, ein bisschen unverschämt.« In Sylvegård brodelte es, aber noch hatte sie ihre Stimme unter Kontrolle.
»Sie haben keinen Plan B«, wiederholte Bogdanov mit einer traurigen Stimme. »Wenn Sie ehrlich sind: Bis zu meinem Anruf hatten Sie nicht einmal einen Plan A.«
Sylvegård musste sich zusammennehmen. Das Schlimme war, er hatte recht, aber diese Erkenntnis konnte sie noch nicht zulassen.
»Ich weiß, Sie glauben mir nicht«, fuhr Bogdanov fort. »Wir verlieren einen Partner, aber so groß ist das Schwedengeschäft auch wieder nicht. Wir müssten ein kleines, eigenes Büro in Schweden eröffnen, würden selbst auf dem schwedischen Markt einsteigen. Dafür müssten wir nicht die beiden Neubauten übernehmen und könnten sofort mit unseren meist besseren Vertragsbedingungen bei den Terminals und Depots beginnen. Zudem gewinnen wir Boden im Geschäft mit den baltischen Staaten, wo sich die Allianz gerade gegenseitig Konkurrenz macht. Aber ich reiche Ihnen die Hand. Gerade Ihre Expertise ist für uns sehr wichtig.«
Sylvegård schluckte. Sie wusste, dass im Fall einer Übernahme manche Abteilungen überflüssig oder zumindest radikal verkleinert werden müssten.
»Wir geben Ihnen einen unbefristeten Vertrag als Niederlassungsleiterin zu besten Konditionen. Zudem ein Jahr Arbeitsplatzgarantie für alle, aber natürlich sollten viele davon die Zeit nutzen, sich etwas Neues zu suchen, auch, vielleicht sogar gerade von den Managern. Aber da laden wir Sie zu den Entscheidungsfindungen ein.«
»Es war doch nur ein Angebot«, verteidigte sich Vasilij Léonidovitch Bogdanov. »Er hätte es einfach ablehnen sollen.«
Wild ruderte seine Frau Sonja mit den Armen. Seit sie wieder zu Hause waren, kreisten tausend Worte in ihrem Kopf herum und drängten darauf, gesagt zu werden. Im Augenwinkel beobachtete sie Jana, die mit ihren kleinen Kulleraugen das Geschehen mit einem ängstlichen Blick verfolgte. So schluckte Sonja, wieder einmal, herunter, was sie eigentlich sagen wollte.
Es war spät geworden. Sie waren länger geblieben, als sie es geplant hatten. Wenn ihr Vater sich erst einmal in Rage redete, war er kaum noch zu bremsen. Ihre Mutter wusste das, Sonja wusste das. Selbst Jana weiß das, dachte sie verärgert. Nur ihr Mann wusste das nicht. Oder konnte es nicht einfach hinnehmen. Und so hatten sie gestritten. Und wenn ihr Mann sich erst einmal in Rage redete, galt für ihn dasselbe wie für ihren Vater. Nur mit einem Unterschied: Wenn sie nach Hause fuhren, konnte sie ihren Vater ausblenden. Vasilij aber redete weiter, erklärte wiederholend, warum er im Recht gewesen war und dass ihr Vater einen kommunistischen Dickschädel besaß. Das bestritt sie gar nicht, aber sie hatten ihre Eltern besucht, um den Geburtstag ihrer Mutter zu feiern, nicht, um über Politik zu diskutieren und schon gar nicht, um darüber zu streiten.
»Mama, ich bin müde.«
Jana gähnte. Es war spät, aber trotzdem war es ungewöhnlich, dass ihre Tochter von sich aus signalisierte, dass nun Schlafenszeit sei.
»Putz dir schon mal die Zähne, Mäuschen. Ich bringe dich gleich ins Bett.«
Zehn Minuten später kam Sonja zurück ins Wohnzimmer.
»Lassen wir den Abend gemütlich ausklingen«, sagte Vasilij.
Gemütlich, das hieß inzwischen, dass er sich einen Cognac einschenkte, Sonja an ihrem schwarzen Tee mit Zitrone nippte und im Fernsehen irgendetwas angeschaut wurde, was eben lief.
Immerhin hatte er ihren Samowar mit Wasser gefüllt, angestellt und im Teekessel zog bereits der Teesud.
»Danke«, sagte sie und ging in die Küche.
»Hab ich was vergessen?«, rief er ihr nach.
»Nein Schatz«, sagte sie. »Ich möchte nur etwas Zitrone dazu.«
Sie trank ihn am liebsten mit Zitrone. Nur morgens fügte sie gerne mal etwas Honig dazu.