Redemption Road - Straße der Vergeltung - John Hart - E-Book
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Redemption Road - Straße der Vergeltung E-Book

John Hart

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Beschreibung

Ein Junge wartet mit einer Waffe auf den Mann, der seine Mutter getötet hat. Eine Polizistin, die in Schwierigkeiten steckt, wird nach einer brutalen Schießerei mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Nach dreizehn Jahren im Gefängnis wird ein Polizist in die Freiheit entlassen - doch für wie lange?
John Hart beschreibt eine Stadt am Abgrund. Ihre Einwohner scheinen alle auf der Straße der Verdammnis unterwegs zu sein. Voller Geheimnisse, Verrat und nervenzerfetzender Spannung: Mit seinem neuen Buch beweist John Hart, dass er ein Meister des Thrillers aus den Südstaaten der USA ist.

Ausgezeichnet mit dem renommierten Edgar-Allan-Poe-Award für „Der dunkle Fluss” und „Das letzte Kind”.

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Seitenzahl: 768

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JOHN HART

REDEMPTION ROAD

Straße der Vergeltung

Thriller

Deutsch von Rainer Schmidt

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Redemption Road« bei Thomas Dunne Books, an imprint of St. Martin’s Press, New York.1. Auflage

Copyright © 2016 by John Hart

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

beim C. Bertelsmann Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: www.buerosued.de, München

Umschlagmotive: Getty Images / Fran García / EyeEm undKurt Miller Photography

Herstellung: hag

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-19424-6V002www.cbertelsmann.de

Für Norde, Matthew und Mickey.Gute Männer, nicht mehr da …

It’s a cold and it’s a broken halleluja.

LEONARD COHEN

GESTERN

Die Frau war eine seltene Schönheit insofern, als sie nichts von ihrer Vollkommenheit wusste. Er hatte sie lange genug beobachtet, um das zu ahnen, aber erst als er sie kennenlernte, hatte sich erwiesen, dass er instinktiv richtiglag. Sie war bescheiden und schüchtern und leicht zu beeinflussen. Vielleicht war sie unsicher oder nicht besonders intelligent. Vielleicht war sie auch einsam oder nicht sicher, wo in dieser schwierigen Welt ihr Platz war.

Im Grunde war es egal.

Ihr Aussehen stimmte, und das lag an den Augen.

Sie leuchteten, als sie auf dem Gehweg herankam, in ihrem Sommerkleid, das locker um ihre Knie schwang, aber nicht unschicklich aussah. Ihm gefiel, wie das Kleid wehte und wie hübsch sie Arme und Beine bewegte. Sie war hellhäutig und still. Das Haar hätte ihm anders ein bisschen besser gefallen, aber es war okay.

Eigentlich ging es um die Augen.

Sie mussten klar und tief und arglos sein, deshalb musterte er sie eingehend, um sich zu vergewissern, dass sich in den paar Tagen, seitdem sie sich verabredet hatten, alles unverändert war. Sie schaute sich zaghaft um, und aus der Ferne spürte er die Unzufriedenheit, die aus schlechten Männerbeziehungen und einem sinnlosen Job resultierte. Sie hatte sich mehr vom Leben erhofft. Er begriff das wie wohl die wenigsten Männer.

»Hallo, Ramona.«

Sie scheute merklich zurück, als sie einander jetzt so nah waren. Ihre Wimpern berührten dunkel den geschwungenen Wangenknochen, und sie legte den Kopf schräg, sodass er ihren makellosen Kiefer aus dem Auge verlor.

»Ich bin froh, dass wir uns dazu entschlossen haben«, sagte er. »Ich glaube, es wird ein sinnvoll verwendeter Nachmittag werden.«

»Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.« Sie errötete, den Blick immer noch gesenkt. »Ich weiß, Sie sind sehr beschäftigt.«

»Die Zukunft ist für uns alle wichtig, das Leben und wie man es lebt, der Beruf, die Familie, die persönliche Zufriedenheit. Da kommt es darauf an, alles zu planen und zu durchdenken. Und das muss niemand allein tun, nicht in einer Stadt wie dieser. Wir kennen einander hier. Wir helfen einander. Das werden Sie verstehen, wenn Sie länger hier sind. Die Menschen sind nett. Nicht nur ich.«

Sie nickte, aber er wusste, was sie tief im Innern empfand. Sie waren einander wie zufällig begegnet, und sie fragte sich, warum sie so schnell Zutrauen gefasst hatte, vor allem zu einem Fremden. Aber das war sein Talent – sein Gesicht und seine sanfte Art und wie sie ihm vertrauten. Manche Frauen brauchten das: Geduld, eine Schulter zum Anlehnen. Wenn sie erst begriffen hatten, dass er keine romantischen Interessen verfolgte, war es einfach. Er war verlässlich und freundlich. Sie hielten ihn für einen Mann von Welt.

»Dann sind Sie bereit?« Er öffnete die Wagentür, und einen Moment lang sah sie beunruhigt aus. Ihr Blick wanderte über Brandlöcher und rissiges Vinyl. »Der ist geliehen«, sagte er. »Ich bitte um Entschuldigung, aber mein normales Auto ist in der Werkstatt.«

Sie nagte an der Unterlippe, und der Muskel der einen glatten Wade spannte sich. Das Armaturenbrett war fleckig, der Bodenbelag verschlissen.

Sie brauchte noch einen Schubs.

»Wir wollten das eigentlich morgen tun, erinnern Sie sich? Am Spätnachmittag? Kaffee und ein bisschen plaudern?« Beim Lächeln bildeten sich Fältchen in seinem Gesicht. »Wenn der Plan nicht geändert worden wäre, hätte ich den anderen Wagen. Aber Sie wollten einen anderen Tag vereinbaren. Sozusagen in letzter Minute, und wir tun es doch eigentlich für Sie …«

Er ließ seine Worte in der Schwebe, damit sie sich daran erinnerte, dass sie dieses Treffen vorgeschlagen hatte, nicht umgekehrt. Sie nickte abschließend, weil es stimmte und weil sie nicht wirken wollte wie jemand, der sich für etwas so Bedeutungsloses wie ein Auto interessierte – nicht, wenn sie zu pleite war, um sich selbst eins zu kaufen. »Meine Mutter kommt morgen früh aus Tennessee.« Sie warf einen Blick zurück auf das Apartmenthaus, und neue Falten zeigten sich an ihren Mundwinkeln. »Damit habe ich nicht gerechnet.«

»Ja.«

»Und sie ist meine Mom.«

»Das haben Sie mir erzählt. Ich weiß.« Ein frustrierter Unterton schlich sich in seine Stimme, eine leise Ungeduld. Er lächelte, um seiner Reaktion die Schärfe zu nehmen, aber er hatte nicht die geringste Lust darauf, sich an die Hinterwäldlerwurzeln erinnern zu lassen, die dieses Mädchen mit irgendeinem Hinterwäldlerkaff verbanden. »Der Wagen gehört meinem Neffen«, erklärte er. »Er ist auf dem College.«

»Das erklärt es.«

Sie meinte den Geruch und den Schmutz, doch sie lachte jetzt, und so lachte er auch. »Die jungen Leute«, sagte er.

»Ja, genau.«

Er verbeugte sich spielerisch und sagte etwas von einer Kutsche. Sie lachte, aber er achtete nicht mehr darauf.

Sie saß schon im Wagen.

»Ich mag Sonntage.« Sie richtete sich auf, als er sich hinter das Steuer schob. »Die Stille, die Ruhe. Keine Erwartungen.« Sie strich sich das Kleid glatt und zeigte ihm die Augen. »Lieben Sie den Sonntag nicht?«

»Doch, natürlich«, sagte er, obwohl es ihm völlig egal war. »Haben Sie Ihrer Mutter erzählt, dass wir uns treffen?«

»Natürlich nicht«, sagte das Mädchen. »Das gäbe eine Million Fragen. Sie würde sagen, ich sei aufmerksamkeitsbedürftig oder verantwortungslos und ich hätte besser sie anrufen sollen.«

»Vielleicht unterschätzen Sie sie.«

»Nicht meine Mutter. Nein.«

Er nickte, als verstehe er ihre Vereinsamung. Die Mutter erdrückend, der Vater distanziert oder tot. Er drehte den Zündschlüssel, und es gefiel ihm, wie sie dasaß – mit geradem Rücken, die Hände sittsam im Schoß gefaltet. »Die Menschen, die uns lieben, neigen dazu, zu sehen, was sie sehen wollen, nicht das, was wir wirklich sind. Ihre Mutter sollte genauer hinschauen. Ich glaube, sie wäre angenehm überrascht.«

Diese Bemerkung machte sie glücklich.

Er fuhr los und redete genug, um dafür zu sorgen, dass sie es blieb. »Was ist mit Ihren Freunden?«, fragte er. »Arbeitskollegen? Wissen die Bescheid?«

»Sie wissen nur, dass ich mich heute mit jemandem treffe und dass es privat ist.« Sie lächelte und zeigte ihm die warmen, tiefgründigen Augen, die ihn überhaupt erst angezogen hatten. »Sie sind sehr neugierig.«

»Das glaube ich«, sagte er, und sie lächelte zum zweiten Mal.

Sie brauchte ein Dutzend Minuten, bis sie die erste sinnvolle Frage stellte. »Moment mal. Ich dachte, wir wollten Kaffee trinken.«

»Vorher fahre ich mit Ihnen woandershin.«

»Was meinen Sie damit?«

»Es ist eine Überraschung.«

Sie reckte den Hals, als die Stadt hinter ihnen versank. Felder und Wälder erstreckten sich in alle Himmelsrichtungen. Anscheinend bekam die leere Straße eine neue Bedeutung. Sie hob die Finger und berührte ihren Hals, ihre Wange. »Meine Freunde erwarten mich.«

»Ich dachte, Sie hätten ihnen nichts erzählt?«

»Habe ich das gesagt?«

Er sah sie an, ohne zu antworten. Der Himmel draußen war violett, und die Sonne leuchtete orangegelb zwischen den Bäumen auf. Der Stadtrand lag weit hinter ihnen, und eine verlassene Kirche stand still auf einer Anhöhe in der Ferne. Der Turm war eingestürzt, als habe er das Gewicht des dunkler werdenden Himmels nicht mehr tragen können. »Ich liebe Kirchenruinen«, sagte er.

»Was?«

»Sehen Sie sie nicht?«

Er streckte den Zeigefinger aus, und sie starrte das uralte Gemäuer an, das verbogene Kreuz. »Ich verstehe nicht.«

Sie war beunruhigt, bemühte sich aber, so zu tun, als wäre alles normal. Er beobachtete die Schwarzdrosseln, die sich auf der Ruine niederließen. Kurze Zeit später bat sie ihn, sie nach Hause zu bringen.

»Ich fühle mich nicht wohl.«

»Wir sind fast da.«

Jetzt hatte sie Angst, das merkte er – Angst vor seinen Worten und der Kirche und dem seltsamen flachen Pfeifen, das zischend zwischen seinen Lippen hervorkam.

»Sie haben sehr ausdrucksvolle Augen«, sagte er. »Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?«

»Ich glaube, mir wird schlecht.«

»Das wird es schon nicht.«

Er bog auf einen Kiesweg ab, und die Welt bestand aus Bäumen und Dämmerung und der Hitze ihrer Haut. Als sie an einem offenen Gatter in einem rostigen Zaun vorbeikamen, fing sie an zu weinen, erst leise, dann lauter.

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte er.

»Warum tun Sie das?«

»Was tue ich denn?«

Sie weinte heftiger, rührte sich jedoch nicht. Der Wagen rollte zwischen den Bäumen hervor auf eine Lichtung, die unter Unkraut, alten Maschinen und rostigem Metall erstickte. Ein leerer Silo ragte rund und streifig in die Höhe. Der obere Rand war vom Licht der sinkenden Sonne rosarot gefärbt. Unten klaffte eine kleine Tür, und dahinter war es schwarz und still.

Sie starrte an dem Silo hinauf, und als sie den Blick wieder senkte, sah sie Handschellen in seiner Hand.

»Legen Sie die an.«

Er warf ihr die Handschellen in den Schoß. Darunter breitete sich ein warmer, nasser Fleck aus. Er sah zu, wie sie verzweifelt aus dem Fenster starrte und nach Menschen oder Sonnenlicht oder einem Grund zur Hoffnung Ausschau hielt.

»Tun Sie so, als ob es in Wirklichkeit nicht passierte.«

Sie legte sich die Handschellen an. Der Stahl klingelte wie kleine Glöckchen. »Warum tun Sie das?«

Diese Frage hatte sie schon einmal gestellt, aber das konnte er ihr nicht verdenken. Er stellte den Motor ab und lauschte seinem Ticken in der Stille. Es war heiß auf der Lichtung. Im Wagen roch es nach Urin, doch das störte ihn nicht. »Wir wollten es morgen tun.« Er hielt ihr einen Elektroschocker an die Rippen und sah, wie sie zuckte, als er abdrückte. »Bis dahin brauche ich Sie nicht.«

EINS

Gideon Strange öffnete die Augen. Es war dunkel und heiß, und er hörte seinen Vater weinen. Er blieb ganz still liegen, auch wenn das Schluchzen weder neu noch unerwartet war. Sein Vater landete am Ende oft dort in der Ecke – zusammengekauert, als wäre das Zimmer seines Sohnes der letzte heile Ort auf der Welt –, und Gideon dachte daran, einmal zu fragen, warum sein Vater nach all den Jahren immer noch so jämmerlich und schwach und gebrochen war. Es wäre eine einfache Frage, und wenn sein Vater noch so etwas wie ein Mann wäre, würde er sie wahrscheinlich beantworten. Aber Gideon wusste, was sein Vater sagen würde, deshalb ließ er den Kopf auf dem Kissen und beobachtete die dunkle Ecke, bis sein Vater sich aufrappelte und durch das Zimmer herankam. Eine ganze Weile stand er schweigend da und schaute herunter. Dann berührte er Gideons Haar und versuchte sich Kraft einzuflüstern: Bitte, Gott, bitte. Dann bat er seine seit Langem tote Frau Julia um Kraft, und aus dem Bitte, Gott wurde Hilf mir, Julia.

Gideon fand das alles erbärmlich – die Hilflosigkeit, die Tränen, die zitternden, schmutzigen Finger. Bewegungslos liegen zu bleiben war das Schwierigste, nicht weil seine Mutter tot war und deshalb nicht antwortete, sondern weil er wusste, wenn er sich auch nur ein bisschen bewegte, würde sein Vater vielleicht fragen, ob er wach sei, traurig oder genauso ratlos. Dann würde Gideon die Wahrheit sagen müssen: Das alles sei er nicht. Aber er sei innerlich einsamer, als ein Junge seines Alters es sein sollte. Sein Vater schwieg jedoch. Er fuhr seinem Sohn mit den Fingern durchs Haar und stand vollkommen still da, als könnte die Kraft, die er suchte – was immer es sein mochte –, ihn auf magische Weise finden. Gideon wusste, dass dies niemals geschehen würde. Er kannte Bilder von seinem Vater und hatte ein paar nebelhafte Erinnerungen an einen Mann, der lachte und lächelte und nicht so gut wie jede Stunde jedes Tages mit Trinken verbrachte. Jahrelang hatte er geglaubt, dieser Mann könnte immer noch zurückkehren. Aber Gideons Vater trug seine Tage wie einen verschlissenen Anzug. Er war ein leerer Mann, dessen einzige Leidenschaft aus den Gedanken an seine vor Langem verstorbene Ehefrau erwuchs. Dann erschien er halbwegs lebendig, doch was nutzte ein gelegentliches Aufflackern?

Der Mann berührte das Haar seines Sohnes ein letztes Mal, ging dann quer durch das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Gideon wartete noch eine Minute, bevor er sich aus dem Bett rollte – vollständig angezogen. Er lebte von Kaffee und Adrenalin, und es fiel ihm schwer, sich zu erinnern, wann er das letzte Mal geschlafen oder geträumt oder an etwas anderes gedacht hatte als an die Frage, wie man einen Mann umbrachte.

Er schluckte angestrengt und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Nur mit Mühe konnte er darüber hinwegsehen, dass seine Arme dünn und weiß waren und sein Herz so schnell klopfte wie das eines Kaninchens. Mit vierzehn, sagte er sich, war man Manns genug. Älter brauchte er nicht zu sein, um den Abzug zu drücken. Gott wollte schließlich, dass Jungen zu Männern wurden, und Gideon würde nur tun, was sein Vater täte, wenn er Manns genug wäre. Das bedeutete, dass auch Töten und Sterben zu Gottes Plan gehörten. Das sagte Gideon sich in der Dunkelheit seines Kopfes und gab sich große Mühe, den Teil seiner selbst zu überzeugen, der zitterte und schwitzte und sich übergeben wollte.

Dreizehn Jahre waren vergangen, seit seine Mutter ermordet worden war, und noch einmal drei Wochen, bis Gideon den kleinen schwarzen Revolver seines Vaters gefunden hatte, und zehn Tage, bis er herausgefunden hatte, dass der Nachtzug um zwei ihn zu dem grauen, quadratischen Gefängnis am anderen Ende des County bringen würde. Gideon kannte Kids, die auf fahrende Züge aufgesprungen waren. Es kam entscheidend darauf an, sagten sie, schnell zu laufen und nicht daran zu denken, wie scharfkantig und schwer diese großen glänzenden Räder tatsächlich waren. Aber Gideon befürchtete, er würde fehlspringen und unter den Zug geraten. Jede Nacht hatte er Albträume deshalb – aufblitzendes Hell und Dunkel und dann ein Schmerz, der so echt war, dass ihm beim Aufwachen die Knochen in den Beinen wehtaten. Es war ein furchtbares Bild, selbst wenn er wach war. Er kämpfte es nieder und öffnete die Tür gerade so weit, dass er seinen Vater sehen konnte, der zusammengesunken in einem alten braunen Sessel saß, ein Kissen an die Brust gedrückt, und den kaputten Fernseher anstarrte, in dem Gideon die Waffe versteckt hatte, nachdem er sie zwei Abende vorher aus der Kommodenschublade seines Vaters geklaut hatte. Jetzt wurde ihm klar, dass er sie in seinem Zimmer hätte aufbewahren sollen, aber er hatte gedacht, es gäbe kein besseres Versteck als die ausgetrockneten Eingeweide eines Fernsehgeräts, das nicht mehr funktionierte, seit Gideon fünf war.

Wie sollte er den Revolver da herausholen, wenn sein Vater direkt davorsaß?

Gideon hätte es anders machen sollen, nur liefen seine Gedanken manchmal schief. Er wollte nicht schwierig sein. Es ergab sich einfach so, und selbst die freundlichen Lehrer schlugen ihm vor, sich mehr mit Holz- und Metallwerkunterricht als mit den hochtrabenden Wörtern in den dicken, schweren Büchern zu befassen. Als er jetzt im Dunkeln stand, dachte er, dass die Lehrer vielleicht doch recht hatten, denn ohne den Revolver konnte er weder schießen noch sich schützen, noch Gott zeigen, dass er den Willen hatte, zu tun, was nötig war.

Nach einer Minute schloss er die Tür und dachte: der Zwei-Uhr-Zug …

Aber die Uhr stand bereits auf 1:21.

Dann auf 1:30.

Er spähte wieder durch den Türspalt und sah zu, wie die Flasche sich hob und senkte, bis sein Vater zusammensackte und die Flasche ihm aus den Fingern rutschte. Gideon wartete noch fünf Minuten und schlich sich dann ins Wohnzimmer. Er stieg über Motorenteile und andere Flaschen hinweg und stolperte einmal, als ein Auto vorbeirumpelte und Licht durch einen Spalt zwischen den Vorhängen hereinfluten ließ. Als es wieder dunkel war, kniete er sich hinter den Fernseher, nahm die Rückwand ab und holte den Revolver heraus, der schwarz und glatt war und schwerer, als er ihn in Erinnerung hatte. Er klappte die Trommel heraus und sah nach den Patronen.

»Junge?«

Es war die klägliche Stimme, der klägliche Mann. Gideon richtete sich auf und sah, dass sein Vater wach war – ein Loch, geformt wie ein Mann, im fleckigen Polster. Er wirkte unsicher und verängstigt, und einen Moment lang wollte Gideon sich wieder unter die Decke verkriechen. Er konnte immer noch alles abblasen und so tun, als wäre nichts davon passiert. Es wäre schön, dachte er, niemanden umzubringen. Aber er sah den Blumenkranz in den Händen seines Vaters. Die Blumen waren jetzt welk und trocken, doch an ihrem Hochzeitstag hatte seine Mutter sie wie eine Krone auf ihrem Haar getragen. Er schaute sie an, schon wieder – Schleierkraut und weiße Rosen, fahl und spröde –, und dann stellte er sich vor, wie das Zimmer aussähe, wenn ein Fremder von oben hineinschaute: der Mann mit den verwelkten Blumen, der Junge mit dem Revolver. Gideon hätte gern die Macht dieses Bildes erklärt, damit der Vater verstand, dass der Junge tun musste, was der Vater nicht tat. Stattdessen drehte er sich um und lief hinaus. Er hörte, wie er noch einmal gerufen wurde, aber da war er schon aus der Tür und wäre fast gestürzt, als er von der Veranda sprang und weiterrannte, mit dem Revolver in der Hand, der sich jetzt warm anfühlte, während die harte Landung auf dem Zement des Gehwegs durch seine Schienbeine vibrierte, und weiter, einen halben Block weit und dann geduckt durch den Garten eines alten Mannes in den dichten Wald hinein, der sich am Bach entlang ostwärts erstreckte, und einen großen Hügel hinauf, wo Maschendrahtzäune an ihren Pfosten hingen und Fabriken vom Rost verschlossen waren.

Er fiel gegen den Zaun, und sein Vater, weit hinter ihm, rief immer wieder seinen Namen, so laut, dass seine Stimme brach und krächzte und schließlich ganz versagte. Eine Sekunde lang zögerte Gideon, aber als im Westen eine Lokomotive pfiff, schob er den Revolver unter dem Zaun hindurch und kletterte oben darüber hinweg, riss sich die Haut auf und schlug sich beide Knie an, als er ungeschickt auf dem überwucherten Parkplatz auf der anderen Seite landete.

Der Zug pfiff lauter.

Er brauchte es nicht zu tun.

Niemand musste sterben.

Doch was da redete, war die Angst. Seine Mutter war tot, und ihr Mörder musste bezahlen. Also nahm er Kurs auf die Lücke zwischen der ausgebrannten Möbelfabrik und dem Betrieb, in dem sie Garn hergestellt hatten, bei dem aber jetzt eine ganze Seitenwand eingestürzt war. Zwischen den Gebäuden war es dunkler, aber trotz der losen Ziegel unter seinen Füßen schaffte Gideon es, ohne zu fallen, zu einem Loch im Zaun neben der großen Weißeiche in der hinteren Ecke. Er hatte Licht von einer Straßenlaterne und von ein paar tief stehenden Sternen, doch das verschwand, als er bäuchlings unter dem Drahtzaun hindurchrobbte und auf der anderen Seite in einen Wassergraben fiel. Er rutschte auf der trockenen, lockeren Erde der Böschung hinunter und musste aufpassen, dass er die Waffe in der schwarzen Dunkelheit nicht verlor. Er platschte durch ein Wasserrinnsal und kletterte auf der anderen Seite hinauf. Atemlos stand er in einer Schneise im Gestrüpp vor den stählernen Gleisen, die sich weiß von der Erde abhoben.

Er krümmte sich mit Seitenstichen vornüber, aber der Zug kam schon um die Biegung und schoss sein Licht am Berg hinauf.

Er müsste abbremsen, dachte er.

Doch das tat er nicht.

Gideon stürmte bergauf, als wäre der Berg nichts. Drei Lokomotiven und eine Wand aus Stahl, so rauschte der Zug vorbei, als könnte er einem die Luft aus der Lunge reißen. Mit jeder Sekunde kamen weitere Wagen den Berg hinauf, und Gideon konnte sie im Dunkeln ahnen, fünfzig Waggons und dann noch einmal hundert, die mit ihrem Gewicht an den Lokomotiven zogen, bis ihm klar wurde, der Zug war jetzt so langsam geworden, dass er fast mitlaufen konnte. Und das versuchte er – er rannte schnell, während die Räder gelbe Funken sprühten und ein Vakuum aufbauten, das an den Knochen seiner Beine saugte. Er sprang einen Waggon an, dann noch einen, aber die Sprossen waren hoch und glatt.

Er riskierte einen Blick zurück und sah, dass die letzten Wagen hinter ihm heranrasten, noch zwanzig vielleicht, dann weniger. Wenn er den Zug verpasste, würde er das Gefängnis nicht erreichen. Seine Finger streckten sich, er stürzte und schürfte sich das Gesicht auf, rannte weiter und bekam eine Sprosse zu fassen. Ein qualvoller Schmerz durchzuckte seine Schulter, und seine Füße prallten auf die Holzschwellen, bevor der Waggon ihn schließlich umgab wie eine schützende Schale.

Er hatte es geschafft. Er war in dem Zug zu einem Mann unterwegs, den er töten würde, und diese Tatsache lastete schwer in der Dunkelheit. Jetzt war es kein Gerede mehr, kein Warten und kein Planen.

Die Sonne würde in vier Stunden aufgehen.

Die Kugeln würden echte Kugeln sein.

Na und?

Er saß entschlossen in der schwarzen Finsternis. Das Land hob und senkte sich, und die Häuser zwischen den Hügeln sahen aus wie Sterne. Er dachte an schlaflose Nächte und Hunger, und als der Fluss unter ihm glitzerte, hielt er Ausschau nach dem Gefängnis. Er sah ein helles Licht, meilenweit draußen im Tal. Es kam rasend schnell näher, und so lehnte er sich hinaus, als das Gelände am flachsten und am wenigsten steinig aussah. Er wartete auf die Kraft zum Absprung, aber er war immer noch im Zug, als nackte Erde vorbeiflog und das Gefängnis wie ein Schiff in der Dunkelheit versank. Er würde es verpassen. Also dachte er an das Gesicht seiner Mutter, tat einen Schritt hinaus, fiel und landete auf dem Boden wie ein Sack Steine.

Als er zu sich kam, war es immer noch dunkel, und obwohl die Sterne matter wirkten, hatte er genug Licht, um an den Gleisen entlangzuhumpeln, bis er zu einer Straße kam, die zu einer Ansammlung brauner Gebäude führte, die er einmal vom Rücksitz eines fahrenden Wagens aus gesehen hatte. Er ging unter einer Tafel hindurch, auf der in schwarzen Lettern stand: HÄFTLINGEWILLKOMMEN, und betrachtete die aus Hohlblocksteinen gebaute Bar mit den zwei Fenstern dahinter. Sein Gesicht spiegelte sich verschwommen in der Scheibe. Leute oder Autos waren nicht unterwegs, und als er sich nach Süden wandte, sah er das Gefängnis, das in der Ferne aufragte. Er betrachtete es eine ganze Weile, bevor er sich in den Durchgang neben der Bar drückte und mit dem Rücken an einen Müllcontainer lehnte, der nach Chickenwings, Zigaretten und Pisse roch. Er hätte gern Genugtuung darüber empfunden, dass er es so weit geschafft hatte, aber der Revolver auf seinem Schoß passte nicht ins Bild. Er versuchte, die Straße zu beobachten, doch da gab es nichts zu beobachten; also schloss er die Augen und dachte an ein Picknick, das sie einmal gemacht hatten, als er noch klein war. Das Foto, das dabei aufgenommen worden war, stand in einem Rahmen auf seinem Nachttisch zu Hause. Er hatte eine gelbe Hose mit großen Knöpfen angehabt, und er glaubte sich zu erinnern, dass sein Vater ihn hochgehoben und über dem Kopf im Kreis herumgewirbelt hatte. Er hielt den Gedanken an diese Kindheit fest und stellte sich dann vor, wie es sich anfühlen würde, den Mann zu töten, der sie ihm weggenommen hatte.

Hahn spannen.

Arm ausgestreckt und ruhig halten.

Er übte es im Kopf, damit er es in der Realität richtig machen würde, aber selbst in seiner Fantasie zitterte die Waffe und blieb stumm. Tausend Mal in tausend Nächten hatte Gideon sich das Gleiche ausgemalt.

Sein Vater war nicht Manns genug.

Er würde nicht Manns genug sein.

Er drückte den Lauf an die Stirn und betete um Kraft. Dann ging er alles noch einmal durch.

Hahn spannen.

Arm ausstrecken.

Noch eine Stunde lang versuchte er, sich bereit zu machen. Dann übergab er sich in der Dunkelheit und schlang die Arme um seinen Brustkorb, als wäre ihm alle Wärme der Welt ebenfalls gestohlen worden.

ZWEI

Elizabeth sollte schlafen – das war ihr klar –, aber die Erschöpfung war nicht nur körperlich. Die Müdigkeit kam von toten Männern und den Fragen, die sich ihretwegen stellten, und von dreizehn Jahren als Cop, die anscheinend übel enden würden. Sie ließ den Film im Geiste ablaufen: das vermisste Mädchen und der Keller, der blutige Draht, das Knallen der beiden ersten Schüsse. Zwei könnte sie erklären, vielleicht sogar sechs, aber achtzehn Kugeln in zwei Leichen waren nicht leicht zu verkaufen, auch wenn das Mädchen überlebt hatte. Vier Tage waren seit diesen Schüssen vergangen, und das Leben, das danach gekommen war, fühlte sich immer noch fremdartig an. Gestern hatte eine vierköpfige Familie sie auf dem Gehweg angehalten, um ihr dafür zu danken, dass sie die Welt zu einem besseren Ort gemacht habe. Eine Stunde später hatte jemand auf den Ärmel ihrer Lieblingsjacke gespuckt.

Elizabeth zündete sich eine Zigarette an und dachte, dass es letzten Endes immer nur auf den Standpunkt ankam. Für Leute mit Kindern war sie eine Heldin. Ein Mädchen war entführt worden, und böse Menschen waren gestorben. Viele fanden das richtig. Für diejenigen, die der Polizei prinzipiell misstrauten, war Elizabeth der lebende Beweis für alles, was mit der Obrigkeit nicht stimmte. Zwei Männer waren gewaltsam und brutal zu Tode gekommen. Dealer, Kidnapper, Vergewaltiger, aber egal. Sie waren mit achtzehn Kugeln im Leib gestorben, und für manche war das unentschuldbar. Sie benutzten Wörter wie Folter, Hinrichtung und Polizeibrutalität. Elizabeth hatte sehr entschiedene Ansichten in dieser Frage, doch hauptsächlich war sie einfach müde. Wie viele Tage ohne richtigen Schlaf? Und wie viele Albträume, wenn der Schlaf schließlich doch kam? Zwar war die Stadt unverändert, und dieselben Leute gehörten nach wie vor zu ihrem Leben, aber es fiel anscheinend von Stunde zu Stunde schwerer, an der Person festzuhalten, die sie gewesen war. Der heutige Tag war ein perfektes Beispiel dafür. Sie hatte sieben Stunden im Auto gesessen und war ziellos durch die Stadt und das County gefahren, vorbei am Polizeirevier und ihrem Haus, am Gefängnis vorbei und wieder zurück. Doch was konnte sie sonst tun?

Ihr Zuhause war ein Vakuum.

Zum Dienst konnte sie nicht.

Sie hielt auf einem dunklen Grundstück am gefährlichen Rand der Stadt, stellte den Motor ab und lauschte den Geräuschen der Stadt. Stampfende Musik kam aus einem Club in der übernächsten Straße. An der Ecke kreischte ein Keilriemen. Irgendwo wurde gelacht. Nach vier Jahren in Uniform und neun mit der goldenen Dienstmarke kannte sie jeden Rhythmus mit allen Nuancen. Die Stadt war ihr Leben, und sie hatte sie lange Zeit geliebt. Aber jetzt kam sie ihr … ja, wie kam sie ihr vor?

War falsch das richtige Wort? Es klang zu hart.

Fremdartig vielleicht?

Unvertraut?

Sie stieg aus und blieb in der Dunkelheit stehen. In der Ferne flackerte eine Straßenlaterne zweimal und ging dann knisternd aus. Elizabeth drehte sich langsam um sich selbst und stellte sich jede dunkle Gasse und jede krumme Straße im Umkreis von zehn Blocks vor. Sie kannte die Crackhöhlen und die Absteigen, die Nutten und die Dealer, die Straßenecken, an denen man leicht erschossen werden konnte, wenn man etwas Falsches sagte oder sich aufspielte. Sieben Menschen waren in diesem heruntergekommenen Viertel einer zerbrochenen Stadt umgebracht worden, und das nur in den letzten drei Jahren.

Sie war schon tausend Mal an dunkleren Orten gewesen, nur fühlte es sich ohne Dienstmarke anders an. Die moralische Autorität war wichtig, ebenso wie das Gefühl, zu etwas zu gehören, das größer war als sie selbst. Angst hatte sie nicht, aber vielleicht war nackt ein passendes Wort, das beschrieb, wie sie sich fühlte. Elizabeth hatte keinen Freund, keine Freundinnen, keine Hobbys. Sie war Polizistin. Sie liebte den Kampf und die Jagd, die seltenen seligen Augenblicke, in denen sie Leuten half, die es tatsächlich gut meinten. Was würde ihr bleiben, wenn sie das verlöre?

Channing, dachte sie.

Channing würde bleiben.

Dass ein Mädchen, das sie kaum kannte, so wichtig sein konnte, war merkwürdig. Aber sie war es. Wenn Elizabeth düster oder einsam zumute war, dachte sie an das Mädchen. Auch wenn die Welt sie erdrückte oder wenn sie an die handfeste Möglichkeit dachte, dass sie für das, was in dem feuchten, kalten Kellerloch passiert war, ins Gefängnis wanderte. Channing lebte, und so groß der Schaden auch war, den sie davongetragen hatte, sie hatte doch immer noch die Chance, ein volles, normales Leben zu führen. Viele Opfer konnten das nicht mehr von sich behaupten. Verflucht, Elizabeth kannte Cops, die das auch nicht sagen konnten.

Sie trat die Zigarette aus und zog eine Zeitung aus dem Automaten neben einem leeren Imbisslokal. Sie setzte sich in den Wagen und breitete die Zeitung auf dem Lenkrad aus, und ihr eigenes Gesicht starrte ihr entgegen. In Schwarz-Weiß sah sie kalt und distanziert aus, doch es konnte auch an der Schlagzeile liegen, dass sie so unnahbar wirkte.

»Heldenhafte Polizistin oder Todesengel?«

Nach zwei Absätzen war klar, zu welcher Ansicht der Reporter neigte. Das Wort angeblich tauchte zwar mehr als einmal auf, aber auch Formulierungen wie unerklärliche Brutalität, unnötiger Einsatz von Gewalt, qualvoller Tod. Nach langen Jahren der positiven Presseberichterstattung hatte die Lokalzeitung sich jetzt anscheinend gegen sie gewandt. Nicht, dass sie es ihnen verdenken konnte, nicht angesichts der Proteste und des öffentlichen Aufschreis, nicht angesichts der Beteiligung der State Police. Das Foto, das sie ausgesucht hatten, sagte alles. Sie stand auf der Treppe vor dem Gericht und schaute herunter, kühl und unnahbar. Das lag an den hohen Wangenknochen und den tief liegenden Augen, an der hellen Haut, die im Zeitungsdruck grau aussah.

»Todesengel. Meine Güte.«

Sie warf die Zeitung auf den Rücksitz, startete den Motor und schlängelte sich aus den finsteren Stadtvierteln hinaus, vorbei am marmorverzierten Gerichtsgebäude und dem Springbrunnen auf dem Platz auf das College zu. Wie ein Gespenst wehte sie an Coffeeshops und Bars und lauten, lachenden jungen Leuten vorbei. Danach kam das gentrifizierte Viertel mit seinen Loft-Apartments und Kunstgalerien. Aus renovierten Lagerschuppen waren Brauereikneipen, Wellness-Clubs und Avantgarde-Theater geworden. Auf den Gehwegen waren Touristen unterwegs, ein paar Hipster, vereinzelte Obdachlose. Auf der vierspurigen Schnellstraße, die an Kettenrestaurants und der alten Mall vorbeiführte, fuhr sie schneller. Der Verkehr war hier dünner, und es waren weniger Leute unterwegs. Sie schaltete das Radio ein, aber die Talksender waren langweilig, und die Musik passte nicht zu ihrer Stimmung. Sie bog nach Osten ab und folgte einer schmalen Straße durch vereinzelte Waldstücke und Wohnviertel mit Steinsäulen vor den Hauseingängen. Zwanzig Minuten später lag die Stadtgrenze hinter ihr. Noch einmal fünf, und es ging bergauf. Oben auf der Höhe zündete sie sich wieder eine Zigarette an und schaute hinunter auf die Stadt. Wie sauber sie von hier oben aussah! Für einen Moment vergaß sie das Mädchen und den Keller. Hier gab es keine Schreie, kein Blut und keinen Rauch, kein zerbrochenes Kind, keine irreparablen Fehler. Hier gab es Licht und Dunkel. Kein Grau, keinen Schatten. Nichts dazwischen.

Sie trat an den Rand des Abhangs, spähte hinunter und suchte nach irgendeinem Grund zur Hoffnung. Eine Anklage war nicht erhoben worden. Eine Gefängnisstrafe drohte nicht.

Noch nicht …

Sie schnippte die Zigarette in die Dunkelheit, wo sie kreiselnd verschwand, und zum dritten Mal in ebenso vielen Tagen rief sie das Mädchen an. »Channing, hey, ich bin’s.«

»Detective Black?«

»Du sollst mich Elizabeth nennen. Schon vergessen?«

»Ja, sorry. Ich habe geschlafen.«

»Hab ich dich geweckt? Tut mir leid. Bin in letzter Zeit mit den Gedanken woanders.« Elizabeth drückte das Telefon ans Ohr und schloss die Augen. »Ich verliere die Zeit aus den Augen.«

»Schon okay. Ich nehme Schlaftabletten. Meine Mom, wissen Sie?«

Elizabeth hörte ein Rascheln und sah das Mädchen vor sich, wie es sich im Bett aufrichtete. Sie war achtzehn, ein puppenhaftes Wesen mit gehetztem Blick und Erinnerungen, die kein Kind haben sollte. »Ich habe mir nur Sorgen um dich gemacht.« Elizabeth presste das Telefon zusammen, bis ihre Hand wehtat und die Welt aufhörte zu kreisen. »Bei allem, was gerade los ist, hilft es mir zu wissen, dass es dir gut geht.«

»Ich schlafe die meiste Zeit. Schlimm ist es nur, wenn ich wach bin.«

»Es tut mir so leid, Channing …«

»Ich habe niemandem etwas erzählt.«

Elizabeth erstarrte plötzlich. Warme Luft wehte den Berg herauf, aber sie fror. »Deshalb rufe ich nicht an, Schatz. Du brauchst nicht …«

»Ich habe getan, was Sie gesagt haben, Elizabeth. Ich habe keiner Menschenseele erzählt, was wirklich passiert ist. Ich tu’s auch nicht. Ich würde es nie tun.«

»Ich weiß, aber …«

»Wird die Welt für Sie manchmal dunkel?«

»Weinst du, Channing?«

»Für mich wird sie ein bisschen grau.«

Die Stimme brach, und Elizabeth sah das Zimmer des Mädchens im großen Haus seiner Eltern auf der anderen Seite der Stadt vor sich. Sechs Tage zuvor war Channing auf einer Straße in der Stadt verschwunden. Keine Zeugen. Kein Motiv jenseits des Offenkundigen. Zwei Tage später hatte Elizabeth das blinzelnde Mädchen aus dem Keller eines verlassenen Hauses geführt. Die Männer, die sie entführt hatten, waren tot. Mit achtzehn Kugeln im Leib. Und jetzt war es Mitternacht, vier Tage später, und das Zimmer des Mädchens war immer noch pink und weich und vollgestopft mit den Besitztümern der Kindheit. Wenn darin eine Botschaft versteckt war, konnte Elizabeth sie nicht entdecken. »Ich hätte nicht anrufen sollen«, sagte sie. »Das war selbstsüchtig von mir. Geh wieder schlafen.«

Es rauschte in der Verbindung.

»Channing?«

»Sie fragen, was passiert ist, wissen Sie. Meine Eltern. Die Psychologen. Sie fragen andauernd, aber ich sage immer nur, wie Sie diese Männer umgebracht und mich gerettet haben und wie froh ich war, als sie gestorben sind.«

»Das ist okay, Channing. Mit dir ist alles okay.«

»Bin ich ein schlechter Mensch? Weil ich froh war? Weil ich finde, achtzehn Kugeln waren nicht genug?«

»Natürlich nicht. Sie hatten es verdient.«

Aber das Mädchen weinte. »Ich sehe sie, wenn ich die Augen schließe. Ich höre die Witze, die sie sich zwischendurch erzählten. Und wie sie planten, mich umzubringen.« Wieder brach ihre Stimme, krächzender diesmal. »Ich spüre immer noch seine Zähne an meiner Haut.«

»Channing …«

»Ich habe dieselben Sachen so oft gehört, dass ich anfing zu glauben, was er sagte. Dass ich verdient hätte, was sie mit mir machten. Dass ich um den Tod bitten würde, bevor sie mit mir fertig wären, und dass ich betteln würde, bevor sie mich schließlich sterben ließen.«

Elizabeths Hand, die das Telefon umklammerte, wurde noch weißer. Die Ärzte hatten neunzehn Bissspuren gezählt, und die meisten hatten die Haut durchdrungen. Aber Elizabeth wusste aus langen Gesprächen, dass das, was sie zu ihr gesagt hatten, am meisten wehgetan hatte. Das Wissen und die Angst, die Art und Weise, wie sie sie zu brechen versucht hatten.

»Ich hätte ihn gebeten, mich zu töten«, sagte Channing. »Wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich ihn angefleht.«

»Das ist jetzt vorbei.«

»Ich glaube nicht.«

»Doch. Du bist stärker, als du glaubst.«

Channing schwieg, und in der Stille hörte Elizabeth deren rasselnden Atem.

»Kommen Sie mich morgen besuchen?«

»Ich will’s versuchen«, sagte Elizabeth.

»Bitte.«

»Ich muss morgen mit der State Police sprechen. Wenn ich es schaffe, komme ich. Wenn nicht, komme ich übermorgen.«

»Versprochen?«

»Versprochen«, sagte Elizabeth, obwohl sie nicht wusste, wie man zerbrochene Dinge wieder heil machte.

Als sie wieder im Wagen saß, fühlte sie sich immer noch losgelöst von allem, und wie schon öfter im Leben, wenn sie nirgends hinkonnte und nichts zu tun hatte, landete sie bei der Kirche ihres Vaters, einem bescheidenen Gebäude, das schmal und fahl vor dem Nachthimmel aufragte. Sie parkte vor dem hohen Kirchturm, betrachtete die kleinen Häuser, die wie aufgereihte Schachteln in der Dunkelheit standen, und dachte zum hundertsten Mal, dass sie an einem solchen Ort leben könnte. So ärmlich er war, die Leute hier arbeiteten und zogen Familien groß und halfen einander. Solche Nachbarschaft war heutzutage anscheinend selten geworden, und vieles von dem, was diesen Ort zu etwas Besonderem machte, kam von ihren Eltern, dachte sie. Ihr Vater und sie hatten sehr unterschiedliche Auffassungen vom Leben und davon, wie man es lebte, aber er war ein guter Pfarrer. Wenn jemand eine Beziehung zu Gott haben wollte, war sein Weg dahin ein guter. Herzensgüte. Gemeinschaftssinn. Er hielt die Nachbarschaft in Gang, doch das alles funktionierte nur, wenn es auf seine Art getan wurde.

Elizabeth hatte diese Art von Vertrauen verloren, als sie siebzehn war.

Sie ging durch die schmale Zufahrt unter dichten Bäumen hindurch und kam zum Pfarrhaus, in dem ihre Eltern wohnten. Wie die Kirche war es klein, schlicht und einfach weiß gestrichen. Elizabeth rechnete nicht damit, dass jemand wach sein würde, aber ihre Mutter saß am Küchentisch. Sie hatte die gleichen Wangenknochen wie Elizabeth und die gleichen tief liegenden Augen – eine schöne Frau mit grau gesträhntem Haar, deren Haut trotz jahrelanger harter Arbeit immer noch glatt war. Elizabeth beobachtete sie eine ganze Minute lang. Sie hörte Hundegebell und Motorengeräusche in der Ferne, und in einem Haus irgendwo weinte ein Baby. Seit den Schüssen hatte sie diesen Ort gemieden.

Warum bin ich dann jetzt hier?

Nicht wegen meines Vaters, dachte sie. Niemals.

Warum dann?

Aber sie wusste es.

Elizabeth klopfte an die Tür und wartete. Stoff raschelte hinter dem Fliegengitter, und ihre Mutter erschien. »Hallo, Mom.«

»Mein kleines Mädchen.« Die Fliegentür öffnete sich, und ihre Mutter trat heraus auf die Veranda. Ihre Augen funkelten im Licht, und ihr Gesicht strahlte vor Freude, als sie die Arme ausbreitete und ihre Tochter an sich zog. »Du rufst nicht an. Du kommst nicht vorbei.«

Ihre Umarmung war locker, aber Elizabeth drückte sie fester an sich. »Ich hatte ein paar schlimme Tage. Entschuldige.«

Ihre Mutter hielt sie auf Armlänge von sich und betrachtete sie forschend. »Wir haben dir Nachrichten hinterlassen, weißt du. Sogar dein Vater hat dich angerufen.«

»Ich kann nicht mit Dad sprechen.«

»Ist es wirklich so schlimm?«

»Sagen wir einfach, ich habe mit so vielen Urteilen zu rechnen, dass ich nicht noch ein himmlisches gebrauchen kann.«

Das war kein Scherz, doch ihre Mutter lachte. Es war ein gutes Lachen. »Komm, trink etwas.« Sie führte Elizabeth hinein, setzte sie an einen kleinen Tisch und hantierte mit Eiswürfeln und einer halb leeren Flasche Tennessee-Whiskey. »Möchtest du darüber reden?«

Elizabeth schüttelte den Kopf. Sie wäre gern ehrlich zu ihrer Mutter gewesen, aber sie hatte schon vor langer Zeit erkannt, dass eine einzige Lüge noch den tiefsten Brunnen vergiften konnte. Besser, sie sagte gar nichts. Besser, sie behielt alles für sich.

»Elizabeth?«

»Entschuldige.« Elizabeth schüttelte erneut den Kopf. »Ich will nicht abweisend sein. Es ist nur … alles ist so verworren.«

»Verworren?«

»Ja.«

»Ach, Blödsinn.« Elizabeth öffnete den Mund, aber ihre Mutter winkte ab. »Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der klarer im Kopf ist als du. Als Kind wie als Erwachsene. Du hast immer klarer gesehen als die meisten. In dieser Hinsicht bist du wie dein Vater, auch wenn du an ganz andere Dinge glaubst.«

Elizabeth spähte in den dunklen Flur. »Ist er hier?«

»Dein Vater? Nein. Die Turners haben wieder Schwierigkeiten. Dein Vater versucht zu helfen.«

Elizabeth kannte die Turners. Die Frau trank und konnte aggressiv werden. Einmal hatte sie ihren Mann verletzt, und Elizabeth hatte den Anruf in ihrem letzten Monat als Uniformierte entgegengenommen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie das schmale Haus vor sich, die Frau, die einen pinkfarbenen Hausmantel trug und bestenfalls fünfundvierzig Kilo wog.

Ich will den Reverend sprechen.

Sie hatte ein Nudelholz in der Hand und fuchtelte damit in der Luft herum. Ihr Mann lag auf dem Boden und blutete.

Ich rede mit niemandem außer dem Reverend.

Elizabeth war bereit gewesen, die Sache auf die harte Tour zu erledigen, aber ihr Vater hatte die Frau beruhigt, und der Mann hatte sich – wieder einmal – geweigert, Anzeige zu erstatten. Das war jetzt Jahre her, und der Reverend betreute sie immer noch. »Er kneift niemals, nicht wahr?«

»Dein Vater? Nein.«

Elizabeth schaute aus dem Fenster. »Hat er über die Schießerei gesprochen?«

»Nein, Schatz. Was hätte er auch sagen sollen?«

Das war eine gute Frage, und Elizabeth kannte die Antwort. Er würde ihr die Toten zum Vorwurf machen und dass sie überhaupt Polizistin geworden war. Er würde sagen, sie habe sein Vertrauen missbraucht und alles Schlechte sei aus dieser einen falschen Entscheidung gekommen: der Keller, die toten Brüder, ihre Karriere. »Er kann das Leben, für das ich mich entschieden habe, immer noch nicht akzeptieren.«

»Natürlich kann er das. Aber er ist dein Vater, und er ist traurig.«

»Meinetwegen?«

»Vielleicht sehnt er sich nach einfacheren Zeiten. Nach dem, was einmal war. Niemand möchte von seiner eigenen Tochter gehasst werden.«

»Ich hasse ihn nicht.«

»Aber du hast ihm auch nicht verziehen.«

Das bestritt Elizabeth nicht. Sie hielt Distanz, und selbst wenn sie im selben Zimmer waren, blieb die Atmosphäre frostig. »Warum seid ihr beide so verschieden?«

»Das sind wir eigentlich nicht.«

»Lachfalten. Stirnrunzeln. Hinnahme. Missbilligung. Ihr seid einander so vollständig entgegengesetzt, dass ich mich frage, wie ihr so lange zusammenbleiben konntet. Ich finde es erstaunlich. Wirklich.«

»Du bist unfair gegenüber deinem Vater.«

»Wirklich?«

»Was kann ich sagen, Schatz?« Ihre Mutter nippte an ihrem Whiskey und lächelte. »Das Herz will, was es will.«

»Noch nach so vielen Jahren?«

»Na ja, vielleicht ist es inzwischen nicht mehr so sehr das Herz. Er kann schwierig sein, ja, aber nur, weil er die Welt so klar sieht. Gut und Böse und nur einen geraden Weg. Je älter ich werde, desto tröstlicher finde ich eine solche Gewissheit.«

»Du hast Philosophie studiert, um Himmels willen.«

»In einem anderen Leben.«

»Du hast in Paris gelebt. Du hast Gedichte geschrieben.«

Ihre Mutter wischte diese Bemerkung beiseite. »Ich war nur ein Mädchen, und Paris war nur eine Stadt. Du fragst, warum wir zusammengeblieben sind, und im Herzen erinnere ich mich daran, wie es sich anfühlte – die Vision und das Ziel, die Entschlossenheit, die Welt jeden Tag ein bisschen besser zu machen. Das Leben mit deinem Vater war, als stünde man neben einem offenen Feuer, nur rohe Kraft und Hitze und Zielstrebigkeit. Er stand morgens voller Energie auf und beendete den Tag genauso. Er hat mich viele Jahre lang sehr glücklich gemacht.«

»Und heute?«

Sie lächelte wehmütig. »Sagen wir einfach, so starrsinnig und streng er auch geworden sein mag, mein Heim ist immer noch im Haus deines Vaters.«

Elizabeth gefiel die schlichte Eleganz einer solchen Hingabe. Der Reverend. Die Frau des Reverends. Sie ließ einen Augenblick vergehen und stellte sich vor, wie es für die beiden gewesen sein musste: die Leidenschaft und die gemeinsame Sache, die frühen Tage und die große steinerne Kirche. »Es ist nicht wie das alte Haus, oder?« Sie ging zum Fenster und schaute hinaus auf steinumgrenzte Beete und braunes Gras, auf die ärmliche, schmale Kirche mit der sonnenverbrannten Holzverkleidung. »Manchmal muss ich daran denken. An die Kühle, die Stille, den weiten Blick von den Altarstufen hinunter.«

»Ich dachte, du hättest die alte Kirche gehasst.«

»Nicht immer. Und nicht mit solcher Leidenschaft.«

»Warum bist du hier, Schatz?« Das Spiegelbild der Mutter erschien in der Fensterscheibe. »Warum wirklich?«

Elizabeth seufzte, und sie wusste, dies war der Grund. »Bin ich ein guter Mensch?« Ihre Mutter wollte lächeln, aber Elizabeth hob die Hand. »Im Ernst, Mom. Ich meine, jetzt. Mitten in der Nacht. Die Dinge in meinem Leben sind durcheinander und ungewiss, und hier bin ich.«

»Sei nicht albern.«

»Bin ich eine, die nur nimmt?«

»Elizabeth Frances Black, du hast in deinem ganzen Leben noch nichts genommen. Seit du Kind warst, habe ich gesehen, wie du gibst, erst deinem Vater und der Gemeinde und jetzt der ganzen Stadt. Wie viele Orden hast du bekommen? Wie viele Leben hast du gerettet? Worum geht es in Wirklichkeit?«

Elizabeth setzte sich und starrte in ihr Glas. Sie zog die Schultern hoch. »Du weißt, wie gut ich schieße.«

»Ah. Jetzt verstehe ich.« Sie nahm die Hand ihrer Tochter, und Falten sammelten sich an ihren Augenwinkeln, als sie sie einmal drückte und sich ihr gegenüber an den Tisch setzte. »Wenn du achtzehnmal auf diese Männer geschossen hast, hattest du einen guten Grund. Nichts, was irgendjemand sagen kann, wird mich anders darüber denken lassen.«

»Du hast die Zeitung gelesen?«

»Gemeinplätze.« Sie schnaubte wegwerfend. »Verdrehungen.«

»Zwei Männer sind tot. Was gibt es noch zu sagen?«

»Mein kleines Mädchen.« Sie schenkte Elizabeth nach und goss sich auch noch etwas ein. »Genauso kannst du das Wort weiß benutzen, um den aufgehenden Vollmond zu beschreiben, oder die Pracht des Ozeans nass nennen. Du hast ein unschuldiges Mädchen gerettet. Daneben verblasst alles andere.«

»Du weißt, dass die State Police ermittelt?«

»Ich weiß nur, dass du getan hast, was du für richtig hieltst, und wenn du achtzehnmal auf diese Männer geschossen hast, hattest du einen guten Grund dafür.«

»Und wenn die State Police das anders sieht?«

»Du liebe Güte.« Ihre Mutter lachte wieder. »Du kannst unmöglich solche Selbstzweifel haben. Sie werden ihre kleinen Ermittlungen durchführen und deinen Namen reinwaschen. Das muss dir doch klar sein.«

»Im Moment ist mir gar nichts klar. Was da passiert ist. Warum es passiert ist. Ich habe kaum geschlafen.«

Ihre Mutter trank einen Schluck und richtete dann einen Finger auf sie. »Ist dir das Wort Inspiration geläufig? Ich meine, seine Bedeutung und woher es kommt?«

Elizabeth schüttelte den Kopf.

»Im finsteren Mittelalter konnte niemand erklären, was manche Leute zu etwas Besonderem machte – Dinge wie Fantasie oder Kreativität oder Vision. Die Menschen lebten und starben in demselben kleinen Dorf. Sie hatten keine Ahnung, warum die Sonne auf- und unterging oder warum der Winter kam. Sie wühlten im Dreck und starben jung an irgendwelchen Krankheiten. Jede Menschenseele in diesen dunklen, schweren Zeiten hatte mit den gleichen Beschränkungen zu kämpfen, jede außer einigen wenigen, die selten auf die Welt kamen und die Dinge anders sahen – die Dichter und Erfinder, die Maler und Bildhauer. Die einfachen Leute verstanden solche Menschen nicht. Sie verstanden nicht, wie jemand eines Tages aufwachen und die Welt mit anderen Augen sehen konnte. Sie dachten, so etwas sei ein Geschenk von Gott. Daher kommt das Wort Inspiration. Es bedeutet ›einhauchen‹.«

»Ich bin aber keine Künstlerin. Keine Visionärin.«

»Aber du hast Erkenntnisse, die so selten vorkommen wie die Gabe eines Dichters. Du siehst in die Tiefe und verstehst. Du hättest diese Männer nicht getötet, wenn es nicht hätte sein müssen.«

»Hör zu, Mom …«

»Inspiration.« Ihre Mutter trank, und Tränen traten ihr in die Augen. »Eingehaucht von Gott selbst.«

Dreißig Minuten später fuhr Elizabeth zurück ins Zentrum. Für North Carolina hatte die Stadt eine akzeptable Größe mit ihren hunderttausend Einwohnern innerhalb der Stadtgrenze und noch einmal doppelt so vielen im Umland. Mancherorts war sie immer noch reich, aber nachdem es zehn Jahre bergab gegangen war, wurden die ersten Risse sichtbar. Die Rollläden vor Geschäftsfassaden waren geschlossen, wo sie nie geschlossen gewesen waren. Zerbrochene Fensterscheiben wurden nicht mehr erneuert, Gebäude nicht mehr frisch gestrichen. Sie kam an einem Lokal vorbei, das einmal ihr Lieblingsrestaurant gewesen war, und sah eine Gruppe von Teenagern, die an der Straßenecke standen und sich stritten. Davon gab es jetzt auch immer mehr: Wut, Unzufriedenheit. Die Arbeitslosigkeit war doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt, und jedes Jahr wurde es schwerer, so zu tun, als lägen die besten Zeiten nicht in der Vergangenheit. Das bedeutete nicht, dass es keine schönen Stadtteile gab. Es gab sie – mit alten Häusern und Holzzäunen, mit Bronzestatuen, die von Gewissheit und Krieg und Opfermut sprachen. Der Stolz hatte sich in manchen Winkeln erhalten, aber selbst die Vornehmsten hatten anscheinend Hemmungen, ihn zu äußern, als könnte das irgendwie gefährlich sein. Als wäre es klüger, den Kopf einzuziehen und auf besseres Wetter zu warten.

Elizabeth parkte vor dem Revier und starrte durch die Frontscheibe. Das Gebäude war dreigeschossig und aus Stein und Marmor gebaut wie das Gericht. Ein chinesisches Restaurant stand auf einem schmalen Grundstück in einer Nebenstraße rechts von ihr. Eine Straße weiter lag der Konföderiertenfriedhof und dahinter das Eisenbahndepot mit den Gleisen, die von Norden nach Süden führten. Als Jugendliche war sie samstags morgens mit ihren Freundinnen zusammen an diesen Gleisen entlang in die Stadt gewandert, um ins Kino zu gehen oder im Park die Jungs zu beobachten. So etwas konnte sie sich heute nicht mehr vorstellen. Kids auf den Bahngleisen. Unbeaufsichtigt in der Stadt. Elizabeth drehte das Fenster hinunter und roch Asphalt und heißes Gummi. Sie zündete sich eine Zigarette an und beobachtete das Revier.

Dreizehn Jahre …

Sie versuchte sich vorzustellen, das alles wäre weg: der Job, die Beziehungen, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Seit sie siebzehn war, hatte sie Polizistin werden wollen, denn Polizisten hatten keine Angst vor den Dingen, vor denen normale Menschen Angst hatten. Polizisten waren stark. Sie besaßen Autorität und Zielstrebigkeit. Sie waren die Guten.

Glaubte sie das immer noch?

Elizabeth schloss die Augen und dachte darüber nach. Als sie sie wieder öffnete, sah sie Francis Dyer auf der breiten Treppe, die quer über die Vorderseite des Polizeireviers reichte. Er kam geradewegs über die Straße. Sein vertrautes Gesicht sah frustriert und traurig aus. Seit den Schüssen hatten sie viel gestritten, aber es gab keine Bitterkeit zwischen ihnen. Er war älter als sie, sanft und ehrlich besorgt.

»Hallo, Captain. Ich habe nicht damit gerechnet, Sie so spät noch hier zu sehen.«

Er blieb am offenen Wagenfenster stehen und betrachtete ihr Gesicht und das Innere des Wagens. Sein Blick wanderte über Zigarettenschachteln und Red-Bull-Dosen und ein halbes Dutzend zusammengeknüllter Zeitungen auf dem Rücksitz und blieb dann auf dem Handy neben ihr hängen. »Ich habe Ihnen sechs Nachrichten geschickt.«

»Entschuldigung. Ich hab’s abgeschaltet.«

»Warum?«

»Die meisten Anrufe kommen von Reportern. Wäre es Ihnen lieber, wenn ich mit denen spreche?«

Ihr Benehmen ärgerte ihn. Teils weil er beunruhigt war, teils war es aber auch das Kontrollbedürfnis eines Polizisten. Sie war ein Detective, aber vom Dienst suspendiert, eine Freundin, aber nicht eng genug, um seine Frustration zu rechtfertigen. Das Gefühl stand ihm ins Gesicht geschrieben, in den schmalen Augen und auf den weichen Lippen, in der plötzlichen Röte, die seine Wangen überzog. »Was machen Sie hier, Liz? Es ist mitten in der Nacht.«

Sie zuckte die Achseln.

»Ich hab’s Ihnen gesagt. Bis Ihr Fall geklärt ist …«

»Ich wollte nicht hereinkommen.«

Er wartete ein paar Augenblicke lang. Sein Gesicht blieb zerfurcht, der Blick besorgt. »Ihre Nachvernehmung bei der State Police ist morgen. Das vergessen Sie nicht, oder?«

»Natürlich nicht.«

»Haben Sie mit Ihrem Anwalt gesprochen?«

»Ja«, log sie. »Alles geregelt.«

»Dann sollten Sie jetzt bei Ihrer Familie oder bei Freunden sein. Bei Leuten, die Sie lieben.«

»War ich doch. Ich war mit Freunden essen.«

»Wirklich? Was gab’s denn?« Sie öffnete den Mund, und er sagte: »Lassen Sie es gut sein. Ich will nicht, dass Sie mich belügen.« Er schaute über seine schmalen Brillengläser hinweg die Straße entlang. »In meinem Büro. In fünf Minuten.«

Er ging davon, und Elizabeth brauchte ein Weilchen, um sich zu sammeln. Als sie das Gefühl hatte, sie sei bereit, überquerte sie die Straße und stapfte die Treppe hinauf zu der doppelten Glastür, in der sich Straßenbeleuchtung und Sterne spiegelten. Drinnen am Empfang zwang sie sich zu einem Lächeln und grüßte den Sergeant hinter der kugelsicheren Scheibe mit erhobener Hand. »Ja, ja«, sagte der Sergeant. »Dyer hat gesagt, ich soll Sie reinlassen. Sie sehen anders aus.«

»Anders? Inwiefern?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin zu alt für diesen Scheiß.«

»Für welchen Scheiß?«

»Frauen. Meinungen.«

Er drückte auf den Summer, und das Geräusch folgte ihr ins Treppenhaus und hinauf in das lang gestreckte, offene Großraumbüro der Detectives. Es war fast leer, und die meisten Schreibtische lagen im Schatten. Ein paar bittersüße Sekunden lang bemerkte niemand sie. Dann fiel die Tür dröhnend ins Schloss, und ein massiger Cop in einem zerknitterten Anzug blickte von seinem Schreibtisch auf. »Yo, yo. Black in da house.«

»Yo, yo?« Elizabeth kam näher.

»Was?« Er lehnte sich zurück. »Ich kann den Straßenjargon nicht mehr?«

»Ich würde bei dem bleiben, was du hast.«

»Und was hab ich?«

Sie blieb an seinem Schreibtisch stehen. »Eine Hypothek, Kinder. Fünfzehn Kilo Übergewicht und eine Ehefrau seit – wie lange? Seit neun Jahren?«

»Seit zehn.«

»Na bitte. Eine liebevolle Familie, verstopfte Arterien und noch zwanzig Jahre bis zur Pensionierung.«

»Sehr komisch. Vielen Dank.«

Elizabeth nahm sich einen sauren Drops aus einem Deckelglas, schob eine Hüfte vor und schaute auf Charlie Becketts rundes Gesicht hinunter. Er war fast eins neunzig groß und ein bisschen fett, aber sie hatte gesehen, wie er einen hundert Kilo schweren Verdächtigen über das Dach eines geparkten Autos geworfen hatte, ohne dass der den Lack berührte. »Nette Frisur«, sagte er.

Sie hob die Hand an den Kopf, fühlte, wie kurz die Haare waren, die stachligen Ponyfransen. »Im Ernst?«

»Sarkasmus, Weib. Warum hast du dir das angetan?«

»Vielleicht wollte ich im Spiegel mal was anderes sehen.«

»Vielleicht solltest du dann jemanden engagieren, der weiß, was er tut. Wann ist das passiert? Ich habe dich doch vor zwei Tagen noch gesehen.«

Sie konnte sich verschwommen erinnern, wie sie die Haare abgeschnitten hatte: um vier Uhr morgens, betrunken, im dunklen Badezimmer. Sie hatte über etwas gelacht, aber es war eigentlich eher zum Weinen gewesen. »Was machst du denn hier, Charlie? Es ist nach Mitternacht.«

»Es gab eine Schießerei am College«, sagte Beckett.

»O Gott, nicht noch eine.«

»Nein, nichts dergleichen. Ein paar Einheimische wollten einen Freshman-Studenten zusammenschlagen, weil sie dachten, er ist schwul. Schwul oder nicht, es stellte sich raus, dass er ein großer Fan der Waffengesetze ist, die ein verdecktes Tragen von Schusswaffen gestatten. Sie haben ihn bis in den Hausdurchgang neben dem Friseur am Ende des Campus verfolgt. Vier gegen einen, und er hat eine 38er gezogen.«

»Und jemanden erschossen?«

»Er hat einem durch den Arm geschossen. Die andern haben daraufhin die Kurve gekratzt. Aber wir haben ihre Namen. Wir suchen sie.«

»Gibt’s eine Anklage gegen den Studenten?«

»Vier gegen einen. Ein College-Junge ohne Vorstrafen.« Beckett schüttelte den Kopf. »Soweit es mich betrifft, ist es jetzt nur noch Papierkram.«

»Das war’s dann, schätze ich.«

»Denke ich auch.«

»Okay, ich muss weiter.«

»Ja, der Captain hat gesagt, dass du kommst. Er sah nicht glücklich aus.«

»Er hat mich draußen beim Herumlungern erwischt.«

»Du bist suspendiert. Das weißt du noch, oder?«

»Ja.«

»Und du tust dir hier nicht gerade einen Gefallen.«

Sie wusste, was er meinte. Es hatte Fragen zu dem Keller gegeben, und ihr hatten die Antworten gefehlt. Der Druck nahm zu. State Police. Justizministerium. »Reden wir von was anderem. Was macht Carol?«

Beckett lehnte sich zurück und zuckte die Achseln. »Überstunden.«

»Notfall im Frisiersalon?«

»So was gibt es, ob du es glaubst oder nicht. Eine Hochzeit, glaube ich. Oder eine Scheidungsparty? Intensivpflege heute Nacht. Schneiden und frisieren morgen früh.«

»Wow.«

»Ich weiß. Sie will dich übrigens immer noch verkuppeln.«

»Mit wem? Mit dem Kieferorthopäden?«

»Mit dem Zahnarzt.«

»Gibt’s da einen Unterschied?«

»Der eine verdient mehr Geld, glaube ich.«

Elizabeth deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Ich glaube, er wartet.«

»Hör zu, Liz.« Beckett beugte sich vor und senkte die Stimme. »Ich habe versucht, dir im Zusammenhang mit der Schießerei den Rücken freizuhalten. Okay? Ich habe mich bemüht, ein Partner und ein verständnisvoller Freund zu sein. Aber morgen werden die State Cops …«

»Die haben meine Aussage. Wenn sie mir dieselben Fragen wieder stellen, bekommen sie auch keine anderen Antworten.«

»Sie haben vier Tage Zeit gehabt, um Zeugen zu suchen, mit Channing zu sprechen und am Tatort zu ermitteln. Sie werden nicht noch mal dieselben Fragen stellen. Das weißt du.«

Sie zuckte die Achseln. »Die Story ist die Story.«

»Es ist was Politisches, Liz. Das ist dir klar, oder? Weiße Polizistin, schwarze Opfer …«

»Das sind keine Opfer.«

»Hör zu.« Beckett schaute sie sorgenvoll an. »Sie wollen eine Polizistin festnageln, weil sie annehmen, sie ist rassistisch oder instabil oder beides. Und in ihren Augen bist du das. Wir haben demnächst Wahlen, und der Justizminister möchte sich bei der schwarzen Community beliebt machen. Und er glaubt, das geht so.«

»Das alles interessiert mich nicht.«

»Du hast achtzehnmal auf sie geschossen.«

»Sie haben das Kind mehr als einen Tag lang vergewaltigt.«

»Ich weiß, aber hör doch zu.«

»Sie haben ihr die Handgelenke mit Draht gefesselt, so fest, dass er bis auf den Knochen geschnitten hat.«

»Liz …«

»Ach, hör auf mit Liz, verdammt! Sie haben ihr gesagt, sie würden sie ersticken, wenn sie mit ihr fertig wären, und ihre Leiche in den Steinbruch werfen. Sie hatten einen Plastiksack und Klebeband bereitliegen. Einer wollte sie ficken, während sie starb. Das nannte er ›White Girl Rodeo‹.«

»Das weiß ich alles«, sagte Beckett.

»Dann sollte dieses Gespräch hier gar nicht stattfinden.«

»Es findet aber statt, oder? Channings Vater ist reich und weiß. Die Männer, die du erschossen hast, waren arm und schwarz. Es geht um Politik. Um die Medien. Es hat schon angefangen. Du hast die Zeitungen gesehen.« Er hielt Daumen und Zeigefinger hoch. »Der Fall steht so dicht vor einer landesweiten Berichterstattung. Die Leute wollen, dass Anklage erhoben wird.«

Sie wusste, wen er meinte. Politiker. Agitatoren. Leute, in deren Augen das System durch und durch korrupt war. »Ich kann darüber nicht reden.«

»Kannst du mit dem Anwalt reden?«

»Hab ich schon.«

»Nein, hast du nicht.« Beckett lehnte sich zurück und beobachtete sie. »Er ruft hier an und sucht nach dir. Er sagt, du hast dich nicht mit ihm getroffen und du erwiderst seine Anrufe nicht. Die State Police will dich wegen eines zweifachen Tötungsdelikts drankriegen, und du eierst herum, als hättest du nicht ein ganzes Magazin auf zwei unbewaffnete Männer verballert.«

»Ich hatte einen guten Grund dafür.«

»Das bezweifle ich nicht, aber das ist nicht das Thema, oder? Auch Cops wandern in den Knast. Das weißt du besser als die meisten.«

Sein Blick war so scharf wie seine Worte. Elizabeth kümmerte es nicht. Selbst nach dreizehn Jahren nicht. »Ich werde nicht über ihn reden, Charlie. Nicht heute. Nicht mit dir.«

»Er kommt morgen aus dem Gefängnis. Ich nehme an, die Ironie des Schicksals entgeht dir nicht.« Beckett verschränkte herausfordernd die Hände hinter dem Kopf, als sollte sie nur wagen, diesen fundamentalen Tatsachen zu widersprechen.

Cops wandern in den Knast.

Und manchmal kommen sie wieder heraus.

»Ich sollte jetzt zum Captain gehen.«

»Liz, warte.«

Sie wartete nicht. Sie ließ Beckett sitzen und klopfte zweimal an die Tür des Captains, bevor sie sie öffnete. Dyer saß hinter seinem Schreibtisch. Trotz der späten Stunde war sein Anzug tadellos und die Krawatte fest geknotet. »Alles okay?«

Sie winkte ab, aber sie konnte ihren Zorn und ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Partner. Meinungen.«

»Beckett will nur Ihr Bestes. Wie wir alle.«

»Dann lassen Sie mich wieder arbeiten.«

»Glauben Sie wirklich, das wäre das Richtige für Sie?«

Sie schaute weg, denn seine Frage traf einen Nerv. »Arbeiten ist das, was ich am besten kann.«

»Sie kriegen Ihren Job erst wieder, wenn diese Sache gelaufen ist.«

Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Und wie lange wird das noch dauern?«

»Das ist nicht die richtige Frage.«

Elizabeth starrte ihr Spiegelbild im Fenster an. Sie hatte abgenommen. Ihr Haar war eine Katastrophe. »Was ist die richtige Frage?«

»Ernsthaft?« Dyer hob die flachen Hände. »Wissen Sie überhaupt noch, wann Sie zuletzt etwas gegessen haben?«

»Das ist irrelevant.«

»Oder geschlafen?«

»Okay. Schön. Ich gebe zu, die letzten paar Tage waren … kompliziert.«

»Kompliziert? Herrgott noch mal, Liz, Sie haben Ringe unter den Augen, so dick wie Schminke. Sie sind überhaupt nie zu Hause, soweit einer von uns hier das feststellen kann. Sie gehen nicht ans Telefon. Sie fahren mit dieser Schrottkarre durch die Gegend.«

»Das ist ein 67er Mustang.«

»Den die Behörde bald stilllegen wird.« Dyer beugte sich vor und verschränkte die Finger. »Die State Cops erkundigen sich unablässig über Sie, und es wird immer schwerer, ihnen zu erzählen, Sie seien stabil. Vor einer Woche hätte ich noch Worte wie Umsicht, Brillanz und Zurückhaltung verwendet. Aber inzwischen weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll. Sie sind reizbar geworden, düster und unberechenbar. Sie trinken zu viel, und Sie rauchen zum ersten Mal seit – wann? Seit zehn Jahren? Sie wollen nicht mit dem Psychologen und nicht mit Ihren Kollegen sprechen.« Mit einer Handbewegung deutete er auf ihr struppiges Haar und ihr bleiches Gesicht. »Sie sehen aus wie eins von diesen Gruftie-Kids, wie ein Gespenst.«