Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust - Hans Peter Dreitzel - E-Book

Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust E-Book

Hans Peter Dreitzel

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Beschreibung

Der dritte Band von Reflexive Sinnlichkeit widmet sich der Frage nach der Bedeutung von Entwicklung für das Hier-und-Jetzt des gegenwärtigen Lebens. Dabei entsteht ein ebenso individualpsychologisch wie kultursoziologisch verankertes Bild von den Entwicklungsstufen des menschlichen Bewusstseins, an der sich die Wachstumshilfen der Psychotherapie wie auch die individuellen Selbststeigerungs-Bemühungen orientieren können. Gemeinsam ist den drei Bänden die Einbettung der Themen in den gesellschaftlichen und historischen Kontext und der Gedanke, dass das Gewahrsein, hier auch reflexive Sinnlichkeit oder Bewusstheit genannt, und die Achtsamkeitspraxis, die zu ihr führt, für unser Leben als Einzelne und als Mitmenschen in unserer gesellschaftlichen Umgebung eine heilende und entwicklungsfördernde Bedeutung hat. Das Buch enthält auch einen praktischen Leitfaden für ein Leben in Achtsamkeit, der zahlreiche Anregungen zu Übungen einschließt.

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Seitenzahl: 567

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EHP – Edition Humanistische Psychologie

Hg. Anna und Milan Sreckovic

Die AutorInnen

Hans Peter Dreitzel war nach seiner Berufung an die New School of Social Research in New York drei Jahrzehnte Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin; nach Jahren in den USA, in Griechenland und in Österreich lebt er heute in Oberbayern. In den Siebziger-Jahren ließ er sich in Berlin und New York zum Gestalttherapeuten ausbilden, war Mitbegründer des Gestaltzentrums Berlin (GZB) und baute sich eine eigene psychotherapeutisch Praxis auf. Sein wichtigster Lehrer war der Mitbegründer der Gestalttherapie Isadore From in New York. Seit den Achtziger-Jahren war er auch als Ausbilder an verschiedenen gestalttherapeutischen Ausbildungsinstituten tätig. Er ist Autor zahlreicher Beiträge zur Gestalttherapie, darunter im selben Verlag die beiden ersten Bände von Reflexive Sinnlichkeit (Bd. 1.: Emotionales Gewahrsein. Die Mensch-Umwelt-Beziehung aus gestalttherapeutischer Sicht / Bd. 2.: Gestalt und Prozess. Eine psychotherapeutische Diagnostik oder: Der gesunde Mensch hat wenig Charakter).

www.dreitzel-gestalttherapie.org und www.gestalttherapie-ammersee.de; [email protected]

Brigitte Stelzer-Dreitzel ist u. a. am Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg IGW und bei Dr. Kristine Schneider als Gestalttherapeutin ausgebildet worden. Sie ist Mitbegründerin des Ausbildungsinstitutes für Klinische Lerntherapie (Iigel) und Autorin mehrerer Lernspiele und Ko-Autorin des interaktiven Lehrbuchs für Klinische Lerntherapie (INTERDIKK). Seit Beginn ihrer Ehe mit Hans Peter Dreitzel hat sie mit ihm bereits an dessen Grundlegung einer gestalttherapeutischen Prozess-Diagnostik (Reflexive Sinnlichkeit 2.: Gestalt und Prozess. Eine psychotherapeutische Diagnostik oder: Der gesunde Mensch hat wenig Charakter) gearbeitet.

www.gestalttherapie-ammersee.de; [email protected]

© 2014 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbach www.ehp-koeln.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagentwurf: Gerd Struwe, Uwe Giese

– unter Verwendung eines Fotos von Uwe Giese –

Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, Berlin

Gedruckt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher.

print-ISBN 978-3-89797-052-6

epub-ISBN 978-3-89797-602-3

PDF-ISBN 978-3-89797-603-0

eBook-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Vorwort

Einleitende Frage: Was ist ein gutes Leben?

Teil I. Das Projekt eines guten Lebens

1. Sich in das Abenteuer des Lebens stürzen

2. Neugier und Wissensdurst pflegen

3. Alles fließen lassen

4. Im Hier-und-Jetzt leben

5. Die Bedürfnisse spüren – ordnen – offenlegen

6. Den Ausdruck unserer Gefühle kultivieren

7. Die verborgene Schönheit des Lebens finden

8. Aus innerer Freiheit leben

9. Sich befreunden

10. Maßhalten ohne die Lust zu verlieren

Teil II. Entwicklung und Reifung

1. Die Sinn-Gestalt des Lebens

2. Eine Entwicklungstheorie für die Gestalttherapie?

3. Das holografische Entwicklungs-Modell von Ken Wilber

4. Gleichgewichtsprobleme im Holon: Konfluenz und Narzissmus

5. Im Schatten katastrophischer Entwicklungen

6. Was sonst noch auf uns zukommt

7. Tendenzen zur Autonomie im Privatbereich

8. Lebenskrisen als Übungsfelder

9. Gegenseitigkeit und Teilnahme

10. Übung und Reifung, unbekanntes Ziel

Teil III. Zur Praxis der reflexiven Sinnlichkeit

1. Warum wir mit uns selbst beginnen müssen

2. Die Weisungen des Atisha – das Üben von Bewusstheit

3. Kinomichi und Kum Nye – das Üben von Körper-Gewahrsein

4. Der Gegensatz von Ichhaftigkeit und Ichlosigkeit – ein Missverständnis

Nachwort von Thomas Rieger

Themenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Vorwort

Vom Plan dieses Buches bis zu seiner Verwirklichung ist fast ein Jahrzehnt vergangen – Jahre, in denen verschiedene Lebensumstände und langes Nachdenken über das Thema Entwicklung seine Fertigstellung immer wieder verzögert haben. In dieser Zeit aber bin ich auch älter geworden, habe mich also auch selbst entwickelt – und dabei beobachtet. Das hat – zusammen mit meiner wachsenden Skepsis gegenüber einem Denken in Entwicklungsstufen in der gestalttherapeutischen Praxis – dazu geführt, dass sich in diesem Text nun theoretische Überlegungen mit praktischen Lebenserfahrungen sowie philosophische Einsichten mit Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis verbunden haben. Aus der Frage nach der Bedeutung von Entwicklung für das Hier-und-Jetzt des gegenwärtigen Lebens ergab sich dabei zwangsläufig die Frage, was Reifung und Reife heute eigentlich sein könnten.

Zu suchen war dies im Bild vom Menschen, das hinter jeder psychotherapeutischen Intervention verborgen ist und therapeutisches Handeln bewusst oder unbewusst leitet. Solche Bilder sind nicht beliebige Produkte des Denkens der Begründer psychotherapeutischer Schulen und Richtungen, sondern wurzeln im Zeitgeist ihrer Epoche und nähren sich ebenso sehr aus den prägenden historischen Leiderfahrungen ihrer Generation wie aus den philosophischen Denktraditionen ihrer Zeit. Deshalb führten mich die Fragen nach Wachstum, Entwicklung und Reifung zurück zu der uralten und immer neu zu stellenden philosophischen Frage nach dem guten Leben. Was könnte das heute bedeuten, ein gelingendes, ein sättigendes, ein glückliches, und in einem tieferen Sinne gutes Leben zu führen? Und ergibt sich aus der Antwort darauf auch so etwas wie eine Richtung, die einem Leben Orientierung und Sinn verleihen könnte?

■ Für mich war es natürlich, mich bei der Suche nach Antworten zuerst in der Gestalttherapie umzuschauen, denn deren Geist hat mich nun schon seit vierzig Jahren in meiner therapeutischen Arbeit beflügelt und inspiriert. Vieles in diesem Buch beruht auf dem, was ich für das Menschenbild der Gestalttherapie halte – denn ein solches findet sich nirgends explizit ausformuliert, auch wenn ich die klassischen Schriften der Gestalttherapie immer wieder zu Rate ziehe. Ansonsten aber stütze und berufe ich mich in diesem Buch ständig auf meine Erfahrungen aus meiner eigenen Arbeit mit Klienten und auf die theoretische Beschäftigung mit der Gestalttherapie in meinen eigenen Veröffentlichungen. Das gilt vor allem für den Band Reflexive Sinnlichkeit I. (Emotionales Gewahrsein) und Reflexive Sinnlichkeit II. (Gestalt und Prozess). Diese drei Bände hatten ursprünglich zur Aufgabe, vier Lücken in der allgemeinen Theorie der Gestalttherapie zu schließen:

1. Die Ausarbeitung des zuvor nur skizzierten Modells der »Kontaktwelle«.

2. Die Ausarbeitung einer Phänomenologie der Gefühle, mit der diese so auf die Arbeit an den Gefühlen fokussierte Therapie gut arbeiten kann.

3. Die Ausarbeitung einer prozessorientierten, Gestaltpraxis nahen Diagnostik der Neurosen.

4. Die Ausarbeitung einer gestalttherapeutischen Entwicklungstheorie.

Diese Vorhaben habe ich mit diesem Buch beendet, wenn auch nicht abgeschlossen. Die Richtung, in die sich meine Arbeiten zu diesen Themen entwickelt haben, hat sich im Laufe der vielen Jahre seit der ersten Auflage des ersten Bandes (1992) verändert – und das gilt insbesondere für dieses vorliegende Buch. Zweierlei ist aber gleich geblieben, und das rechtfertigt den gemeinsamen Obertitel: die Einbettung der Themen in den gesellschaftlichen und historischen Kontext und der Gedanke, dass das Gewahrsein, das ich reflexive Sinnlichkeit oder Bewusstheit nenne, und die Achtsamkeitspraxis, die zu ihr führt, für unser Leben als Einzelne und als Mitmenschen in unserer gesellschaftlichen Umgebung eine heilende und entwicklungsfördernde Bedeutung hat.

Wenn es aber hier nun um die Frage nach dem guten Leben geht, nach der Kunst, das Leben so zu gestalten, dass es als ein sinnvolles erlebt werden und damit glücklich machen kann, dann bekommt dieser zentrale Gedanke meiner Überlegungen notwendigerweise eine ethische Dimension, die so in der Gestalttherapie als Praxis nicht enthalten ist – zu groß erschien den Gründern Frederik und Laura Perls und Paul Goodman die Gefahr, dass Wegweisungen als moralische Fremdkörper introjiziert werden könnten.

■ Dieses Buch aber enthält solche Wegweisungen – und ist deshalb kein gestalttherapeutisches Praxis-Buch! Dennoch wäre mir nichts unangenehmer, als wenn man es bei der verbreiteten Glücks- und Ratgeber-Literatur einordnen würde. Ich denke aber, dass es sich komplex genug darbietet, um nicht allzu leicht introjizierbar zu sein. Es will zum Nachdenken, Nachspüren, Ausprobieren und Üben anregen. Wäre es nur um praktische Tipps gegangen, wie man sein Leben lustvoller und reicher gestalten könnte, dann hätte ich mich zumindest ausführlich mit Erotik, Kulinarik und last not least mit dem Reisen befassen müssen, alles Bereiche, die der Kultivierung bedürfen und über die es eine reichhaltige Literatur kritisch zu besichtigen gilt. Hier geht es mir um die Umgestaltung des Lebens als ganzem durch die tiefgreifende Bewusstseinsveränderung, die unsere Epoche verlangt. Das geht nicht ohne Zumutung einiger Imperative.

Thomas Rieger, der die Idee zum Nachwort zu diesem Text hatte, meinte mit kritischer Freundlichkeit, es sei unter den apodiktischen Büchern das einzige, das er akzeptieren könne. Vielleicht liegt das daran, dass ich die Wirkung meiner Wegweisungen von der Übungspraxis der Leser abhängig mache; erst aus der Selbsterfahrung ihres Übens könnte sich der Sinn meiner Schlussfolgerungen auf je individuelle Weise erschließen. Diese im Druck eigens abgesetzten Schlussfolgerungen sind das Ergebnis meiner jeweils vorangestellten Überlegungen, aus denen sie sich begründen. Diese Übungspraxis wäre aber zugleich auch das Falsifikationsverfahren, dem ich mich nicht entziehen will. Auch meine ich, dass es nicht nur therapeutisches Lernen gibt, das in der Tat auf nichts als angeleiteter Selbsterfahrung beruhen sollte, sondern auch ein Lernen über das geschriebene und gesprochene Wort; das mag altmodisch sein, hat aber den Vorzug, dem Leser und Hörer die Integration oder das Verwerfen des Aufgenommenen zu überlassen.

Die im Text zitierten und im Literaturverzeichnis aufgeführten Texte wollen den Leser weder beeindrucken noch ermüden; sie sind nur als Hinweise für diejenigen Leser gedacht, die dieser oder jener Spur ihrer eigenen Neugier folgend weiter nachgehen möchten. Auch sind sie nicht vollständig genug, um als wissenschaftlicher Beleg für meine Thesen dienen zu können. Stattdessen sollen sie dem Leser zeigen, was die Quellen meines Denkens sind. Der Leser möge sie als einen Teller voller Lesefrüchte sehen, die ich auf dem Weg zu diesem Buch fand, und die mich angeregt und genährt haben – und koste sie nach eigener Lust und Neugier.

Dieses Buch wendet sich an Leser, die den ökonomisch relativ gesicherten Verhältnissen der sogenannten Westlichen Gesellschaften angehören. Denn was ein gutes Leben ist, kann nicht kontextfrei für alle Menschen die gleiche Gültigkeit haben; es ist abhängig vom ökonomischen Entwicklungsstadium der Gesellschaft, in der man lebt, sowie von der eigenen Klassenlage und dem eigenen kulturellen Milieu. Mit dieser Heterogenität müssen wir vorerst leben, denn die Weltgesellschaft ist erst im Entstehen. »Ich bin. Aber ich habe mich nicht: Darum werden wir erst«, wie Ernst Bloch hoffnungsvoll diesen Zustand auf anthropologischer Ebene beschrieb (E. Bloch, 1963, 11).

■ Wenn man heute jenseits der Biologie von Entwicklung spricht und damit anspielt auf zivilisatorische Prozesse der Differenzierung im Rahmen übergreifender, ganzheitlicher Systeme, steht man sogleich unter Verdacht, naiv zu verkennen, wie sehr sich in der Dialektik der Aufklärung (T. W. Adorno & M. Horkheimer, 1963) jedes positive Verständnis von Aufklärung selbst verbrannt hat. Zu schwer lastet die Erfahrung der Ungeheuerlichkeiten des XX. Jahrhundert auf uns, als dass wir noch ungebrochen unsere Hoffnungen auf das Wohltätige der Entwicklung von Technik und Wissenschaft setzen oder gar auf ein Fortschreiten der gesellschaftlichen Vernunft vertrauen könnten.

In diesem Buch stütze ich mich vor allem auf zwei Philosophen, Ken Wilber und Peter Sloterdijk, die sich diesem Verdacht zu entziehen suchen, beziehungsweise über ihn hinaus denken wollen. Wer heute über Entwicklung nachdenkt, kommt am Werk von Ken Wilber nicht vorbei. Wie kein Zweiter hat Wilber den Versuch unternommen, die verschiedenen vorliegenden Entwicklungstheorien systematisch zusammenzufassen, und damit eine Entwicklungsperspektive geschaffen, die es so seit Hegel nicht mehr gegeben hat. Vielleicht ist es die List der Vernunft, auf die Hegel im Zweifelsfall gern vertraute, dass Ken Wilber das Produkt einer Kultur ist, der man oft nachgesagt hat, dass ihr die Idee des Tragischen fremd sei. Sein Werk strahlt bei aller Vorsicht und Differenzierung einen ungebrochenen Optimismus aus, wie man ihn heute wohl nur noch in den USA und dort besonders westlich des Mississippi findet. Was man aus europäischer Sicht vielleicht als einen Mangel an differenziertem Geschichtsbewusstsein kritisieren würde, könnte sich als ein Glücksfall erweisen, denn Wilbers Entwicklungsdenken, so scheint es mir, findet aus der deprimierenden Beliebigkeit der Postmoderne heraus, ohne in die naiven Fortschrittshymnen des 19. Jahrhunderts zurückzufallen. Dazu trägt auch sein unerschrockener Versuch bei, endlich auch im Westen den Erkenntnisweg der subjektiven Selbsterforschung durch disziplinierte Formen der Meditation als eine legitime Form der hermeneutischen Erkenntnissuche zu etablieren. Wilber nennt seine Philosophie eine integrale Theorie, und das ist, worauf sich der Begriff integral im Untertitel dieses Buches bezieht.

Während der erste Teil des Buches sich hauptsächlich auf gestalttherapeutische Einsichten stützt, bezieht sich der zweite Teil eher auf Ken Wilbers integrale Entwicklungstheorie. Der dritte Teil des Buches dagegen verdankt sich letztlich meiner eigenen buddhistischen Lebenspraxis, die für mich stets eine Fortsetzung und Vertiefung der Achtsamkeitspraxis der Gestalttherapie war, in der ich ja nicht nur als Therapeut und Lehrer, sondern über dreißig Jahre hinweg auch als Lernender in zahlreichen Lehr-Workshops teilgenommen habe. Aber angeregt und ermutigt wurde ich zu diesem letzten Teil des Buches von Peter Sloterdijks Denken, insbesondere von seinem 2009 erschienenen Buch Du musst dein Leben ändern – Über Anthropotechnik. Es ist weniger die Fülle der Einzelanalysen als der Grundgedanke und der kühne Entwurf einer grundlegend neuen anthropologischen Perspektive, die mich überzeugt hat, den Menschen generell als ein übendes Wesen zu sehen.

■ Bleibender Hintergrund meines Denkens sind darüber hinaus bis heute meine Lehrjahre bei dem Philosophen Helmuth Plessner und bei dem Gestalttherapeuten Isadore From geblieben. Ihnen bin ich weiterhin zu Dank verpflichtet wie auch den vielen Kollegen und Supervisanden, mit denen ich im Laufe der Jahre arbeiten durfte. Wolfgang Kötter danke ich für die wiederholte energische Aufforderung, meine Gedanken zu diesem Thema zu Papier zu bringen, die mich sehr ermutigt hat, und ganz besonders auch für das Angebot, die letzte Korrektur des Manuskripts zu übernehmen Thomas Rieger danke ich für unsere Gespräche und sein Nachwort, das in seiner unverhohlenen, heute selten gewordenen, sozialistischen Perspektive einen spannenden Blick auf meine Gedankengänge wirft.

Ohne die Zusammenarbeit mit meiner Frau Brigitte Stelzer-Dreitzel gäbe es dieses Buch nicht.

Hans Peter Dreitzel

Hohenpeissenberg, August 2013

Einleitende Frage: Was ist ein gutes Leben?

Hinter jeder Psychotherapie-Richtung steht ausgesprochen oder unausgesprochen ein Menschenbild. Immer gibt es eine manchmal explizite, oft aber nur implizite Vorstellung davon, was einen »gesunden«, psychisch nicht gestörten Menschen ausmacht, was also auch das Ziel der psycho-therapeutischen Bemühung sein sollte. So auch in der Gestalttherapie, der Schule, in der ich als Psychotherapeut ausgebildet worden bin und der ich mich angeschlossen habe – nicht zuletzt, weil mich ihr Menschenbild überzeugt hat.

Auch in der Gestalttherapie ist dieses Menschenbild eher in ihren Vorstellungen von Neurosen versteckt, als dass es in ihrer Literatur deutlich dargestellt und erörtert worden wäre – mit Ausnahme des letzten Abschnitts von PHG,1 betitelt: Das Kriterium – nämlich für psychische Gesundheit (PHG, 333 f.).

Aus diesem Text und aus dem gestalttherapeutischen Ansatz insgesamt entnehme ich die wichtigsten Elemente, aus denen sich das Menschenbild der Gestalttherapie zusammensetzt. Wie bei anderen Therapie-Richtungen ist dieses Menschenbild im Grunde einfach das, was übrig bleibt, wenn die psychischen Störungen überwunden und geheilt sind, unter denen diejenigen Menschen leiden, die sich einem Psychotherapeuten anvertrauen. Auch wenn man, wie es die Gründer der Gestalttherapie getan haben, davon ausgeht, das neurotische Verhaltensweisen Anpassungen an ein gestörtes, ja krankhaftes Gesellschaftssystem sind, so setzt die Gestalttherapie dem die Möglichkeit von kreativen Anpassungen entgegen. Man darf diesen gestalttherapeutischen Begriff nicht als passive Anpassung an den jeweiligen Status quo missverstehen. Vielmehr heißt es bei PHG: »Wir sprechen von der kreativen Anpassung als von der wesentlichen Funktion des Selbst«, und zu der gehören »die schöpferischen Funktionen der Selbstregulation, die für das Neue, für die Zerstörung und Neuintegration der Erfahrung offen sind« (PHG 2006, 49). Und Perls verdeutlichte: »Der Prozess der schöpferischen Anpassung an neues Material und neue Umstände schließt immer auch eine Phase der Aggression und der Zerstörung mit ein, denn nur durch Annäherung, Vereinnahmung und Veränderung neuer Strukturen wird Ungleiches gleich gemacht.« (PHG 1985, 15). Angewandt auf das Projekt eines gelingenden Lebens heißt das mit anderen Worten:

Das gute Leben im schlechten gesellschaftlichen System ist der schöpferische Widerstand gegen dieschlechten herrschenden Zustände; ein gesundes Leben ist ein rebellisches Leben.

■ Tatsächlich ist die Frage berechtigt, ob es unter den Bedingungen der großen globalen Krise der kapitalistischen Gesellschaften, in der wir heute leben, ein gutes Leben überhaupt geben kann (H. P. Dreitzel 2009). Hier ist die Beobachtung von Bedeutung, dass Menschen, die sich in praktischer Arbeit und eigenem Engagement gegen die Verwüstungen stemmen, die der unkontrollierte Kapitalismus an der Natur und an den Menschen anrichtet, durchweg glücklicher und zufriedener in ihrem Leben zu sein scheinen, als diejenigen, die resigniert aufgegeben haben oder die immer gleichgültig gegenüber dem Leid anderer geblieben sind. Es geht hier also nicht um ein moralisches Argument, sondern um ein pragmatisches: Es lebt sich besser und gesünder, wenn man im Widerstand lebt. Dies ist jedenfalls der Fall, wenn der Widerstand als sinnvoll erlebt wird. Und damit dies der Fall sein kann, müssen die Ziele als prinzipiell realisierbar erlebt werden, und darüber hinaus auf die Kräfte und Ressourcen der Betroffenen abgestimmt sein. Eine wichtige, oft unabdingbare Hilfe dabei ist die Solidarität einer Aktionsgruppe: Man ist nicht allein, nutzt die Kräfte der wechselseitigen Unterstützung und der Intelligenz der Organisation.

Es lässt sich dies auch umgekehrt sagen: unter den Bedingungen der Welt-Krise kann man ein gutes, das heißt ein einigermaßen zufriedenes und als sinnvoll erlebtes Leben nur führen, wenn die eigene Vitalität, die individuelle Lebenskraft, auch in einen kreativen Zorn einfließt, der sich auf die Veränderung der lebensfeindlichen ökonomischen Systeme und der verholzten soziobürokratischen Strukturen richtet. Das ist, was die Gestalttherapie gesunde Aggression nennt.

Allerdings muss dazu erst einmal die Vitalität freigesetzt werden, die durch die Verhakung in neurotische Prozesse ständig energetisch geschwächt wird.

Je weniger dies der Fall ist, desto eher – so das »Kriterium« von Perls und Goodman –

– »verringert sich die Erregung nicht, sobald Hindernisse gegenüber dem schöpferischen Prozess auftauchen;

– bleibt die Gestaltbildung nicht stecken, sondern man erlebt spontan neue aggressive Gefühle und aktiviert neue Ich-Funktionen der Vorsicht, Besonnenheit oder Aufmerksamkeit, wie es die Hindernisse erfordern.

– verliert man dabei nicht das Gefühl für sich selbst als synthetische Einheit, sondern es wird immer schärfer; man identifiziert sich damit immer mehr und sortiert das aus, was nicht zu einem gehört.

Im Gegensatz dazu schwankt die Erregung bei einer Neurose an dieser Stelle hin und her,

– die Aggression wird nicht erlebt,

– man verliert das Empfinden für sich selbst,

– man wird verwirrt, gespalten, abgestumpft.

Dieser faktische Unterschied, der in einem fortgesetzten, ununterbrochenen schöpferischen Prozess besteht, ist das entscheidende Kriterium für Vitalität oder Neurose.« (PHG 333/334, Kursivierungen und Einrückungen von HPD).

Es gibt also sehr wohl ein Kriterium dafür, wie ein psychisch gesundes Leben auch unter den Lebensbedingungen möglich ist, die uns der globalisierte, digitale Kapitalismus auferlegt – jedenfalls in den Gesellschaften, in denen die Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse nach Nahrung, Trinkwasser und Obdach gesichert ist. Und nur in einem solchen gesellschaftlichen Kontext sind meine weiteren Überlegungen zu verstehen.

■ Aber ist ein psychisch gesundes Leben auch ein glückliches oder gar ein »gutes« Leben? Ein solches gehörte freilich niemals zu den Versprechen der Psychotherapie, jedenfalls nicht der tiefenpsychologisch orientierten. Freud war da ja eher pessimistisch: Die berühmte Formel »Aus Es muss Ich werden« bedeutete für ihn ja nicht etwa die Befreiung zu einem hedonistischen, rein lustvollen Leben, sondern die Anerkennung des »Realitätsprinzips«, nach welchem es ohne Anpassung an die gesellschaftlichen Normen kein befriedetes Leben geben kann. Das war bei Freud (auch angesichts der Katastrophe des Ersten Weltkriegs) bereits das Höchste des Erreichbaren. Das erwachsene Leben kann nicht einfach dem »Lustprinzip« folgen, menschliche Reife erweist sich für Freud in der Fähigkeit zu Triebaufschub, Triebunterdrückung und Sublimation.

Die Katastrophe erwies sich in der Folge als noch steigerbar: Adorno formulierte seinen berühmt-berüchtigten Satz »Es gibt kein gutes Leben im schlechten« angesichts der Erfahrung von Auschwitz. Dieser Satz aber lebt heimlich von der Utopie, deren Scheitern er sich verdankt – der Vorstellung nämlich, menschliches Leben könnte irgendwann und irgendwie einfach »heil« werden, also ohne selbst gemachtes Leid. Diese Illusion ist freilich erst mit der Säkularisierung christlicher Erlösungsvorstellungen in der Philosophie des deutschen Idealismus, vor allem bei Hegel, in die Welt gekommen. Das Projekt des guten Lebens aber ist eine vorchristliche Idee der Antike, die vor allem mit den Namen Epikur und Seneca verbunden ist.

■ Gestalttherapie setzt allerdings nicht darauf, die Menschen »glücklich« zu machen im Sinne von bloßer Zufriedenheit oder gar Erlösung vom Leid. Sie glaubt aber, dass der Entfaltung des Lebens mit allen seinen Potenzialen ein Gutes innewohnt. Fritz Perls setzte, angeregt von dem Philosophen Jan Christiaan Smuts und dem Gestaltpsychologen Kurt Goldstein, an die scheinbar dem Leben selbst innewohnende Tendenz zum Ausgleich der Widersprüche zum Gleichgewicht an. Während der anarchistische Zug in Paul Goodmans Denken ihn zu der Überzeugung brachte, dass die unterschiedlichen individuellen und gesellschaftlichen Kräfte und Bestrebungen sich am besten selbst regulieren. So waren diese beiden bedeutendsten Begründer der Gestalttherapie auf unterschiedlichen Wegen zu der gemeinsam vertretenen Ansicht gelangt, dass das Leben, wenn sein Wachstum weder von außen noch von innen gestört wird, von allein zu einem befriedigenden, reifen Gleichgewicht tendiert. Dieser Gedanke von Wachstum enthält jedoch noch keine Idee von Entwicklung!

Aber »jede Störung des organismischen Gleichgewichts verursacht eine unvollständige Gestalt, eine unvollendete Situation, die den Organismus zwingt, kreativ zu werden, um die Balance wieder herzustellen« (F. Perls 1980, 84). Solche Störungen können von außen kommen (selbst wenn sie wie bei Introjekten so erlebt werden, als ob sie innen seien), dann handelt es sich – in der saloppen Sprache von Perls – um »unfinished business«, eine offene Gestalt, die geschlossen werden muss; oder sie können von innerhalb des Organismus kommen, dann handelt sich um die Es-Funktionen des Selbst, d. h. um Triebe, Bedürfnisse und Interessen, die befriedigt sein wollen. Ist der Hunger gestillt, der Trieb befriedigt, die Gestalt geschlossen, dann befindet sich der Organismus in einem Zustand des relativen Gleichgewichts, der Homöostase, der lustvoll als Sättigung, Befriedigung oder Erfüllung erlebt wird, auch wenn dieser Zustand nie anhält, stets nur von relativ kurzer Dauer ist. Gelingt es uns, unsere Triebe, Bedürfnisse und Interessen immer wieder ausreichend zu befriedigen, dann werden wir uns vorübergehend zufrieden und glücklich fühlen. Für Friedrich Perls war der Gedanke der Homöostase, nach welchem »offene Gestalten« sich durch eine Tendenz zu ihrer Schließung auszeichnen, zentral, denn er passte zu der Entdeckung der Gestalt-Psychologie.

Bei PHG aber taucht der Gedanke des Gleichgewichts nicht mehr auf; hier wird das Leben implizit bereits realistischer als ein Fluss aufgefasst, in der jedes Gleichgewicht sich sofort wieder auflöst. Das war hellsichtig, denn inzwischen hat sich das Verständnis, das die Biologie vom Leben hat, deutlich verändert: Heute ist klar, dass Leben aus einer immer prekären, ständig sich konfliktreich austarierenden Balance zwischen Chaos und Ordnung entsteht. »Das Miteinander von Chaos und Ordnung bildet das eigentliche Schöpfungspotenzial der Natur«, sagt der Medizin-Forscher Friedrich Cramer. Leben wächst – und vergeht auch; und es entwickelt sich (F. Cramer, 1997; vgl. dazu auch Teil I, 1, »Die Erfahrung am Leben zu sein«). Aber es war wohl nicht einem moderneren Verständnis von der Natur des Lebens geschuldet, dass der Gedanke des Gleichgewichts keine Rolle mehr spielte. Vielmehr lag es einfach daran, dass Paul Goodman hier die bei Perls noch fehlende soziologische Perspektive mit einbrachte. Er wusste, dass befriedigende Kontaktprozesse ohne Scham nur in einer freien Gesellschaft gelingen können, und ohne Schuldgefühle nur, wenn wir unsere Mitmenschen auf diesem Weg mitnehmen. Die »sättigende Erfahrung«, wie ich in Reflexive Sinnlichkeit I das gestalttherapeutische Modell der gelingenden Kontaktprozesse zwischen Mensch und Umwelt genannt habe (H. P. Dreitzel, 2007a, Kapitel II), ist also die Grundlage jedes befriedigenden, zum Glück tendierenden Lebens. Es muss aber, um als ein »gutes Leben« bestimmt werden zu können, noch zweierlei hinzukommen:

– der Kampf gegen das, was unsere Lebenskräfte fesselt und erstickt, und

– das Teilen der »Lebens-Mittel«, wie Karl Marx sie so treffend genannt hat, die wir für die sättigenden Prozesse brauchen, mit anderen Menschen.

■ Beides verschafft uns eine eigene, zusätzliche Freude: Es gibt eine Lust, die im Bemühen um den Abbau überholter Vorstellungen von Charakter und von unnötigen Tabus entsteht, und eine Lust an der Gemeinsamkeit des Kampfes und am Verschenken des Überflusses – geteilte Freude ist doppelte Freude. Und es ist die Erfahrung von Sinnhaftigkeit unseres Handelns, die unseren Tätigkeiten, selbst wenn sie mühevoll und anstrengend sind, ihr eigenes Glück verleiht. Diese Erfahrung muss zur Erfahrung der Befriedigung unserer Bedürfnisse hinzukommen, um von einem »guten Leben« sprechen zu können, denn in ihr löst sich das Individuum aus seiner egozentrischen Vereinzelung und öffnet sich zu einer Verantwortung für seine Mitmenschen.

Wie das im Einzelnen aussehen könnte, hat zur Zeit am besten der »Transformationsdesigner« Harald Welzer in seinem Buch »Selbst denken – Eine Anleitung zum Widerstand« beschrieben (H. Welzer, 2013). Dieser Autor hat sich wie kein anderer im deutschen Sprachraum mit der Frage beschäftigt, welche individuellen und gemeinschaftlichen Handlungsspielräume uns in der gegenwärtigen Situation bleiben, welche Möglichkeiten des Widerstands es heute gegen die scheinbar unaufhaltsame Wachstumsdynamik der kapitalistischen Märkte gibt, wie überhaupt die ethische Dimension eines guten Lebens praktisch gestaltet werden kann.

Die Antworten, die die Philosophie auf die Frage danach, was ein »gutes Leben« sein könnte, entwickelt hat, haben sich von Anfang an in diesem Spannungsbogen zwischen individuellem Glück und mitmenschlicher Verantwortungbewegt. In der Antike ist es die Schule der Epikuräer, die sich am meisten um die Frage nach dem menschlichen Wohlbefinden gekümmert hat. Für Epikuros (im Folgenden nach L. Marcuse 1972 zitiert), den griechischen Begründer dieser Schule, war das höchste Gut das Glück. Und dieses Glück bestand für ihn nur aus zwei Elementen. Erstens lehrte er: »Jede Erregung körperlichen Vergnügens lässt eine Lust und Freude der Seele aus sich hervorgehen.« (85). Da ist er schon, der sättigende Prozess als Grundlage des Glücks! Zweitens aber lehrte er: »Ohne Freundschaft gibt es kein vollkommenes Glück.« Ja, er meinte sogar: »Ohne die Gesellschaft eines Freundes zu essen ist bestialisch.« (74). Seine Wertschätzung der Freundschaft geht schließlich so weit, dass er, dreihundert Jahre vor Jesus, zu dem Schluss kam: »Geben ist seliger denn nehmen.« (74)

Epikur lebte zurückgezogen in einem Garten bei Athen, der aber stets für alle unabhängig von Stand und Religion geöffnet war, die ihn besuchen oder/ und von ihm lernen und mit ihm dort leben wollten. Trotz seiner Betonung der Lust lebte er bescheiden und maßvoll, aber er teilte, was er hatte, mit jedem. Da er öffentliche Ämter verschmähte und das politische Leben mied, ließ man ihn in Ruhe. Wie leicht hätte er sonst wegen seiner Lehre wie Sokrates als Verführer der Jugend zum Tode verurteilt werden können! Dafür wurden dann aber die Epikuräer, die bei den Römern noch hohes Ansehen genossen, reichlich kritisiert, verfolgt und geschmäht, als das Christentum zur Staatsreligion geworden war. Es waren diese christlichen Kritiker, die nun die andere, die moralische Seite der Idee des »guten Lebens« besetzten, während auf der anderen Seite die Lust immer mehr als Sünde verdammt und der Körper immer mehr zu einem Ort innerer und äußerer Kasteiung wurde. Wo für das Christentum ein gutes Leben ein gottgefälliges Leben in der Perspektive einer Erlösung im kommenden Reich Gottes war, ging es den Epikuräern der Antike bis hin zu Seneca um bescheidenere Ziele als Erlösung, nämlich um

– Zufriedenheit durch maßvolle Bedürfnisbefriedigung,

– Gelassenheit im Umgang mit Schicksalsschlägen (Epikur wie Seneca wurden ins Exil getrieben) und im Ertragen von Schmerzen,

– Ausgleich der Interessen zwischen den Menschen und

– Pflege der Freundschaft, also der persönlichen Seite dessen, was wir heute Solidarität nennen, die in den Sklavengesellschaften der Antike noch nicht Thema werden konnte.

Was man von Epikur auf jeden Fall lernen sollte ist, dass ein gutes Leben stets ein sättigendes, vor allemlustvolles Leben sein muss, um ein befriedigendes Leben zu sein.

Gewiss muss man fragen, ob die Wertschätzung der Freundschaft bei den Epikuräern ausreicht, um das ganze Gewicht der sozialen Verantwortung und des Gemeinsinnes philosophisch zu tragen. Darauf antworten viele der Philosophen, die sich heute mit der Idee des guten Lebens befassen, mit dem Versuch, objektive, von individuellen Lebensentwürfen unabhängige Werte zu etablieren, die am Gemeinwohl orientiert sind und die ähnlich den Grundrechten situationsunabhängig Geltung haben.

■ Werfen wir also noch einen Blick auf den Stand der Frage nach dem guten Leben in unserer Gegenwart (H. Steifath, 1998) und schauen, ob und wieweit wir inzwischen über Epikurs einfache und vielfach geschmähte Lösung hinausgekommen sind. Zunächst ist die philosophische Entwicklung so verlaufen, dass die Idee des guten Lebens die strenge rationalistische Kritik der Aufklärung nicht überstanden hat. In einer strikten Trennung von Moral und Glück kristallisierte sich die von alters her bekannte, sprichwörtlich gewordene goldene Regel »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu!« bei Kant zu seinem Kategorischem Imperativ, nach dem individuelles Handeln sich stets an der Maxime zu orientieren hat, dass es auch zum Maßstab der allgemeinen Gesetzgebung werden könnte. Umgekehrt wurde das Glück (»Glückseligkeit« bei Kant) von Kant nun aller Tugend beraubt und definiert als »die Befriedigung aller unserer Neigungen [sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, als auch protensive, der Dauer nach]« (I. Kant, 1998, 677) und wurde damit auf das rein Subjektive beschränkt. Hier ist der alte Spannungsbogen zerschlagen, nunmehr stehen sich Glück (als Lust) und Moral (als Pflicht) unversöhnlich gegenüber.

Nach diesem Kahlschlag, der dem Individuum zu seiner vollen und alleinigen Selbstbestimmung verhelfen sollte, gab es für lange Zeit nur noch die eher bemühten sozialphilosophisch-utilitaristischen Versuche, den Wert des egoistischen individuellen Glücksstrebens für das Gemeinwohl durch Tauschtheorien zu retten: Wenn alle ihren eigenen Interessen nachgingen, so würde im Austausch ihrer Güter und Handlungen eine »unsichtbare Hand« (Adam Smith) dafür sorgen, dass der Wohlstand und das Wohl der Allgemeinheit dabei vermehrt würde. Wie wenig dieser Optimismus noch berechtigt ist, wie sehr die »unsichtbare Hand« des Marktes statt das Glück eher das Elend zu mehren imstande ist, das hat zuletzt die Krise der globalisierten Finanzmärkte von 2007 gezeigt. Immerhin aber wird seit Kant die individuelle Selbstbestimmung als ein wichtiges Kriterium für das Glück des einzelnen angesehen.

Erst in jüngerer Zeit ist parallel zur Entwicklung der Grundrechte die Diskussion um das gute Leben wieder in die Philosophie zurückgekehrt. Dabei stehen sich zwei Lager gegenüber, die beide auf ihre Weise wieder versuchen, das Glücksmoment der individuellen Bedürfnisbefriedigung mit den Tugenden der Sorge um das Gemeinwohl zu versöhnen. Der kritische Subjektivismus versucht, ein Moment des Objektiven im rein subjektiven Glücksempfinden dadurch zu retten, dass er die Handlungsstrategien des Strebens nach Glück einer peniblen Kritik unterzieht. Die Gegenposition des Objektivismus sucht dagegen nach allgemeinen Werten, die neben den individuellen Interessen mit zu verwirklichen erst das gute Leben ausmache. Beiden Positionen geht es dabei natürlich nicht um das episodische Glück momentaner Stimmungen und Affekte, sondern um das Glück eines Lebens als Ganzes. Dennoch bleibt bei dieser Diskussion in der Regel offen, ob es um das gute Leben als einzige Möglichkeit geht, oder um ein gutes Leben, von dem es verschiedene Spielarten geben kann.

Die Positionen des kritischen Subjektivismus kommen meines Erachtens aus dem Dilemma des Gegensatzes zwischen Moral und Glück nicht wirklich heraus. Die objektivistischen Positionen dagegen haben natürlich immer das Problem, dass jede Auswahl der zu erstrebenden Werte schwer zu begründen ist. Man muss nicht gleich an die Probleme denken, die die Frage nach der moralischen Berechtigung eines Tyrannenmords aufwirft (die in ihrer neuesten Version als Frage nach der ethischen Berechtigung der Eliminierung von Terroristen durch Drohnen auftritt). Wie z. B. lässt sich die Forderung nach einer Mehrbesteuerung kinderloser Paare oder allein lebender Personen ethisch begründen? Gehört es zu einem guten Leben, Kinder zu bekommen und aufzuziehen, oder kann man auch als Kinderloser ein »gutes Leben« führen? (Weitere solcher Fragen werden von M. J. Sandel, 2008, behandelt.)

■ Die Gestalttherapie hat sich solchen philosophischen Fragen versagt und sich stattdessen an die Empirie der klinisch-psychologischen Erfahrung gehalten. Und da stellt sich heraus, dass es einen lustvollen Aspekt in der »Moral« gibt und einen moralischen Aspekt im Glück des Lustvollen. Man darf unter Moral allerdings nicht eine nur metaphysisch begründbare Pflicht verstehen, wie es Kant getan hat, sondern eine spontane Haltung des Mitgefühls, deren Bedeutung unter den Philosophen am meisten Spinoza und Schopenhauer betont haben und wie sie bekanntlich zentral in den Lehren des Buddhismus ist (Dalai Lama, P. Ekman, 2008), auf den sich Schopenhauer auch bezieht. Aber es bedarf hier gar nicht der Philosophie, denn dass das Geben beglückender ist als das Nehmen, das ist eine empirisch beobachtbare Tatsache, die jeder Mensch an sich selbst erfahren kann.

Eine ebenfalls beobachtbare Tatsache ist, dass derjenige, der mit seinem Leben zufrieden ist, weil viele seiner Bedürfnisse und Interessen befriedigt sind, dieses Lebensglück auch ausstrahlt und damit seine ganze Umgebung aufhellt. In dieser Hinsicht kann die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse auch ihr Gutes für andere Menschen haben. Gewiss, diese Ausstrahlung kann auch Neid auslösen, vor allem in Gesellschaften, die stark leistungsund erfolgsorientiert sind. In der Wirkung, die glückliche Menschen auf andere haben, erweist sich bei genauerem Hinsehen, ob ihr Lebensglück eher oberflächlich, illusionär und nur der Fortuna glücklicher Umstände zu verdanken ist. Denn auch das gehört ja zur Problematik des guten Lebens, dass das Glück illusionär sein kann. Oder ob ihr Glück auf der Sinnhaftigkeit von Zielsetzungen beruht und auf der Gelassenheit im Umgang mit Krisen und Scheitern. Ich vermute, dass es Unterschiede bei der Ausstrahlung gibt: Negative Gefühle wie Neid und Konkurrenz werden wohl eher beim ersteren Fall ausgelöst, während im zweiten Fall solche Menschen auch zu Vorbildern werden können, die zu mehr eigener Kreativität ermutigen: Lebensfreude kann auch ansteckend wirken.

Es ist hilfreich, neben den empirischen Erfahrungen der Psychotherapie auch den empirischen Ergebnissen der Sozialforschung Beachtung zu schenken, wenn es um die Frage geht, was Menschen glücklich macht. Eine solche Forschung gibt es inzwischen (eine erste Zusammenfassung findet sich bei A. Bellebaum, 2011) und ihre Ergebnisse fördern auch Überraschendes zutage. So gibt es z. B. kaum einen Zusammenhang zwischen dem Gefühl, glücklich zu sein, und dem Besitz von Geld oder Schönheit oder Gesundheit! In der Tat scheinen viele der sehr reichen Menschen ziemlich unglücklich zu sein. Aber da muss gefragt werden: Sind wirklich ihre Bedürfnisse und Interessen ganz und gar befriedigt, nur weil sie viel Geld haben? Einige gehen ihren Interessen dadurch nach, dass sie ihr Geld in Stiftungen geben und oft diese auch selbst leiten. Offenbar macht sie das glücklicher. Aber entscheidend ist hier die Erkenntnis, das Geld im Überfluss als solches eben nicht glücklich macht. Eine neuere Untersuchung in den USA fand heraus, dass die Grenze bei einem Jahreseinkommen von 60.000 Euro liegt – bis dahin macht jeder Anstieg des Einkommens glücklicher, danach geht es langsam bergab mit den wohlstandsbedingten Glücksgefühlen – eine überraschend niedrige Grenze, wenn man den Kampf um Boni und ähnliche Perversitäten in der Finanzwirtschaft beobachtet. Reichtum als solcher ist in sich kein als sinnvoll erlebbares Ziel. Das zeigt auch die sogenannte Reichtum-Studie (SPIEGEL-ONLINE, Wirtschaft, 7.9.2010). Die beste Quelle, wenn man fragt, was die empirische Wissenschaft bisher über die Faktoren herausgefunden hat, die ein langes Leben gelingen lassen, ist aber die sogenannte »Grant-Studie«. In dieser Langzeituntersuchung wurden zwei Kohorten von privilegierten und unterprivilegierten Männern 75 (!) Jahre lang in zweijährigen Abständen auf die Glücks- und Unglücksmomente in ihrem Leben hin untersucht. In einem Interview sagt der langjährige Leiter dieser Studie (G. E. Vaillant, 2013): »Reich zu sein ist kein Garant für Glück. Geld kann zweifellos Freude bereiten, doch an Reichtum gewöhnt man sich schnell. Dann wird er unbedeutend.«

Dass körperliche Schönheit ein sehr zwiespältiges Geschenk der Natur ist, belegen unzählige leidvolle und unglückliche Geschichten von schönen Menschen, die mit der Last der übergroßen Aufmerksamkeit, die ihnen oft schon in der Kindheit zuteil geworden ist, nicht umgehen konnten. Überraschend dagegen scheint die Aussage; dass auch Gesundheit für unser Lebensglück nur eine geringe Rolle spielen soll. Ich erkläre das vor allem damit, dass wir den gesunden Zustand unseres Körpers als den normalen erleben – der nicht vorhandene Schmerz wird nicht gespürt und leicht vergessen. Der gesunde Körper steht nur bei mehr oder weniger starken Lustgefühlen im Vordergrund unseres Erlebens – oder wenn wir ihm in erhöhtem Gewahrsein, etwa bei einer Meditation, besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Im Übrigen steht dieses Ergebnis auch im Gegensatz zu dem hohen Stellenwert, die die Sorge um die Gesundheit in vielen Studien erreicht.

Darüber hinaus gibt es zwei eindeutige Ergebnisse der empirischen Glückforschung, die beide den in der Philosophie des guten Lebens aufgespannten Bogen zwischen subjektiv-individuellen Faktoren und objektiv an Werten orientierten Faktoren bestätigen: Offensichtlich ist die Art und Weise, wie Menschen die Welt erleben, ihre persönliche Sichtweise, wichtiger als die objektiven Umstände ihres Lebens. Das bestätigt auch die therapeutische Erfahrung, dass Veränderung, Linderung des Leidens also, oft schon durch einen bloßen Perspektivwechsel erreicht werden kann – entsprechend dem nach dem amerikanischen Soziologen William Issac Thomas benannten Thomas-Theorem: »Wenn Menschen eine Situation als real definieren, dann ist sie auch real in ihren Wirkungen«. Das andere wichtige Ergebnis der Glücksforschung ist die große Bedeutung, die die eigenen Lebensziele für die Erfahrung von Sinn und Glück im eigenen Leben besitzen.

■ Beides aber reicht noch nicht aus, um allein schon das Gefühl eines glücklichen Lebens zu vermitteln. Zweierlei muss noch hinzukommen: Zum einen der Blick auf die Gesamtheit des Lebens. Akzidentelle Glücksmomente versinken schnell in eine vergangenheits- und zukunftslose Gegenwart. Werden sie auf Dauer gesucht, so kommt es zu einer bloßen Aneinanderreihung solcher Momente, die früher oder später als schal erlebt wird. Ein hedonistisches Leben macht nicht glücklich. Gunter Sachs, dessen Lebensstil stets als Inbegriff des Hedonismus galt, war nichtsdestoweniger ständig mit Tätigkeiten als Fotograf, Astrologe, Kunstsammler und Finanzjongleur u. a. beschäftigt, um seinem Leben einen Sinn zu verleihen, und schied aus dem Leben, als ihm im Alter die Projekte ausgingen (vgl. SPIEGEL Nr. 15, 8.4.2013). Mit zunehmender Reife leben wir mehr und mehr auf ein als Ganzes erfahrbares Leben hin, das bei allem Auf und Ab des Erfolges und des Scheiterns insgesamt auf ein Gelingen angelegt ist. Darauf verweist ja eben der von manchen alternativ zum Begriff des guten Lebens verwendete Begriff eines gelingenden Lebens.

Zum anderen muss eine Erfahrung von Sinnhaftigkeit hinzukommen. Nur wird das, was wir als Sinn erleben, selten als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens formulierbar sein. Diese Frage, die manchmal auch dem Therapeuten gestellt wird, ist letztlich nicht zu beantworten (und darf von diesem auch versuchsweise nicht beantwortet werden!). Dennoch gibt es ein klares Gefühl von Sinnhaftigkeit bestimmter Lebensvollzüge und zuweilen eben auch des ganzen Lebens, das sich einstellt, wenn es gelingt, das eigene Leben auf das Erreichen von Zielen auszurichten, die jenseits der eigenen Person liegen. Wenn sich dieses Gefühl paart mit dem Glücksgefühl der Befriedung der eigenen Bedürfnisse, dann kann wohl mit Recht von einem guten Leben gesprochen werden.

Der Philosoph Martin Seel hat als Kriterium für ein gutes, also befriedigtes, sinnhaft orientiertes, gelingendes Leben diese Formel vorgeschlagen: »Das gute Leben ist eines, das sich im Modus freier Weltbegegnung vollzieht.« (M. Seel, 1998, S. 280). Das könnte man auch als Fazit des Menschenbildes der Gestalttherapie so sagen. »Frei« hieße dabei sowohl selbstbestimmt als auch Spielräume für diese Selbstbestimmung gewährend, die natürlich häufig genug durch äußere Umstände oder innere Behinderungen eingeschränkt sind. »Weltbegegnung« kann man gestalttherapeutisch verstehen als den Kontakt zwischen Mensch und Umwelt, das heißt als den »sättigenden Prozess«, durch den sich jeder nährende, für das menschliche Wachstum notwendige Austauschprozess mit der Welt vollzieht. Und Begegnung ist dann in dieser Perspektive die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, zum »vollen Kontakt« zu gelangen, diesem vorübergehenden, aber sich potenziell in jedem Kontaktvorgang wiederholenden Zustand der Integration von Subjekt und Objekt im Verschmelzen von menschlichem Organismus und Umwelt am jeweiligen Punkt ihrer Berührung zu einer Einheit des Erlebens (vgl. S. 64/65).

■ Wir müssen nur noch das Kriterium des Gewahrseins hinzufügen, diese nur dem Menschen eigene Fähigkeit eines kognitiven Zustands des Bewusstseins der Leibhaftigkeit unserer Erfahrung von Welt, mit dem wir uns auf die »Kontaktgrenze«, den Berührungspunkt zwischen Subjekt und Objekt, konzentrieren können. Diesen Zustand werde ich im weiteren Verlauf meiner Überlegungen auch Bewusstheit oder reflexive Sinnlichkeit nennen. Das Gewahrsein ist in der Gestalttherapie, die von Friedrich und Lore Perls ursprünglich Konzentrationstherapie genannt wurde, das heilende Agens, das, was »gesund« macht. Dazu gehört auch,

dass, wenn diese »Weltbegegnung« mit erhöhtem Gewahrsein geschieht,wie von selbst ein eigentümliches Verantwortungsgefühl für die jeweilige Umwelt entsteht, eine Sorge für das Objekt unserer Begegnung, also insbesondere für unsere Mitmenschen, aus der längerfristig die Sinnhaftigkeit und Zielorientierung eines Lebens erwächst. So gesehen enthält das Menschenbild der Gestalttherapie in der Tat das Projekt eines guten Lebens, wie es eine jahrtausendealte philosophische Tradition vor und jenseits des Christentums im Abendland entwickelt hat.

Wie dieses Projekt im Einzelnen aussieht, soll nun im ersten Teil dieses Buches anhand ausgewählter Stichworte erläutert werden.

Teil I. Das Projekt eines guten Lebens

Ich glaube nicht genug an die Vernunft,um an ein System zu glauben.Was mich interessiert ist,wie man leben soll.

Albert Camus

1.  Sich in das Abenteuer des Lebens stürzen

To expect the unexpected showsa thoroughly modern intellect.

Oscar Wilde

Dass unser Leben ein Abenteuer ist, soll zunächst einfach heißen: unser Leben ist ein Ereignis, das wir nicht geplant haben und das von einer Serie von schicksalhaften Ereignissen bestimmt wird, die immer wieder alle Lebensplanung durcheinander werfen. Die Zukunft bleibt stets ungewiss, sodass alle Sicherheit höchstens Wahrscheinlichkeitswert besitzt. »Der Mensch denkt und Gott lenkt« ist ein altes Sprichwort, das diese Erfahrung auf den Punkt bringt. In ihm steckt freilich noch der Hinweis auf ein vor-modernes Gottvertrauen, das Heil und Trost zu bringen versprach, zumindest aber etwas Halt inmitten der Lebensstürme bot. Diesem Versprechen noch zu glauben, wurde in der Moderne zunehmend schwieriger. Der Mensch der frühen Neuzeit wird immer mehr von Glaubenszweifeln gequält, die in den Reformationen des 16. Jahrhunderts ihren theologischen und sozialen Ausdruck fanden. Zugleich beginnt mit der Renaissance und dem Humanismus eine Rückbesinnung auf die dem Menschen eigenen Potenziale, die ungeheure Kräfte freisetzt: Vom 15. bis zum 18. Jahrhundert wird die Welt von Europa aus mit einem zuvor undenkbaren Elan und Eifer erkundet, besetzt und kolonisiert. Dieses »Zeitalter der Entdeckungen« ist geprägt von abenteuerlichen Reisen, die die politische und soziale Welt tiefgreifend verändert haben. Während aber in der Antike und im Mittelalter die Abenteuer des Lebens zumeist passiv als gottgewolltes oder teuflisch inszeniertes Schicksal erlitten wurden, entwickelt sich in der Neuzeit immer häufiger auch eine Haltung, in der das Abenteuer positiv gewertet und oft sogar ersehnt wird als notwendiger Bestandteil einer Suche nach individuellem Glück. Das ist bereits der Fall bei Parzivals Suche nach dem Gral, während die Reisen des Odysseus noch schiere Irrfahrten sind, die die Götter dem Helden schicksalhaft auferlegen.

Ähnliches gilt auch für die Abenteuer des Geistes in den Wissenschaften, die unser Weltbild wie auch unser Bild vom Menschen selbst vollständig verwandelt haben; mit Galileo und Kepler verlor die Erde ihren Status als Mittelpunkt des Universums; mit Darwin verlor der Mensch seine Rolle als Krone der Schöpfung; mit Freud verlor der Mensch seine vollständige Kontrolle über sich selbst. Seitdem haben die Atomphysik und die Quantenphysik unsere Vorstellung von der Substanzhaftigkeit der Erde aufgelöst, und jetzt stellen die Neurowissenschaften sogar unsere Willensfreiheit infrage und halten unser Ich-Bewusstsein für eine Illusion.

■ Nach dem inneren Halt des Gottvertrauens in einem theologischen Weltbild geht auch der Halt an dem äußeren Bild der Welt, wie es die klassischen Naturwissenschaften entworfen hatten, nun immer mehr verloren. Die These, dass das Leben ein Abenteuer sei, bekommt jetzt einen neuen Sinn: Es geht nicht mehr nur um unvorhersehbare Ereignisse und Bedrohungen, die es zu bewältigen gilt, und um das Bestehen von überraschenden Herausforderungen, sondern das Leben als ganzes erscheint von vornherein als ein Abenteuer, so als wären wir hineingeworfen in ein Leben, für das uns die Betriebsanleitung fehlt. Lange bevor der Existenzialismus des 20. Jahrhunderts von der »Geworfenheit« des Menschen in die Existenz sprach, hat der berühmte Mathematiker und Theologe des 17. Jahrhunderts Blaise Pascal diese verzweifelte Lage des modernen Menschen so beschrieben:

»Weder weiß ich, wer mich in die Welt setzte, noch was die Welt ist, noch was ich selbst bin. In einer furchtbaren Ungewissheit was meine Sinne sind, noch was meine Seele ist, und der Teil meines Ichs sogar, der in mir denkt, was ich sage, der über alles und über mich nachdenkt, kennt sich selbst nicht besser als das Übrige. Ich schaue diese grauenvollen Räume des Universums, die mich einschließen, und ich finde mich an einer Ecke dieses weiten Weltraums gefesselt, ohne dass ich wüsste, weshalb ich hier und nicht etwa dort bin, noch weshalb ich die wenige Zeit, die mir zum Leben gegeben ist, jetzt erhielt und zu keinem anderen Zeitpunkt der Ewigkeit, die vor mir war und nach mir sein wird. Ringsum sehe ich nichts als Unendlichkeiten, die mich wie ein Atom, wie einen Schatten umschließen, der nur einen Augenblick dauert ohne Wiederkehr. (P. Blaise 1956, 90).

Das scheint mir noch immer, und jetzt am Ende der Neuzeit erst recht, eine realistische Beschreibung unserer Situation. Für Pascal ergab sich die Erlösung aus dieser Situation nur aus der tragischen Religiosität eines credo quia absurdum est (Ich glaube, weil es absurd ist.). Obgleich ein solcher Glaube fast schon existenzialistisch anmutet, bleibt darin doch viel Platz für kirchlich vorgegebene Ordnungen und Wertsetzungen. Pascal jedenfalls führte ein so asketisches Leben, dass er seine ohnehin schwache Gesundheit damit vollends ruinierte. Diese Askese aber ist eine Negation des Körpers und kann deshalb niemals Bestandteil einer humanistischen Idee vom »guten Leben« sein.

Statt auf den Glauben setzt die Gestalttherapie dagegen immer auf die Erfahrung. Sie ermutigt den Menschen, das Abenteuer seines Lebens nicht bloß passiv zu erleiden, sondern es aktiv anzupacken und uns mit all unseren Sinnen in das Ungewisse zu stürzen und das, was wir dabei entdecken, mit kreativer Lust zu gestalten. Dabei setzt sie auf das Potenzial des Lebens, sich in schöpferischer Anpassung mit denjenigen Elementen der Umwelt zu identifizieren, die es zu seinem Wachstum braucht, und sich von denjenigen zu entfernen, die diesem Austauschprozess im Wege stehen.

■ Unsere erste und wohl auch letzte Erfahrung ist, dass wir am Leben sind. Deshalb steht in der Gestalttherapie das Bewusstsein zu atmen bei den sehr bedrohlichen psychosomatischen Störungen so sehr im Mittelpunkt. Vergegenwärtigen wir uns also: was wissen wir heute über die Frage: Was ist Leben? (Das Folgende stützt sich auf Formulierungen von F. Cramer, 1997). Leben ist Materie, die sich selbst reproduziert. Leben vermehrt sich so lange, wie die äußeren Bedingungen, vornehmlich die Nahrungsquellen, ausreichend und förderlich sind. Da die Bedingungen niemals nur günstig sind, stößt Leben immer auf Grenzen: »Das Lebendige explodiert und droht sich selbst zu ersticken.« (49) Leben muss sich an die sich ständig verändernde Umwelt anpassen. Deshalb entwickelt sich Leben, es evolviert durch eine Folge von erfolgreichen Mutationen, die die Anpassung an neue Umweltbedingungen gewährleisten. Leben ist bestimmt durch das Gesetz der Entropie, nach dem alle dynamischen Prozesse auf die Dauer einen Energieverlust erleiden; das heißt, alles Leben verschwindet wieder, stirbt ab. Die meisten Gattungen von Lebewesen, die die Natur hervorgebraucht hat, sind bereits ausgestorben; das gilt auch für die verschiedenen Menschengattungen vor dem homo sapiens, also uns.

Das individuelle Leben wird zeitlich strukturiert durch den Zyklus von Geburt, Wachstum, Siechtum und Tod. Schon rein biologisch ist also das Leben ein Abenteuer. Es ist eine »Bergbesteigung unter hohem Aufwand von Energie und Können mit einer anschließenden Gratwanderung … Mit Vorsicht, Intelligenz und bergsteigerischem Können (kann man) auf einem schmalen, unter Umständen gefährlichen Grat entlang wandern« – solange die aus der Umwelt bezogene Energie reicht (52). Leben ist also nicht im Gleichgewicht, es ist energetisch äußerst kostspielig und daher physikalisch unwahrscheinlich.

So einleuchtend und überzeugend die Klage von Pascal auch heute noch erscheint, so einseitig ist doch ihre Perspektive. Denn sie bezieht sich allein auf unsere unbestreitbare Unwissenheit. Er sagte nichts über die Kräfte und Begabungen, mit denen wir Menschen bereits auf die Welt kommen. Menschliches Leben verfügt über reiche Ressourcen der Orientierung in einer unbekannten Umwelt, welche Lebens- und Überlebenschancen enthält, die angesichts unserer Ignoranz höchst erstaunlich sind. Damit dieser Schatz zum Tragen kommen kann, muss allerdings das Überleben in den ersten Jahren nach der Geburt in einer sozialen Umgebung gewährleistet sein, die zugleich sicher und stimulierend ist. Menschen sind gemessen an vergleichbaren Säugetieren Frühgeburten, weil ihr mächtiger, das große Gehirn schützender Schädel eine spätere Geburt, für die der Geburtskanal zu eng wäre, unmöglich macht. Sie verbringen das sogenannte »extra-uterine Frühjahr« (A. Portmann, 1991) in vollkommener Abhängigkeit von den Eltern und nahen Bezugspersonen, was sie zugleich offen macht für ungewöhnlich frühe soziale Einflüsse – Anregungen wie Behinderungen.

Die Natur beziehungsweise die Evolution hat uns ausgestattet mit dem Neocortex, einer Gehirnregion, die uns rationales Denken, Planen und Abwägen ermöglicht. Der Neokortex ergänzt unseren Sinnesapparat, der zwar bei manchen Tieren im Einzelnen schärfer ausgebildet ist, aber ohne diese von unserem Gehirn ermöglichte Einheit der Sinne (H. Plessner, 1923) zu erreichen, aus der unsere hoch komplexe Weltsicht erwächst. Wir verfügen über ein evolutionär altes, aber zu erstaunlicher Differenzierung und Ausprägung fähiges emotionales Sensorium, das unsere kognitiven Kräfte motivational unterstützt. Und wir besitzen die Fähigkeit der Sprache, auch sie ist ein Wunder, das die Forschung bisher nicht wirklich entschlüsseln konnte. Diese Potenziale zusammengenommen machen die evolutionär neueste Ausgabe des Menschen, den homo sapiens, zu einem Lebewesen, dessen größte Bedrohung nunmehr die Zerstörung der ihn tragenden Umwelt durch seine eigene Überlebenskompetenz ist.

■ Das ist ein ganz anderes Bild des Menschen als das von Pascal entworfene, ohne dass dieses darum falsch wäre. Manche würden vielleicht an dieser Stelle sagen, dass es besser gewesen wäre, erst einmal die von Pascal aufgezählten Grundfragen zu klären, bevor sich die Menschheit in das Abenteuer einer Wissenschaft stürzte, in deren Folge sie ihren inneren Halt verloren und zugleich ihre eigene Umwelt vergiftet hat. Aber das wäre ein kurzsichtiger Blick: Es ist derselbe Prozess der wissenschaftlich-mathematischen Suche nach der Antwort auf diese Fragen, den Pascal und andere Denker des 16. und 17. Jahrhunderts angestoßen haben, der zu den Problemen unserer Gegenwart geführt hat. Nur haben sich die Prioritäten etwas verschoben: langsam – zu langsam! – schiebt sich die Umweltproblematik immer mehr in den Vordergrund, einfach weil es hier um unser aller Überleben geht.

Auf andere und neue Weise wird gegenwärtig deutlich, wie sehr das Leben ein Abenteuer ist: Indem wir unsere Fähigkeiten nutzend die vorgefundene Umwelt zur Befriedigung unserer Bedürfnisse umgestalten und uns verfügbar machen, greifen wir in die homöostatischen Rückkoppelungsprozesse der Natur ein und stören deren Systemzusammenhänge dergestalt, dass sie uns feindlich gegenüber tritt und unsere Sicherheit bedroht. Um Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wärme, Gesundheit und Mobilität zu befriedigen, vergiften wir andere lebenswichtige Ressourcen der Umwelt wie die Luft, das Wasser, die Erde und die von ihr getragenen Biotope. Es zeigt sich, dass die Suche nach dem guten Leben, wenn sie allein im Dienst einer immer besseren Befriedigung unserer materiellen Bedürfnisse gestellt wird, umschlägt in das Gegenteil dessen, was sie erreichen wollte. Die Dialektik von Steigerung des Lebensstandards und Zerstörung der Umwelt hat sich überraschend als das Abenteuer der Moderne erwiesen.

■ Dieses Abenteuer ist offenbar dafür verantwortlich, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, die geradezu besessen von Sicherheitsbedürfnissen und Sicherheitserwartungen ist. Nie zuvor in der Geschichte haben sich Menschen gegen so viele Risiken des Lebens versichern lassen und gleichzeitig ist nie zuvor ein derart großer Aufwand für Sicherheitsvorkehrungen getrieben worden. Die Angst vor Terrorismus hat zur Entwicklung digitaler Überwachungssysteme geführt, die auf die Dauer die Privatsphäre als solche zu zerstören drohen – schließlich stehen wir erst am Beginn der digitalen Revolution.

Dabei ist das Leben tatsächlich unvergleichlich viel sicherer geworden als es in vormodernen Zeiten war. Wie Steven Pinker in seiner großen Untersuchung zur Geschichte der Gewalt gezeigt hat (Pinker, 2011), ist die Chance, durch menschliche Gewalt oder durch einen Unfall zu Tode zu kommen, trotz der großen Kriege und Völkermorde des 20. Jahrhundert sehr viel geringer geworden, als sie noch im 19. Jahrhundert war. Trotz internationalem Terror, trotz schreckenerregender Unfälle bei der Großtechnik vom Untergang der Titanic bis zu Tschernobyl und Fukushima: Wir fahren täglich mit dem Auto und wir reisen in entfernte Gegenden (sofern uns nicht das Außenministerium davon abrät) weitgehend ohne Furcht vor Unfällen, Überfällen und Mordattacken. Die Selbstverständlichkeit unserer Mobilität ist das beste Indiz dafür, wie sicher wir uns tatsächlich fühlen.

Allerdings lässt sich dieses Sicherheitsgefühl nur durch die neurotische Verdrängung der großen Umweltgefahren aufrechterhalten. Nur so lässt sich der Widerspruch zwischen Risikobereitschaft beim Betrieb von Atomkraftwerken und vorläufigen »Endlagern« des anfallenden Atommülls und den zum Teil schon wahnhaften Sicherheitsbedürfnissen, z. B. beim Autobau oder im Haushalt, erklären. Diese haben auch etwas damit zu tun, dass uns die globalisierten Medien ständig die meist eher punktuelle Gewalt aus aller Welt vor Augen führen und wir uns in zahllosen Filmen Gewaltszenen anschauen, die uns teils mit schauderndem Warnen, teils mit voyeuristischem Blick im Detail vorgeführt werden. Auf jeden Fall erleben wir heute ein paradoxes Nebeneinander von Risikoverhalten und Risikovermeidung. Während im öffentlichen Bereich die staatlichen und wirtschaftlichen Systeme bei der Förderung und Benutzung von Großtechnologien gigantische Risiken auf sich nehmen, um die weltweiten Handelsketten in Fluss zu halten und die Profite zu sichern, wird der Bürger von Seiten eines paternalistischen Staates mit oft absurden Sicherheitsvorschriften gegängelt. Dabei sind dessen eigene Sicherheitsbedürfnisse schon reichlich genug ausgeprägt, wo nicht Gruppen von Jugendlichen und einzelne Extremsportler vorübergehend aus diesem subtilen Zwangssystem aussteigen.

Paradoxerweise ist es gerade der private und staatliche Sicherheitswahn, der der Verdrängung der wahren Risiken Vorschub leistet. Das wird durch zwei Faktoren begünstigt: die abstrakte Größe der Gefahren und zum Teil auch ihre abstrakte Qualität wie bei der sinnlich nicht erfahrbaren nuklearen Strahlung einerseits, und dem Gefühl der Ohnmacht gegenüber den großen und als abstrakt erlebten Systemen der Politik und der Wirtschaft andererseits. Was als unmittelbar erlebbar erfahren wird, ist dagegen weniger Verdrängungen ausgesetzt: Übereinstimmend zeigen alle entsprechenden Untersuchungen, dass die Hauptsorge der meisten Menschen ihrer Gesundheit gilt – obwohl wir so gesund sind und so lange leben wie nie zuvor, weshalb sie als Glücksfaktor fast nur von alten Menschen wahrgenommen wird.

In der Tat ist also gesellschaftlich gesehen das Leben nicht nur abenteuerlich im Sinne von reich an Überraschungen, sondern auch im Sinne von ungewiss und gefährlich – auch wenn die wirklichen Gefahren vielfach verdrängt werden. Im Bewusstsein des Einzelnen aber stehen die Gefährdungen des »normalen« Lebens im Vordergrund: Bleibt mir meine Gesundheit erhalten? Werde ich diese Prüfung bestehen? Schaffen meine Kinder den Hauptschulabschluss, das Gymnasium, das Abitur, die Gesellenprüfung, die Fahrprüfung usw.? Werde ich meine Arbeit verlieren? Habe ich noch Aufstiegschancen? Bleibt mir meine Frau / mein Mann treu? Übernehme ich mich bei diesem Kredit für den Hausbau? Komme ich ohne Stau durch? Es sind die vielen privaten alltäglichen Ängste, an denen sich die starken Sicherheitsbedürfnisse entzünden, und es ist die außerordentliche Komplexität und Unübersichtlichkeit des modernen Lebens, die sie schüren.

■ Das ist dann der Punkt, an dem der Satz »Sich in das Abenteuer des Lebens stürzen« einen normativen Gehalt bekommt. Gestalttherapie lehrt, dass es sich lohnt, dass es uns inneren Reichtum und innere Reife schenkt, wenn wir uns auf das Leben voll einlassen, nämlich

– mit Leidenschaft,

– ohne Rücksicht auf verinnerlichte Normen und Lebensskripte,

– unseren Gefühlen ebenso folgend wie unserem Verstand,

– immer auf das Leben selbst setzend,

– nicht auf bürokratische oder ökonomische Sicherheit bauend,

– sondern stattdessen den eigenen schöpferischen Kräften vertrauend.

Von solcher Art ist das Selbstvertrauen, das in der Gestalttherapie aufgebaut und geübt wird. Jede »Gestaltarbeit«, d. h. jede therapeutische Begegnung zwischen Gestalttherapeut und Klient, ist ein Abenteuer in dem Sinn, dass keiner von beiden weiß, wohin diese Begegnung, dieser Tanz, sie führen wird. Es ist immer ein Sich-Einlassen auf das Unbekannte. Oft führt dieses Abenteuer zunächst in eine Sackgasse, in der der Patient das Gefühl hat, dass es nicht weitergeht. Seine Energie implodiert und steht als Kraft für den Kontaktprozess nicht mehr zur Verfügung, weil er sie »retroflektiert«, d. h. auf sich selbst zurückwendet, so als würde er mit sich selbst Fingerhakeln spielen. Das Haupthindernis, aus der Sackgasse herauszukommen, sind seine Katastrophenängste. Klinische Beobachtung zeigt, dass diese Katastrophenängste umso stärker und unrealistischer werden, je stärker ein Mensch »retroflektiert«. Gestalttherapie setzt hier auf die verändernde Kraft des Gewahrseins. In den Worten von Fritz Perls: »Ich bin überzeugt, dass wir die Sackgasse überwinden können, vorausgesetzt wir widmen der Art und Weise, wie wir fest hängen, unsere volle Aufmerksamkeit.« (PHG, 174). Dann entdeckt und erfindet der Patient eine neue Lösung, einen Weg aus der Sackgasse, und entdeckt dabei Kräfte in sich selbst, die sein Selbstvertrauen, seinen Lebensmut, stärken.

Angst ist ein sehr unangenehmes Gefühl, auch wenn es sich nicht um die Furcht vor einer konkreten gegenwärtigen Bedrohung handelt, sondern um das Gefühl einer unbestimmten Angst vor nur vage vorgestellten, unklaren, eventuell nur eingebildeten Gefahren. Und das ist eben genau dann der Fall, wenn wir stark »retroflektieren«, denn dann fehlt uns die lebendige Erfahrung mit dem Teil unserer Umwelt, den wir vermeiden. Wird der Chef, mit dem ich noch nie gesprochen habe, mir wirklich demnächst kündigen, wenn ich ihn um ein paar Tage zusätzlichen Urlaub bitte, um mich um meine kranke Mutter zu kümmern? Konzentrieren wir uns auf die Lähmung des Handlungsimpulses, dann wird das Erfahrungsfeld, (die »Kontaktgrenze«) zwischen mir und dem jeweils relevanten Umfeld sofort differenzierter und lässt nun Platz für unsere kontra-phobischen Kräfte. Die (schmerzvolle) Konzentration darauf, wie wir uns blockieren, mobilisiert die Energie des unterdrückten Lebensmuts und macht uns frei für schöpferische Lösungen (für die »kreative Anpassung«). Dabei helfen uns in der Gestalttherapie die sogenannten Gestalt-Experimente; und im Leben ein risikofreudiges, aber nicht leichtsinniges, in einer Haltung von Versuch und Irrtum lustvolles Ausprobieren – kurz: ein abenteuerfreudiges und zugleich leidenschaftliches Herangehen an die aktuell vorliegenden Aufgaben.

Gehen wir also in das Abenteuer des Lebens hinein

– mit dem Mut des Vertrauens auf die eigenen Kräfte,

– mit Vorsicht im Hinblick auf unsere Schwächen,

– mit Umsicht im Hinblick auf die Ressourcen in unserer Umwelt,

– mit Rücksicht auf unsere Mitmenschen

– mit Nachsicht gegenüber unseren Feinden, denn sie sind uns ähnlicher als wir glauben,

– und mit der lebendigen Leidenschaft, die uns zum Risiko befähigt.

2.  Neugier und Wissensdurst pflegen

Jedes Kind betritt diese Welt voller Neugier: Kaum ist es geboren, versucht es schon seinen eigenen Körper und dann seine Umgebung mit seinen Händchen zu erfassen. Nach und nach erwachen seine Sinne, deren jeder ein Kontaktorgan (= eine zentrale »Ich-Funktion des Selbst«) ist, mit dessen Hilfe das Kind eine komplexe, multidimensionale Welt zugleich entdeckt und erfindet. Wie Perls und Goodman sprechen wir hier nicht nur von »entdecken« , sondern auch von »erfinden«, weil unser die Sinnesdaten verarbeitendes Gehirn die Wirklichkeit in einer ganz bestimmten begrenzten Weise zeigt bzw. aus diesen Daten eine Realität konstruiert, die dann bei kommunikativer Bestätigung durch andere und praktisch-funktionaler Bewährung zu dem wird, was wir für die Wirklichkeit halten.

Bei allen höheren Säugetieren schon gibt es ein Neugier-Verhalten, das eng mit der Spielphase bei den Heranwachsenden verbunden ist. Der evolutionäre Sinn dieses Verhaltens ist natürlich, dass die Tiere ihre Sinne erproben und dabei ihre Umwelt kennen lernen, z. B. wo sich ihre Nahrungsquellen befinden und wo auch die Gefahren lauern. Die Säugetiere haben sich so entwickelt, dass es zu ihrer Natur gehört, die Welt aktiv zu erkunden, sich also neugierig auch dem Unbekannten zuzuwenden, insbesondere in der Spielphase der Aufwachsenden, wenn es um die Ausbildung der senso-motorischen Funktionen geht.

Erst recht aber beim Menschen ist dieses Erkunden und Erforschen nicht allein auf die Kindheits- und Jugendphase ihrer Entwicklung beschränkt, sondern, wenn er nicht daran gehindert wird, ein lebenslanges Grundmuster seines In-der-Welt-Seins. Genauso wie bei den Tieren ist dabei wichtig, dass die Neugier angeregt wird durch reiche Stimuli in der Umwelt. Bei einer reizlosen Umwelt verkümmert die Neugier. Es ist auch hier wieder, wie die verhaltensbiologische und die psychologische Forschung bestätigt, die Wechselwirkung von Umweltreiz und Interesse, die an ihrem Berührungspunkt, gestalttherapeutisch gesagt an der Kontaktgrenze, zu Erfahrungen führt, die die Intelligenz steigern und das Wissen vermehren.

■ Die Gestalttherapie sieht neben den biologischen Grundbedürfnissen zwei andere Grundbedürfnisse, die einigermaßen erfüllt sein müssen, damit Menschen überleben und wachsen können:

1. das Bedürfnis nach Sicherheit, das dem Überleben gilt

2. das Bedürfnis nach dem Neuen, das allein in der Umwelt zu finden ist

Der bekannte amerikanische Gestalttherapeut Michael Vincent Miller geht so weit zu sagen, dass Neugier in der Theorie der Gestalttherapie gleichbedeutend sei mit dem, was für die Theorie der Psychoanalyse die Libido ist, also die Grundkraft (»the elemental shaping force«), die das Wachstum und die Entwicklung vorantreiben (M. V. Miller, 1987). In seinen Worten: Der Begriff der »Neugier passt bestens zur phänomenologischen Basis der Gestalttherapie, denn es ist ein ›intentionaler‹ Begriff; d. h. er verbindet Gewahrsein mit Aggression in der Bedeutung, in der Gestalttherapie diese Begriffe benutzt, in dem die subjektive Erfahrung eines Selbst mit anklingt, das seine Sinngebungen und Absichten an die Welt hinaus richtet.« (22, meine Übersetzung, HPD).

Sicherheitsstreben und Neugier müssen sich also die Waage halten (T. Kashdan, Curious?,