Refugees Worldwide 4 -  - E-Book

Refugees Worldwide 4 E-Book

0,0

Beschreibung

Wie die Anfang 2024 publizierte ›Correctiv‹-Recherche unterstrich, werden die polarisierten Debatten zum Thema Migration immer vehementer. Umso wichtiger ist es, mit Geflüchteten in den Dialog zu treten und von ihren Geschichten zu erfahren. Angesichts der Zunahme von politischen Verwerfungen und Extremwetterereignissen ist Flucht allgegenwärtig. Die Anthologie der Reihe Refugees Worldwide versammelt neue Reportagen zum Thema Migration. Zwölf Autorinnen und Autoren bereisten verschiedene Regionen, begegneten Betroffenen und notierten, was sie erfuhren. Ob von der Ukraine, von Russland oder Belarus nach Deutschland und Westeuropa, von den Philippinen nach Malaysia, von Äthiopien nach Uganda oder von Guatemala in die USA – die Geschichten der Geflüchteten lassen den Zustand vieler Länder zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufscheinen. Ein universeller Wunsch zieht sich durch alle Reportagen: der Wunsch der Geflüchteten, in Sicherheit zu leben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 239

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Refugees Worldwide 4

Reportagen

Herausgegeben von Ulrich Schreiber

Verlag Klaus Wagenbach    Berlin

Inhalt

Cover

Titel

Vorwort

Leben in der Vorhölle

Daryll Delgado

Jugendliebe, Sushi und Doppelflucht

Juri Durkot

Der Unerwünschte. Wie sich ein Flüchtling fühlt, dessen Land einen Eroberungskrieg vom Zaun gebrochen hat

Nikolai Kononov

Das Wort im Rucksack

Zmicier Vishniou

Rückkehr und Katastrophe

Girma T. Fantaye

Wenn in deinem Herzen Platz ist, hast du auch in deinem Haus Platz

Goretti Kyomuhendo

Und der Nyiragongo hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen…

Marie Louise Bibish Mumbu

Die Sprache des Klimawandels

Sulaiman Addonia

Das mediterrane Trugbild

Omar Robert Hamilton

Kopflos oder Die Aporie des Exils

Shima Bahremand

Erzähl, warum du in Kanada lebst

Fatimah Abdulghafur Seyyah

Klein Gefahr Still Lauf

Levi Vonk

Biographien

Autor*innen

Übersetzer*innen

Herausgeber

Vorwort

Zum 12. Mal in Folge hat sich die Zahl der Flüchtenden durch Kriege, Gewalt, Verfolgung und Extremwetterverhältnisse erhöht –  so ein UNHCR-Bericht vom Juni 2024. 120 Millionen Menschen sind betroffen, 1,5 Prozent der Weltbevölkerung. 2016, als das Projekt »Refugees Worldwide« begann, das in literarischen Reportagen die Lebenswirklichkeiten von Flüchtenden erfasst, waren es nur rund die Hälfte mit circa 60 Millionen. Gerade angesichts der sich verschärfenden Debatten um das Thema Migration ist die Kommunikation mit den und über die Personen, um die es geht, höchst virulent.

Exemplarisch für die Situation in der Ukraine beschreibt Juri Durkot die zweifache Fluchtbewegung einer Familie von Donezk über Mariupol nach Lemberg zwischen 2014 und dem Beginn des Krieges im Februar 2022. Vor dem Hintergrund seiner Leitung des Verlags Halijafy in Minsk, der erfolglosen Proteste in Belarus 2020 und des Krieges in der Ukraine schildert Zmicier Vishniou die zunehmenden politischen Repressionen. Dieser Krieg und die Einstufung der LGBTQ-Bewegung durch das Oberste Gericht Russlands am 30. November 2023 als extremistische Organisation bewegten den Schriftsteller Denis zur Emigration von Russland nach Deutschland, wie er Nikolai Kononov erzählte.

Girma T. Fantaye schreibt: »Die Angst vor der Hoffnungslosigkeit ist größer als die Angst vor dem Tod« –  und zeichnet im Kontext des politischen Ausnahmezustandes in Äthiopien nach, was die Rückkehr nach Jahren des Exils für eine oppositionelle Stimme bedeuten kann. In Interviews geht Goretti Kyomuhendo den unternehmerischen und ehrenamtlichen Initiativen von drei geflüchteten Frauen aus Burundi und dem Südsudan nach und beschreibt die gastfreundliche Mentalität Ugandas. Dabei erzählt sie die Geschichte Ugandas als drittgrößtes Aufnahmeland von Geflüchteten seit den 1940er Jahren. Marie Louise Bibish Mumbu lenkt den Fokus auf die Kämpfe im Osten ihrer Heimat, der Demokratischen Republik Kongo, und wie sie das Leben der dort ansässigen Bevölkerung bestimmen. Unfassbare 7 Millionen Binnenflüchtlinge werden alleine dort geschätzt –  2,6 Millionen Menschen sind bedingt durch den Klimawandel in der Subsaharazone heimatlos geworden. Sulaiman Addonia skizziert Fluchtbewegungen aus Eritrea, Auswanderung in den Sudan und seine eigene Migration nach Belgien.

Omar Robert Hamilton beschreibt die wirtschaftliche und demographische Lage Kairos sowie die der zahlreichen Ausgewanderten aus dem Sudan, Somalia, Eritrea, Äthiopien und reflektiert die europäische Außenpolitik mit Blick auf den Mittelmeerraum. Daryll Delgado gibt Einblicke in das politische und kulturelle Verhältnis der Philippinen zu Malaysia entlang verschiedener Lebensrealitäten migrierter, staatenloser oder abgeschobener Personen. Fatimah Abdulghafur Seyyah erzählt die Geschichte ihrer Lebensstationen von China über Syrien, Saudi-Arabien, Syrien und die Türkei nach Kanada –  und wie der chinesische Geheimdienst die Uighuren selbst im Ausland verfolgt. Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen von den iranischen Demonstrationen für Frauenrechte 2023 und ihrer Ankunft in Berlin erinnert Shima Bahremand an Taghi Erani. Zuletzt erzählt Levi Vonk von der gefährlichen Route einer Familie aus Guatemala über die mexikanische Grenze in die USA.

Ulrich Schreiber im Juli 2024

Leben in der Vorhölle

Daryll Delgado

Aus dem Englischen von Thomas Brückner

Es ist alles so willkürlich. Andauernd ändern sie die Regeln. Dadurch wird man so angreifbar. Manchmal werde ich richtig wütend. Die Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf das tägliche Leben scheinen sie nicht zu kümmern. Sie liefern nicht einmal Erklärungen. Sie weisen dich einfach ab oder lassen dich warten, solange sie wollen. Die Leute sind für sie keine menschlichen Wesen … Manchmal kann ich gar nicht glauben, was ihnen über die Lippen kommt, wenn sie über Menschen reden wie über Verbrecher, als würden sie ihnen etwas wegnehmen wollen, nur weil sie, einer Formalität wegen, irgendwelche Dokumente nicht besitzen. Sie sagen Sachen wie: »Wir müssen unser Land beschützen, es gehört uns, es ist nicht für die gemacht …« Was meinen sie damit? Wir leben und arbeiten hier, viele wurden hier geboren. Ich kam hier auf die Welt. Migranten leisten ihren Beitrag zur Wirtschaft, übernehmen die Arbeiten, die andere nicht machen wollen. Malaysia braucht Menschen. Sie aber wollen es homogen halten, rein. Sie haben derart altmodische Vorstellungen von Nationalität. Ich bin überzeugt, dass sie wissen, dass es so nicht geht, sie sind nicht dumm, auch wenn sie hauptsächlich daran interessiert sind, welchen Eindruck sie während des Wahlkampfs hinterlassen. Sie sind nicht dumm. Es fehlt ihnen einfach –  ein Herz …

(Ema, 24, Jurastudium, NGO-Mitarbeiterin, staatenlos)

Als das Flugzeug auf dem Internationalen Flughafen Kota Kinabalu (KK), der Hauptstadt des Bundesstaates Sabah1 in Ost-Malaysia landet, ist gerade der Nachmittag angebrochen. Beim Blick aus dem Fenster präsentiert das Meer ein kräftiges Blau, der Himmel ist wolkenlos und die Sonne scheint für einen Tag im Februar außergewöhnlich stark. Ein perfekter Tag für Sabahs Weltklassestrand, zum Tauchen und für Wanderziele. Fast vergisst du, weshalb du hier bist.

In der Ankunftshalle siehst du, dass auch Malaysier durch die Passkontrolle müssen –  Erinnerung an die komplizierte Beziehung zwischen Ost-Malaysia und dem Sabah-Staat, der Halbinsel oder West-Malaysia. Du denkst an Ema und Tausende andere, die sind wie sie, geboren und aufgewachsen in KK, malaysisch bis in die Haarspitzen, aber staatenlos und ohne Papiere aufgrund irgendwelcher Formalitäten –  die Mutter eine nicht erfasste Filipina, nicht amtlich mit ihrem malaysischen Vater verheiratet. Du fragst dich, wie sie durch die Passkontrollen kommen und über so viele andere Hürden hinweg, wie sie sich jedes Mal fühlen, wenn ihre Identität angezweifelt wird. Wohingegen du, Touristin aus dem Ausland, problemlos durch die Kontrolle kommst.

Auf der Fahrt ins Stadtzentrum siehst du, dass entlang der Uferzone, an der es früher nur wenige einheimische Restaurants und Bars gab, dafür aber viel freies Gelände, inzwischen schlohweiße Hotels internationaler Ketten stehen, schicke, hochragende Gebäude mit Eigentumswohnungen und Einkaufszentren, deren Auslagen globale Marken und Waren anpreisen, wie man sie in Großstädten auf der ganzen Welt findet. Nichts an diesen Gebäuden weist darauf hin, dass man sich in Sabah befindet. Sie versperren den Blick auf die Bucht und das leuchtende, warme Farbgewitter des Sonnenuntergangs von Kota Kinabalu, für das dieser Ort so berühmt ist. Die neuen Gebäude werfen lange, dunkle Schatten auf die Stadt. Durchaus symbolträchtig, denkst du, angesichts der zwiespältigen, schizophrenen Haltung des Staates gegenüber Ausländern und Nicht-Einheimischen, von denen einige mit großzügiger Aufmerksamkeit bedacht, andere an den Rand gedrängt und vor den Blicken verborgen werden.

Von deinem Hotel, ein Stück weit von der Uferzone entfernt, siehst du erleichtert die üppig baumbestandenen Hügel, hast einen guten Blick auf die Altstadt und, wenn du nicht so kurzsichtig wärst, auch auf den ikonischen Mount Kinabalu. Zwei Frauen, die Englisch mit deutlichem, fast schon zu deutlichem, malaysischen Akzent sprechen, stehen dir an der Rezeption hilf- und kenntnisreich zur Seite. Du hast den starken Verdacht, dass sie Filipinas sind, aber du fragst nicht nach. Es ist tabu, jemanden als Ausländer oder Migranten zu entlarven, besonders da es sie in eine schwierige Lage bringen könnte.

Du denkst an die Kellnerin im Restaurant in Kuala Lumpur, in dem du gestern das Treffen mit einigen NGO-Mitarbeitern hattest. Sie hatte dich immer wieder angesehen, und deshalb hast du beim Verlassen des Besprechungszimmers Salamat (Danke) in deiner Sprache gesagt. Sofort strahlte sie und stellte sich leise als eine Landsfrau –  kababayan vor. Ihr Gesicht war teilweise hinter einem modischen Pony verborgen, aber du konntest trotzdem ihr schönes Gesicht erkennen, das eher wie das einer Jugendlichen aussah als das einer Collegeabsolventin. Sie sprach und gestikulierte auf eigentümlich arrogante Weise und in ihren Augen lag eine gewisse Ängstlichkeit und Erschöpfung. Walang tulog, kein Schlaf, erklärte sie lächelnd.

Sie fragte, wo du in KL wohnst, und du erklärtest, dass du nur für einen Tag in der Stadt seist, bevor du nach KK und anschließend nach Manila weiterreisen würdest. Überrascht riss sie die Augen auf. Wow, sana all, klagte sie im Scherz, wörtlich: »Wünschte, das könnten alle«, dass alle einfach so zu Besuch nach Malaysia reisen könnten und dann nach Belieben wieder zurück nach Hause auf die Philippinen. Sie war kurz vor Ausbruch der Pandemie nach Kuala Lumpur gekommen. Nachdem sie ihren Abschluss in Personalmanagement gemacht hatte, tat sich die Möglichkeit auf, in Malaysia zu arbeiten. Auf Ratschlag desjenigen, der ihre Reise organisierte und sich um Anstellung und Unterbringung kümmern sollte, reiste sie als Touristin nach Kuala Lumpur. Dann aber brach die Person den Kontakt zu ihr ab. Ich bin geghostet worden, erzählte sie und lachte höhnisch. Sie war nicht sicher, ob man sie absichtlich links liegen gelassen und aufgegeben hatte, oder beispielsweise Covid-19 erlegen war. Er versprach, mir zu helfen, sagte, er hätte Verbindungen … Ich habe jemandem auf den Philippinen, der mit ihm vernetzt war, viel Geld gezahlt. Auch zu ihm konnte ich keinen Kontakt mehr herstellen. Keine Ahnung, in welcher Beziehung sie zueinander stehen. … Mein Pass ist abgelaufen, ich habe immer noch keinen richtigen Arbeitgeber. Während der Pandemie war es besonders schwierig. Keine Papiere, kein Geld, Angst um die Familie in Manila. Konnte nicht rausgehen. Gut, dass ich Freunde gefunden habe, die mir diesen Job vermittelt habben. Wenigstens bin ich nicht eingesperrt und abgeschoben worden. Suerte par in. Ich habe vergleichsweise immer noch Glück gehabt, beschreibt sie ihre Lage.

Du fragst, warum sie nicht einfach wieder zurück nach Hause gefahren ist, jetzt nach der Pandemie, wo die Grenzen wieder offen sind. Sie schüttelt vehement den Kopf, die Ponysträhnen flattern über ihre Stirn. Nein, nein, das geht nicht. Ich muss Geld sparen, um mir einen neuen Pass zu besorgen. Mir hilft jemand, meine Papiere in Ordnung zu bringen. Hab schon eine Anzahlung gemacht. Er meinte, es fehlten nur noch 800 Ringgit2. Die kann ich in zwei Monaten aufbringen, denk ich. Dann muss ich zu Hause Schulden abzahlen, und bei einigen hier, und noch mal sparen für den Flug. … Matagal-tagal pa, bago makauwi. Es wird noch eine Weile dauern, bis ich nach Hause kann, seufzt sie. Und dann fragt sie verlegen: Vielleicht, ähhm, weißt du von anderen Jobs, irgendeiner bezahlten Arbeit, für die du mich empfehlen kannst? Entschuldigung heischend sage ich, dass ich nichts von Jobs wüsste, und dränge sie erneut, in der Botschaft Hilfe zu erfragen. Aber sie sagt: Nein, nein, die schieben mich nur ab. Es geht mir einigermaßen, ich muss nur vorsichtig sein, keinen Verdacht erregen. Ich habe Freunde, die das vor mir probiert haben, versichert sie. Bevor du gehst, steckst du ihr etwas Geld zu, und sie umarmt dich fest.

Aus Unterredungen mit NGOs erfährst du, dass es in Kuala Lumpur eine wachsende Zahl philippinischer Migranten gibt, die nicht nur in Fabriken und auf Plantagen arbeiten, sondern auch im Dienstleistungs- und Pflegebereich. Vermutlich werden Filipinos bevorzugt wegen ihrer Englischkenntnisse. Gewöhnlich werden sie über Schulprogramme oder Praktika ins Land gebracht, arbeiten dann aber für Löhne unterhalb des Minimums in Hotels und Bars inklusive monatlicher Abzüge für die Rekrutierungskosten, zusätzlich zu den Gebühren, die bereits von der Schule erhoben wurden. Man nimmt ihnen die Pässe ab, und sie hausen in überfüllten Räumen, die von ihren Arbeitsvermittlern streng überwacht werden, um sie an der Flucht zu hindern.

*

Ich hatte eine glückliche Kindheit, ein normales Mittelklasse-Zuhause. Ich hatte viele Freundinnen, ging gern zur Schule. Ich vermute, unsere Eltern schirmten uns vor der Wirklichkeit ab, aber vielleicht wussten sie auch selbst nicht, wie schwierig die Lage war. Sie waren irgendwie Freigeister. Dad begegnete Mom in Tawau. Sie arbeitete damals in einem Restaurant oder einem Club, und Dad war in Malaysia auf Geschäftsreise. Vermutlich war es die Persönlichkeit meiner Mom, ihre Vitalität und die Fähigkeit, mit jedem ins Gespräch zu kommen, die meinen Dad zu ihr hinzogen. Sie verfügte nur über wenig formale Bildung, aber sie beherrschte Malay, Chinesisch, Englisch und Filippino, dazu noch ihre Muttersprache. Und sie war mutig. Auch Dad war kein typischer China-Malaysier, eher so eine Art Hippie. Sie verliebten sich, gründeten eine Familie, zogen uns Kinder groß. Als ich zwölf war und mein jüngster Bruder noch sehr klein, verließ uns Mom. Ich weiß nicht warum. Wir wissen nur, dass sie wieder nach Tawi-Tawi auf die Philippinen zog, haben aber den Kontakt zu ihr ganz verloren. Jahre später bekam ich heraus, dass Mom und Dad von Rechts wegen nie verheiratet gewesen waren. Während unsere Geburtsurkunden meinen Dad als Vater auswiesen, wurde Mutter als Filippina aufgeführt, nicht als legale Einwohnerin Malaysias. Kann sein, dass sie die ganze Zeit in diesem irregulären Status in Sabah gelebt hat. Deswegen werden meine Geschwister und ich nicht nur als illegitime Kinder geführt, sondern gleichzeitig auch als Nicht-Malaysier, als staatenlos. Ich erfuhr das alles erst, als ich kurz vor meinemA-Level-Abschluss stand und versuchte, eine nationale ID-Card zu beantragen, die mir zu meinem Entsetzen verweigert wurde. Meine Welt war über Nacht eine andere geworden.

Du gelangst an den Ort deines Treffens in KK, ein kopitiam, ein Café in einem Einkaufszentrum, das traditionell von chinesisch-malaysischen Familien geführt wird. Es befindet sich außerhalb des Stadtzentrums und ist so früh am Nachmittag erstaunlich gut besucht. Man sieht Leute, die eindeutig Stammgäste sind, Bier trinken und Teller mit schmackhaften Speisen vor sich stehen haben. Sie sind bequem in Hauskleidung und Slipper gekleidet. Außerdem sieht man Großfamilien mit Kindern und älteren Menschen an großen runden Tischen, die ein ausgedehntes Mittagessen zu sich nehmen, dazu einige Einzelpersonen, die abseits in einer Ecke ruhig ihren Kaffee oder Tee trinken und Zeitung lesen. In einer solchen Ecke entdeckst du deine gute Freundin L., wie sie allein ihren Kaffee trinkt. L. ist Rechtsanwältin und leitet eine informelle, nicht-registrierte Gruppe freiwilliger Rechtshelfer, die Filipinos und indonesische Wanderarbeiter ohne ausreichende Dokumente dabei unterstützt, für bessere Arbeitsbedingungen einzutreten. Sie umarmt dich fest und entschuldigt sich dafür, dich aus dem Stadtzentrum herausgelotst zu haben, und beteuert, dass sie die Innenstadt absolut nicht ertragen könne. Außerdem verspricht sie, dass dieses Kopitiam viel besseres Essen hat und ausreichend Privatsphäre für freimütige Gespräche über Themen bietet, über die nur wenige Menschen in Sabah offen reden.

Als du ihr erzählst, dass du über Kuala Lumpur fliegen musstest, um hierher zu kommen, zieht sie dich damit auf, dass du zwei teure Flüge genommen hast, statt über das Meer eine direktere Verbindung zu nehmen, von der Südspitze der Philippinen über verschiedene kleinere Grenzübergänge und Kanäle zu den großen Städten wie KK, Sandakan, Semporna, Lahad Daku oder Tawau in Sabah. Diese Routen nutzen viele Filipinos und Sabahans seit Jahrzehnten. Manch einer behauptet sogar, seit Jahrhunderten. Die Grenze ist bis auf den heutigen Tag ziemlich durchlässig. Sogar in den bewachten Häfen bieten sich den Leuten immer Möglichkeiten, ohne die formalen Prozeduren rein und raus zu kommen. Solange man den richtigen Preis bezahlt, berichtet L. Von diesen aktiv benutzten Routen zwischen den Philippinen und Sabah hat sie zehn selbst ausprobiert und aufgezeichnet.

Die Philippinen verbindet eine sehr vielfältige, wenngleich belastete Beziehung mit diesem Teil Malaysias, die von gemeinsamer Kultur und Grenze, territorialen Besitzansprüchen und Migrationsproblemen gekennzeichnet ist. Die Philippinen erheben Anspruch auf Teile Sabahs und haben deshalb kein Konsulat dort eingerichtet, obwohl hier viele philippinische Staatsbürger leben. Auf den Philippinen sagen viele Leute, dass sie und ihre Familien die Grenze seit Generationen überquert haben, um nach Sabah zu gelangen, dort zu arbeiten, Handel zu treiben, ihre Familie zu besuchen, sich niederzulassen, oder einfach so, weil sie es konnten. Viele haben überhaupt keine Vorstellung von den Grenzziehungen und somit Sabah stets als Erweiterung der Heimat beziehungsweise als Heimat selbst angesehen.

Was ist mit den Grenzschließungen? Haben sie die Mobilität der Menschen beeinträchtigt? Während der Pandemie sind Tausende deportiert worden, oder? Das fragst du L. leise, während eine junge Kellnerin dampfendheiße chinesisch-malaysische Gerichte auftischt und kaltes Bier in Becher gießt. L. nickt und erzählt dir, dass sie von den Arbeitern, die sie unterstützt, seit Ausbruch der Pandemie ständig Klagen und Berichte erhalten hat. Sie greift zu ihrem Handy und zeigt dir eine sehr aktive Chatgruppe, die sie den ganzen Tag über beobachtet. Anschließend teilt L. ein Video mit dir, das sich jüngst wie ein Lauffeuer verbreitet hat. Darin sind gravierend unterernährte und sehr kranke Migranten zu sehen, die in überfüllten Gefängniszellen festgehalten werden. Zudem gibt es einige Berichte über Migranten, die auf dem Höhepunkt der Pandemie in Gefangenschaft starben. Die Migranten einkesseln und ins Gefängnis werfen, das war eindeutig Teil der offiziellen Pandemiebekämpfung durch den Staat.

L. erzählt dir, dass sich die grässliche Lage vieler Migranten, vor allem der nach staatlichen Standard »Illegalen«, durch Covid-19 verschlimmert hat. Zu den »Illegalen«- gehören auch jene, die eigentlich Papiere besaßen, durch die Grenzschließung aber ihren Status einbüßten. Sie wurden Zielscheibe von Razzien und Durchsuchungen, die sich während der Pandemie intensivierten. Für viele Arbeiter ohne Papiere wurde die Plantage in gewisser Weise zum sicheren Zufluchtsort, erklärt sie weiter. Allerdings hieß das auch, dass die Arbeiter nun vollständig der Gnade der Plantagen- und Farmbesitzer und der Feldaufseher ausgeliefert waren. Wenn sie Glück haben, treffen sie auf freundliche und verständnisvolle Arbeitgeber. Ansonsten bedeutet ihr Status, dass sie keinen Zugang zu rechtlichem Arbeitsschutz und grundlegenden Dienstleistungen erhalten.

Du denkst an die Arbeiter, denen du vor einigen Wochen im Rahmen eines Projekts begegnet bist, das du gemeinsam mit einigen sehr mutigen einheimischen Journalisten und katholischen Nonnen begleitet hast. Du denkst daran, wie du, ungefähr um Mitternacht, auf dunklen, verlassenen Sandakan-Highways gefahren bist, die auf beiden Seiten von den Umrissen der Palmen begrenzt wurden. Du denkst an die anmutige und stille Sister Anne (Name geändert) am Steuer dieses Toyota-Allraders und an Sister Margaret (Name geändert) daneben, die sie mit Hilfe einer nachlässig gefalteten Karte und einer Taschenlampe dirigierte. Du hast neben deinem Freund, dem Journalisten O. gesessen, sowie neben einem weiteren Wissenschaftler und seiner jungen Frau, zusammengepfercht auf der Rückbank.

Dein Fahrzeug folgte zwei Männern auf einem Motorrad, Plantagenarbeitern, die dieses Treffen mit deiner Gruppe an einem sicheren Ort auf der Plantage organisiert hatten. Die Nonnen machten dies regelmäßig –  besuchten die Arbeiter ohne Papiere und ihre staatenlosen Kinder, brachten Essen und Medikamente und leisteten manchmal Nachhilfestunden für die Kinder. Die Nonnen erlaubten deiner Forschungsgruppe mitzufahren, allerdings nur im Schutz der Dunkelheit, weil sie keine Aufmerksamkeit erregen wollten. Die Razzien und »Aushebungen illegaler Migranten« haben zugenommen. Seit dem erfolglosen Angriff bewaffneter Filipinos wird jeder Person, die man verdächtigt, von den Philippinen zu stammen, erhöhte Feindseligkeit entgegengebracht.

Sister Anne steuerte das Auto scharf nach rechts, vom Highway herunter, und bog auf eine unbefestigte Piste ein, die nur von den Scheinwerfern des Motorrads und des Autos erhellt wurde. Bald darauf konntest du inmitten der dichten, dunklen Plantage einen schwachen Lichtschimmer ausmachen. Sister Anne parkte den Wagen neben dem Motorrad, und deine Gruppe folgte den beiden Männern zu einem behelfsmäßigen Zelt, in dessen Mitte eine funzelnde Glühlampe ungefähr fünfzig Menschen –  Männer, Frauen, Kinder –  beleuchtete, die sich darunter aneinander drängten. Among mag kauban, mag asawa, anak, apo. Unsere Arbeitskollegen, Partner, Kinder, Enkel, erklärte einer der Führer. Dir zuliebe sprach er Bisaya3 und zeigte auf die Gruppe. Angst und Erschöpfung waren ihren Gesichtern eingeschrieben, dennoch freuten sie sich, die Nonnen zu sehen. Nahezu gleichzeitig sprangen die Frauen und Kinder auf und rannten auf die Schwestern zu.

Einige erklärten mit Bestimmtheit: Wir haben auf den Philippinen keine Wurzeln. Dort kennen wir niemanden mehr. Einige Männer erzählten, dass sie Anfang der 1970er Jahre hierhergekommen waren, als sie in jungen Jahren nicht in den Krieg der Separatistenbewegung hineingezogen werden wollten. Samok kaaya, ug lisod, als sehr gewalttätig und schwierig beschrieben sie das Leben, das sie auf den Philippinen hinter sich gelassen hatten. Die Frauen erzählten dir: Diese Kinder wurden wie wir, ihre Eltern, auf der Plantage, unserem Zuhause, geboren. Keiner von ihnen ist je in einem Krankenhaus gewesen. Nur wenige waren jemals in der Innenstadt von Sandakan. Fast alle kannten nur das Leben auf der Plantage. Und allesamt waren sie nicht registriert.

Vor einigen Jahren gelang es ein paar Erntearbeitern, sich im Rahmen eines Amnestieprogramms der Regierung Pässe zu verschaffen. Sie berichteten aber, dass die Geschäftsleitung ihre Pässe eingezogen hätten, damit sie nicht heimlich davonliefen oder flohen. Was ihnen aber nicht klar ist, dass die Arbeiter auch ohne Pass weglaufen, des Überlebens willen, auf der Suche nach besseren und sichereren Möglichkeiten, die es woanders geben könnte, sagte ein Arbeiter. Die meisten verstanden nicht ganz, warum sie gezwungen wurden, sich zu verstecken, warum sie ihre Häuser verlassen mussten. Es ist jetzt alles anders, hatte ihnen ihr mandor gesagt, ihr Aufseher, der ihnen half, sie vor den Behörden schützte und vorübergehend in dem alten Haus unterbrachte, das ihm zugewiesen worden war.

Der Mandor, ein stämmiger Mann durchschnittlicher Größe und von umgänglicher und freundlicher Art, erzählte dir, dass er das tue, weil es schwierig sei, gute Arbeiter für die Plantage zu finden. Die Einheimischen mögen die Arbeit nicht, die diese Leute übernehmen, behauptete er. Diese Leute, sie wollen einfach nur arbeiten, ein einfaches Leben haben, weißt du? Er zog ausgiebig an seiner Zigarette und blies den Rauch in Richtung der Gruppe, die mit den Nonnen etwas besprach. Du fragtest ihn nach den Pässen, und er antwortete, es stimme, dass einige Arbeiter Ausweise hätten. Aber Pässe ohne Arbeitserlaubnis sind nichts wert, sagte er. Selbst wenn ich den Arbeitern ihre Pässe aushändige, und selbst, wenn sie AE haben, ist das keine Garantie, dass RELA4oder die Polizei sie nicht aufgreifen. Deswegen sag ich ihnen, bleibt hier, geht nicht raus, das ist besser für euch. Ich pass auf euch auf. Er schloss das Schubfach auf, in dem er die Pässe der Arbeiter aufbewahrte, und meinte, er hielte sie für den Fall bereit, dass eine Inspektion auftauche und er sie vorzeigen müsse. Manchmal kontrollierten RELA und Einwanderungsbehörde, manchmal nicht. Vielleicht wissen sie einfach nicht, wonach sie suchen sollen, lachte er. Keiner zählt, ob die Anzahl der Pässe mit der Anzahl der Arbeiter auf der Plantage übereinstimmt … oder sieht nach, ob die Pässe abgelaufen sind. Manchmal schmiere ich sie, damit sie nicht zu gründlichkontrollieren. Nicht viel, vielleicht 500 oder 600 Ringgit. Lassen die Razzien nach, können die Arbeiter wieder in ihre Quartiere zurück. Wir weisen ihnen Platz für eigene Häuser zu, weißt du. Sie haben Gärten mit tiefen Brunnen, sie dürfen Tiere halten, können Eidechsen jagen oder auch Schlangen. Das liegt ganz bei ihnen, ist kein Problem. Es sind gute Arbeiter, und wir helfen einander …

Die Nonnen verteilten die Vorräte und erklärten der Gruppe, dass sie nicht lange bleiben könnten. Auch die Arbeiter mussten vor Sonnenaufgang wieder aufstehen, um auf den Feldern zu arbeiten. Vor dem Aufbruch drängten die Arbeiterinnen alle, aus Plastikbechern milchigsüßen Kaffee zu trinken sowie Reiskuchen und Kekse zu essen. Alle versammelten sich am Tisch, die Nonnen wurden gebeten, das Essen zu segnen, und selbst die Muslime beugten den Kopf im Gebet, bevor sie an dem einfachen Festmahl teilnahmen, das die Frauen der Arbeiter so liebevoll vorbereitet hatten.

*

Wieder im Hotel kommt eine Mitarbeiterin vom Empfang zögernd auf dich zu und sagt Kumusta? Enjoy kayo?, und bestätigt damit deine Vermutung. Sie erzählt, dass sie einen guten Arbeitgeber habe und sicher sei, aber eine Menge gezahlt habe, um den Job zu bekommen. Ich habe keine Arbeitserlaubnis, nur den Pass, und es gab vertrauliche Absprachen zwischen meinem Agenten und dem Arbeitgeber. Wegen der Abzüge wird ihr nicht der volle Lohn ausgezahlt, aber sie sagt, dass sie mehr als genug zum Leben bekomme. So viel besser als zuhause, erklärt sie dir.

Bevor du in dein Zimmer gehst, entscheidest du dich für einen Spaziergang auf dem Boulevard, hin zu einer Touristenattraktion, die alle als Filipino Market bezeichnen, ein ironisches Zeugnis der Verbindungen zwischen den zwei Ländern. Es erscheint bemerkenswert, wie offensichtlich philippinische Waren und Produkte gefördert werden und gleichzeitig totgeschwiegen wird, dass Tausende staatenlose, von den Philippinen stammende Menschen ohne Papiere im Land leben. In der Meeresfrüchteabteilung hinter dem Markt entdeckst du einige kleine Jungen, die aussehen, als wären sie noch keine fünfzehn, und vermutlich auch philippinischer Herkunft sind, wie man dir sagt. Du siehst, dass diese Jungen alle möglichen Arbeiten übernehmen, Kisten schleppen, die viel größer als ihre winzigen dunklen Körper sind, mit ihren dünnen sonnenverbrannten Armen Karren schieben. Sind sie mit einer Arbeit fertig, schlüpfen sie an ihre leeren Stände zurück und verstecken sich unter Tischen, um sich vor der unbarmherzigen Sonne zu schützen.

*

Als ich klein war, besaß ich einen malaysischen Pass –  der einzige Beweis, dass dieses Land einmal einen Bürger in mir gesehen hat. Das war in dem Zeitfenster, als wir lediglich unsere Geburtsurkunden vorzeigen mussten, um einen Pass zu bekommen. Dadurch konnten mein Bruder, der nur ein Jahr jünger ist, und ich mit Dad in andere Länder reisen. Mein anderer Bruder aber, der jüngste von uns, ist traurigerweise nie aus dem Land herausgekommen. Als Dad versuchte, ihm einen Pass zu besorgen, hatten sich die Anforderungen bereits geändert. Mein jüngster Bruder konnte keinen Pass mehr bekommen, und unsere ließen sich nicht mehr erneuern. Inzwischen sind meine Brüder 23 und 19 Jahre alt. Ich bin 24. Wir stecken alle in derselben Lage: Wir können das Land nicht verlassen –  jedenfalls nicht auf sicherem, formalem Weg. Wenn wir gehen, kann es passieren, dass wir nie wieder zurückkommen dürfen …

Mr. S., Leiter des Processing Centre for Displaced Persons (PCDP) in Zamboanga, berichtet dir während eurer Unterredung, dass es während der Pandemie zu einer Abschiebungswelle gekommen sei. Zu Anfang war sein Center nicht gut auf die steigenden Abschiebungszahlen vorbereitet, stellte sich aber im Lauf der Zeit auf Häufigkeit und Umfang der Abschiebungen aus Sabah ein. Das PCDP nimmt die Abschiebehäftlinge in Empfang und bearbeitet sie verwaltungstechnisch, bringt sie unter und hilft ihnen, sich in die Gesellschaft zu re-integrieren oder an ihre Herkunftsorte zurückzukehren, zumeist nach Zamboanga, Tawi-Tawi oder Basilan. Nur wenige stammen nicht von der südlichen philippinischen Insel Mindanao. Er berichtet, dass sich die Abschiebungen im zweiten Quartal 2023 reduziert hätten und unbegleitete Minderjährige nicht mehr abgeschoben werden würden, was zuvor der Normalfall gewesen sei. Wir haben ihnen gesagt, dass wir das nicht hinnehmen können –  Kinder sollten bei ihren Familien sein, sollten nicht mit Fremden zusammen in Gefängnissen eingesperrt oder ohne Eltern oder Verwandte nach Zamboanga abgeschoben werden. Wir wissen nicht einmal, ob diese Kinder wirklich Filipinos oder philippinischer Abstammung sind.

Mr. S. erzählt dir weiter, dass das Center im Augenblick niemanden beherberge, weil die Fälle aus der Vorwoche –  ungefähr zweihundert –  allesamt bereits bearbeitet und freigelassen worden seien. Du bemühst dich, nicht zu skeptisch zu klingen, aber musst ihn einfach fragen: Sind tatsächlich alle freigelassen worden? Das heißt, Sie waren in der Lage, alle mit Familien in Verbindung zu bringen oder erfolgreich ihre philippinische Identität undStaatsbürgerschaft festzustellen? Wie steht es um diejenigen, die auf den Philippinen keinerlei Wurzeln oder Beziehungen haben? Er versucht nicht, dir eine einfallslose, einstudierte Antwort zu geben. Und du nickst einfach in unausgesprochener Zustimmung, dass du und er ganz genau wissen, was passiert –  diese Leute finden einfach einen anderen Weg zurück nach Sabah, wo viele, wie ihre Eltern und Großeltern, leben, obwohl sie nicht als legale Einwohner oder Bürger des Landes anerkannt werden. Ja, wir bekommen Leute, deren Nationalität wir nicht ermitteln können. Wir bringen sie dennoch unter und geben ihnen zu essen. Wir bearbeiten ihre Fälle, und anschließend informieren wir die malaysische wie die philippinische Regierung über ihren Status. Es ist schwierig, wir können sie nicht lange hier in Gewahrsam halten. Sie saßen davor schon monatelang im Gefängnis … Außerdem sind unsere Ressourcen begrenzt. Wir müssen das Center räumen und uns auf den nächsten Schwung Abschiebungen vorbereiten. Du nickst erneut, schweigst Verständnis signalisierend und belässt es einfach dabei.

Du fragst Mr. S., ob die Bearbeitung noch so ablaufe, wie du sie vor zehn Jahren kennengelernt hattest. Er bestätigt dir, dass sich nichts geändert habe, dass es im Wesentlichen derselbe Ablauf sei, dieselbe Erfahrung, die die Deportierten durchliefen. Wieder verkneifst du dir die Frage: Was haben Malaysia und die Philippinnen unternommen, dieses jahrzehntealte Problem zu lösen? Du hast den Eindruck, es seien alle dazu verdammt, in diesem abgedroschenen Theaterstück, das einer sich nie ändernden Handlung folgt und stets zum selben Ende führt, die immer selben Rollen zu spielen. Ein teuflischer Kreislauf, so brutal, mura og purgatoryo, als wäre man im Fegefeuer, in einem endlos währenden Muster gefangen. So hat es dir einmal ein Abgeschobener berichtet. Du siehst noch sein Gesicht vor dir, das ausgeblichene grüne Hemd, das er trug, die trockene Haut seiner knochigen Hände, die sich schälte, die lederne Textur seiner braunen Haut. Er lächelte, als er dir das sagte, nicht ironisch. Die Abschiebung war eine Befreiung aus der Haft. Auch das hatte er gesagt, und dass er sich darauf gefreut habe, für einige Tage im Center unterzukommen, bevor er sich auf den Weg zurück nach Sabah machte.