Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Dreiundzwanzig Jahre nach der Arda-Katastrophe erhält die Justizangestellte Fulika den Auftrag, einen geheimnisvollen Gefangenen an einen sicheren Ort zu überführen. Als dieser gewaltsam zum Schweigen gebracht werden soll, beginnt eine unerbittliche Hetz- jagd auf die beiden. Zur gleichen Zeit entfliehen Erin und seine Freunde der Langeweile der menschlichen Exilkolonie auf Sil- dron. Mit einem alten Kentara-Raumjäger brechen sie zu einem abenteuerlichen Trip ins Outer Rim auf. Unerwartete Begegnungen und ein mysteriöses Arte- fakt deuten auf ein größeres galaktisches Intrigen- spiel hin, das sogar den Fortbestand der Konvergenz bedroht. Spannungsgeladen und überraschend führt REFUGIO die Geschichte von REBEARTH fort. Die nächste Ge- neration wird mit dem Kampf gegen Chaos und Dun- kelheit konfrontiert und vor große Aufgaben gestellt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 567
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Jurek Martinsson, Jahrgang 1975, IT-Mensch mit Hang zum Bergsport, Musik, Fotografie und Fachwerkgebastel hatte schon in den 90ern die Idee einen Roman zu schreiben, aber erst im Frühjahr 2017 entstanden die ersten Zeilen zu RebEarth.
Der Auftakt der fünfbändigen Reihe mit dem Titel RebEarth1 - QUARANTÄNE erschien im August 2023 im Selfpublishing, ein Jahr später folgte dann die Fortsetzung RebEarth2 - NEMESIS.
Jurek ist als erfahrener IT-ler im Bereich des Forschungsdatenmanagements an einer großen deutschen Universität beschäftigt. Darüber hinaus setzt er sich auch für Nachhaltigkeit in der Digitalisierung ein.
Die Reihe RebEarth erzählt ihre ganz eigene Geschichte über uns Menschen, eine Fiktion unserer Zukunft, unserer Umwelt und einem möglichen Zusammenhang in unserem Universum. Klassische Dystopie trifft auf Hard-SciFi und liefert eine Erzähung über Generationen hinweg.
BEREITS ERSCHIENEN
QUARANTÄNE NEMESIS
FOLGENDE BÄNDE
TARELLION HARMAGEDON
Vorwort
Prolog
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
DOSSIER: Arda Nova
KAPITEL 4
DOSSIER: Sperrgebiet HALIO-System
KAPITEL 5
DOSSIER: Abkommen von Conosca Prime 235 n.Z.
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
DOSSIER: Vreeja
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
DOSSIER : Verfassung und politische Organisation der Konvergenz
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
Epilog
Glossar
Dramatis Personae
Orte
Zeiten
Ich begrüße euch wieder zurück in der Welt von Reb-Earth und freue mich, dass ihr an der Fortführung der Geschichte interessiert seid, nachdem ich am Ende des Vorgängerbandes die Erde zerstört und die Hauptpersonen habe sterben lassen.
Vor euch liegt die Erzählung, wie es mit der Menschheit im Kontext der galaktischen Vereinigung der Konvergenz weitergeht. 23 Jahre nach der großen Katastrophe verbleibt die Menschheit auf einem fremden Planeten im Zwiespalt zwischen dem Trauma des Exodus und den neuen Möglichkeiten, jetzt als Teil einer größeren Familie zu existieren.
Viele grundlegende Probleme der Menschen sind gelöst, aber eine heile Welt bedeutet es noch lange nicht.
Eine neugierige und frustrierte Jugend begehrt gegen das Schweigen ihrer Elterngeneration auf. Eine Jugend, die fast alles hat. Bis auf die Wahrheit. Dieses Buch begibt sich auf die Suche nach den Wahrheiten.
Mein großer Dank geht diesmal auch ganz besonders an Till, der mir wirklich viel, viel beim Überarbeiten und Korrigieren dieses Buches geholfen hat, und das aus freien Stücken und der richtigen Portion Neugier :-) Ebenso vielen Dank auch an Florian, einen alten Freund aus der alten Heimat, der mich bei den Korrekturen unterstützt hat.
Und natürlich nicht meine kleine Schwester zu vergessen, die mir auch immer wieder bei Passagen geholfen hat, den richtigen oder besseren Ton zu finden.
Ich danke auch allen, die mich mit ihrem positiven Feedback zum Einstieg der Reihe RebEarth in den Vorgänger-Bänden weiter darin bestärkt haben, dieses Projekt weiter voranzubringen. Und natürlich auch der immer geduldigen Ehefrau an meiner Seite ;-)
Die Welten haben sich weiter gedreht und wir werden zusammen einen neuen Blick auf die Ereignisse bekommen. Drehten sich die Bücher ›Quarantäne‹ und ›Nemesis‹ noch hauptsächlich um die Erde und um Aidas Schicksal, werden wir nun mit ›Refugio‹ mehr über das Große Ganze dahinter blicken. Es wird spannungsgeladen weitergehen und einige Geheimnisse aufdecken, die vorher noch im Dunkeln lagen.
Viel Spaß und viel Freude beim Lesen!
JUREK MARTINSSON, APRIL 2025
Ein warmer Frühlingswind raschelte durch die Bäume und das hohe Gras wogte in Wellen über die sattgrünen Bergwiesen. Wolken zogen schnell über den Himmel und zauberten ein wundervolles Lichtspiel auf den klaren blaugrünen See inmitten des malerischen Hochtales.
Die steilen Wände aus Fels und Eis rund um das Tal erstrahlten im hellen Sonnenlicht. Der Frühling hatte begonnen und die Natur erblühte mit aller Kraft. Die Wiesen schienen vor Blüten fast zu explodieren.
Insekten summten allerorts einher und kündeten vom lang ersehnten Ende des harten Winters. Oben auf den Spitzen der Berge und nicht weit hinter dem alten Haus lag noch der letzte Schnee. Er war Fluch und Segen zugleich, aber die erdrückende weiße Macht würde genug frisches und sauberes Wasser für den kommenden Sommer liefern.
Am Ufer des Sees spielte ein kleines Mädchen mit einem viel zu großen Strohhut und freute sich über das Plätschern und Glucksen der niedrigen Wellen an den niedrigen Uferrand. Sie wusste, es war jetzt noch zu kalt um endlich schwimmen zu können, aber bald würde es so weit sein.
Das alte Haus thronte auf einer kleinen Anhöhe oberhalb des Sees, eine ehemalige Berghütte die Jahrzehnte zuvor noch als Unterschlupf für Wandertouristen in der Gegend gedient hatte.
Eine Frau trat in die Sonne vor das Haus und blickte zufrieden in den Himmel. Ein Mann mit blondem langen Zopf erschien und nahm sie zärtlich von hinten in die Arme. Er streichelte ihr über den Bauch und roch an ihren dunklen, zerzausten Haaren. Sie musste lächeln und beugte ihren Kopf nach hinten und schmiegte sich an ihn.
Dann erregte etwas seine Aufmerksamkeit und er flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees erschienen einige Gestalten, die von dem bewaldeten Sattel herunterstiegen. Man erkannte, wie einige von ihnen herüberwinkten. Die Frau nahm ein altes Fernglas, dass neben ihr auf der Fensterbank stand und blickte hindurch.
»Schau mal. Salvatore hat wieder ein paar Leute mitgebracht.«
Er brummte misstrauisch. Sie musste schmunzeln und gab ihm das Fernglas in die Hand.
»Keine Angst Jakov, Salva hat das schon im Griff. Ich vertraue ihm.«
»Du hast recht. Aber mein Misstrauen gegenüber Fremden bleibt einfach. Die letzten Jahre haben immer wieder gezeigt, dass es auch anders laufen kann. Du weisst, es ist nicht unbegründet.«
Sie nickte ihm zu und lächelte ihn an. Dann zog etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich und sie blickte hinauf zum Himmel.
Sorgenfalten bildeten sich auf ihrer Stirn, als sie das Schauspiel über sich betrachtete.
»Schau mal hoch, es geht bald wieder los.«
Wirre Muster zogen über den mittlerweile tiefblauen Himmel und grüne Flammen schienen wie Polarlichter am hellen Tag darüber zu wabern. Sie erweckten den Eindruck, als würden sie an ein unsichtbares Gitter in großer Höhe stoßen.
Sie rief zu ihrer Tochter hinunter.
»Schatz, komm bitte rein. Es geht wieder los.«
Das kleine Mädchen blickte kurz nach oben und drehte sich dann mit trotzigem Gesicht zu ihr um, stampfte mit einem Fuß dabei auf.
»Ach Mama...«
»Beeil dich! Wir bekommen gleich Besuch.«
Die kleine warf einen Stein ins Wasser und trottete dann den schmalen Pfad vom Ufer herauf zum Haus und zog sich die Krempe des Strohhutes über die Ohren hinunter.
Ihr Vater winkte der Gruppe auf der anderen Seite mit seinen langen Armen zu und gestikulierte, sie sollten sich beeilen. Die Gruppe blickte zum Himmel und beschleunigte darauf hin ihre Schritte, soweit es der holprige Pfad ihnen möglich machte.
»Ist das erste Mal diese Woche. Mir kommt es so vor, als würde es dieses Frühjahr schwächer werden.«
Sie ging in die Hocke, um ihre Tochter in die Arme zu nehmen.
»Hmm, du könntest recht haben. Es wird immer seltener. Na ja, Hauptsache die Ernte kommt dieses Jahr endlich mal komplett durch.« seufzte Jakov.
Das Mädchen sprang ihrer Mutter in die Arme und verlor dabei ihren großen Hut.
»Komm, gehen wir rein. Unsere Gäste sind sicher sehr erschöpft. Machen wir ihnen einen Tee.«
Die kleine schaute sie mit großen Augen an.
»Und wenn die Leute wieder böse sind, Mama? Was machen wir dann?«
Sie schaute hoch zu ihrem Vater, der sie zuversichtlich anblickte. Er beugte sich zu ihr herunter und sagte mit warmer Stimme.
»Alles wird gut, mein Schatz. Niemand der böse ist, wird jemals wieder hier herauf kommen. Wir passen auf dich auf und Salvatore und alle unten aus dem Dorf passen auf uns auf. Du brauchst keine Angst mehr zu haben.«
Die Mutter nahm ihr Kind hoch und schaute ihren Mann an. Er küsste beide auf die Stirn und legte seine Arme um sie.
Sie warteten noch einen Moment bis ihr Besuch um die letzte Kurve am Seeufer bog, als die ersten Blitze vom Himmel zuckten.
Ein unwirkliches Gewitter drohte jetzt in Grün und Violett. Ohne Wolken und ohne Regen zog es herauf und sie wussten, dass nun keine gute Zeit heranbrach, um ungeschützt unter freiem Himmel zu verweilen.
Das Mädchen wurde wieder auf den Boden gestellt und ihre Mutter zog ihr den Hut auf.
»Los kleine Lady, geh rein und setz eine große Kanne auf.«
Die Kleine hielt den Hut fest mit der weit heruntergezogenen Krempe und hopste fröhlich ins Haus.
Die Mutter schaute ihren Mann an und bedachte ihn mit einem liebevollen Blick.
»Vielleicht ist wieder ein Arzt dabei. Oder jemand der sich besser mit Landwirtschaft auskennt, wer weiß? Das Dorf wächst und wächst.«
Ein kleiner Junge kam auf sie zugerannt, dem die Gruppe wohl zu langsam vorwärtskam.
»Hey, Luca, wie wars im Dorf? Wen habt ihr da mitgebracht?«, rief sie ihm entgegen.
Außer Atem aber aufgeregt berichtete er sofort:
»Mama Zlato, die Leute haben Kühe mitgebracht, acht- undzwölfzig Kühe! Und die sprechen voll lustig. Onkel Salva sagt, die kommen ganz weit aus dem Norden.«
Sie lachte laut und strich ihm über den Kopf.
»Geh schonmal rein, Jeka macht Tee für alle.«
Der Junge rannte ins Haus und begrüßte seine Freundin lautstark.
»Naja, Kühe, das ist doch mal was.«
Sie wurde etwas ernster als sie leise fortfuhr.
»Wieder ein wenig Hoffnung, Jakov.«
Der erste Besucher trat den Pfad zur Hütte hinauf und beugte sein Haupt ehrfurchtsvoll. Er schien sich nicht zu trauen, näherzutreten und wartete in demütiger Haltung ab, was nun geschehen würde.
Jakov flüsterte ihr etwas zu, als sie sich beschämt abwenden wollte.
»Sei nicht ablehnend, die Leute brauchen das. Glaub mir, das bedeutet auch Hoffnung.«
Sie nickte und winkte lächelnd dem Fremden zu und bat ihn näher zu treten.
»Diese Rolle gefällt mir nicht. Es ist schlimm genug, dass mich die Leute als Mutter eines Ziegenbocks bezeichnen.«, flüsterte sie zurück zu Jakov
Der alte Mann kam näher und beugte wieder sein Haupt vor ihr nieder und sprach.
»Werte Mutter, Mama Zlato, Herrin des Tals, ich begebe mich in Eure Obhut und schwöre euch meine Treue.«
Sie nickte, strich ihm über den grauen Schopf und winkte den Rest der Gruppe herbei, die indessen auch vor der Hütte angekommen war.
Hinter ihr pfiff der Kessel und sie lachte ermunternd auf, bevor sie die Neuankömmlinge in ihr Haus bat.
»Kommt rein, es wartet Tee auf euch und ich will dringend eure Geschichten aus der weiten Welt hören.«
2F69, Ihre Autorisierung für diesen Sektor wurde vom Obersten Rat der Justiz bestätigt. Die Sperrsysteme werden für Ihren zugewiesenen Anflugkorridor freigegeben.«
SubCommander Fulika Likuni ging noch einmal aufmerksam die Anflugdaten durch. Der Kurs zu ihrem Ziel war streng vorgegeben, um die nötigen Sicherheitsprotokolle einzuhalten.
Sie selbst hatte kaum genügend Informationen über diesen Ort erhalten, denn ihre Missionsbeschreibung wurde erst vor einigen Tagen vervollständigt, als ihr kleines Schiff das letzte Sprungtor im Bereich der Randwelten von Gosemmi passieren durfte.
Chogoni, ein spärlich leuchtendes Doppelsternsystem, lag über 300 Lys entfernt von Taru, im Grenzbereich eines weitläufigen militärischen Sperrgebietes am Rande des erforschten Teiles der Galaxis.
Der zum System gehörende Eismond Chogon-5b beherbergte das am schwersten bewachte Hochsicherheitsgefängnis der Konvergenz. Die Gerüchte besagten, dass man nicht nur froh um die Distanz zu den Gefangenen war, sondern auch die Wächter von besonderem Schlage seien.
Fulika war jedenfalls froh, nicht im Zuge einer Strafversetzung hierher unterwegs zu sein. Immerhin das... sie hatte das vollständige Dossier ihres Klienten erst vor ein paar Stunden lesen dürfen und der Schreck über dessen Inhalt steckte ihr noch immer in den Knochen. Es handelte sich um einen Gefangenen, den es eigentlich nicht geben durfte.
»SubCo, wir können nun in den oberen Orbit einschwenken. Das Bodenkommando hat uns die Freigabe für den ersten Sicherheitsscan gegeben.«
»Danke Nomiro, stabilisieren Sie den Orbit und öffnen Sie alle Kanäle für den Vorabscan.«
Die Schiffssysteme wurden indessen von der Bodenkontrolle übernommen und ferngesteuert, man konnte auf allen Screens das Prüfprotokoll durchlaufen sehen.
Die Justizbeamte wandte sich ihrem Assistenten Nomiro zu, einem jungen Anwärter im Justizdienst der Konvergenz auf seiner ersten Auswärtsmission.
Er war ein totaler Neuling im Außendienst, aber einer von der pfiffigen Sorte. Sie beneidete ihn manchmal um seine jugendliche Naivität.
Die Annäherungskontrolle meldete ein Shuttle von der Oberfläche. Ferngesteuert rotierte ihr Schiff auf die Seite, sodass die Andockluke in der Flugrichtung des Shuttles lag.
»Kommen Sie, junger Mann. Es wartet Arbeit auf uns.«
Er versuchte, sich respektvoll das Grinsen zu verkneifen, was ihm allerdings nicht wirklich gelang. Die Durchsuchung des Schiffes und die Überprüfung der Identität der beiden einzigen Besatzungsmitglieder schien sich ewig hinzuziehen. Hier, am Rande der Welt, hatte man einfach Zeit. Viel Zeit.
Eine gefühlte Ewigkeit später glitten sie endlich an Bord des Shuttles über schier unendliche Eisflächen eines Mondes, der vor seiner Bestimmung als Gefängnis vermutlich niemals ein Quäntchen Leben beherbergt hatte und auch relativ deutlich zeigte, dass er die Anwesenheit von Leben auch als persönliche Beleidigung empfand. Immer wieder tauchte das Shuttle durch wilde Stürme, die kopfgroße Eisbrocken gegen die Schutzschilde schleuderten.
»Herzlich willkommen auf Chogon 5B!«, scherzte einer der Wachsoldaten, als das Shuttle von einem besonders starken Treffer merklich aus der Spur geriet.
Fulika blickte ihn nur ausdruckslos an und dachte sich ihren Teil dazu.
So hatte damals die letzte Mission ihres vorherigen Jobs begonnen. Im Sturm über Hekon, dieser verfluchten Welt im Grenzgebiet zu den Zenketi.
Zuerst hatten alle noch gescherzt.
Als Eliteeinheit des Flottengeheimdienstes gab man sich doch nicht die Blöße, bei dem bisschen Gerüttel schon klein beizugeben. Das Schiff zerbarst jedoch in Fetzen, als es der Sturm gegen die vereisten Spitzen eines Vulkanrandes schleuderte.
Fulika durchschauerte die Erinnerung daran.
Sie hasste Eis. Seitdem hasste sie es mehr als alles andere. Kälte und Eis. Sie konnte sich nicht vorstellen, hier auf Chogon-5b ihr Leben fristen zu müssen. Lieber würde sie sterben.
Nun kam sie als Bewährungsprüferin des obersten juristischen Rates hierher, in einem Job, den sie in den letzten zwei Jahren als angenehm langweilig empfunden hatte.
Und jetzt das.
Sei‘s drum.
Fulika seufzte, vielleicht etwas zu laut, sodass Nomiro zu ihr herüberschaute und erblickte mit Freude die ersten Positionslichter der Landezone durchs Fenster.
»Na endlich... wurde ja auch Zeit«, brummte sie vor sich hin.
Eine halbe Stunde später saßen sie mit dampfenden Tassen Kolak-Tee in einem großen, warmen Büro, das mitsamt Kaminfeuer, Bibliothek und Massen von Einrichtungsgegenständen, deren Sinn sich ihnen beiden verschloss, wie aus einer anderen Welt wirkte.
Ein äußerst sonderbarer Stilmix aus verschiedenen Welten, der hier aufeinandertraf, als ob Zweckmäßigkeit und Kitsch einen heißen Kampf gegeneinander führten. Während Fulika und ihr Assistent sich noch verwundert umblickten, betrat der Hausherr in Person des Direktors den Raum und begrüßte die beiden herzlichst.
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie warten ließ. Man glaubt es kaum, aber hier gibt es tatsächlich eine Menge zu tun und ich sehe immer gerne selbst nach dem Rechten.«
Fulika stand auf und verbeugte sich leicht.
»Ehrenwerter Judikator Ungalassey, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und dass Sie Ihre kostbare Zeit mit uns teilen, meinen Dank.«
Nomiro tat es ihr nach und senkte den Blick noch ein wenig devoter als nötig.
»Ach neinneinein«, winkte der Direktor ab.
»Meine Ehre, lassen Sie bitte den Titel Judikator weg! Tatsächlich wurde ich als Edukator mit der Aufgabe der Leitung hier beehrt, ich möchte mich da nicht mit fremden Ösung schmücken. Ich kam einst tatsächlich als Lehrer hierher, verrückt nicht war? Setzen wir uns doch! Ich freue mich darauf, bei einer Tasse Kolak mehr über Sie und Ihre Aufgabe zu erfahren. Schließlich sind Sie ja nicht hier, um Ferien zu machen, oder?«
Er lachte laut auf und seine beiden Gäste setzten sich, wie ihnen geheißen wurde.
Fulika erzählte ein wenig belanglose Dinge von sich selbst und ihrem Job als Bewährungsprüferin, leitete dann aber auch geschickt zum beruflichen Werdegang ihres Assistenten über. Sie hob hervor, wie Nomiro als Jahrgangsbester schon beachtliche Fähigkeiten zeigte und sein Interesse zeigte, später vielleicht ebenfalls als Sonderermittler zu arbeiten.
Nomiro merkte man an, dass ihm dies sichtlich unangenehm war, aber er lächelte stets und bestätigte die Erzählungen seiner Mentorin. Der Direktor war sehr interessiert daran, überraschte sie aber dann mitten in ihren Erzählungen mit einer direkten Frage.
»Und was führt Sie nun hierher?«
Er beugte sich in seinem Sessel vor und schaute Fulika auffordernd an.
Fulika blickte ihm einen Moment lang direkt in die Augen. Er war ein harter Kerl unter seiner jovialen, väterlichen Schale. Aber sie wartete diesen kleinen, winzigen Moment ab, bis sie bei ihm eine Verunsicherung verspüren konnte.
»Gefangener Y45-16-99.«
Der Direktor zuckte leicht zusammen.
»Bitte... wer?!«
»Sie haben richtig gehört, Direktor. Gefangener Y45-16-99. Ich habe die Autorisierung für ein Bewährungsgespräch mit ihm. Direkt vom obersten Justizrat.«
Der Direktor zeigte sich fassungslos und rutschte in seinem Sessel wieder zurück.
»Ihnen ist schon klar, um wen es sich dabei handelt oder? Wie stellt sich denn der Rat eine Bewährung vor?«
Er prustete leicht, um damit eindeutig seine Verachtung auszudrücken und fuhr fort:
»Bewährung... so was hatten wir hier noch nie. Der Gefangene sitzt hier seit 25 Zyklen, ohne dass jemand seine wahre Identität kennt. Wer interessiert sich denn auf einmal für so jemanden?«
»Direktor...«
Er hob die Stimme und wirkte sichtlich ungehaltener als noch zuvor:
»Bewährung ist hier ein Fremdwort. Dieser Ort ist für eine Welt OHNE Bewährung bestimmt. Von hier gibt es keine Rückkehr. Das wissen Sie genauso gut wie ich.«
»Direktor... bitte...«
»Nein, schon gut«, wiegelte er ab und fuhr wieder etwas freundlicher fort.
»Sie haben recht, das haben weder Sie noch ich zu entscheiden...«
Ja, genau, das wollte sie auch gerade zu ihm sagen... das hatten wohl andere schon für sie entschieden. Fulika stand auf.
»Herr Direktor, ich möchte nicht respektlos erscheinen, aber ja, Sie haben recht. Es liegt nicht in unserer Macht. Wir verrichten nur die Dienste, die uns aufgetragen wurden. Zum Wohle der Gemeinschaft und zum Wohle aller, zu deren Schutz wir befohlen wurden.«
Nomiro und der Direktor schauten sie etwas verwundert an. Fulika reagierte prompt.
»Verzeihen Sie die Wortwahl Direktor, aber als Kind einer ganzen Dynastie von Protektoren bekommt man so manches mit auf den Weg.«, erklärte sie lächelnd
Der Direktor erhob sich ebenfalls.
»Nun gut, ich habe vor Ihrer Ankunft den sehr knappen Zeitplan studiert, vermutlich möchten Sie mit der ersten Anhörung möglichst zügig beginnen?«
»In der Tat. Wann könnten wir anfangen?«
Der Direktor schritt zu seinem Schreibtisch und aktivierte die Com.
»Herr Direktor?«, tönte eine Stimme aus dem Gerät.
»Der Gefangene aus dem Omega-Trakt, Zelle O23, mit schwerer Bewachung zum Verhörraum 8.«
»Herr Direktor? Aus O23?«
»Ja, Sie haben richtig gehört! Bringen Sie Y45-16-99 in den Verhörraum. Wir haben Besuch für ihn. Und lassen Sie unseren Gästen die interne Klientenakte zukommen.«
Nomiro sah verwundert hinüber zu Fulika. Sie schaute ihn kurz an und lächelte. An den Direktor gewandt sprach sie:
»Vielen Dank für Ihre Kooperation, Herr Direktor. Ich denke, es reicht uns, wenn er in einer halben Stunde in den Raum gebracht werden kann. Komm Nomiro, wir sollten noch die Akten ein letztes Mal durchgehen, bevor wir uns mit dem wirklich spannenden Teil unseres Jobs beschäftigen.«
*
SubCommander Fulika saß schon am großen Tisch im rundum verspiegelten Verhörraum.
Diesen Raum kannte der Gefangene nur allzu gut, aus seinen ersten Wochen und Monaten hier an dem ihm unbekannten Ort.
Er hatte tatsächlich Angst wie schon seit Langem nicht mehr. Irgendetwas würde anders sein als sonst.
Die Frau in Ihrer strengen, hochgeschlossenen Uniform stand kurz auf und begrüßte ihn mit einer reservierten, professionellen Freundlichkeit in Ihren Worten.
»Setzen Sie sich, Gefangener Y45-16-99. Wir haben heute etwas besonderes für Sie im Programm. Ich bitte die Audienz außerhalb dieses Raumes, alle Beteiligten unterhalb der Sicherheitsstufe 7 zu entfernen. Und schicken Sie bitte meinen Assistenten herein.«
Eine Lautsprecherstimme ertönte und bestätigte.
»Ja, SubCommander, einen Moment bitte«
Fulika schaute den Gefangenen durchdringend an, der dabei sichtlich nervöser wurde.
Der Moment zog sich unerträglich lang hin und löste sich erst in dem Augenblick auf, als der Assistent endlich den Raum betrat und sich wortlos neben Fulika setzte.
Er reichte ihr ein Tablet herüber und sie schaute kurz darüber und murmelte halblaut vor sich hin.
»Aha... Anfangs erheblicher mentaler Widerstand und keinerlei Einsicht zu erkennen... Wutausbrüche... Angriffe aufs Wachpersonal... wahnhafte Vorstellungen... das hat alles zur strengen Isolationshaft geführt. Kein Kontakt zu Mitgefangenen, nur wenige Kontakte zum Personal... Nachrichtensperre.«
Sie ließ eine kurze Pause entstehen, in der sie schnell etwas in den vorliegenden Akten auf dem Tisch blätterte.
»Mmmh.«
Dann las Fulika weiter.
»Ah ja, dann wurde es wohl richtig schlimm, als man Ihnen die Nachricht von der Zerstörung der Erde überbrachte. Zuerst die totale Leugnung, wieder ein schwerer Übergriff auf einen Wachhabenden... dann tiefe Resignation... Verzweiflung...«
Sie legte das Tab beiseite und blickte ihn wieder direkt an.
»Gefangener Y45-16-99, ich habe ihr Dossier erst kurz vor meiner Ankunft erhalten und meinen Assistenten hier soeben davon unterrichtet, wen genau wir hier vor uns haben. Wirklich interessant. Das war mal eine beachtliche Karriere, die Sie da hingelegt haben.«
Der alte Mann seufzte und antwortete ihr erschöpft und resigniert.
»Haben wir die ganzen Geschichten nicht in zahllosen Verhören immer wieder und wieder durchgekaut?«
»Nun, unsere Vorgesetzten glauben daran, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt von Ihnen abermals eine Zusammenfassung hören möchten. Die Überlebenden von Arda möchten Aufklärung über die damaligen Vorfälle haben und nach fast 25 Zyklen endlich einen Schlussstrich unter dieses schreckliche Kapitel ziehen. Sie wissen schon, Aufarbeitung und so weiter.«
Voller Überraschung blickte er die beiden gegenübersitzenden Offiziere an und stammelte:
»Überlebende? Wer soll denn das überlebt haben?«
Dann, nach einem Moment des Nachdenkens, nahm sein Blick etwas schreckerfülltes an.
»Wissen die, dass ich hier bin? Wissen die, dass ich...?«, fragte er panisch.
»Nein. Bisher nicht. Aber wir stehen kurz vor der Veröffentlichung der Geheimakten über die damaligen Vorfälle. Daher bleibt uns leider nicht viel Zeit.«
»Ich... ich... was kann ich... tun?«, stammelte er.
Fulika zögerte kurz, schaute Nomiro an, nickte und fuhr an den Gefangenen gewandt fort.
»Gut, fangen wir an. Fangen wir ganz von vorn an. Am besten mit der Geschichte, wie sie als Commander in der Exploratorentruppe gedient haben. Wir möchten von Ihnen alles über Ihre damalige Mission auf Arda hören. Und vor allem, wie sie auf die verdammte Idee gekommen sind, den Erdwiderstand zu unterstützen, Gefangener Kovon.«
...fanden heute wieder große Demonstrationen vor dem Regierungssitz von Arda Nova statt. Zahlreiche studentische Initiativen demonstrierten wiederholt für die Öffnung der Exodus-Akten und pochten auf die Freigabe von Informationen über die Vorfälle vom März 2083. Sie kritisieren weiterhin die Schweigsamkeit ihrer Elterngeneration und verlangen eine Aufarbeitung der jüngeren Menschheitsgeschichte. Mit Verweis auf die Wahrung des gesellschaftlichen Friedens versuchte der Innensenator zu beschwichtigen, aber...«
ARDnet/KONNET-News, Vykoian-City, Arda Nova,
4.7.2.250nZ / 28.2.2106AD
Erin blickte über die weite Ebene der Wüste, während sein Gleiter auf der markierten Spur nur wenige Handbreit über den Sand jagte. Eine sanfte Kurve bog um ein Geröllfeld und zu seiner Linken geriet die mächtige Bergkette des Djab-Tiluani in sein Sichtfeld. Schon konnte man am Fuße die glitzernden Dächer der kleinen Stadt Ararat erkennen und er wusste, in weniger als einer Stunde würde er wieder daheim sein.
Daheim in der kleinen, öden, spießigen Vorgebirgssiedlung, eingequetscht zwischen einem künstlich bewässerten Grüngürtel und einer Wüste, die außer tausenden von Kilometern Geröll nichts zu bieten hatte.
Er seufzte und betätigte seine Helm-Com.
Es dauerte einen Moment, bis er die Stimme seines Freundes Paul hörte.
»Hey Erin, immer noch unterwegs zum Steine putzen? Oder hat dich Doc Mudri nach Hause geschickt?«
»Nay, ich hab’ mich aus dem Staub gemacht. Zwei Monate Wüste reichen mir.«
»Haha, ja, das kann man wohl laut sagen, ich beneide dich kein bisschen darum.«
»Mhh. Treffen wir uns nachher?«
»Ja, die anderen sind drüben in Vykoian-City bei Piori.«
Erin wurde neugierig.
»Die neue Studienkollegin von Vika?«
»Ja, genau! Du musst sie unbedingt kennenlernen. Ziemlich schüchtern, aber saunett. Ich bin schon fast da, lass uns am TransTube treffen, okay?«
Erin überlegte kurz.
»Ich weiß, das klingt blöd, aber... ich muss erst mal mit Mum reden...«
»Hmm... ja, versteh’ ich... aber warte... ich glaub, sie ist heute Mittag zu irgendeiner Konferenz abgeflogen. Sie hat sich mit meinem Dad draußen auf der Straße noch darüber unterhalten. Ich glaube irgendwie Richtung Deneb, könnte also länger dauern. «
›Na super.‹
»Ok, ich dank dir Paul, dann warte einfach kurz auf mich. Ich mach’ mich daheim ein wenig frisch und wir treffen uns in VC, okay?«
»Ja, alles klar, dann bis nachher, rutsch vorsichtig.«
Mum war also schon wieder unterwegs... na kein Wunder, dass sie so wenig von Erins Leben mitbekam, wenn sie andauernd durch die Galaxie jetten muss.
Einige Abzweigungen später bog er in die Zufahrt nach Ararat ein, einem kleinen, verschlafenen Örtchen am Rande der Berge.
Die Einwohner arbeiteten größtenteils entweder in der Landwirtschaft oder fünfzehn Kilometer entfernt in der Hauptstadt der planetaren Kolonie.
Erin fuhr gelangweilt durch die Straßen.
Trotz der lokalen Klimatisierung war es heute unerträglich heiß und kaum jemand ließ sich vor der Tür blicken.
Oben in den Hügeln konnte er beobachten wie sich die Erntemaschinen durch die üppigen Felder nagten. Der Schnee war bis fast unter den Rand der gewaltigen Felswände geschmolzen und unterhalb der großen Scharte schoss in hohem Bogen ein Wasserstrahl hinaus, der einen ständigen Regenschauer über den Feldern im Westen der Stadt niedergehen ließ.
Erin erinnerte sich an ihre gemeinsame Klettertour vor vielen Jahren, als er und seine Freunde die Wände am Wasserfall vorbei bis hoch über den großen Stausee durchgestiegen sind.
Was für eine geile Tour!
Sie wären fast dabei draufgegangen und der Ärger nachher daheim war vom Feinsten gewesen.
Erin musste grinsen, als er daran zurückdachte.
Er stellte den Gleiter in der Einfahrt ab und ging ins Haus um sich etwas frisch zu machen und noch ein paar Dinge zu holen.
Vykoian-City, das die meisten nur mit VC abkürzten, war mit seiner rund einer halben Million Einwohner die größte Stadt auf Arda Nova.
Damit war VC auch die größte menschliche Siedlung überhaupt im bekannten Universum und das kulturelle Zentrum dessen, was von der Menschheit nach der Arda-Katastrophe noch übrig geblieben war.
Vor der gigantischen Bergkulisse des Djab Tiluani-Gebirges zog sich die Stadt vom Ausläufer des Gletschers, in einer Lücke zwischen den schier unendlich hohen Felswänden, bis hinunter in die Senke vor das Gebirge.
Große Teile der Stadt lagen im Canyon vor dem Gebirge und wurden von mehreren riesigen Glaskuppeln überspannt.
Am Boden der großen Schlucht mäanderte ein fjordartiger See, der von einer grünen Pracht umgeben war.
Erin konnte sich noch an die Zeit als kleines Kind erinnern, als hier noch die riesigen Baumaschinen zwischen Zelten, Hüttenlagern und Containern die ersten Gebäude und Schutzanlagen gegen die sengende Sonne errichtet hatten.
Die Stadt war schon früh nach dem legendären Commander Vykoian benannt worden.
Dem Retter und Helden zu Ehren, der damals, vor über zwanzig Jahren in einer beispiellosen Evakuierungsmission die letzten Menschen von der verbrennenden Erde evakuiert hatte.
Kein anderer Name wäre damals dem gerecht geworden. Nach der verheerenden Katastrophe herrschte zu viel Betroffenheit, zu viel Argwohn gegenüber allem, was die kleine, neue Gemeinschaft der Menschen irgendwie wieder hätte spalten können.
*
Ein paar Stunden später saß Erin frisch geduscht und mit sauberen Klamotten in der Kabine des TransTube.
Durch die gläsernen Wände der Röhre sah er die Stadt an sich vorbeiziehen.
Um ihn herum saß eine lärmende Schulklasse, die auf dem Weg in die große Ausstellung zur Geschichte der Vorfahren waren. Erin blickte sich um und dachte daran, wie er und seine Freunde vor einigen Jahren als Schüler zusammen mit den Studenten der Hawking-Universität auf den Straßen der Hauptstadt für die Öffnung der Archive und die Beschäftigung mit der Geschichte der Menschheit demonstriert hatten.
Nun war er selbst Student und so wie seine Freunde, gelangweilt von dem kleinen goldenen oder besser gläsernen Käfig in dem sie sich befanden.
Klar, ihnen mangelte an nichts. Sie waren frei, sie hatten alle genug zu essen, zu trinken, eine perfekte medizinische Versorgung und eine exzellente Bildung.
Als freie Bürger der Konvergenz ging es allen gut, hier auf Arda Nova.
Aber es fehlte ihnen an Wurzeln.
Die Generation ihrer Eltern trug das Trauma eines schrecklichen Exodus mit sich, der die meisten zu einer erdrückenden Schweigsamkeit zwang.
Kaum einer wollte über die Zeit vor Arda Nova reden. Was sie getan hatten, wie sie gelebt hatten, wie sie dazu beigetragen hatten, dass alles so wurde wie es nun war.
Auch sein Studium brachte Erin nicht die richtigen Antworten auf all die Fragen.
Selbst seine Mutter, die während der Quarantäne und in den Jahren danach definitiv ein anderes Leben geführt hatte als die meisten der Überlebenden, selbst sie hatte sich ihrem einzigen Sohn nie ausreichend öffnen können.
Er wusste nur, dass seine Mum, sein leiblicher Vater und deren Freunde eine Rolle bei den Ereignissen vor 23 Jahren gespielt hatten.
Erins Vater starb am Tage seiner Geburt, wie er als Kind von seiner Mutter erfuhr.
An seine Patentante konnte er sich kaum noch erinnern. Sie war irgendwo in den Weiten der Galaxis unterwegs und durfte nicht mehr zurück in den Konvergenzraum.
Einer der wenigen verbliebenen Freunde aus diesen Tagen war Fari, ein alter Ga-Yee, der sie von Zeit zu Zeit besuchte. Er hatte für Erin immer viel Zuneigung übrig, nicht umsonst nannte er ihn auch Onkel Fari, in Ermangelung einer eigenen leiblichen Verwandtschaft.
Aber auch Fari schwieg meist, wenn die Fragen auf die Zeit vor dem Neuanfang hier auf Arda Nova kamen.
Erins Stiefvater, Doktor Mudri, der als Archäologe die meiste Zeit in den Tiefen der Wüste mit Ausgrabungen verbrachte, konnte auch nicht viel daran ändern.
Na ja, wenigstens war Mudri ein angenehmer Zeitgenosse und oft für Erin da, wenn seine Mutter in ihrer Aufgabe als Hohe Rätin für Arda Nova unterwegs war.
Mudri konnte zumindest ein wenig über die Erde aus seiner Perspektive erzählen, die er einst als Auswerter für die Berichte der Exploratoren innehatte.
Als Kentaraner war er sozusagen einer der nächsten Nachbarn der alten Erde gewesen.
Nah genug, um einfühlsam genug für die Menschen zu sein, aber gerade so weit weg, dass die Ähnlichkeit in der Genetik leider nicht dazu gereicht hatte, ein paar jüngere Geschwister für Erin hervorzubringen, die er sich so sehnlich gewünscht hatte.
Umso wichtiger waren Erin seine Freunde, die er teilweise schon seit dem Kleinkindalter kannte.
Das waren seine Brüder und Schwestern und für sie alle, gerade in dieser Generation, war es unglaublich schwer vorstellbar, dass die Menschen früher so große Schranken und Barrieren zwischen sich hatten, die auf Hautfarbe, Religion oder ähnlichen dämlichen Kategorien basierten.
Russe, Schwarzer, Chinese, Jude, Moslem, Kentaraner, Soona... ja, jeder wusste ungefähr, wo er herstammte, aber hier zählte das nicht mehr.
Das tat es wohl früher umso mehr und das war der Grund, warum die alte Erde nicht mehr existierte.
Das wussten alle, denn jeder auf Arda Nova hatte unglaublich viele Verluste zu beklagen.
Ganze Völker existierten nicht mehr. Alle Überlebenden mussten beim Neuaufbau der menschlichen Zivilisation auf dieser geliehenen Welt mit anpacken, gleich ob sie vorher Bettler, Konzernbosse, Soldaten, Widerständler oder was auch immer waren.
Erin erinnerte sich, dass es anfangs tatsächlich noch Schauprozesse gab, die die Arbeitsverweigerer anprangerten, die aufgrund ihres vorherigen Standes nichts zum Allgemeinwohl beitragen wollten.
Oder auch den Ärger mit überzeugten Rassisten, die aus den Ereignissen nicht lernen wollten.
Es war für Erin und seine Generation unvorstellbar.
Aber sie waren da, die Menschen, die nicht in der Lage waren, sich anzupassen. Richtig erklären wollte es keiner aus der Eltern- oder Großeltern-Generation.
Irgendwie steckte damals jeder mit drin. Die zigtausenden von Widerständlern aus den Gefangenenlagern außerhalb Ardas hatten diesen Umstand auch noch weiter verkompliziert.
Der Umgang mit Schuld und Sühne, mit der Erinnerung selbst, fiel der ›Generation Exodus‹ sehr schwer und die Jugend Arda Novas hatte immer wieder damit zu kämpfen.
Sie wollten wissen, warum es genau zu diesem Exodus gekommen war. Warum wurde eine ganze Bevölkerung eines Planeten dazu gezwungen? Und warum machten alle so ein Geheimnis daraus?
Der TransTube fuhr in die Station ein und eine Masse von Leuten drängte zum Feierabend aus der Kabine hinaus ins Freie.
Am Steig wartete schon Paul auf ihn und winkte ihm zu. Erin grinste und winkte zurück. Nach den Wochen in der Wüste mit Mudri als Ausgrabungshelfer war er froh endlich wieder bei seinen Leuten zu sein. Er schloss seinen Freund fest in die Arme und sie gingen lachend hinunter zur Straße.
*
Es war schon kurz vor Sonnenuntergang, als sie zusammen in Pioris Apartment auf dem kleinen Balkon saßen.
Piori, eine sehr schüchterne Ciani, deren grün-lila Haare im Licht schimmerten, gesellte sich wieder zu ihren Gästen und brachte ein paar Drinks für alle mit. Alle bedankten sich bei ihr und stießen mit den vollen Gläsern an.
Die Berge glühten förmlich im rot goldenen Streiflicht und die kleine Gruppe genoss den Ausblick bei Gin-Tonic und dem guten Gras von Nachbars Dachterrasse. In der Stadt zu ihren Füßen glitzerte die Beleuchtung und man konnte unten am TransTube das Feierabendgewusel erkennen.
Erin wusste nur, dass die Ciani ein sehr zurückhaltendes und scheues Volk waren. Nicht viele Ciani konnten es unter Menschen aushalten, daher war ihre Anwesenheit hier etwas besonderes.
»Vika, wie war denn die Demo letzte Woche? Hat sich denn irgendjemand von den Oberen mal dazu geäußert, wie es mit der Umstellung der Lehrpläne und Öffnung der Archive vorangehen soll?«
»Ach was glaubst du... es waren echt viele da. Der Gutenberg-Platz war voll. Der Rektor der Universität hat gesprochen, der Gouverneur und natürlich deine Mum.«
»Und?«
»Ach, viel Blabla. Sie faselte mal wieder von Geduld, von der nötigen Aufarbeitung der Geschichte, wir dürfen den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht gefährden, es nützt keinem etwas jetzt die Leute an den Pranger zu stellen... das Übliche halt.«
»Und deine Mum hat noch einmal eine Rede über die Errungenschaften der letzten zwanzig Jahre gehalten, wie wichtig es doch sei, dass die Menschheit hier in ihrer Zuflucht endlich in Frieden leben kann. Ich meine, sie hat ja auch irgendwo recht.«
»Ach Paul, das ist ja das Problem... sie hat zu oft recht, verdammt.«, beschwerte sich Erin und stellte seinen Drink etwas zu heftig auf den Tisch, sodass etwas davon über kleckerte.
»Weißt du denn mehr darüber, was deine Mum in der Zeit der Quarantäne so gemacht hat?«, fragte Piori.
Alle schauten sie an, denn sie war noch nicht so lange dabei und kannte nicht alle Geschichten über die versammelten Freunde.
Der Rest der Gruppe kannte sich teilweise seit der Schulzeit. Paul, Vika und Erin waren Nachbarn von klein auf. Aber sie wussten selbst auch nur wenig über Erins Mum.
Ihre private und ihre öffentliche Rolle machten es Erin manchmal sehr schwer, gegenüber Außenstehenden mit Details aus dem Familienleben umzugehen.
»Na ja, sie hat nicht viel erzählt. Ich weiß nur, dass meine Onkels im Widerstand waren. Aber die Quarantänezeit haben sie nicht überlebt. Meine Mum hat die Zeit wohl nur überstanden, weil sie damals hier auf dem Planeten interniert war, als er noch Sildron hieß. Es gibt da eine Zeit, über die sie nicht reden will. Das, was sie bis zur großen Zerstörung erlebt hat, muss für sie entweder extrem traumatisch gewesen sein, oder es ist ein Staatsgeheimnis. Oder eine Mischung aus beidem. Es müssen viele enge Freunde und auch mein Vater in dieser Zeit gestorben sein, soweit konnte ich etwas aus ihr herausbekommen.«
Ein betretenes Schweigen legte sich über die Gruppe. Vika stand auf, ging zu Erin und schaute ihn an.
»Hey, das tut mir leid. Aber ich kann dir eins sagen, obwohl deine Mum mich politisch total nervt, mag ich sie trotzdem... irgendwie.«
Erin grinste.
»Ja, ich weiß, was du meinst, geht mir genauso.«
Vika lachte und nahm Erin in den Arm. Sie löste sich wieder von ihm, schaute kurz zu Paul rüber und zwinkerte ihm zu.
Dieser nickte und blickte Erin mit einem schelmischen Grinsen an.
»Erin hör zu, wir haben da eine kleine Überraschung.«
Er schaute fragend in die Runde und alle grinsten verschlagen.
»Wir haben etwas gefunden, um hier mal eine Auszeit zu nehmen.«
»Oh, sag nicht wieder so eine Pauschaltour nach Tarù mit Bildungsprogramm und allem Pipapo. Kommt, Leute, ich hab’ keine Lust auf diese organisierten Exkursionen. Oder etwa wieder nach S‘raas? Nee, die S‘raasi haben so einen Stock im Arsch. Und der Planet ist echt langweilig.«
Paul lachte.
»Nein mein Freund, wir haben was viel besseres.«
Er reichte ihm ein Tab herüber, mit ein paar Bildern darauf.
»Los schau‘s dir an!«
Erin stutzte.
»Was zur Hölle ist das? Ein Schrotthaufen mitten in der Wüste?«
Paul war empört, und wischte vor Erins Nase auf dem Tab herum.
»Nein, schau mal genauer hin, Mann!«
Erin starrte angestrengt auf die Bilder und murmelte.
»Das sieht irgendwie wie ein Shuttle oder Raumjäger aus.«
»So und jetzt pass auf, was wir aus dem Ding in den letzten vier Wochen gemacht haben.«
Paul wischte weiter und es erscheinen neue Bilder auf dem Display. Erins Augen begannen zu strahlen.
»Ein alter Kentara-Jäger, irgendwas aus der Sparrow-Klasse. Wo habt ihr denn das Ding gefunden? Paul, ist das hier der alte Schuppen draußen bei der Mine?«
Paul schlug ihm auf die Schulter.
»Genau Bruder, der Werkstattschuppen von Khaled, wo er die alten Gleiter aufmöbelt.«
Erin schaute in die Runde.
»Und was habt ihr damit vor?«
Paul schaute ihn empört an und fragte:
»Was meinst du denn? Fliegen, Mann!«
Vika fügte hinzu:
»Wir nehmen uns ein paar Wochen Auszeit, fliegen mal rüber nach Kentara, noch ein paar Ersatzteile nachrüsten und dann... vielleicht ins Outer Rim?«
»Und wer von uns fliegt das Ding? Vika mit ihrem Pilotenschein für Arda Nova?«
»Nein, wir alle können das Ding fliegen, wir haben einen neuen Bordcomputer besorgt und eine verbesserte manuelle Steuerung installiert. Die Tutorials im Stream sind einfach spitze, gerade für so ein altes Teil gibt die Bastler-Community auf Kentara einiges her. Und ja, meine Fluglizenz ist schon mal eine gute Basis.«
Paul warf ein:
»Aber wir müssen noch die Betriebserlaubnis für das Schiff selbst erneuern. Die Anfrage über das Büro für Historische Kosmotik auf Kentara hat uns die Erlaubnis erteilt, zur Abnahme eine temporäre Lizenz zu bekommen. Dafür müssen wir dann mit einem lizenzierten Piloten wie Vika rüber nach Kentara. Außerdem werden dabei die verbliebenen Waffensysteme endgültig demontiert, damit es eindeutig ein ziviles Fluggerät wird.«
»Aber sagt mal, das Ding muss doch ein Vermögen gekostet haben?«, fragte Erin skeptisch.
Paul schüttelte den Kopf.
»Nein, Khaled und ein Bekannter von ihm haben es hinter den Hügeln im Sand gefunden. So um die 8 oder 9 Kilometer von der Mine entfernt. Die Kentara hatten schon vor langer Zeit einen Minen-Außenposten dort. Bei einem heftigen Sandsturm hat es das Gerät hier wohl vom Himmel gefegt und verschüttet.«
»Zum Glück waren keine Leichen oder andere eklige Reste hier an Bord.«, fügte Vika hinzu.
Erin staunte. Er lehnte sich zurück und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas, während er nachdenklich auf die blutrot glänzenden Gletscher des Djab hinaufblickte.
»Na? Was ist los, Erin? Sprachlos?«
Erin verzog das Gesicht ein wenig.
»Komm, woran denkst du gerade? Verrat‘s uns!«
Erin nahm noch einen Schluck, stellte seinen Drink ab und stand auf. Er ging zum Balkongeländer und drehte sich dann um zu den anderen.
»Und ihr seid euch sicher, dass wir mit dem Ding durch die Galaxis cruisen können? Welche Reichweite hat das Teil denn und wie schnell ist es?«
»Na ja, der Händler auf Kentara meint, die 8 lys macht das Ding in 10 Tagen locker. Wenn wir noch einmal 5000 Credits drauflegen, könnten wir ein Booster-Pack bekommen und vielleicht auf 10 bis 15 lys pro Woche kommen. Dann kann es aber sein, dass die Behörde die historische Zulassung nicht rausrückt.«
Erin überlegte.
»Hmm... also die ganze Lizenzgeschichte sparen wir uns natürlich, wenn wir die Sprungtore nicht nutzen. Dann dauert die Fahrt allerdings länger. Und wir sollten uns nicht erwischen lassen.«
»Hey, was hör ich denn da für rebellische Töne vom Sohn der Hohen Rätin?«, witzelte Paul.
Erin packte ihn, nahm ihn in den Schwitzkasten und scherzte.
»Dein Gesicht will ich sehn, wenn wir erst mal mitten im Outer Rim von einem Protektor-Kreuzer als illegales Schiff aufgebracht werden. Deine Eltern denken ja immer noch, ihr Söhnchen wäre der bravste Student auf ganz Arda Nova, hehe.«
Erin boxte ihn leicht in die Rippen.
Vika ging belustigt dazwischen.
»Hey, mach ihn mir nicht kaputt«
Vika sah kurz auf ihr MobiCom und fragte:
»Willst du es mal live sehen?«
Erin blickte sie verwundert an
»Na klar! Was für eine Frage!«
Mit einer Geste in Richtung des gefangenen Paul antwortete Vika.
»Na dann wirf mal dein Anhängsel hier weg und zieh dir was über, Khaled hat mir grad geschrieben, dass der Antrieb eben zum ersten Mal sauber durch gezündet hat.
Er konnte es einfach nicht lassen und ist mit einem frischen Neutronen-Transformator wieder rübergefahren um ihn gleich auszuprobieren.«
»Alles klar. Piori, kommst du mit?«, fragte Erin.
Ein sanftes Lächeln erschien in ihrem Gesicht und sie nickte.
»Ja, ich würde mich sehr freuen. Ich bin tatsächlich neugierig.«
Vika lachte und nahm sie kurz in den Arm.
»Ha, ich wusste es doch, auch Ciani sind manchmal abenteuerlustig!«
Piori schien von Vikas Gefühlsausbruch etwas überfordert zu sein.
»Außerdem ist es eine gute Idee, jemanden ohne den üblichen menschlichen Übermut dabei zu haben.«, meinte Erin dazu.
Entgegen ihrer sonstigen Zurückhaltung stimmte ihm Piori zu.
»Das dachte ich mir auch. Deswegen komme ich lieber mal mit.«
Lachend packten sie ein paar Dinge zusammen und machten sich auf in die Wüste.
*
Kaum vier Stunden nach Sonnenuntergang hielt Pauls klappriger Gleiter im Dunkeln vor der Ansammlung halb eingefallener Gebäude.
Inmitten der Wüste, 70 Kilometer außerhalb der Stadt, befand sich der Eingang zu einer alten Xenurit-Mine auf dem Boden eines alten, von mehreren hundert Meter hohen Felskanten umsäumten Einschlagkraters. Es war der perfekte Platz.
Der höhlenartige Mineneingang befand sich gegenüber der Einfahrt zum locker tausend Meter durchmessenden Krater. Dessen Grund lag erheblich niedriger als das umgebende Bodenniveau dieser Wüstenregion und war dementsprechend von außen nur schwer einzusehen.
Am Eingang der Mine, direkt neben den wenigen Gebäuden, konnte man etwas Großes auf einer Hover-Plattform erahnen. Aus der einzig intakten Montagehalle schien Licht heraus und der Schatten eines großen, kräftigen Kerls erschien in der Tür.
Khaled war ein Tüftler und Genie, der fast jede freie Minute hier draußen in seiner Werkstatt verbrachte und an irgendwelchen alten Kisten herumschraubte.
Sein ganzer Stolz waren die Gleiter auf Hoverbasis, die aber historischen Fahrzeugen von der Erde nachempfunden waren. Er hielt sich stets akribisch an die Pläne und Fotografien im Konvergenz-Archiv, sodass Originalgetreue Nachbauten von alten Volkswagen-Käfern, Jaguars, Chevys oder auch ein Ford-T-Modell durch die Straßen VCs glitten. Im wahren Leben war er Labor-Ingenieur für Luft- und Raumfahrttechnik an der Hawking-Universität, was für sein neuestes Bastelobjekt natürlich eine große Hilfe war.
Khaled grinste von einem Ohr zum anderen, als Erin freudestrahlend auf in zulief.
Er hieb auf einem Schalter an der Innenseite des Halleneingangs und ein grelles Licht flammte auf. Es erhellte den Mineneingang und den Platz vor der Halle, sodass man das besagte Ungetüm nun besser erkennen konnte.
»Wow, ein prachtvolles Stück Weltraumschrott«, gab Paul von sich.
Khaled stieß ihn an.
»Hey, mal nicht so kritisch junger Mann, schau dir erst mal an, was aus dem Haufen Schrott geworden ist.«
Sie traten auf den alten Jäger zu.
Erin stand direkt vor der Nase des Schiffes und stemmte die Hände in die Hüften.
»Und? Du hast geschrieben, der Antrieb könnte schon zünden.«
»Jap.«
Erin schaute Khaled fragend an.
»Ja? Und worauf wartest du noch?«
»Pff, nicht so ungeduldig Mann...«
Khaled rannte zur Seite des Schiffs, entriegelte ein Bündel von Schläuchen und Kabeln.
Mit einer Fernsteuerung aktivierte er die Hoverplattform.
Eine Vibration rüttelte den Boden um sie herum auf und schon begann die Plattform einige Zentimeter über den Boden zu schweben.
Mit dem Gerät in seiner Hand dirigierte er das ganze aus der Eingangshöhle hinaus auf den freien Platz vor der Montagehalle.
Alle starrten gebannt auf das Fluggerät vor ihnen. Vika begann einmal rund herumzulaufen, die anderen taten es ihr nach.
In der Zwischenzeit hatte Khaled ein großes, robust aussehendes Tablet aus der Halle geholt und wartete bis wieder alle um ihn versammelt waren.
Piori hatte er einen Korb mit Gehörschutzkapseln und Schutzbrillen in die Hand gedrückt und sie verteilte den Inhalt an die Anwesenden.
»So, jetzt, wo alle versorgt sind, lassen wir das Ding mal ein wenig Feuer machen, oder?«
Mehrere Daumen schnellten hoch.
Er drückte auf eine große Schaltfläche in der Mitte des Tabs und kleine Lichter an den Konturen des Gleiters begannen zu leuchten. Es erschienen mehrere neue Schaltflächen und er betätigte sie nach und nach.
Zuerst wurden die Fenster und Bullaugen von innen erleuchtet, aber es drang nur sehr gedämpftes blaues Licht nach außen. Dann begannen an der Außenseite einige rote Positionsleuchten aufzublitzen. Man konnte aus dem Inneren des Jägers ein anschwellendes Geräusch hören und alle spürten eine extrem tieffrequente, aber kräftige Vibration.
Khaled rief ihnen zu:
»Das ist der interne Antriebsreaktor, dem fehlt noch ein Dämpfungsfeld... wenn wir jetzt drinsitzen würden, na ja, das will gerade keiner, glaubt mir...«
Sie starrten ihn etwas verstört an, aber er ließ sich davon nicht beunruhigen und tippte gut gelaunt weiter auf sein Tab.
Mittlerweile war der Lärm so ohrenbetäubend angeschwollen, dass die Gehörkapseln ihre automatische Pegelanpassung durchführten.
Der Boden wurde so aufgerüttelt, dass immer mehr Staub aufstieg. Khaled sprach in sein Com-Gerät am Handgelenk.
»So und nun geben wir Energie auf den Anti-Grav-Antrieb.«
Er fuhr langsam eine längliche Schaltfläche entlang und man spürte, dass die Maschine versuchte, sich nach oben zu bewegen. Die Luft um die Unterseite des Schiffes begann vor Hitze zu wabern. Khaled runzelte die Stirn und schien sich über irgendetwas zu wundern.
Erin schaute ihn an, als sich Khaleds Gesicht plötzlich wieder aufklärte.
»Ah, klar, die Haltekrallen.«
Er tippte auf sein Tab und mit einem Schlag, der alle fast von den Füßen riss, fiel die Hoverplattform herunter und rammte sich zwei Handbreit tief in den Boden.
Nachdem sich Schreck und aufgewirbelter Staub verzogen hatten, erblickten sie das Schiff ungefähr einen Meter über der im Boden versenkten Hover-Plattform schweben.
Khaled drückte auf eine andere Schaltfläche und mit jeweils einem lauten Knall zündeten nach und nach alle vier Triebwerke am Heck.
Khaled warf das Tablet rüber zur überraschten Vika und rief über Com:
»Los Lady, zeig uns mal was du gelernt hast.«
»Was, ich?«
»Ja, du, los, mach mal ne Runde mit dem Ding! Ich kann sowas zusammenbauen, aber vom Fliegen hab’ ich keine Ahnung.«
Vika zögerte kurz und konzentrierte sich dann auf die Schaltflächen.
Ihr Blick glitt wieder zurück zum Schiff und man konnte erkennen, wie es nun langsam aufstieg. Ungefähr 20 oder 30 Meter über ihren Köpfen hing nun ein alter Raumjäger, mit dem vermutlich die Kentaraner schon gegen die S’raasii gekämpft hatten.
Die Bauart deutete auf ein Alter von ungefähr einhundert Erdenjahren hin, also zu einer Zeit, als die Menschen noch nicht einmal den Mars erreicht hatten.
Vika ließ den Jäger vorwärts fliegen, als Khaled ihr den Hinweis über Com gab, nicht über den Kraterrand hinaus zu fliegen, sonst würde ihr Schätzchen in den Bereich der Flugüberwachung gelangen und nur unnötig Alarm auslösen.
Sie nickte und ließ den Jäger hinaus in den Krater fliegen. Sie beschrieb eine sanfte Kurve in Richtung des Randes und beschleunigte dann mit Schräglage auf einen stabilen Rundkurs um das Innere des Kraters herum.
Ein paar Minuten später steuerte sie das Fluggerät mit ein paar Rollmanövern wieder zurück zum Hangar und setzte es mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht sanft wieder auf der Hoverplattform auf.
»Ich liebe es. Das wird ein Spaß, sage ich euch!«, schrie sie gegen den abschwellenden Treibwerkslärm an.
Der Planet Arda Nova ist eine Mitgliedswelt der Konvergenz des Tar’u’Lian [Link]. Zugehörig zum Konvergenz-Territorium unter dem Namen Sildron seit 151 nZ [Link]. Unter dem neuen Namen Arda Nova erfolgte der Beitritt als Teil-Souveräne Mitgliedswelt 235 nZ.
Arda Nova ist der dritte Planet im Sildronai-System und beherbergt nur wenige habitable Zonen in der Nähe der Polarbereiche. Der Planet besteht fast überwiegend aus großflächigen Wüstengebieten.
Durchmesser: 17347 km
Schwerebeschleunigung: 11,8 m/s2
Tagesperiode: 43 Stunden
Umlaufzeit: 201,5 Tage
Höchste Erhebung: Djab Tiluani [Link] 13322 m über Nullniveau.
Tiefste Senke: Grabenbruch vor dem Tiluani-Massiv bis 6733 m unter Nullniveau
Urbevölkerung: keine
Bewohner: 1.565.000 Einwohner ca. 84 % Ardai ca. 16 % andere Bürger der Konvergenz
Lage: Randbereich der Konvergenz, im Übergang zum Outer Rim Entfernung zum Zentralsystem Tarù [Link] 276 lys
Angrenzende bewohnte Systeme: S’ras [Link] 8 lys, Kentara [Link] 12 lys
Angrenzende unbewohnte Systeme: N34-Elekon [Link] 2 lys, Halios [Link] 17 lys
Kurzbeschreibung: Politisch einzuordnen ist Arda Nova als souveräne Mitgliedswelt der Konvergenz, die für die Ardai im Exil als Heimstatt errichtet wurde.
Aufgrund ihrer strategischen Lage steht die Welt aber unter Vorbehaltsrecht der Konvergenz.
Protektor-Basen und -Sperrgebiete auf dem Planeten liegen außerhalb der Jurisdiktion der Regierung von Arda Nova und unterstehen allein der Zentralregierung der Konvergenz.
Der größte Teil der Bevölkerung besteht aus angesiedelten Ardai, die nach der großen Katastrophe auf Arda 227 n.Z. [Link] vor allem an Bord der KA-629 Aressani hierher evakuiert worden sind. Durch intensives Terraforming wurden am Fuße des Gletschertales vor dem Tiluani-Gebirge Siedlungsgebiete geschaffen und eine Bewässerung aus den Gletscherregionen installiert.
Der zentrale Canyon vor dem Gebirge wurde in einer Bauzeit von nur 9 Monaten komplett mit einer langen Kuppel überzogen. Im geschützten und klimatisierten Bereich darunter entstanden bewässerte Siedlungen und landwirtschaftliche Flächen.
Arda Nova ist seit rund 15 Jahren in der Lage, sich autark mit Nahrungsmitteln zu versorgen und ist nur noch für wenige Produktionsgüter auf den Import aus dem Konvergenzgebiet angewiesen.
Das Fehlen eines nahegelegenen Sprungtores und das schwache Subraumgefüge in dieser Region sorgen für eine verlängerte Reisezeit zu den Zentralwelten der Konvergenz.
Siedlungen auf Arda Nova:
Vykoian-City (VC), zentraler Verwaltungssitz und größte menschliche Ansiedlung, ca. 515.000 Einwohner. Sitz der Hawking-Universität, des Margaret-Hamilton-Instituts, Juri-Gagarin Raumhafen
Namaho-City, 25.000 Einwohner, Neubauer School of Ecological Studies
Se-Chiual, 46.000 Einwohner, bedeutende militärische Einrichtung und Höhentrainingslager der Protektoren
Ararat 22.000 Einwohner
Simmonsville 15.000 Einwohner
Arda Nova wird seit mehreren Jahrzehnten intensiv archäologisch untersucht. Es gibt Hinweise auf jahrtausendealte Besiedlungsspuren, aber die hohe Erosionsrate und spezielle Konsistenz des Sandes erschweren die Untersuchungen. Zahlreiche Minen-Reste zeugen von einer Bergbautätigkeit der Kentaraner und S`raasii in der Vor-Konvergenz-Periode.
Arda Nova bietet keinerlei bekannte, lohnende Bodenschätze. Jegliche Mineral- und Metallvorkommen liegen unter teils kilometerdicken Sandschichten begraben.
Elisa schaute aus dem Fenster ihrer Kabine auf die wirren Lichtmuster, die im Subraum draußen am Schiff vorbeizogen.
Normalerweise verstörte die Ansicht der Lichtverzerrungen die meisten Subraumreisenden nach einiger Zeit so sehr, dass sie die Fenster während der Flugzeit zwischen den Sprungtoren abgedunkelten. Oder man ließ dort Videos von ansprechenderen Szenen ablaufen.
Aber Elisa war tief in ihren Gedanken versunken. Und irgendwie wirkte das Flackern auf sie hypnotisch und beruhigend.
Das musste an ihrer menschlichen Natur liegen. Ihr Ehemann Mudri, ein Kentaraner, scherzte des Öfteren darüber.
›Der alte Lagerfeuer-in-der-Höhle-Instinkt.‹
Beim Gedanken an seine Worte musste sie lächeln.
Ja, der Instinkt eines Menschen. Elisa war trotz all der Jahre immer noch manchmal erstaunt von den Vorgängen im Universum, dem Reisen durch die Galaxis und das um ein Vielfaches schneller als das Licht. Durch gefaltete Räume, das Subraumgefüge und die Sprungtore, die mehr Energie für eine Verbindung benötigten, als ihr alter Heimatplanet an einem Tag zusammen verbrauchen konnte.
Eigentlich gehörte dies alles seit rund drei Dekaden zu ihrer eigenen Realität.
Und doch, manchmal holte sie das Staunen eines Kindes ein, das noch eine ganz andere Welt kennt.
›Eine Welt verloren, viele gewonnen‹, wie das Motto der Beitrittsfeierlichkeiten zur Konvergenz damals lautete. Seit nunmehr fünfzehn Jahren zierte es das Banner Arda Novas.
Eine sanfte Melodie wies sie darauf hin, dass jemand vor der Tür um Einlass bat. Das Display verriet ihr, dass es sich um den Ratsherren Runoan und Feketi, seinen Assistenten handelte.
»Kommen Sie herein, ich warte schon.«
Die Tür öffnete sich, die zwei S`raasii traten ein und verbeugten sich kurz vor ihr.
»Hohe Rätin, wir freuen uns, Euch unsere Aufwartung machen zu dürfen und schätzen uns Glücklich, den gemeinsamen Weg nach Tarù zusammen bereisen zu können.«
Elisa verbeugte sich ebenfalls und vollführte eine respektvolle Geste mit ihren verschränkten Händen, die in der Kultur der S`raasii sowohl Dank als auch Wertschätzung ausdrückte.
»Setzen Sie sich. Nutzen wir doch die Zeit vor unserer Ankunft, um nochmals unser Anliegen gemeinsam durchzusprechen. Wünschen Sie auch einen Tee? Wir haben hier einen ausgezeichneten Joronji. Er ist in der Züchtung einem Darjeeling-Tee nachempfunden, den es früher auf der Erde gab. Wir versuchen, die Pflanze gerade in den Höhen am Djab Tiluani heimisch werden zu lassen.«
Die etwas glupschigen Augen des Ratsherren traten noch etwas weiter heraus und er entgegnete ihr freudig.
»Ooooh, da kann ich auf keinen Fall widersprechen, sehr gerne.«
Wenig später am Tisch, vor ihnen die dampfenden Teetassen, kam Elisa nach etwas beiläufigem Small Talk auf das Thema zu sprechen, das zurzeit mit den beiden Nachbarwelten S‘ras und Kentara für eine angespannte Stimmung sorgte.
»Ich weiß, dass die Truppenverlegung der Protektoren-Einheiten ins Sildroni-System das Hauptargument für die Errichtung eines Sprungtores im Orbit von Arda Nova ist. Was natürlich von den Bewohnern meines Planeten sehr begrüßt wird.«
Runoans Blick auf Elisa wurde ernster.
»Ich weiß aber auch, dass dieser Anspruch ebenso von ihrem System und den Kentaranern angemeldet wird.«
Der Ratsherr setzte zu einem Einwand an, aber Elisa unterbrach ihn mit einer Geste.
»Aber... was halten sie davon, wenn wir alle uns darauf einigen, das neue Sprungtor in der Mitte zwischen unseren Systemen zu errichten. Zum Beispiel im Orbit von N762, einem unbewohnten System mit einer starken Energiequelle. In jede Richtung hätten wir lediglich eine Flugdistanz von ungefähr 5 bis 7 lys. Die Kentaraner haben in diesem Zuge angeboten, einen neuen Schiffstypen mit Überlichtantrieb zur Verfügung zu stellen und damit unsere zivilen Flotten zu erneuern. Was halten Sie davon?«
Runoan musterte Elisa und schien zu grübeln, was bei einem S‘raasi nicht leicht zu erkennen war, wenn man nicht oft mit ihnen zu tun hatte.
Sein Assistent nahm das mitgebrachte Tab zur Hand und schien darauf irgendetwas zu suchen. Kurze Zeit später gab er seinem Herrn das Gerät herüber und zeigte auf etwas.
Elisa ahnte schon, worum es sich handelte. Sie funkelte den Ratsherrn gereizt an und fuhr fort:
»Nein, die Bergbaurechte auf N34-Elekon sind nicht verhandelbar. Ich weiß, ihre Ansprüche auf die Region sind wesentlich älter, da wir ja erst seit 2 Dekaden in dieser Region der Konvergenz ansässig sind. Aber N34 befindet sich zu nah an Arda Nova und die Übergabedokumente des Konvergenzrates bestimmen N34 eindeutig zugehörig zu unserer Einflusssphäre. Runoan, das sind keine 4 lys von uns entfernt, das geht wirklich zu weit.«
Sie stand auf. Die beiden Herren taten es ihr nach und Runoan antwortete:
»Nein, Hohe Rätin, das verstehen wir, darum sollten wir uns nicht streiten. Ihr Raumterritorium soll integer bleiben, das steht außer Frage.«
»Aber?«, hakte Elisa misstrauisch nach.
Runoan blickte sie fragend und mit einer Unschuldsmiene an.
»Na, da kommt doch bestimmt noch ein ›Aber‹, oder etwa nicht?«
Runoan zögerte kurz und platzte dann heraus:
»Wir bestehen auf einer Viertel-Beteiligung am Bergbaukonsortium für N34! Und wir liefern ein Drittel der Energie für das Sprungtor!«
Elisa blickte ihn abschätzend an und musste schmunzeln.
»So mein lieber Runoan, so kommen wir doch wieder zusammen. Ich wusste doch, dass Sie Ihre eigenen Bedingungen nochmal einbringen würden. Nun gut, lassen Sie uns das heute Abend nochmal mit Joffor, dem Kentaranischen Hohen Rat diskutieren. Dann kommen wir hoffentlich zu einer Einigung, die wir dann der Ratsversammlung als gemeinsamen Antrag vorlegen können.«
Runoan verbeugte sich kurz vor ihr und deutete seinem Assistenten an, dass das Gespräch jetzt beendet wäre. Wortlos rauschten beide hinaus.
Elisa wusste, dies war kein Akt der Unfreundlichkeit, sondern die typische Art, eine solche Unterredung nicht durch unnötige Verzögerungen ihrer Bedeutung zu berauben.
Als die S‘raasi-Delegation ihre Kabine wieder verlassen hatte, öffnete sie eine Subraum-Com nach Hause, nach Arda Nova.
Das Bild des abgekämpften Kentara-Archäologen erschien auf ihrem Display und sie lächelte ihn liebevoll an.
»Mudri mein Lieber, du siehst staubig aus.«
»Ja, mein Schatz, staubig, aber froh gestimmt. Schade, Erin hat hier was verpasst, wir sind auf weitere interessante Strukturen gestoßen.«
»Wieso? Wo ist er hin?«, fragte Elisa besorgt.
»Ach, ich glaube, er wollte sich mit seinen Freunden treffen. Das Gepinsel und Gebuddel hier im Staub ist wohl nichts für ihn... dafür muss man wohl geboren sein, so wie ich.«, lachte er.
Dann wurde er wieder ernster.
»Aber du siehst nicht glücklich aus meine Liebe.«
»Ach... ich hatte eben wieder so ein Gespräch mit den S‘raasi. Egal was man macht, man hat immer das Gefühl, als Neulinge hier in der Region werden wir Menschen von ihnen immer noch nicht recht akzeptiert. Warum ist das bei euch Kentaranern anders?«
»Ganz einfach Schatz, wir wissen, dass es bei euch nichts zu holen gibt außer Sand und Schnee, haha.«
»Sehr witzig, danke. Das brauche ich jetzt.«
Er schaute sie an und seufzte.
»Mach dir nichts daraus. Wir haben früher erbitterte Kriege mit ihnen geführt. Da war keine Seite nur ein Stück besser als die andere.«
»Ja, du hast Recht. Das sind die Momente, in denen ich manchmal keine Lust mehr habe, Politik zu machen. Es wird Zeit, dass endlich mal jüngere nachrücken. Aber dann habe ich wieder Angst davor, dass unser Konstrukt des inneren Friedens verloren geht. Du hättest die Demonstrationen letzte Woche miterleben müssen. Die Jugend ist hungrig, sie ist wütend. Sie möchten nicht mehr klein gehalten werden. Sie wollen raus in die Welt. Nur die Welt ist sich noch nicht sicher, ob sie diese verrückten Erdlinge auch wirklich haben will. Mudri, eigentlich darf ich dir das gar nicht sagen... das steht unter höherer Geheimhaltung... aber auf einer der nächsten Sitzungen des Hohen Rates wird vermutlich die Öffnung der Archive beschlossen. Man will die restlichen Explorationsakten des HALIO-Sektors offenlegen. Es gibt so viele, die deswegen verdammt nervös sind. Klar, auf Arda Nova sind es diejenigen, die auf der Seite des Widerstands waren... Menschen, die in den letzten 20 Jahren Zeit hatten, aus ihren Fehlern zu lernen. Oder auch nicht.«
Mudris Gesichtsausdruck wurde ernster. Er atmete tief durch und fragte sie:
»Und was meinst du, was die anderen nun mit ihnen machen werden? Wäre es nicht sinnvoll, zuerst eine Art Versöhnungsprozess in Gang zu setzen, bevor offengelegt wird, wie die damaligen Verstrickungen waren? Vielleicht sagt man ja mittlerweile größtenteils ›Schwamm drüber, komm, das ist doch schon eine Generation her.‹«
»Ach Mudri, du kennst doch die Überlebenden-Verbände, die verschiedenen Traditionsgruppen, die ticken alle auch unterschiedlich. Wir sind froh, dass wir die alten Fraktionsgrenzen überwunden haben. Wir haben einen überkonfessionellen Religionsrat, es gibt so gut wie keine Konflikte mehr, die auf Nationalitäten oder Glauben beruhen. Das sind alles Errungenschaften, die auf dem Spiel stehen und den inneren Frieden von Arda Nova gefährden. Erinnere dich, wir haben acht Jahre gebraucht, um eine Souveränität als Konvergenzmitglied zu erreichen. Wir durften einen ganzen Planeten oder zumindest dessen bewohnbaren Teil besiedeln. Wir haben das nur mit massiver Hilfe der Konvergenz und durch das harte Unterdrücken der eigenen, kleinlichen Befindlichkeiten geschafft. Von allein wäre das nicht passiert.«
»Ja, eine neue Menschheit. Schade dass dafür erst ein so großer Verlust über dein Volk kommen musste.«
Elisa musste lachen.
»Mein Volk... das ist auch so ein Umstand, den vermutlich viele andere, homogenere Planetenvölker an uns nie verstanden haben, diese Zergliederung nach Völkern und Hautfarben, die uns so viele Jahrtausende geprägt hat. Ja, nun sind wir vielleicht mal ein Volk.«
»Na ja, mach dir nichts vor, meistens gingen bei den anderen auch viele Prozesse der evolutionären Auslese vonstatten, um diesen Status zu erreichen. Oft sogar geplant... nichts ist aus der Perfektion heraus entstanden, sondern vieles aus Zerstörung und Gewalt... selbst unsere große Vereinigung fußt auf einem Milliardenfachen Zerstörungswerk. Und das liegt keine fünfhundert Jahre zurück. Galaktisch gesehen, nur einen Wimpernschlag.«
»Ja, du hast recht. Ach, ich vermisse dich und deine Zuversicht, hier an meiner Seite. Gerade jetzt, wenn es wieder in die Höhle der Löwen geht.«
»Ich vermisse dich auch meine Liebe.«
Das Bild begann zu zerpixeln und der Ton verzerrte.
»Oh, ich denke, wir verlassen gleich den Subraum. Ich liebe dich und küsse dich...«
Aber da war die Verbindung schon unterbrochen.