Refugium - John Ajvide Lindqvist - E-Book
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Refugium E-Book

John Ajvide Lindqvist

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Beschreibung

Der Auftakt der spektakulären neuen Spannungstrilogie aus Skandinavien. »Einfach großartig, wie John Ajvide Lindqvist mit seinem glitzernden Monstertruck in die Krimilandschaft donnert.« Aftonbladet Ein explosives Ermittler-Duo. Sie: Expolizistin und Krimiautorin im Karrieretief. Er: ein Hacker mit gequälter Seele. Sie ziehen einander an. Sie stoßen einander ab, aber sie müssen einander vertrauen. Ursprünglich sollte Kim Ribbing, der die Spuren eines tiefen Traumas in sich trägt, die ehemalige Polizistin Julia Malmros bei Recherchen unterstützen. Doch dann erschüttert ein Verbrechen das sommerliche Leben in den Schären. Mittsommer. Der längste Tag. Die dunkelste Nacht Nicht weit von Julias Ferienhaus werden die Gäste eines Mitsommerfests grausam hingerichtet. Nur Astrid Helander, der Tochter der Familie, gelingt es, sich zu retten. Aber das junge Mädchen ist verstummt. Für Julia ist die Zeit gekommen, zu handeln. Mit Gespür für dichte Atmosphäre und die psychologischen Feinheiten seiner Figuren schreibt John Ajvide Lindqvist einen vielschichtigen Thriller, der unter die Haut geht. Während Kim sich auf die Spur der Täter setzt und ihnen im World Wide Web und rund um den Globus folgt, nutzt Julia ihre Kontakte zur Kriminalpolizei. Ausgerechnet ihr Exmann Johnny ist mit den Ermittlungen betraut. Wer steht hinter den Auftragskillern? Und was hat Kim Ribbing zu verbergen, der immer wieder im Alleingang arbeitet Für alle Fans der Millenium-Reihe und Leser:innen von skandinavischer Spannung.   Der Nr. 1 Bestseller aus Schweden

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Seitenzahl: 566

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John Ajvide Lindqvist

Refugium

Thriller

Aus dem Schwedischenvon Franziska Hüther, Ricarda Essrich,Hannes Langendörfer und Thorsten Alms

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Mia, meine Mia

Immer noch und auf ewig

Prolog – Mittsommer 2019

Der Tisch auf dem Bootssteg ist festlich gedeckt. Hier mangelt es an nichts, was zu einem echten Mittsommerfest gehört: eingelegter Hering, Dillkartoffeln und Schnaps – aber auch Schinken und Köttbullar, falls den weit gereisten Gästen der Hering zu exotisch ist. Auf dem schneeweißen Tischtuch glänzt das beste Besteck und kleine schwedische Fahnen in Miniflaggenständern wehen sanft in der Meeresbrise. Es ist ein perfekter Tag.

Gastgeber dieser kleinen Extravaganz sind Helander und seine Frau Gabriella. Ihnen gehört die Insel Knektholmen in den Stockholmer Schären, knapp einen Kilometer vor der nächstgrößeren Insel Tärnö. Auf der Anhöhe oberhalb des Bootsstegs thront ihre moderne Luxusvilla, die beide liebevoll ihr »Häuschen« nennen: hundertfünfzig Quadratmeter offener Grundriss mit Panoramafenstern zum Meer. Olof Helanders Handel mit Emissionsrechten und CO₂-Zertifikaten hat auch diese Extravaganz ermöglicht.

Die vier Gäste setzen sich unter Ausrufen des Entzückens an den Tisch. Da wären Chen Bao, der in seinem Heimatland China ebenfalls in der Klimabranche sein Geld verdient, und seine Gattin Chen Min. Des Weiteren Cédric Montaigne, ein Europaparlamentarier, der die Klimamaßnahmen der EU-Mitgliedsstaaten koordiniert, und seine Ehefrau Suzanne.

Der Gastgeber klopft an sein Glas und begrüßt die Gäste auf Englisch, garniert mit ein paar chinesischen und französischen Phrasen. Ehe er sein Schnapsglas erhebt, müssen alle das schwedische »Skål!« üben, was mit allgemeinem Gelächter und von Chen Min mit verlegenem Kichern quittiert wird. Am unteren Tischende versteckt sich Astrid, die vierzehnjährige Tochter des Paares Helander, hinter einer übergroßen Sonnenbrille. Sie verabscheut das alles, und nur die Androhung ihres Vaters, das Wifi-Passwort zu ändern, hat sie dazu gebracht, heute Abend »die Familie zu repräsentieren«. So zumindest nennt es ihr Vater. Sie hasst diese aufgesetzte joviale Stimmung, sie hasst die pflichtschuldigen Fragen der Gäste an die »Tochter des Hauses«, und sie hätte sich beinahe in Grund und Boden geschämt, als die angetrunkenen Erwachsenen beim Versuch, den typically Swedish dance »Små grodorna« zu lernen, wie Frösche um die selbst gebastelte Mittsommerstange hopsten, von dem Ekel beim Anblick der Unmengen an Fleisch auf der Festtafel ganz zu schweigen.

Ehe die Gäste ihre Plätze einnahmen, hatte Astrid die Fleischauslage fotografiert und mit der Bildunterschrift »Midsummer is murder« auf Insta geteilt. Sie hat gut viertausend Follower und postet Bilder, kurze Clips und Texte zu vegan lifestyle und Tierschutz.

Astrid nimmt ihr Smartphone und checkt die Uhrzeit. Viertel nach eins. Maximal eine Viertelstunde wird sie noch hier rumsitzen und »repräsentieren«, egal, was ihr Vater dazu sagt. Ihr Blick schweift über die nahezu spiegelglatte Bucht. Die wenigen Segelboote dort draußen fahren mit Motor und haben die Segel gerefft.

»Helan går, singt hoppfalleralla …«

Olof Helander ist aufgestanden. Astrid kneift gequält die Augen zusammen. Als ihr Vater jetzt auch noch anfängt, den Gästen diesen typically Swedish song beizubringen, und sie sich unmusikalisch und mit ihrem jeweiligen Akzent durch »Helan går …« hangeln, denkt Astrid: zehn Minuten. Nein, fünf. Noch fünf Minuten.

Um diese fünf Minuten irgendwie zu überleben, startet Astrid die FaceTime-App und ruft Algot an, einen Jungen aus ihrer Klasse, der total auf sie steht. An einem Tag wie heute kann sie alle Bewunderung brauchen, die sie kriegen kann. Während sich die Verbindung aufbaut, schaut Astrid auf das glitzernde Wasser, das ihren getönten Gläsern einen goldenen Schimmer verleiht. Aus der Ferne nähert sich ein Motorengeräusch.

»Was machen die denn da?«

Astrid lässt ihr Smartphone sinken. Auf dem Display hält Algot den Kopf schräg, als könnte er so besser hören, was am anderen Ende vor sich geht. Die Erwachsenen sind immer noch mit ihrer kindischen und nicht bloß Ländergrenzen verletzenden Interpretation von »Helan går …« zugange. Astrid schüttelt den Kopf und hält wieder ihr Smartphone hoch.

»Das willst du nicht wissen.«

»Okay. Hast du was Neues gepostet?«

»Mhm. Gerade eben.«

Am anderen Ende raschelt es, als Algot seinen Rechner anmacht. Ein breites Grinsen lässt sein pickliges Gesicht aufleuchten. »Midsummer is murder. Nice. Schon achtzig Likes. Hier kriegst du noch einen.«

Algot ist nett, klug und hat immer ein aufmunterndes Wort. Astrid wünschte wirklich, sie könnte seine Gefühle erwidern, aber erstens ist sie vollauf mit ihrem eigenen Befinden beschäftigt, und zweitens hat sie langsam den Verdacht, sie könnte asexuell sein. Sie hat noch nie ernsthaft für jemanden Gefühle entwickelt, mal abgesehen von einem Crush auf Edward aus Twilight, mit acht, aber das war damals angesagt.

Auf ihre Frage, was er gerade mache, antwortet Algot: »nix Besonderes«. In dem Moment gleitet ein offenes Motorboot in Astrids Gesichtsfeld und nähert sich dem Anlegesteg. Erwarten sie etwa noch mehr idiotische Gäste? Der Außenborder schaltet erst auf Rückwärts und dann in den Leerlauf, bevor das Boot fünf Meter vor dem Steg zum Stehen kommt. Astrid sieht auf.

Was zum …?

Zwei Männer sitzen im Boot. Beide mit Sturmhauben vermummt. Jetzt bücken sie sich und jeder der beiden hebt ein …

»Scheiße, scheiße!«, schreit Astrid und wirft sich im selben Augenblick unter den Tisch, als die Männer mit ihren automatischen Waffen das Feuer eröffnen. Astrid presst ihre Wange gegen das warme Holz und hört, wie über ihrem Kopf Gläser und Porzellan splittern dazu und das schmatzende Geräusch, mit dem in Sekundenbruchteilen abgefeuerte Kugeln in Körper einschlagen. Durch das Bellen der Waffen hört sie Algot brüllen: »Was ist los? Was ist los?«

Dort, wo Kugeln die Tischplatte durchlöchern, erhellt gleißendes Licht das Dunkel unter der Festtafel, und punktförmige Sonnenstrahlen schießen über Astrids Kopf. Dann spürt sie einen Ruck in der rechten Hand. Ein Glassplitter ritzt Astrids Wange. Ihr Smartphone ist zerstört, schlittert über den Steg und fällt mit einem Plumps ins Wasser.

Jetzt sterbe ich, jetzt sterbe ich …

Astrid steigt ein scharfer Geruch von Heringslake und Schnaps in die Nase, während rings um sie Körper von den Stühlen sinken und fallen, ohne dass das Dauerfeuer verstummt. Mit dem letzten Quäntchen Verstand wird Astrid klar, dass ihr jeden Moment eine Kugel den Schädel zertrümmern kann. Also rollt sie zur Stegkante und lässt sich ins Wasser fallen.

Sie taucht unter und sinkt in kalte Dunkelheit. Tang und Seegras wiegen sich vor ihren weit aufgerissenen Augen. Ihr Bewusstsein gleitet davon, alle klaren Gedanken verschwinden. Hier unten ist es still und schön. Hier bleibt sie. Sie klemmt den rechten Fuß zwischen zwei Stegpfähle, damit sie nicht nach oben steigt.

Ruhig und still. Jetzt ist es gut. Nur ganz schön dunkel. Astrid schüttelt den Kopf, wie dumm von ihr. Nicht zu fassen, sie hat immer noch ihre Sonnenbrille auf. Und die ist noch nicht mal kaputt. Nice.

IJulia und Kim

1

Julia Malmros und Kim Ribbing begegneten sich zum ersten Mal bei ihrer Recherche für den Millennium-Roman. Seit David Lagercrantz erklärt hatte, dass es keine weiteren Fortsetzungen aus seiner Feder geben werde, hing die enorm lukrative Romanreihe in der Luft. Es galt, jemand Neuen zu finden, um die Geschichte von Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander würdig weiterzuspinnen.

Die Wahl fiel auf Julia Malmros. Ihre vier Bücher um Kriminalkommissarin Åsa Fors waren in Schweden wie auch im Ausland, mit Übersetzungen in fast vierzig Sprachen, ein enormer Erfolg. Dass sie bei den Lesern so beliebt war, mochte eine ganze Reihe Gründe haben, allen voran ihr Realismus. Julia hatte mehr als zwanzig Jahre bei der Polizei Karriere gemacht, erst als Ermittlerin im Dezernat für Wirtschaftskriminalität, dann als Kriminalkommissarin im Dezernat für Gewaltverbrechen, bevor sie die Handschellen an den Nagel hängte und zu schreiben anfing.

Na ja, ganz so einfach war es nicht gewesen. Es gab eine Übergangsphase. Julia hatte bei der Polizei gearbeitet, bis ihr zweiter Åsa-Fors-Roman erschien. Mit ihm kam der große Durchbruch, und der Verkauf brachte ihr so viel Geld ein, dass sie sich traute, zu kündigen und ganz vom Schreiben zu leben.

Und nun hatte man ihr also Millennium angeboten. Sie fühlte sich geschmeichelt, sie war unschlüssig, und sie hatte ein bisschen Schiss. Julia war sich der enormen Erwartungen weltweit bewusst und auch der Tatsache, dass sich ihr Leben ändern würde (ganz zu schweigen von ihren Finanzen), wenn sie zusagte. Sie hatte in der Presse gelesen, was für Dagobert-Duck-mäßige Summen David Lagercrantz kassiert hatte.

Nur, was sollte sie mit so viel Geld? Von ihren eigenen Romanen hatte sie sich bereits eine große Eckwohnung am Järntorget in Gamla Stan, der Stockholmer Altstadt, leisten können, dazu einen Toyota Prius, den sie nur selten fuhr. Sie hatte ihr Sommerhäuschen auf Tärnö renoviert und einen neuen Badesteg angelegt. Was brauchte es mehr? Klar, sie könnte sich einen Pool zulegen, aber lohnte es sich wirklich, für den Luxus einer morgendlichen Schwimmrunde ihren guten Ruf zu riskieren?

Am Ende gab die Eitelkeit den Ausschlag. Sie würde den nächsten Millennium-Roman schreiben, nur um zu beweisen, dass sie es konnte. Sie würde es diesen Bastarden schon zeigen! Julia hatte keinen Schimmer, wer diese Bastarde waren, doch irgendwo lauerten sie garantiert. Sie war bei Lesern und Kritikern gleichermaßen beliebt, aber bestimmt gab es auch Zweifler. Julia Malmros? Millennium? Pah!

Allerdings gab es etwas, das ihr Sorgen machte: Lisbeth Salander. Julia hatte sämtliche Millennium-Bände gelesen und wusste, dass Hacking und Internet-Spionage einen wesentlichen Teil der Handlung ausmachten. Lisbeths Persönlichkeit zu gestalten, traute sie sich durchaus zu, aber Programmieren und Hacking? Julias Computerkenntnisse hatten für die Ermittlung von Wirtschaftsverbrechen ausgereicht, doch dieses Wissen war für den Roman nur begrenzt brauchbar und außerdem völlig veraltet. Sie würde Hilfe benötigen.

Julia bat den Verlag, jemanden mit der nötigen Expertise aufzutreiben. Bisher hatte sie immer sorgfältig recherchiert, und es wäre geradezu idiotisch, ausgerechnet einen so sehnsüchtig erwarteten Roman wie Millennium zu verpatzen. Während sie auf Rückmeldung vonseiten des Verlags wartete, machte sie erste Skizzen für ein Handlungsgerüst.

Ihre Åsa-Fors-Romane waren fest im schwedischen Polizeialltag verwurzelt. Für das Millennium-Projekt schwebte ihr eine ausschweifendere Handlung vor. Internationale Intrigen, vielleicht mit Abstechern an Orte, die sie von ihren eigenen Reisen her kannte.

Ihr erster Gedanke war Mexiko. Drogenkartelle, die die Politik unterwanderten und missliebige Journalisten ermordeten. Das war doch was für Mikael Blomkvist! Dazu die aktuellen Konflikte an der Grenze zwischen Mexiko und den USA. Salander könnte sich in die Datennetze der Kartelle hacken und Drogentransporte sabotieren. Actionszenen. Motorradverfolgungsjagd durch den Dschungel, Showdown auf einem Schmugglerschiff.

Julia arbeitete wie immer, sie notierte ihre Ideen auf Post-its und klebte sie in ihrem Arbeitszimmer an die Wand. Sobald sie ungefähr fünfzig beisammen hatte, arrangierte sie die Zettel zu Gruppen und möglichen Szenenfolgen. Das Erzählgerüst wurde zum Leben erweckt und winkte ihr wie eins dieser Wackelgerippe vom Día de los muertos zu. Julia grinste zufrieden. Millenniummotherfucker!

Eine Woche später meldete sich der Verlag. Es sei nicht leicht gewesen, jemand mit echter Hacker-Erfahrung ausfindig zu machen, schließlich annoncierten Hacker ihre Dienste ja nicht gerade in der Zeitung, im Gegenteil. Aber über drei Ecken habe man doch jemanden aufgestöbert, eine wahre Koryphäe auf dem Gebiet, die Sicherheitssysteme von Unternehmen zu knacken, um so deren Schwachstellen offenzulegen: Kim Ribbing.

»Ribbing?«, sagte Julia erstaunt. »Wie das Adelsgeschlecht? Wie diese … Benimm-und-Etikette-Tante von Dagens Nyheter, Magdalena Ribbing?«

»Keine Ahnung«, antwortete ihre Verlagschefin Louise Granhagen, die immer klang, als wäre sie kurz vorm Ersticken.

»Und, äh … Kim?«, hakte Julia nach. »Ist das ein Mann oder eine Frau? Junge oder Mädchen?«

»Ich habe nicht selbst mit der betreffenden Person gesprochen«, keuchte Louise Granhagen, »aber als Treffpunkt wurde das Espresso House in der Västerlånggatan vorgeschlagen. Morgen um zwölf. Passt das für dich?«

»Ja, das geht. Aber wie soll ich ihn oder sie erkennen?«

»Die betreffende Person hat geschrieben, dass sie dich erkennt.«

»Ach was.«

Nachdem sie aufgelegt hatten, setzte Julia sich gleich an den Computer, um Fragen zu notieren, die sie der »betreffenden Person« stellen wollte. Aber ihr fiel einfach nichts ein. Sie wusste noch nicht einmal, wo sie anfangen sollte. Sie würde Kim Ribbing einfach bitten, ihr die Grundzüge von Hacking zu erläutern, und hoffte, dass sich bei Unklarheiten Anschlussfragen ergeben würden.

2

Am nächsten Tag betrat Julia Malmros mit Notizblock und Stift bewaffnet zehn Minuten vor der Zeit das Café in der Västerlånggatan. Sie bestellte einen Cappuccino mit extra Espresso-Shot und setzte sich an einen Tisch am Fenster. Es war Ende Januar 2019, und die Passanten auf der Straße stapften mit verbissenen Gesichtern durch den Schneematsch. Fast alle trugen eng anliegende Daunenjacken, die aktuelle Alltagsuniform der Mittelschicht.

Julia hatte keine Ahnung, wie das möglich war, doch als sie den Blick vom Fenster löste, saß ihr eine Person gegenüber. Eine Person, deren Anblick sie überraschte.

»Kim?«, fragte sie und erhielt ein Nicken als Antwort.

Kim Ribbing war eine bemerkenswerte Erscheinung. Er – denn Kim war definitiv ein Er – hatte pechschwarze, glatte Haare, die ihm bis zur Taille reichten und sein porzellanweißes feingeschnittenes Gesicht umrahmten. Seine Lippen waren schmal, die Nase zierlich und ein wenig schief, aber das Aufsehenerregendste waren seine Augen. Sie waren so groß und hellblau, dass sie fast durchsichtig wirkten. Im Kontrast zu Kims schwarzem Haar schienen sie von innen heraus mit einem ultravioletten Schimmer zu leuchten.

Julias Blick glitt von Kims Gesicht zu seinem Oberkörper. Was sie sah, verwirrte sie noch mehr. Kim erinnerte vage an einen Hardrocker oder sogar Death-Metalhead, doch anstelle von Lederjacke und Entombed-T-Shirt trug er einen dicken, wie aus der Zeit gefallenen Mantel mit breitem Revers und darunter einen schwarzen Rollkragenpulli mit … einem Schildkröte Skalman-Aufdruck. Ja, die Schildkröte Skalman aus den Bamse Bär-Comics für Kinder.

Julia war so perplex, dass es ihr einfach rausrutschte: »Skalman?!«

»Mhm«, sagte Kim. »Mein Idol. Wer ist deins?«

Julia hatte kein echtes Idol oder Vorbild, aber um die Frage zu beantworten, sagte sie: »Vielleicht … Malala?«

Kim nickte. »Malala ist gut. Aber nicht so gut wie Skalman.«

Julia wusste nicht recht, ob Kim sie auf den Arm nahm oder ihre Grenzen testete. Sie schätzte ihn auf irgendwo zwischen fünfundzwanzig und dreißig, also gut zwanzig Jahre jünger als sie. Möglicherweise war er mit dem Humor einer anderen Generation gesegnet, oder er war einfach nur sehr speziell.

Um ein Haar hätte sie Kim gefragt, ob auch das kleine Kaninchen Lille Skutt zu seinen Idolen zählte, beschloss aber, lieber gleich zur Sache zu kommen. »Du bist also ein … Hacker, hab ich das richtig verstanden?«

»Also genau genommen ein Cracker, aber wenn du Hacker sagen willst, auch gut.«

Julia klappte ihren Block auf. »Wo liegt da der Unterschied?«

»Ein Hacker ist zunächst mal jeder, der sich extrem für Computer und Programmieren interessiert. Ein Cracker ist grob gesagt jemand, der übers Internet fremde Sicherheitssysteme knackt. Man unterscheidet zwischen white hats und black hats …«

Kim erklärte und erklärte, und Julia schrieb mit. Wie erhofft, ergaben sich jede Menge Anschlussfragen, und Kim durfte im Detail beschreiben, was ein Trojaner macht oder was man unter einem Makro-Code versteht. Er ging geduldig mit ihrer Unwissenheit um, und Julia ertappte sich dabei, wie sie fasziniert dem grazilen Flug seiner schlanken Hände folgte, wenn er etwas erklärte. Er bewegte sich mit der Präzision und Leichtigkeit eines Tänzers.

Eine Stunde später schwirrte Julia der Kopf vor lauter neuen Begriffen und komplizierten Zusammenhängen. Trotzdem hatte sie wahrscheinlich schon genug Informationen, um ein größeres Wissen vorzutäuschen, als sie wirklich besaß. Hauptsache, sie demonstrierte gleich zu Beginn eine gewisse terminologische Sattelfestigkeit und verleitete so die Leser dazu, auch den Rest zu schlucken. Julia legte den Stift zur Seite und rieb sich die Augen.

»Wofür brauchst du das alles?«, fragte Kim verwundert.

»Hat dir der Verlag das nicht gesagt?«

»Nö. Nur, dass es um dich geht. Und dass du Unterstützung brauchst.«

Julia sah sich unauffällig um, ehe sie sich vorbeugte und die Stimme senkte: »Das ist natürlich supergeheim, aber … ich soll den neuen Millennium-Roman schreiben.«

Falls sie gehofft hatte, Kim zu beeindrucken, wurde sie enttäuscht.

»Was stimmt denn nicht mit deinen eigenen?«, fragte er schlicht.

»Hast du sie gelesen?«

»Den ersten. Fand ihn nicht besonders.«

»Der zweite ist besser.«

»Wenn du’s sagst.«

Julia fühlte sich ein wenig verletzt durch Kims Gleichgültigkeit gegenüber ihrem großen Projekt und seine Kritik an ihrem Debütroman. Okay, sie selbst fand ihn auch nicht überragend, aber das war noch lang kein Grund, damit so rauszuplatzen. »Na, dann weißt du ja, was mit meinen Büchern nicht stimmt«, knurrte sie.

Kim zuckte mit den Schultern. »Ach, besser als die meisten.«

»Du hast doch gesagt, du mochtest den Band nicht.«

»Die meisten Krimis sind einfach schlecht.«

In ihrer Polizeilaufbahn hatte Julia Hunderte von Verhören geleitet. Manche Menschen waren so leicht zu knacken wie ein Frühstücksei, andere musste man härter anpacken, und dann gab es welche, die man gar nicht richtig in die Mangel nehmen konnte, weil man sie überhaupt nicht zu fassen bekam. Kim gehörte anscheinend zur letzten Sorte. Julia wurde einfach nicht schlau aus ihm. Trotz seiner augenscheinlichen Zerbrechlichkeit war er erstaunlich unnahbar.

»Jedenfalls danke für deine Hilfe«, sagte Julia, »das war sehr aufschlussreich. Falls noch Fragen auftauchen, könnte ich …«

Kim holte sein Smartphone raus, fragte Julia nach ihrer Nummer und rief sie an. Julia speicherte seine Nummer unter dem Namen Kim Cracker. »Und äh … wie regeln wir das mit deinem Honorar?«, fragte sie dann.

Kim machte eine seiner fließenden Handbewegungen. »Nicht nötig.«

»Aber irgendwas musst du dafür doch bekommen?«

Unerklärlicherweise verdüsterte sich Kims Miene, als er Julia antwortete. »Ich hab schon alles.«

»Ach was.«

Sie standen auf und wandten sich zum Gehen. Kims breiter, mit schwarzem Schaffell besetzter Mantelaufschlag erinnerte Julia an eine historische Fotografie, auf der der Maler Anders Zorn einen fast identischen Mantel trug. In welcher Stilrichtung malte der noch gleich – Naturalismus, Impressionismus? Jedenfalls war die Aufnahme sicher hundert Jahre alt. Auch in Kims blassblauen Augen lag etwas Uraltes, als säße ein viel älterer Mensch in seinem Schädel und blickte hinaus.

Draußen auf dem schneematschbedeckten Gehweg zog Kim eine Schachtel Camel Blue aus der Tasche, öffnete sie und hielt sie Julia hin. Nach über zwanzig Jahren als Vollblutraucherin hatte sie es vor fünf Jahren mehr oder weniger geschafft, aufzuhören. Hier und da vielleicht mal eine Zigarette in geselliger Runde, auf der Buchmesse etwa, aber ansonsten war Schluss. Na ja, mit etwas gutem Willen ging das hier noch als gesellige Runde durch. Julia fischte eine Zigarette aus der Schachtel. Kim gab ihr mit einem Zippo Feuer und steckte sich auch eine Kippe an. Eine Weile rauchten sie schweigend, dann fragte Kim: »Wohnst du hier in der Nähe?«

Julia zeigte die Västerlånggatan entlang. »Ja. Am Järntorget.«

Kim nickte und fragte im selben Ton, als redete er über das Wetter: »Willst du Sex haben?«

Julia machte aus Versehen einen Lungenzug und hustete. Um Zeit zu schinden, hustete sie länger, als nötig. »Der Altersunterschied ist dir schon klar, oder?«, erwiderte sie schließlich.

Kim wirkte ehrlich überrascht. »Und?«

»Na ja, nur dass du’s weißt.«

»Was gibt’s da groß zu wissen? Dass ich nicht … Vater werde?«

Julia räusperte sich ein letztes Mal und sagte: »Wir müssen das ja vielleicht auch nicht jetzt entscheiden. Vielleicht trinken wir erst mal ein Glas Wein und dann … schauen wir, wie’s sich anfühlt.«

Kims Miene verriet deutlich, wie sinnlos ihm dieses gesellschaftskonforme Verhalten vorkam. Julia nahm einen so tiefen Zug, dass ihr schwummrig wurde. Es war über ein Jahr her, dass sie mit jemand geschlafen hatte, ein betrunkener Flirt auf der Buchmesse. Bei der bloßen Erwähnung von Sex überlief es sie heiß. Sie sah verstohlen zu Kim, der ganz ungerührt das Schaufenster eines Souvenirshops studierte. Elche mit Wikingerhelmen.

Julia hielt sich recht gut in Form, sie achtete auf ihre Ernährung und ging ein paarmal die Woche ins Fitnessstudio. Wenn die Waage über 60 Kilo kletterte, folgten ein, zwei Wochen Pulverdiät, bis sie wieder ihr Idealgewicht von 57 hatte. Sie fühlte sich wohl in ihrem Körper und war sich bewusst, dass sie für ihr Alter ziemlich gut aussah. »Krimi-Schriftstellerin-schön« hatte ihr Buchmesseflirt gesagt. »Hübscher, als die Polizei erlaubt«, so der seltene Versuch ihres Ex-Manns Jonny, einen Scherz zu machen.

Julia ließ sich sonst durch nichts erschüttern, sie konnte mit steinerner Miene dastehen, während ein Gangster auf Amphetamintrip vor ihr mit den Fäusten herumfuchtelte, und die übelsten Drohungen an sich abprallen lassen. Aber Kims Vorschlag machte ihr weiche Knie. Vielleicht lag es gar nicht so sehr am Altersunterschied, sondern dass just er es war, er, den sie nicht enträtseln konnte. Jedenfalls war der Vorschlag verlockend.

3

Nachdem sie zu Ende geraucht hatten, gingen sie schweigend die Västerlånggatan entlang. Julia hatte noch nie erlebt, dass jemand so direkt und ungekünstelt Sex ansprach, und schon gar nicht mitten am Tag, was ihr kurz die Sprache verschlug. Aber reden mussten sie, sonst würde es sich eben doch merkwürdig anfühlen, eine Art schweigend vollzogener Handel. Julia gab sich einen Ruck: »Wie kommt es, dass du dich so gut mit Computern auskennst?«

»Hab viel damit gearbeitet. Bis ich alles konnte, was es so gibt.«

»Oh. Okay … Und dann?«

»Hab ich aufgehört.«

»Und was machst du jetzt?«

»Nichts.«

»Aber … wovon lebst du?«

»Ich sagte doch. Ich hab schon alles.«

Sie kamen zu Julias Hauseingang. Julia gab den Code ein und drückte die schwere Tür auf. Die Marmortreppenstufen zu ihrer Wohnung waren von den Hausbewohnern der vergangenen Jahrhunderte abgenutzt. Julia mochte die Eigenheiten und den historischen Flair dieses Gebäudes. Sie fühlte sich hier mehr zu Hause als in der Wohnung in Bagarmossen, in der sie zwanzig Jahre mit Jonny gelebt hatte.

Julias Wohnung, vier Zimmer mit insgesamt neunzig Quadratmetern, hatte für ganze elfeinhalb Millionen Kronen den Besitzer gewechselt. Allein schon der Blick auf den Järntorget vom Wohnzimmereckfenster war eine halbe Million wert. Kim hängte seinen Mantel an einen zierlichen Gusseisenhaken, den Julia in Italien gekauft hatte. Sie brachte von ihren Reisen immer etwas für die Wohnung mit, eine Gegenstand gewordene Erinnerung.

Julia sah verstohlen durch die halb offene Schlafzimmertür auf das ordentlich gemachte Bett. Wieder durchfuhr sie ein heißer Schauer. Ihr Hals schnürte sich zu, und ihr wurde klar, dass sie – wie banal! – schlicht nervös war. Ein Glas Wein wäre keine schlechte Idee. Kim sagte nichts zu der ordentlichen, schlicht, aber geschmackvoll eingerichteten Wohnung mit Möbeln von Länna und Mio sowie ein paar Prunkstücken von Svenskt Tenn. Lediglich in Julias Arbeitszimmer gab es Spuren von Chaos.

Sie gingen in die Küche, wo Julia eine Flasche Barolo entkorkte. Kim setzte sich an den kleinen Esstisch am Fenster, griff nach dem Fernglas, das auf dem Fensterbrett stand, und hielt es Julia mit fragendem Blick entgegen.

»Ähm, das ist ein bisschen peinlich«, sagte sie, und schenkte zwei bauchige Gläser ein. »Ich weiß nicht, ob ich …«

»Dann lass es.«

Julia stellte die Weingläser auf den Tisch und setzte sich Kim genau gegenüber. Seine Direktheit hatte etwas Entwaffnendes, und sie beschloss, doch damit rauszurücken. Julia zeigte auf ein Restaurant unten am Järntorget.

»Da ist Den Gyldene Freden, siehst du? Jeden Donnerstag trifft sich die Schwedische Akademie, und hinterher kehren sie hier ein. Wenn die Mitglieder abends rauskommen, sind sie manchmal ein bisschen wacklig auf den Beinen. Und ich warte dann hier und schaue, ob … ja, ob Horace Engdahl sich auf den Hosenboden setzt oder so. Ist bis jetzt aber nie passiert.«

»Verstehe.«

Julia trank einen ordentlichen Schluck, um das peinliche Gefühl in ihrer Brust runterzuspülen, und fragte: »Klingt bescheuert, oder?«

»Klingt einsam.«

Julia hatte keinen großen Bekanntenkreis, nur ein paar Freundinnen, mit denen sie sich ab und zu traf. Also ja, ihr Leben war nicht sonderlich gesellig, aber das hatte sie doch selbst gewählt? Ihr war aber auch klar, was für ein Bild sie hier abgab. Eine Frau, die am Küchenfenster hockte und heimlich beschwipste Akademiemitglieder beobachtete.

»Und du?«, fragte sie. »Bist du einsam?«

»Ja«, sagte Kim mit der ihm eigenen Selbstverständlichkeit. »Ich bin extrem einsam.«

Als er aufstand, trank Julia rasch noch einen ordentlichen Schluck Wein. Kim beugte sich über sie, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und küsste sie. Etwas Magisches geschah mit seinen Lippen, als sie Julias berührten. Eben noch schmal und verkniffen, lösten sie sich jetzt und wurden feucht und weich. Sie erwiderte den Kuss und legte ihre Hand auf seinen Schritt, wo sie spürte, wie etwas zur genau richtigen Größe anschwoll.

»Okay«, flüsterte sie. »Okay, okay.«

Auf dem Weg ins Schlafzimmer versuchte Julia, sich dem leichten Rausch hinzugeben, den die rasch getrunkenen Schlucke Wein bewirkten. Als sie neben dem Bett standen, zog Kim ihre Bluse hoch.

»Sorry«, sagte sie. »Lass mich kurz …«

Sie kam sich unbeholfen vor und wollte das hier so rasch wie möglich hinter sich bringen, also drehte sie sich um und zog sich schnell selbst aus. Hinter sich hörte sie das Rascheln, mit dem Kims Kleidung zu Boden fiel. In einem Anflug kindischer Schamhaftigkeit verschränkte Julia die Arme vor den Brüsten und drehte sich um. Sein Anblick verschlug ihr den Atem. In all den Jahren bei der Polizei hatte sie schon eine Menge gesehen, aber das hier war neu. Kims ganzer Körper war von einem Geflecht aus Hunderten und Aberhunderten großer und kleiner Narben überzogen. Außer Gesicht, Geschlecht und Händen war kein einziger Zentimeter unversehrt. Sogar über den Hals, bis halb unters Kinn, zogen sich ein paar Narben. Vielleicht trug Kim deshalb einen Rollkragenpulli. Sein Körper sah aus, als hätte ihn jemand jahrelang, Tag für Tag, als Schneidbrett benutzt.

»Um Gottes willen«, entfuhr es Julia. »Wie …?«

»Am Anfang hat jemand anders mir das angetan«, sagte Kim. »Dann hab ich selbst weitergemacht.«

»W… wer?«

»Ich will lieber nicht drüber reden, wenn es okay ist.«

»Natürlich, ich hab mich nur …«

»Ich hab damit aufgehört, falls du dich das gefragt hast. Das ist Jahre her.«

Julia nickte. Kim ging zu ihr und umarmte sie. Sie schlang ihre Arme um seinen Rücken und strich sanft über seine rifflige Haut. Wie hatte er es nur geschafft, sich derart den Rücken zu zerschneiden? Sie spürte sein pochendes Glied an ihrem Bauch und nahm es in die Hand. Ohne loszulassen, bewegte sie sich rückwärts zum Bett, ließ sich auf den Rücken fallen und öffnete sich ihm.

4

Es war nicht der beste Sex ihres Lebens. Aber definitiv mit der interessanteste. Obwohl sie und Kim Ribbing sich so gut wie fremd waren, achtete er feinfühlig auf ihre Signale, sie fanden einen gemeinsamen Rhythmus, und Julia Malmros konnte mit ihm spielen. Es war eigenartig, wenn sie mit den Händen über seine Haut strich. Sie fühlte sich nicht menschlich an. Julia dachte bei der Berührung an die trockene Haut eines Reptils, und genau das erregte sie, obwohl sie wahrlich nie davon geträumt hatte, mit einem Waran zu schlafen. Nein, es war eher das Erlebnis der Fremdheit, das ihre Lust entfachte, die Vorstellung, mit etwas ganz anderem und Fremdem Sex zu haben. Die Erfahrung hatte etwas … Transzendentes.

Julia war auch überrascht, wie fest Kim sich anfühlte. Sie hätte erwartet, dass sein schlanker Körper weich wäre, aber unter Kims narbiger Haut bewegten sich seine Muskeln wie Bündel fest verdrillter Schnüre, die sich unter der Berührung ihrer Hände spannten.

Als es vorbei war, zog Kim sich, ohne ein Wort zu sagen, aus ihr heraus und ging ins Bad. Julia blieb allein liegen und wischte sich mit einem Zipfel des Bettlakens ab, das sie sowieso wechseln wollte. Als sie die Spülung hörte und seine nackten Füße im Flur, wurde sie plötzlich verlegen und kroch tiefer unter die Decke. Kim kam ins Schlafzimmer, und aufs Neue faszinierte sie sein Körper, dieser gesammelte Schmerz, der sich wie eine Landkarte über seine Haut zog.

Julia rutschte ein bisschen zur Seite, um Kim Platz zu machen, aber Kim fing an, seine Sachen anzuziehen. »War das alles?«, fragte Julia, als er fertig war.

»Wie meinst du das?«

»Genau so, wie ich’s sage. War das alles?«

»Ich versteh nicht. Ich hab gefragt, ob du Sex haben willst. Du hast gesagt, vielleicht. Dann wolltest du. Und dann hatten wir welchen.«

Julia konnte nicht verbergen, dass sie verletzt war, und sagte nur: »Okay.«

Kim wollte schon gehen, überlegte es sich dann aber anders und setzte sich auf die Bettkante. Er dachte einen Augenblick nach. »Liegt es daran, dass du eine … Beziehung haben willst?«

»Das hab ich nicht gesagt, aber man haut doch nicht einfach so ab. Machst du das immer so?«

»Ich habe das hier noch nicht so oft gemacht, ich habe keinen … Modus Operandi.«

Kim ließ den Kopf sinken, sodass seine langen schwarzen Haare über das Gesicht fielen. Einen Augenblick dachte Julia, sie hätte eine Figur aus einem Horrorfilm auf der Bettkante sitzen, aber sie ließ sich davon nicht abschrecken.

»Warum wolltest du mit mir schlafen?«

»Hatte Lust.«

»Nicht weil du mich irgendwie … magst oder so?«

Kim zuckte mit den Achseln. »Wohl schon.«

Was hatte Kim gesagt? Dass er extrem einsam war. Da sein Gespür für ein normales Sozialverhalten nicht sonderlich ausgeprägt schien, war das nicht weiter verwunderlich. Oder vielleicht war es ihm einfach egal. Beides war für das Knüpfen und die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen allerdings nicht gerade förderlich.

»Na, geh schon«, sagte Julia und drehte ihm den Rücken zu. Er stand auf. Und setzte sich wieder.

»Schau«, sagte er. »Mal angenommen, wir würden hier post coitum noch liegen und uns unterhalten, was du, glaube ich, meinst. Dann würdest du mich Sachen fragen, über die ich absolut nicht reden will. Und dann wäre die Stimmung im Keller.«

»Ich finde, die Stimmung ist auch jetzt nicht gerade auf dem Höhepunkt«, murrte Julia.

Kim seufzte. »Und was hättest du gern von mir?«

»Du könntest mir einen Kuss auf die Wange geben und wenigstens Tschüss sagen.«

Das Bett quietschte, als Kim aufstand und es umrundete. Er hockte sich vor Julia hin und berührte sanft ihre Wange mit seinen Lippen. Als sie den Kopf hob, sah sie Tränen in seinen Augen glitzern.

»Was ist?«, fragte sie.

»Es … manchmal wünschte ich, ich wäre … nicht so verdammt … kaputt. Aber das bin ich.«

Julia streckte die Hand aus, um sein Gesicht zu berühren, doch Kim zog den Kopf weg und rieb sich die Augen trocken. Als er zur Schlafzimmertür ging, sagte Julia: »Eine Sache noch. Wie alt bist du?«

»Achtundzwanzig. Wieso?«

»Nichts. Wollte es nur wissen.«

»Okay. Viel Glück mit dem Buch.«

»Danke.«

5

Der Gutshof Roshult liegt idyllisch am Ufer des Vättern. Vom Herrenhaus erstreckt sich ein weitläufiger Rasen bis hinunter an den spiegelblanken See. Es ist ein schöner Sommermorgen des Jahres 2000.

Zwischen den Säulen des Patio kommt ein Junge zum Vorschein. Der Junge ist sieben Jahre alt. Sein Haar ist lockig und blond, sein Gesicht zart und mädchenhaft. Ein kleiner Engel. Seine Augen leuchten so blau wie der Himmel, und doch liegt eine Schwere über ihm, als er mit festen Schritten zum See hinuntergeht.

Unten am Ufer liest der Junge Steine auf und füllt sie in die Taschen seines moosgrünen Frotteebademantels.

Als sie so voll sind, dass kein einziges Steinchen mehr hineinpasst, steigt der Junge in den See.

Er erschaudert, als das kalte Wasser seine Haut berührt. Dennoch geht er einen großen Schritt weiter. Und noch einen. Als er fünf Meter vom Ufer entfernt ist, schwimmen die Schöße des Mantels obenauf, doch das Gewicht der Steine zieht den Rest unter Wasser. Der Junge geht weiter. Noch mal fünf Meter, und das Wasser umspielt sein Kinn. Er geht weiter.

6

Julia Malmros blieb auf der Seite liegen, bis sie hörte, wie die Wohnungstür sich öffnete und wieder schloss. Das Bett roch nach Körperflüssigkeiten und Schweiß. Sie stand auf, schlüpfte in einen Morgenrock, zog rasch alle Laken und Bezüge ab und stopfte sie in den Wäschekorb. Dann hielt sie inne und betrachtete sich im Badezimmerspiegel. So sah also eine Frau aus, die gerade Sex gehabt hatte. Traurig.

Ihre charmanten Grübchen glichen eher Falten, und auch unter den Augen hatten sich Fältchen eingegraben. Ihre klare Kinnlinie war noch vorhanden, aber weniger konturiert als früher. Sie hatte durchaus noch ein hübsches Gesicht: große braune Augen, eine kleine, ein wenig zu flache Nase, und einen Mund, den Jonny manchmal »französisch« genannt hatte. Sie sah streng und sinnlich zugleich aus, nur verloren ihre körperlichen Vorzüge mit den Jahren nach und nach an Kontur.

Julias größter Stolz waren ihre Haare. Sie hatte sie hochgesteckt getragen, und als sie jetzt die Spange löste, fielen sie ihr bis über die Taille. Mit vierzig hatte sie die ersten grauen Haare bekommen. Danach war es schnell gegangen, und jetzt, mit einundfünfzig, war ihr Haar aschgrau. Sie sah aus wie Die kleine Prinzessin Tuvstarr –nach der Pensionierung.

Doch der Prinz zog von dannen.

Julia ging in die Küche, setzte sich an den Tisch, leerte erst ihr Glas und griff sich dann Kims, der nur daran genippt hatte. Obwohl es erst kurz nach zwei war, senkte sich draußen über dem Järntorget und in Julias Brust bereits die Dämmerung herab. Sie trank einen großen Schluck und stellte fest, dass es ihr richtig mies ging.

Was hatte sie sich eigentlich von der Begegnung mit Kim erhofft? Na ja, im Grunde nicht mehr als einen Nachmittag voller Zärtlichkeiten, Gespräche und einen wehmütigen Abschied. Sie hatte nicht vorgehabt, eine Beziehung mit einem Achtundzwanzigjährigen anzufangen, der nach seinen eigenen Worten kaputt und dessen Idol eine Comic-Schildkröte war.

Warum fühlte es sich dann so schlimm an?

Dieser Kim Ribbing hatte einfach etwas Besonderes an sich, eine … Geradlinigkeit. Die meisten Menschen waren ständig darauf fokussiert, welchen Eindruck sie machten, wie ihre nächste clevere Antwort ausfallen sollte. Kim war präsent, aufmerksam, und das hatte sich umso mehr gezeigt, als sie sich geliebt hatten. In den Jahren direkt nach der Scheidung von Jonny hatte Julia eine Anzahl von Partnern gehabt, nur leider waren die meisten von ihnen so leistungsfixiert gewesen, dass sie nicht wirklich lieferten. Ganz anders Kim. Er war wirklich präsent. Mit seinem geschmeidigen Körper, der reptilartigen Haut.

Über verschüttete Milch soll man nicht weinen.

Julia verzog unwillig den Mund. Wirklich erstaunlich, wie wenig Trost solche Volksweisheiten spendeten, und wer zum Teufel stellt sich schon hin und heult wegen verschütteter Milch? Ein Psychopath, that’s who.

Ihr Telefon klingelte. Als sie sah, dass es Jonny war, wollte sie zuerst gar nicht rangehen, aber sie kannte ihren Ex-Mann: Er würde wieder und wieder anrufen, bis sie zermürbt nachgab, also nahm sie den Anruf an.

»Hi, Jonny.«

»Na, Mädchen, wie geht’s, wie steht’s?«

»Nenn mich bitte nicht Mädchen!«

»Sorry. Alte Gewohnheit.«

Das war leider nur allzu wahr. Jonny und Julia hatten sich auf der Polizeiakademie kennengelernt, mit vierundzwanzig geheiratet, und schon drei Jahre nach der Hochzeit war Jonny dazu übergegangen, sie »Mädchen« zu nennen. Und bald darauf »altes Mädchen«. Zu den unzähligen Gründen, die zwanzig Jahre später zur Scheidung führten, gehörte unbedingt auch dieses »Mädchen«, eine von Jonnys Paradenummern.

»Ist was passiert?«, fragte Julia.

»Allerdings. Erinnerst du dich noch an Edward Dahlberg?«

»Klar. Was ist mit ihm?«

Der Fall war einer der letzten gewesen, an dem Julia gearbeitet hatte, ehe sie vor fünf Jahren den Dienst quittierte. Ein schwedischer Meeresbiologe, der in der norwegischen Ölindustrie arbeitete, hatte eines Tages seine Wohnung in Stavanger verlassen und war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Die Ermittlung in Zusammenarbeit mit der norwegischen Polizei war im Sand verlaufen. Der Mann blieb schlicht wie vom Erdboden verschluckt.

»Er ist sozusagen … wieder aufgetaucht«, sagte Jonny. »Ein Trawler vor der norwegischen Küste hatte ihn im Netz.«

»Wurde er eindeutig identifiziert?«

»Ja. Wie du dir denken kannst, war außer dem Skelett nicht sonderlich viel übrig, aber für einen Zahnabgleich hat es gereicht, und auch die DNA-Probe war positiv.«

»Teufel auch.« Julia hatte den Polizeijargon mehr oder weniger in dem Augenblick abgelegt, als sie in der Dienststelle am Kungsholmen aus der Tür marschiert war, aber wenn sie mit Jonny sprach, meldete er sich oft zurück. »Gibt es Hinweise auf die Todesursache?«

»Hm, hm.« Jonny machte es spannend. Julia seufzte. Jonny, der, wie Julia in ihren letzten Dienstjahren, inzwischen Kriminalkommissar war, hatte keine Ahnung, dass seine Kollegen ihn »Jonny the Cat« nannten. Und zwar nicht wegen seiner Geschmeidigkeit, sondern weil er gern um den heißen Brei herumschlich.

»Komm schon, Jonny«, sagte Julia, »spuck’s aus.«

»Sagen wir, gewisse Umstände deuten drauf hin, dass er nicht freiwillig im Meer gelandet ist.«

»Und diese Umstände wären?«

»Tja, zum Beispiel hatte der Tote … also das, was von ihm noch übrig war, Kabelbinder um Hand- und Fußgelenke. Die Arme hinterm Rücken.«

»Gewichte?«

»Keine Anzeichen dafür. Vermutlich haben sie den armen Kerl einfach gefesselt ins Meer geworfen und seinem Schicksal überlassen.«

»Autsch. Ganz schön kaltblütig.«

»Kannst du laut sagen. Aber weshalb ich anrufe: Jetzt, wo wir sicher wissen, dass es sich um Mord handelt … gab es damals bei deiner Ermittlung irgendeinen Hinweis darauf, dass es jemand auf Dahlberg abgesehen haben könnte?«

»Mein Bericht ist doch im System.«

»Schon klar. Aber ich frage dich. Wenn du jetzt nach sechs Jahren noch mal in dich gehst, ist da irgendwas? Irgendein Verdacht, der dir keine Ruhe gelassen hat? Du weißt, wie sehr ich deine Intuition schätze.«

Letzteres war eine glatte Lüge. Wann immer Julia in einer Fallbesprechung ihr Bauchgefühl erwähnt hatte oder »so eine Ahnung«, dass etwas nicht stimmte, hatte Jonny bloß gestöhnt. Für ihn zählten nur harte Fakten, am liebsten der rauchende Revolver in der Hand des Täters. Julia verkniff sich einen entsprechenden Kommentar und ließ ihre Gedanken nach Stavanger und zu Edward Dahlberg schweifen, der damals als vermisst gegolten hatte und heute als Mordopfer.

Egal, ob in der Firmenzentrale von Statoil oder draußen auf den Bohrinseln, wo Dahlberg hauptsächlich gearbeitet hatte: Jeder, mit dem Julia gesprochen hatte, berichtete, was für ein gewissenhafter, vielleicht ein wenig penibler Meeresbiologe Dahlberg gewesen war. Offenbar hatte der Mann ganz für seine Arbeit gelebt und keinerlei Feinde gehabt. Außerdem war er ein fähiger Taucher gewesen. Auch Selbstmordgedanken hatten sie damals ausgeschlossen.

»Nein, sorry«, sagte Julia. »Keine Spuren, die wir nicht zu Ende verfolgt hätten. Soweit ich mich erinnere, blieb Dahlbergs Fall vollkommen unerklärlich. Er ist einfach verschwunden.«

»Tja. Jetzt ermitteln wir also in einem Tötungsdelikt.«

»Dann viel Erfolg! Sag Bescheid, wenn ihr was rausfindet.«

»Kommt drauf an. Du weißt schon.«

»Ja, ja. Also … viel Glück.«

»Und wie geht’s dir sonst so?«

Julias Versuch, das Gespräch zu beenden, war wie gewöhnlich gescheitert. Jonny rief an, wann immer er etwas auf den Tisch bekam, das auch nur im Entferntesten mit einem ihrer früheren Fälle zusammenhing. Er schien sich in letzter Zeit wesentlich mehr für sie zu interessieren als während ihrer letzten Ehejahre. Allerdings beschäftigten Julia im Augenblick Millennium und Kim. Über Ersteres war sie zu Stillschweigen verpflichtet, und über Letzteren wollte sie nicht reden, also sagte sie: »Alles prima. Ich muss bloß gleich …«

»Hättest du Lust, dass wir uns mal treffen?«

»Jonny, nein. Ich hab dir doch gesagt …«

»Man kann’s sich ja auch anders überlegen.«

»Ich hab’s mir aber nicht anders überlegt. Tschüss, Jonny.«

Julia legte abrupt auf. Dem Ende ihrer Ehe war kein dramatisches Ereignis vorausgegangen, sondern der klassische stete Tropfen. Kurz gesagt: Das Leben mit Jonny war sterbenslangweilig geworden, und eines Tages hatte Julia diese Langeweile endgültig satt gehabt.

7

Julia Malmros duschte ausgiebig und rubbelte sich dann mit einem Frotteehandtuch energisch Gesicht und Haare. Sie schlüpfte in bequeme Sachen und legte sich das Handtuch über die Schultern, damit ihr noch feuchtes Haar nicht den Pulli nass machte. Dann ging sie in ihr Arbeitszimmer.

Mit vielleicht fünfzehn Quadratmetern war es der kleinste Raum der Wohnung. Am oberen Rand des Fensters, das auf den Innenhof zeigte, war ein schmaler Streifen dunkler Abendhimmel zu sehen. Von dem Stück Wand abgesehen, an das Julia ihre Post-its klebte, waren die Wände mit deckenhohen Regalen vollgestellt. Oh ja, fünf Regalbretter waren nur für die Übersetzungen ihrer eigenen Bücher reserviert. Ein bisschen Eitelkeit durfte sein.

Julia nahm auf dem ergonomischen Stuhl an ihrem Schreibtisch Platz. Den Tisch hatte sie bei einer Zwangsversteigerung von Industriemöbeln erstanden, er war riesig und nahm fast ein Viertel des Zimmers in Beschlag. Sie liebte die große Tischplatte, die Platz für ganze Berge von Papier und Büchern, für jede Menge Krimskrams und diverse Stifte bot. Als säße sie in einer echten Schreibwerkstatt.

Julia gruppierte die Post-its um und bastelte weiter an der Gliederung, die allmählich Kontur annahm, notierte ein nächtliches Gespräch zwischen Mikael und Lisbeth als Testballon für ihre Dialoge, recherchierte mexikanische Drogenkartelle im Internet und spielte mit dem Gedanken, Lisbeth ein Massengrab vor den Toren einer Geisterstadt entdecken zu lassen. Um halb acht klappte Julia den Laptop zu und streckte sich.

Das fühlte sich schon besser an. Jedes Mal, wenn sie mit Worten etwas erschuf, das es vorher nicht gegeben hatte, und ganz in ihre Erzählwelt eintauchte, verblasste die Wirklichkeit mit ihren Kümmernissen. In den seltenen Momenten, wenn es richtig gut lief, merkte Julia gar nicht, dass sie schrieb. Dann saß sie ein, zwei Stunden in dem Glauben am Schreibtisch, sie schriebe noch immer an der ersten Seite, ehe sie zu sich kam und erstaunt feststellte, dass es volle fünf waren. Ganz so war es heute nicht gewesen, aber inzwischen ließ sie sich auf die Erzählung ein und sah sie immer deutlicher vor sich.

Abendessen. Sie hatte nicht den Nerv, etwas zu kochen, also musste sie in ein Restaurant gehen. Zwei-, dreimal die Woche wählte sie diese Option. Zum Glück hatte Gamla Stan in diesem Punkt einiges zu bieten, das war einer der Vorteile daran, hier zu wohnen. Ein Nachteil waren die Touristenscharen. Jetzt im Winter waren die Straßen nicht so überlaufen, aber die meisten Restaurants hatten trotzdem geöffnet. Außer den Eisdielen natürlich.

Das Gefühl von Wehmut und Unvollkommenheit, das ihr von der Begegnung mit Kim geblieben war, überkam sie mit neuer Wucht, als sie die Wohnung verließ. Der Widerhall ihrer Schritte im Treppenhaus klang in ihren Ohren geradezu aufreizend verlassen. Sie fühlte sich wie eine einsame Frau. Vor der Scheidung von Jonny hatte sie sich ausgemalt, wie sie frei in der Welt herumreiste und ihre langen grauen Haare an Orten, von denen sie schon immer geträumt hatte, im Wind flatterten.

Sie hatte den Traum auch in die Tat umgesetzt und Italien, Spanien, Griechenland und Lateinamerika besucht. Dort hatte sie eine paar kürzere Affären, doch die meiste Zeit verbrachte sie allein. Irgendwie war es leichter, im Ausland einsam zu sein. Mit einer Flasche Weißwein im Eiskühler auf irgendeiner Piazza sitzen und die Leute zu beobachten …

Hier zu Hause in Stockholm, tagein, tagaus immer in denselben Straßen und mit Schneematsch an den Schuhen, fühlte sich die Einsamkeit … einsamer an. Auch wenn Julia damit alles in allem gut zurechtkam, gab es doch einen Teil in ihr, der unter dem Alleinsein litt. Ein Vorteil von Millennium war, dass die Arbeit am Roman sie wohl wieder in die Welt hinaus führen würde.

Julia war so in ihre Gedanken an eine alternative Zukunft versunken, dass sie fast über die Gestalt stolperte, die draußen im Hauseingang kauerte. Ein Paar hellblauer Augen blickte zu ihr herauf.

»Kim? Was machst du hier? Wie lang sitzt du hier schon?«

»Paar Stunden.«

»Warum?«

»Verdammt«, sagte Kim und schüttelte den Kopf, dass seine langen Haare flogen. »Verdammt noch mal.«

8

Die nächsten beiden Tage verbrachten Kim Ribbing und Julia Malmros mehr oder weniger komplett im Bett. Natürlich gingen sie mal auf Toilette, tranken Wasser oder Wein und ließen sich Essen liefern, aber sobald Julia begann, das Bett neu zu beziehen, verwüsteten sie es gleich wieder.

Sie hatte keine Ahnung, woher diese plötzliche Leidenschaft kam, und sie begriff auch nicht Kims verzehrendes Verlangen nach ihr. Vielleicht war an der sprichwörtlichen Anziehung der Gegensätze wirklich etwas dran, und Kim suchte in ihr auch das völlig andere und Fremde.

Julia hütete sich, Fragen zu stellen, um ja nicht die Stimmung zu verderben. Denn obwohl sie sich während dieser Tage viele Male geliebt hatten, waren sie von einer »wunderbaren« oder »liebevollen« Stimmung weit entfernt. In ihren Umarmungen lag eine wilde Verzweiflung, als ob sie beide hinter etwas herjagten, das sich so nicht erreichen ließ. Es war wie der Versuch, einen Nagel mit einer Säge einzuschlagen.

Sie redeten über die trivialsten, belanglosesten Dinge. Lieblingsplätze in Stockholm, wie viele Straßennamen sie kannten, Kinderserien aus den Siebzigern, Åsa-Nisse-Filme … Kim hatte zu Julias Erstaunen sämtliche dieser alten Klamaukfilme gesehen und konnte sogar die im Prinzip immer gleichen Handlungen auseinanderhalten.

Aus fallen gelassenen Bemerkungen und Andeutungen puzzelte Julia sich nach und nach ein wenn auch sehr lückenhaftes Bild von Kims Vergangenheit zusammen. Ja, er entstammte einem recht vermögenden Zweig des Adelsgeschlechts der Ribbings. Seine Eltern waren bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen, als Kim vierzehn war, und sein großes Erbe machte ihn für den Rest des Lebens finanziell unabhängig. Als Jugendlicher hatte er intensiv geturnt, was seine geschmeidigen Bewegungen erklärte. Mit dem Programmieren hatte er mit zehn angefangen.

Julia erzählte von ihrer Kindheit in Alvik mit einem Polizisten als Vater und einer Mutter, die als Sekretärin auf seiner Dienststelle arbeitete. Ihr Vater war mit seinen achtzig Jahren bettlägerig und wurde zu Hause von einem mobilen Pflegedienst versorgt. Julia erzählte auch in groben Zügen von ihrer Ehe mit Jonny, und der großen Erleichterung, endlich nicht mehr Julia Munther zu heißen, wie ein kesses Mädchen in einer schwedischen Schmierenkomödie. Sie erzählte von ihrem Häuschen auf Tärnö in den Stockholmer Schären, wo sie die Sommer verbrachte. Bei alldem stand freilich der sprichwörtliche Elefant im Raum und starrte die beiden an, wenn sie sich in den Laken wälzten: Jede Umarmung, jede Zärtlichkeit brachte Julia aufs Neue in Berührung mit Kims fremder Haut, die rau und rifflig war und sie an mumifizierte Körper denken ließ. Sie mied das Thema und stellte keine Fragen. Auf eine vorsichtige Bemerkung zu seiner schiefen Nase hatte Kim geantwortet: »Ich hatte eine Phase, in der ich mich geprügelt habe«, und damit war das Thema beendet.

9

Für den Morgen des dritten Tags hatte Julia einen Wecker gestellt, denn sie musste zu einem wichtigen Termin in den Verlag. Heute sollte sie verbindlich Bescheid geben, ob sie sich auf das ungewisse Abenteuer Millennium einlassen wollte. Sie stand auf und zog sich ordentlich, aber mit genau dem richtigen Tick casual an, um nicht übereifrig zu wirken. Kim blieb im Bett liegen und sah sie an. Obwohl sie zwei Tage und Nächte damit verbracht hatten, auch die letzten Zentimeter ihrer Körper zu erforschen, fühlte Julia sich verlegen, als sie sich unter dem Blick von Kims hellblauen Augen den BH zuhakte.

»Was hast du vor?«, fragte sie und schlüpfte in eine weiße Bluse. »Bleibst du, oder … soll ich dir einen Schlüssel dalassen, damit du abschließen kannst?«

»Weiß nicht«, sagte Kim. »Kommt drauf an. Lass mir einen da.«

Noch etwas, über das sie keine Silbe verloren hatten: Ob und wie es mit ihnen weitergehen sollte. Es war schwer, sich eine gemeinsame Zukunft vorzustellen, also besser nicht darüber reden. Julia wurde klar, dass ihr Angebot ein erster Schritt war und die Möglichkeit eröffnete, dass sie gemeinsam weitermachten.

»Wo wohnst du eigentlich?«, fragte sie, ohne zu wissen, ob die Frage ein Stimmungskiller sein könnte.

»Kann nicht sagen, dass ich wirklich irgendwo wohne.«

»Aber du musst doch irgendwie ein Dach überm Kopf haben?«

»Hotel. Ich wohne in verschiedenen Hotels.«

»Oh. Wie lange schon?«

»Seit ich …«, ein Schatten legte sich auf Kims Gesicht, und Julia merkte deutlich, wie er gerade noch einen anderen Abzweig nahm, »… seit ich allein wohnen darf.«

»Muss ganz schön teuer sein.«

Kim zuckte mit den Schultern. Julia wusste nicht, wie groß sein Vermögen war, aber Andeutungen legten nahe, dass ihm wesentlich mehr Mittel zur Verfügung standen als ihr, und sie hatte immerhin zehn Millionen Kronen in verschiedenen Fonds angelegt.

Etwas an Kims Haltung, an der Art, wie er im Bett lag, sagte ihr, dass ein Abschiedskuss unangebracht war. Also hob sie nur die Hand. »Tschau für ein Weilchen, oder für immer«, sagte sie und verließ die Wohnung.

10

Im Verlag brach Jubel aus und die Sektkorken knallten, als Julia Ja sagte. Ihre Idee einer international angelegten Storyline, in deren Mittelpunkt mutige Journalisten standen, die sich mit mächtigen Drogenkartellen anlegten, wurde mit Begeisterung aufgenommen. Angefeuert von ein paar Gläsern Sekt, malte Julia die Szene aus, in der Lisbeth Salander mit den Killern der Drogenbarone auf den Fersen durch die Geisterstadt in der mexikanischen Wüste schleicht. Alle sahen sie mit leuchtenden Augen an und beteuerten, dass Julias Millennium-Roman garantiert fantastisch würde.

Als Julia unten im Schneeregen auf die Straße trat, fühlte sie sich von der Wirklichkeit wie losgelöst. Erst die rauschhaften Tage und Nächte mit Kim und jetzt diese hymnische Begeisterung für ihren sagenhaften Erfindungsreichtum. Dazu drei Gläser Sekt auf nüchternen Magen. Julia war so übersensibel, dass sie noch die kleinste Schneeflocke auf ihrer erhitzten Haut spürte. Sie musste sich kurz an einem Laternenpfahl festhalten, um nicht wie ein Ballon wegzuwehen.

Ruhig, ganz ruhig.

Sie senkte den Kopf und holte ein paarmal tief Luft. Neben ihr platschte es. Als sie aufblickte, sah sie eine Dame im Rentenalter, die einen Zwergpudel Gassi führte und Julia einen missbilligenden Blick zuwarf. Dass diese Person sich nicht schämt, am helllichten Tag schon betrunken. Nein, falsch. So hätte man sie vermutlich früher angesehen. Heute war es eher: Sieh mal an, Julia Malmros. Hat mittags schon einen sitzen. Das muss ich unbedingt meinen Freundinnen erzählen. Julia rang sich ein gewinnendes Lächeln ab, doch die Dame schnaubte nur unwirsch und stapfte weiter.

Okay. Der Verlag war im Boot. So weit, so gut. Blieb nur noch eins: Julia musste sich zusammenreißen und das verflixte Buch auch schreiben. Die letzten Tage waren in einem Rausch der Leidenschaft verflogen, der für rationales Denken keinen Raum ließ. Höchste Zeit, sich zusammenzureißen, Arbeit und Vergnügen zu trennen und zur Alltagsroutine zurückzukehren. Wie sie das mit Kim Ribbing unter einen Hut bringen sollte, war Julia allerdings schleierhaft.

11

Und so löste der Anblick von Kim Ribbings Stiefeln im Flur bei Julia Malmros sehr gemischte Gefühle aus. Ein Teil von ihr wollte nichts sehnlicher, als in die feucht-klebrige Blase aus atemlosen Küssen, Körperschweiß und Orgasmen zurückkehren, ein anderer drängte darauf, sich die trockene, bequeme Schreibkluft anzuziehen und als Fräulein Vorbildlich am Schreibtisch Platz zu nehmen.

Julia zog Mantel und Schuhe aus und ging ins Schlafzimmer. Kim lag bäuchlings mit von der Tür abgewandtem Gesicht auf dem Bett. Aus den Airpods in seinen Ohren kam leise Musik. Julia wurde neugierig und schlich näher. Als sie nur noch einen Meter von Kim entfernt war, konnte sie hören, was die Stimme in den Kopfhörern sang, und zog die Augenbrauen hoch. Zwei dunkle Augen, und Liebesflammen brannten …

Noch ein merkwürdig geformtes Puzzleteil in dem Rätsel namens Kim Ribbing. Julia streckte die Hand aus und berührte seine nackte Schulter. Kim schrie auf und zuckte zur Seite, dann wirbelte er herum, riss sich die Kopfhörer aus den Ohren und starrte sie an.

»Entschuldige«, sagte Julia. »Ich …«

»Schleich dich nicht so an mich ran!«, erwiderte Kim mit rauer Stimme.

»Ich wollte dich nicht erschrecken.«

Kim rieb sich energisch die Augen, als wollte er etwas Klebriges loswerden. Julia breitete hilflos die Arme aus, ihr fiel nichts mehr ein, was sie noch zur ihrer Entschuldigung sagen konnte. Um die Situation zu entspannen, fragte sie: »Hörst du Sven-Ingvars?«

»Ja«, antwortete Kim und schwang die Beine über die Bettkante. »Und?«

»Nichts und«, antwortete Julia. »Hatte ich nur nicht erwartet.«

Mit fahrigen Bewegungen zog Kim seine Sachen an, die über den Boden verstreut lagen, seit Julia sie ihm runtergerissen hatte. Als Letztes zog er sich den schwarzen Rollkragenpullover über, auf dem Schildkröte Skalman den Zeigefinger hob, wie um etwas zu erläutern oder jemanden zu schelten: Nein, Lille Skutt. Von Donnerhonig bekommst du nur Bauchschmerzen.

Kim benahm sich wie jemand, den man bei etwas Schlimmem ertappt hat und der sich der Situation entziehen will, indem er so schnell wie möglich abhaut. Julia setzte sich aufs Bett und faltete die Hände im Schoß. »Du kannst selbstverständlich hören, was du willst«, sagte sie. »Und es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe.«

»Okay«, sagte Kim. »Schon klar.«

Er suchte ein letztes Mal den Schlafzimmerboden ab, um sich zu vergewissern, dass er nichts vergessen hatte. Sein Blick blieb in der Ecke zwischen Schlafzimmerschrank und Wand hängen und er erstarrte. Julia folgte seinem Blick. Außer dem Rechteck der Schranktür mit einem kleinen Kreis in der Mitte, dem Fensterbrett und einem Blumentopf gab es dort nichts.

»Was ist?«, fragte sie verwundert.

Kim deutete auf die Ecke und sagte: »Da ist … ein Muster.« Er schüttelte sich, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und marschierte dann Richtung Tür. Auf der Schwelle blieb er stehen. Es kostete ihn sichtlich Überwindung, als er sich umdrehte, die paar Schritte auf Julia zuging und ihr beinahe aggressiv einen Kuss auf die Wange drückte.

»Tschüss«, sagte er. »War schön.«

Julia nickte und blieb auf dem Bett sitzen. Sie hörte, wie Kim sich im Flur den Mantel überzog und die Wohnungstür aufging und wieder ins Schloss fiel. Auf einmal war es sehr still. Julia sah noch einmal in die Ecke, wo außer den völlig normalen Konturen kein Muster erkennbar war. Sie strich über das Bettlaken, auf dem sich eingetrocknete Flecken abzeichneten. Sie würde schon wieder ein neues aufziehen müssen.

Zwei dunkle Augen, und Liebesflammen brannten …

Julia hatte ziemlich dunkle Augen. Hatte Kim an sie gedacht, als er im Bett lag und Sven-Ingvars hörte? Hatte er deshalb dieses Lied ausgesucht, oder war es einfach nur Zufall? Und was wäre ihr lieber?

12

»Kim? Kim? Hörst du mich?« Obergärtner Johansson kniet neben dem Jungen, der auf dem Rücken am Seeufer liegt. Sein klitschnasser Arbeitsoverall klebt ihm am Leib, als er dem Kind über die zarte, kalte Wange streicht. Es war reines Glück, dass er den goldenen Lockenschopf gerade noch rechtzeitig gesehen hat, bevor er unter der Wasseroberfläche versank.

Johansson ist in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, um die Reben des Weingartens zu schneiden, eine mühsame, langwierige Arbeit. Er wollte gerade eine Rebe stutzen, als er aus dem Augenwinkel etwas sah, was ihm zunächst wie ein tauchender Wasservogel vorkam. Er hat ein paar Sekunden gebraucht, um zu begreifen, dass das helle Gekräusel kein Gefieder war, sondern ein Haarschopf. Da hat er die Rebschere fallen lassen und ist runter zum See gerannt.

Er hat eine halbe Minute bis zum Seeufer gebraucht und noch einmal so lang, um zu der Stelle zu waten und zu schwimmen, wo der Kopf verschwunden war. Dann ist er getaucht. Der Anblick ließ ihn aufstöhnen, und ein Strom von Blasen stieg aus seinem Mund.

Kim Ribbing hatte die Augen geschlossen. Er stand reglos da, die Arme eng am Körper. Seine blonden Haare umwogten seinen Kopf wie der Glorienschein eines Meeresgottes. Johansson begriff nicht, woher ein siebenjähriger Junge eine derartige Selbstdisziplin in der Kunst des Ertrinkens nahm.

Für weitere Gedanken blieb ihm keine Zeit. Johansson tauchte zu Kim hinab, fasste den Jungen um den Leib und zog ihn mit sich hoch. Kims Augen und Mund blieben geschlossen, als sein Kopf an die Oberfläche kam. Johansson rüttelte ihn und schrie: »Atme, Junge! Atme!« Ein paar Sekunden verstrichen, dann ein Atemzug, der eher wie ein Seufzen klang, und Kims Lunge weitete sich. Johansson zog ihn an seine Brust und schwamm auf dem Rücken zum Strand.

 

»Kim? Kim? Hörst du mich? Was ist mit dir?«

Die Augen des Jungen sind noch immer geschlossen. Was Johansson am meisten beunruhigt, ist die Frage, wie sein Großvater, Graf Sigward Ribbing, den Vorfall aufnehmen wird. Graf Ribbing ist ein strenger Mann, und Johansson weiß, dass er nicht vor körperlicher Züchtigung zurückschreckt, wenn sein Enkel während der Sommerwochen, die er alljährlich auf Roshult verbringt, die Vorschriften verletzt. Der Versuch, sich das Leben zu nehmen, verletzt zweifellos die Vorschriften. Johansson schielt bang zum Herrenhaus hoch. Zum Glück ist es erst sieben, und der Graf steht gewöhnlich nicht vor acht Uhr auf.

Als Johansson wieder Kim ansieht, hat der Junge die Augen geöffnet. Der Morgenhimmel spiegelt sich darin. Könnte man sich den Blick eines Engels vorstellen, sähe er genau so aus, erfüllt von des Himmels Herrlichkeit.

»Was ist mit dir?«, fragt er den Jungen. »Warum …«

»Verraten Sie es nicht«, murmelt der Junge mit schwacher Stimme. »Verraten Sie Großvater nichts.«

13

Den Sekt spürte Julia Malmros immer noch, und es würde noch ein paar Stunden dauern, bis sie wieder zum Schreiben in der Lage wäre. Einige Kollegen hatten ihr gegenüber behauptet, nach einem oder zwei Gläsern Wein seien die Gedanken gelöster. Doch die meisten mussten wie Julia stocknüchtern sein, um die nötige Konzentration fürs Schreiben aufzubringen.

Einmal war sie nach einem feuchtfröhlichen Abend im Engelen nach Hause gekommen und hatte so etwas Seltenes wie Inspiration verspürt. Damals hing sie bei ihrem aktuellen Åsa-Fors-Roman fest. Doch in jenem Augenblick der Klarheit sah sie die Lösung deutlich vor sich, setzte sich mit benebeltem Hirn an den Computer und schrieb vier Seiten. Was sie am nächsten Morgen las, war leider vollkommener Mist gewesen.

Schreiben fiel also aus. Was dann? Julia stand vom Bett auf, ging ins Wohnzimmer und öffnete Spotify auf ihrem Handy, das mit ein paar Bluetooth-Lautsprechern gekoppelt war. Sie tippte »The Dead of Night« ein, startete das Lied und ließ sich auf die Couch fallen. Durch das Wohnzimmer dröhnte ein Motor mit immer höherer Drehzahl, bis er von lauten Gitarren und einem pulsierenden Bass abgelöst wurde, der in Julias Brust vibrierte. Der Depeche-Mode-Song war das musikalische Pendant zu einer kalten Dusche, denn mit seinem monotonen Hämmern spülte er sämtliche Schlacke aus ihrem Kopf, von den geilsten Jungs und den leichtesten Mädchen.

Julia tippte auf Pause. Nein. Das funktionierte nicht. Die rauen Töne passten nicht zu ihrer Stimmung. Sie ging durchs Wohnzimmer und checkte die Lage am Järntorget, bevor sie sich wieder auf die Couch setzte und »Zwei dunkle Augen« ins Suchfeld eingab.

Die Gitarren, mit denen das Lied einsetzte, hatten mit Depeche Mode so viel gemeinsam wie ein Kaninchen mit einem tollwütigen Wolf. Das galt auch für die Stimme von Sven-Erik Magnusson im Vergleich zu der von David Gahan. Julia verzog angewidert das Gesicht, als er in seinem weichen värmländischen Dialekt zu singen begann. Es war Sommer, mein Freund, und ich fand die Liebe …

Julias Mundwinkel waren immer noch in demonstrativer Abscheu heruntergezogen, als sie merkte, dass ihre Wangen nass waren, und begriff, dass sie weinte. Himmelherrgott, wie lächerlich! Normalerweise konnte sie diese Art von Musik nicht ertragen, und es war noch nicht einmal Sommer. Trotzdem hörte sie das Lied bis zum Ende, während ihr unaufhörlich die Tränen herabrannen. Als es vorbei war, spielte sie es von vorn. Dann wählte sie eine Playlist mit Sven-Ingvars’ größten Hits und hörte sie hintereinanderweg. Nach den letzten Takten fühlte sie sich vor lauter Weinen völlig ausgelaugt.

Im Gymnasium hatte Julia zur Synth-Rock-Szene gehört. Gegelter Seitenscheitel, rosa fingerlose Handschuhe, Lederjacke, das volle Programm. Fans von Depeche Mode und Erasure wurden als »Baby-Synthies« bezeichnet; sie selbst hatte D. A. F. und Nitzer Ebb gehört. Doch mit der Zeit waren die aggressiven Töne des Electro-Industrial den sanfteren, melodiöseren Varianten gewichen. Weichgespülter Electro-Sound.

Doch irgendwo gab es eine Grenze, und sie hatte angenommen, dass diese viele Kilometer von Sven-Ingvars entfernt lag. Und hier saß sie nun mit rot geweinten Augen. Dieser verdammte Kim Ribbing. Womöglich als Versuch, Abbitte zu leisten, beendete Julia ihr Musikprogramm mit »A Question of Lust«, woraufhin sie erneut in Tränen ausbrach.

Gut zwei Stunden waren vergangen. Julia atmete tief durch und schlug sich auf die Schenkel. Hier saß eine der meistgeschätzten Krimiautorinnen Schwedens, der gerade ein Auftrag angeboten worden war, der sie zur Multimillionärin machen und es ihr ermöglichen würde, mehrmals um die Welt zu jetten. Und sie saß hier und vergoss Krokodilstränen zu den Hits einer Schlagerband? No Sir, es wurde Zeit, loszulegen.

Als Julia sich am Schreibtisch einrichtete, hatte sie nicht etwa einen Kloß im Hals. Vielmehr fühlte es sich an, als hätte sie ein Stück Stoff verschluckt. Etwas unangenehm Raues, das in ihrer Kehle feststeckte. Doch sie riss sich zusammen und öffnete das Dokument »Notizen-Millennium«, in dem sie die Wendungen in der Liebesgeschichte zwischen Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander festhielt.

14

»Du bist also im Rauschzustand?«

Irma Ryding nahm einen Zug von ihrem dünnen Zigarillo und klopfte Ascheflocken ab, die im Schneematsch vor dem Eingang des Engelen landeten. Irma war einundachtzig Jahre alt und behauptete, sie würde »nur wegen der Optik« rauchen. Ihre Lunge gab es eigentlich nicht mehr her, aber sie fand, sie hätte ein Image aufrechtzuerhalten.

Schon in den Sechzigerjahren, vor Julia Malmros’ Geburt, hatte Irma Ryding als Krimiautorin gearbeitet, war aber im Schatten von Sjöwall-Wahlöö geblieben. Trotzdem hatte sie unverdrossen jedes Jahr einen Krimi produziert, und ihr Leserkreis war groß genug, dass sie von ihren Büchern leben konnte. Außerdem bekam sie eine Rente.

»Im Rauschzustand?«, fragte Julia und zog an der einzigen Zigarette, die sie sich an solch einem Abend genehmigte. Sie hatte sich eine Packung am Kiosk gekauft. Ja, Camel Blue.

»Genau. Keine Liebe«, sagte Irma, »eher eine Art Fieber oder ein Sturm in deinen Adern. Hitze, Unruhe und was sonst noch alles Wunderbares dazugehört.«