So ruhet in Frieden - John Ajvide Lindqvist - E-Book

So ruhet in Frieden E-Book

John Ajvide Lindqvist

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Beschreibung

Die Toten erwachen!

Stockholm, 13. August 2002: Nach einer extremen Hitzewelle legt sich ein elektrisches Feld über die Stadt. Lampen können nicht mehr gelöscht, Maschinen nicht mehr ausgeschaltet werden. Die Menschen leiden unter mörderischen Kopfschmerzen, ein Chaos droht. Doch plötzlich ist alles wieder vorüber. Oder doch nicht? Irgendetwas ist verändert.

Als der pensionierte Journalist Gustav Mahler einen Anruf aus dem nahegelegenen Krankenhaus bekommt, will er nicht glauben, was ihm berichtet wird: Die Toten wandeln umher ...

Mehr als nur ein Zombie-Roman - perfekt komponierter Horror aus der Feder von John Ajvide Lindqvist!

»Schwedens Antwort auf Stephen King.« Daily Mirror

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Seitenzahl: 504

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Prolog

Sveavägen, 13. August, 22.49

13. August

Svarvargatan 16.03

Vällingbyplan 17.32

Täby Kyrkby 21.05

Krankenhaus Danderyd 23.07

Krankenhaus Danderyd 23.46

Täby Kyrkby 23.20

Überblick 1

14. August

Råcksta 00.12

Krankenhaus Danderyd 00.34

Täby Kyrkby 00.52

Råcksta 02.35

Überblick 2

Gespräch 1

Heden 03.48

Industrigatan 07.41

Vällingby 08.00

Solna 08.45

Anlage 1

Presse

14. August II

Vällingby 11.55

Täby Kyrkby 12.30

Koholma 13.30

Kungsholmen 13.45

Bondegatan 15.00

Koholma 17.00

Täby Kyrkby 18.00

Bondegatan 18.30

Kungsholmen 20.15

Täby Kyrkby 20.20

Bondegatan 21.50

Svarvargatan 22.15

Koholma 22.35

Anlage 2

15. August

16. August

17. August

Svarvargatan 07.30

Bondegatan 09.30

Täby Kyrkby 09.30

Koholma 11.00

Svarvargatan 11.15

Heden 12.15

Koholma 12.30

Heden 12.50

Heden 12.55

Heden 13.15

Rundfunknachrichten

17. August II

Labbskäret 16.45

Kungsholmen 17.00

Gräddö 17.45

Heden 20.50

Norra Brunn 21.00

Tomaskobb 21.10

Labbskäret 21.50

Heden 22.00

Svarvargatan 22.30

Heden 22.35

Ålandsee 23.30

Danksagung

Über den Autor

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Impressum

 

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Über dieses Buch

Stockholm, 13. August 2002: Nach einer extremen Hitzewelle legt sich ein elektrisches Feld über die Stadt. Lampen können nicht mehr gelöscht, Maschinen nicht mehr ausgeschaltet werden. Die Menschen leiden unter mörderischen Kopfschmerzen, ein Chaos droht. Doch plötzlich ist alles wieder vorüber. Oder doch nicht? Irgendetwas ist verändert.

Als der pensionierte Journalist Gustav Mahler einen Anruf aus dem nahegelegenen Krankenhaus bekommt, will er nicht glauben, was ihm berichtet wird: Die Toten wandeln umher …

JOHN AJVIDELINDQVIST

SO RUHETIN FRIEDEN

Aus dem Schwedischenvon Paul Berf

 

Für Fritiof.Mah-fjou!

Prolog

Wenn sich der Strom umkehrt

Der Tod ist nur die Nadel,die das Auge öffnet, damit duendlich siehst das Licht,in dem wir lebten.

Eva-Stina Byggmästar – Der hasenherzige Mensch

Sveavägen, 13. August, 22.49

»Salud, comandante.«

Henning hob die Rotweinbox mit Gato Negro und prostete der Metallplatte im Asphalt zu. Eine einsame verwelkte Rose lag dort, wo jemand sechzehn Jahre zuvor Olof Palme ermordet hatte. Henning ging in die Hocke und ließ den Finger über die Reliefbuchstaben gleiten.

»Scheiße«, sagte er. »Es geht bergab, Olof. Immer mehr bergab.«

Er hatte mörderische Kopfschmerzen, und das lag nicht am Wein. Die Menschen, die auf dem Sveavägen vorbeigingen, hatten die Blicke gesenkt, manche pressten ihre Handflächen gegen die Schläfen.

Am früheren Abend hatte man nur das Gefühl gehabt, es würde ein Gewitter aufziehen, doch die elektrische Spannung in der Luft war schleichend, fast unmerklich stärker geworden und inzwischen nahezu unerträglich. Nicht eine Wolke am Abendhimmel, kein fernes Grollen, keine Hoffnung auf eine Entladung. Das gestaltlose elektrische Feld war zwar nicht greifbar, aber man spürte es.

Es glich einem umgekehrten Stromausfall; seit zirka neun Uhr konnten keine Lampen ausgeschaltet, keine elektrischen Maschinen abgestellt werden. Versuchte man den Stecker zu ziehen, knisterte es furchteinflößend, und Funken flogen zwischen Steckdose und Stecker und verhinderten, dass der Stromkreis unterbrochen wurde.

Und das Feld wurde immer stärker.

Hennings Kopf fühlte sich an, als hätte man einen elektrischen Zaun um seine Stirn gewickelt. Schmerzstöße pulsierten und waren eine reine Folter.

Mit heulenden Sirenen fuhr ein Krankenwagen vorbei. Entweder war er im Einsatz, oder sie ließen sich nicht mehr abschalten. Zwei parkende Wagen tuckerten im Leerlauf.

Salud, Comandante.

Henning hob die Weinbox ans Gesicht, legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Hahn. Ein Weinstrahl traf sein Kinn und lief den Hals herab, ehe es ihm gelang, ihn so zu justieren, dass der Wein in seinen Mund lief. Er schloss die Augen und trank ein paar Schlucke, während der verschüttete Wein seine Brust hinunterlief, sich mit Schweiß vermischte und weiter hinabsickerte.

Die Hitze. Zu allem Überfluss auch noch diese Hitze.

Seit zwei Wochen zeigten alle Wetterkarten riesige, fröhliche Sonnen, die das ganze Land bedeckten. Pflastersteine und Gebäude strahlten Wärme ab, die sie tagsüber gespeichert hatten, und obwohl es schon fast elf war, lag die Temperatur immer noch bei ungefähr dreißig Grad.

Henning nickte dem ermordeten Ministerpräsidenten zum Abschied zu und nahm den Weg des Mörders, ging zur Tunnelgatan. Der Griff an der Weinbox war gerissen, als er sie aus einem offenen Autofenster gehoben hatte, sodass er sie unter dem Arm tragen musste. Sein Kopf fühlte sich größer an als sonst, aufgeblasen, und er strich sich mit den Fingern über die Stirn.

Äußerlich war der Kopf wie immer, seine Finger dagegen waren durch die Hitze und den Alkohol angeschwollen.

Dieses verdammte Wetter. Das ist doch nicht normal.

Er stützte sich auf das Geländer, stieg langsam die Treppen hinauf. Jeder unsichere Schritt hallte schmerzhaft in seinem Schädel wider. Die Fenster auf beiden Straßenseiten standen offen und waren hell erleuchtet, aus manchen strömte Musik. Henning wollte Dunkelheit; Dunkelheit und Stille. Er wollte Wein trinken, bis er ruhig wurde und wegdämmerte.

Am oberen Ende der Treppe ruhte er sich ein paar Sekunden aus. Das Ganze wurde schlimmer und schlimmer. Es ließ sich unmöglich sagen, ob es ihm immer schlechter ging oder das Feld an Stärke zunahm. Jetzt pulsierte es nicht mehr, jetzt war es ein beständig brennender Schmerz, der sein Gehirn umklammerte.

Nein. Das galt wahrhaftig nicht nur für ihn.

Direkt neben ihm stand schräg zum Bürgersteig geparkt ein Wagen. Der Motor war im Leerlauf, die Fahrertür stand offen, und die Stereoanlage spielte in voller Lautstärke Living Doll. Neben dem Auto hockte mitten auf der Straße der Fahrer und presste seine Hände an den Kopf.

Henning kniff die Augen zu, öffnete sie wieder. Bildete er sich das nur ein, oder war das Licht in den umliegenden Wohnungen heller geworden?

Etwas. Wird. Passieren.

Vorsichtig, Schritt für Schritt, überquerte er die Döbelnsgatan und gelangte in den Schatten der Kastanienbäume auf dem Friedhof der Johanneskirche, wo er zusammenbrach, nicht mehr weiterkonnte. Mittlerweile drehte sich alles; es klang, als befände sich in der Baumkrone über seinem Kopf ein Bienenschwarm. Das Feld wurde stärker, sein Kopf wurde zusammengepresst wie tief unter Wasser, und durch offene Fenster hörte er Menschen schreien.

Jetzt sterbe ich.

Die Kopfschmerzen waren jenseits aller Vernunft. Dass so viel Schmerz auf einer so kleinen Fläche konzentriert sein konnte. Sein Kopf würde jede Sekunde implodieren. Das Licht in den Fenstern wurde immer heller, die Schatten der Blätter warfen ein psychedelisches Muster auf seinen Körper. Henning wandte sein Gesicht gen Himmel, riss die Augen auf und wartete auf den Knall, das Platzen.

Ping.

Es war fort.

Als wäre ein Stromschalter umgelegt worden. Weg.

Die Kopfschmerzen hörten schlagartig auf, der Bienenschwarm verstummte abrupt. Alles war wieder wie immer. Henning versuchte den Mund zu öffnen, um einen Laut von sich zu geben, eventuell danke zu sagen, aber seine Kiefer hatten sich verkrampft. Die Muskeln schmerzten, nachdem sie so lange angespannt gewesen waren.

Stille. Dunkelheit. Und etwas fiel vom Himmel. Henning sah es ganz kurz, ehe es neben seinem Kopf aufschlug. Es war etwas Kleines, ein Insekt. Henning atmete durch die Nase aus und ein, genoss den trockenen Erdgeruch. Sein Hinterkopf ruhte auf etwas Hartem und Kühlem. Er drehte den Kopf, um auch seine Wange zu kühlen.

Er lag auf einer Marmorplatte. Unter seinem Gesicht spürte er eine Unebenheit. Buchstaben. Er hob den Kopf an und las, was auf ihr geschrieben stand.

CARL4.12.1918 – 18.7.1987GRETA16.9.1925 – 16.6.2002

Über diesen standen weitere Namen. Ein Familiengrab. Greta war mit Carl verheiratet gewesen, hatte die letzten fünfzehn Jahre jedoch als Witwe gelebt. Soso, soso. Henning sah eine kleine grauhaarige Frau vor sich, die mit Mühe ihren Rollator aus einer großbürgerlichen Wohnung bugsierte, den Streit um das Erbe, der ausgebrochen war, als sie vor zwei Monaten starb.

Auf der Marmorplatte bewegte sich etwas, und Henning blinzelte. Es war eine Larve. Eine kreideweiße Larve von der Größe eines Zigarettenfilters. Sie wirkte gequält, wand sich auf dem schwarzen Stein und tat Henning leid, weshalb er sie mit dem Finger anstieß, um sie ins Gras zu befördern. Doch die Larve hing fest.

Was ist denn das jetzt wieder …

Henning ging mit dem Gesicht ganz dicht an die Larve heran und stieß sie erneut an. Sie schien sich in den Stein gebohrt zu haben. Henning zog sein Feuerzeug aus der Hosentasche und machte es an, um besser sehen zu können. Die Larve schrumpfte. Henning war mit den Augen so nah, dass seine Nase die Larve fast berührte, und das Feuerzeug versengte ein paar Haare. Nein. Die Larve schrumpfte ganz und gar nicht. Es war nur immer weniger von ihr zu sehen, weil sie sich langsam in den Stein bohrte.

Nein …

Henning klopfte mit den Knöcheln gegen den Stein, und es war Stein, keine Frage. Teurer, kompakter Marmor. Er lachte auf, sagte laut:

»Ne, hör mal. Ne, die Larve da …«

Inzwischen war sie fast verschwunden. Nur ein letzter, kleiner weißer und winkender Knopf, der unter Hennings Augen im Stein versank und verschwand. Henning tastete mit dem Finger die Stelle ab, an der die Larve verschwunden war. Da war kein Loch, kein Abrieb, wo sich die Larve durchgegraben hatte. Sie war herabgefallen, und jetzt war sie fort. Henning tätschelte den Stein mit der flachen Hand und sagte: »Toll. Das ist toll. Tolle Arbeit.«

Dann nahm er den Wein und begab sich zur Kapelle, um sich auf die Treppe zu setzen und zu trinken.

Er war der Einzige, der es sah.

13. August

Womit habe ich das verdient?

Die Toten, sie trotten zu ihren alten Grundstückenmit der Zeit, mit der Zeit …

Gunnar Ekelöf – Wenn sie herauskommen

Svarvargatan 16.03

Der Tod …

David blickte vom Schreibtisch auf und betrachtete das gerahmte Foto von Duane Hansons Plastikskulptur Supermarket Lady.

Die übergewichtige Frau in dem rosa Pullover und türkisen Rock schob einen Einkaufswagen vor sich her. Sie hatte Lockenwickler in den Haaren, eine Fluppe im Mundwinkel. Ihre Schuhe waren ausgelatscht, umhüllten mit Mühe und Not ihre schmerzhaft angeschwollenen Füße. Ihr Blick war leer. Auf ihren nackten Unterarmen erahnte man eine violette Verfärbung, blaue Flecken. Vielleicht schlug ihr Mann sie.

Aber der Wagen war voll. Randvoll.

Konserven, Kartons, Tüten. Lebensmittel. Fertiggerichte, Mikrowellenessen. Ihr Körper war Speck, in die Haut gepresst, die ihrerseits in den hautengen Rock, den hautengen Pullover gezwängt war. Der Blick war leer, die Lippen pressten die Zigarette fest, man sah die Zähne. Ihre Hände umfassten den Griff des Einkaufswagens.

Und dieser Wagen war voll. Randvoll.

David sog Luft durch die Nase ein, konnte das billige, mit Kaufhausschweiß vermischte Parfüm der Frau beinahe riechen.

Der Tod …

Wenn ihm nichts einfallen wollte, wenn er zögerlich war, sah er sich immer dieses Bild an. Es war der Tod, das, wogegen man ankämpfen musste. Alle Tendenzen in der Gesellschaft, die auf dieses Bild hindeuteten, waren ein Übel, alles was davon fortstrebte, war … besser.

Die Tür zu Magnus’ Zimmer öffnete sich, und der Junge kam mit einer Pokémon-Karte in der Hand heraus. Aus dem Zimmer hörte man Grodan Bolls erregte Stimme: »Nein, hör mal!«

Magnus hielt ihm die Karte hin.

»Papa, ist Dark Golduck Auge oder Wasser?«

»Wasser. Kleiner Mann, das müssen wir uns ein anderes …«

»Aber er hat doch Augenattacke.«

»Ja, aber … Magnus. Nicht jetzt. Ich komme zu dir, wenn ich hier fertig bin, okay?«

Magnus fiel die Zeitung ins Auge, die aufgeschlagen vor David lag.

»Was tun die da?«

»Bitte, Magnus. Ich arbeite. Ich komme gleich.«

»Schwedischer … Wodka … wird mit Pornos verkauft. Was ist Wodka?«

David schlug die Zeitung zu und packte Magnus bei den Schultern. Magnus wehrte sich, versuchte die Zeitung zu öffnen.

»Magnus! Ich meine es ernst. Wenn du mich jetzt nicht in Ruhe arbeiten lässt, habe ich nachher keine Zeit für dich. Geh in dein Zimmer, mach die Tür zu. Ich komme gleich.«

»Warum musst du immer arbeiten!«

David seufzte.

»Wenn du wüsstest, wie wenig ich verglichen mit anderen Eltern arbeite. Bitte, lass mich jetzt ein bisschen in Frieden.«

»Ja, ja, ja.«

Magnus entwand sich seinem Griff und ging in sein Zimmer zurück. Die Tür wurde zugeschlagen. David drehte eine Runde durchs Zimmer, wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß unter den Armen weg und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Die Fenster zum Kungsholms Strand standen weit offen, aber es regte sich kaum ein Lüftchen, und David schwitzte, obwohl er mit nacktem Oberkörper am Schreibtisch saß.

Er schlug die Zeitung wieder auf. Daraus musste sich doch einfach etwas Witziges machen lassen.

Schwedischer Wodka wird mit Pornos verkauft

Zwei Frauen von der Zentrumspartei gossen Wodka auf eine Ausgabe von Penthouse, um ihre Missbilligung zu demonstrieren. »Sie sind aufgebracht«, stand in der Bildunterschrift. David musterte ihre Gesichter. Er fand, dass sie vor allem vorwurfsvoll aussahen, als hätten sie den Fotografen mit ihren Blicken am liebsten pulverisiert. Der Alkohol lief über die nackte Frau auf der Titelseite.

Das Ganze war so grotesk, dass es schwierig war, etwas Komisches daraus zu machen. David ließ den Blick über den Artikel schweifen, versuchte einen Ansatzpunkt zu finden.

Foto: Putte Merkert.

Da war er.

Putte Merkert. David lehnte sich im Schreibtischstuhl zurück, schaute zur Decke und begann zu formulieren. Zwei Minuten später hatte er das Skelett zu einem Text, den er von Hand niederschrieb. Er betrachtete erneut die Frauen. Jetzt waren ihre anklagenden Blicke auf ihn gerichtet.

»Sie wollen sich also über uns und unsere Stellungnahme lustig machen?«, sagten sie. »Und was tun Sie selbst?«

»Ja, ja«, sagte David laut zu der Zeitung. »Aber ich bin mir wenigstens bewusst, dass ich eine Witzfigur bin, das unterscheidet mich von euch.«

Mit säuselnden Kopfschmerzen, die er seinen Gewissensbissen zuschrieb, formulierte er weiter. Zwanzig Minuten später hatte er einen Text, der okay war, vielleicht sogar witzig, wenn er sich ordentlich reinhängte. Er schielte zur Supermarket Lady hinauf, bekam jedoch keinen Fingerzeig. Möglicherweise handelte er in ihrem Namen, saß in ihrem Korb.

Es war halb fünf. Noch viereinhalb Stunden, bis er auf die Bühne musste, und er hatte jetzt schon ein mulmiges Gefühl im Bauch.

Er trank eine Tasse Kaffee, rauchte eine Zigarette und ging zu Magnus hinein, verbrachte eine halbe Stunde damit, sich mit ihm über Pokémon zu unterhalten, ihm beim Sortieren der Karten zu helfen und zu übersetzen, was auf ihnen stand.

»Papa«, fragte Magnus, »was arbeitest du eigentlich?«

»Das weißt du doch. Du bist doch schon mal mitgekommen ins Norra Brunn. Ich erzähle Sachen, und die Leute lachen darüber und … tja. Dann werde ich dafür bezahlt.«

»Warum lachen sie?«

David sah in Magnus’ ernste achtjährige Augen und musste lachen. Er strich Magnus über den Kopf und antwortete: »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Jetzt werde ich einen Kaffee trinken.«

»Oh. Du trinkst dauernd Kaffee.«

David stand vom Fußboden auf, der mit Karten übersät war. Als er an der Tür stand, drehte er sich um und betrachtete seinen Sohn, der eine Karte las, wobei seine Lippen die Worte nachbildeten.

»Ich glaube«, sagte David, »die Leute lachen, weil sie lachen wollen. Sie haben dafür bezahlt, hereinkommen und lachen zu dürfen, und dann lachen sie eben.«

Magnus schüttelte den Kopf und sagte: »Das kapier ich nicht.«

»Nein«, erwiderte David. »Ich auch nicht.«

Gegen halb sechs kam Eva von der Arbeit, und David nahm sie im Flur in Empfang.

»Hallo, Schatz«, sagte sie. »Wie geht’s?«

»Der Tod, der Tod, der Tod«, antwortete David und hielt sich den Bauch. Er küsste sie. Ihre Oberlippe war salzig vom Schweiß. »Und dir?«

»Ganz okay. Ich habe nur ein bisschen Kopfschmerzen. Sonst geht’s mir gut. Hast du was zu Papier gebracht?«

»Nein, es …« David machte eine vage Geste Richtung Schreibtisch. »Schon, aber es ist nicht besonders gut.«

Eva nickte. »Schon klar. Darf ich’s mal hören?«

»Wenn du willst.«

Eva ging zu Magnus hinein und David auf die Toilette, wo er einen Teil der Nervosität aus sich herauslaufen ließ. Er blieb eine Weile auf dem Toilettenstuhl sitzen, betrachtete das Muster des Duschvorhangs aus weißen Fischen. Er wollte Eva den Text vorlesen, ja, es war zwingend notwendig, Eva den Text vorzulesen. Er war witzig, aber er schämte sich auch für ihn und hatte Angst, Eva könnte etwas über … seinen gedanklichen Gehalt sagen. Der durch Abwesenheit glänzte.

Er zog ab und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser.

Ich bin Entertainer. Gut so.

Ja. Sicher.

Er bereitete ein leichtes Abendessen zu, Omeletts mit Pilzsauce, während Magnus und Eva im Wohnzimmer das Monopolyspiel herausholten. Als er am Herd stand und die Champignons briet, schwitzte er stark unter den Armen.

Dieses Wetter. Das ist doch nicht normal.

Ein Bild schoss ihm durch den Kopf. Der Treibhauseffekt. Ja. Die Erde als ein gigantisches Treibhaus. Weltraumwesen pflanzten uns hier vor Millionen von Jahren. Bald würden sie kommen, um zu ernten.

Er schaufelte die Omeletts auf Teller, rief, dass das Essen fertig war. Das Bild war gut, aber war es auch komisch? Nein. Aber wenn man eine Person von passender Prominenz nahm, zum Beispiel den Journalisten Staffan Heimersson, und sagte, er sei der getarnte Anführer der Weltraumwesen und somit habe Staffan Heimersson und kein anderer Schuld am Treibhauseffekt …

»Woran denkst du?«

»Ach, nichts. Nur, dass Staffan Heimersson schuld daran ist, dass es so heiß ist.«

»Okay …«

Eva wartete. David zuckte mit den Schultern. »Das war’s schon. Im Großen und Ganzen.«

»Mama?« Magnus hatte endlich alle Tomatenstücke aus seinem Salat entfernt. »Robin hat gesagt, wenn es wärmer wird, leben wieder Dinosaurier auf der Erde, stimmt das?«

Während sie Monopoly spielten, wurden die Kopfschmerzen stärker, und alle ärgerten sich übertrieben, wenn sie Geld verloren. Nach einer halben Stunde unterbrachen sie das Spiel fürs Kinderprogramm im Fernsehen, und Eva ging in die Küche und kochte Espresso. David blieb auf der Couch sitzen und gähnte. Wie immer, wenn er nervös war, wurde er müde und wollte nur noch schlafen.

Magnus kauerte sich neben ihm zusammen, und sie schauten sich eine Dokumentation über einen Zirkus an. Als der Kaffee fertig war, stand David trotz der Proteste von Magnus auf. Eva stand am Herd und drehte an einem Regler.

»Komisch«, sagte sie. »Die Platte lässt sich nicht abstellen.«

Die Kontrolllampe am Herd weigerte sich auszugehen. David drehte willkürlich an ein paar Schaltern, ohne dass etwas geschah. Die Platte, auf der die Espressokanne gurgelte, war glühend heiß. Sie hatten keine Lust, sich in diesem Moment eingehender mit dem Problem zu beschäftigen, weshalb David seinen Text las, während sie den Espresso mit viel Zucker tranken und rauchten. Eva fand ihn lustig.

»Kann ich den bringen?«

»Klar.«

»Du findest nicht, dass es …«

»Was denn?«

»Na ja, dass es vermessen ist. Immerhin haben sie recht.«

»Was hat das denn damit zu tun?«

»Stimmt. Danke.«

Zehn Jahre waren sie jetzt verheiratet, und es verging kaum ein Tag, an dem David Eva nicht ansah und dachte: Was habe ich nur für ein verdammtes Glück gehabt. Natürlich gab es auch düstere Tage, sogar Wochen ohne Raum für Freude, doch selbst dann lag tief unten im Morast eine Plakette, in die »Was für ein verdammtes Glück« eingraviert stand, auch wenn er es in dem Moment nicht sehen konnte. Aber sie stieg immer wieder zur Oberfläche auf.

Eva arbeitete als Lektorin und Illustratorin von Sachbüchern für Kinder bei Hippogriff, einem kleineren Verlag, und hatte selbst zwei Bücher über einen philosophisch veranlagten Biber namens Bruno geschrieben, der gerne Sachen baute. Keine großen Erfolge, aber wie Eva einmal mit verzogenem Gesicht gesagt hatte: »Der oberen Mittelschicht scheinen sie zu gefallen. Architekten. Ich bin mir allerdings nicht so sicher, ob das auch für ihre Kinder gilt.« David fand ihre Bücher wesentlich witziger als seine Monologe.

»Mama! Papa! Er lässt sich nicht ausschalten.«

Magnus stand vor dem Fernsehapparat und fuchtelte mit der Fernbedienung herum. David drückte auf den Ausschaltknopf am Gerät, aber das Bild verschwand nicht. Es war das Gleiche wie beim Herd, aber hier kam man wenigstens an die Steckdose heran, sodass er den Stecker zog, während die Ansagerin die Nachrichten ankündigte. Für einen kurzen Moment war es, als wollte man ein Metallstück von einem Magneten trennen; die Steckdose zog den Stecker an. Es knisterte, und ein Kitzeln fuhr durch seine Finger, woraufhin die Ansagerin in die Dunkelheit gesogen wurde.

David hielt den Stecker hoch, sagte: »Habt ihr das gesehen? Das war wie ein … Kurzschluss. Jetzt sind bestimmt alle Sicherungen rausgeflogen.« Er drückte auf den Lichtschalter. Die Lampe an der Decke ging an, ließ sich aber nicht mehr ausschalten.

Magnus sprang auf die Couch.

»Kommt jetzt! Wir spielen weiter!«

Sie ließen Magnus beim Monopoly gewinnen, und während er sein Geld zählte, suchte David Bühnenschuhe, Bühnenhemd und Zeitung zusammen. Als er in die Küche kam, war Eva dabei, den Herd vorzuziehen.

»Nein«, sagte David. »Tu das nicht.«

Eva klemmte sich einen Finger und fluchte. »Mist … wir können ihn doch nicht einfach anlassen. Ich will doch zu meinem Vater. Verdammt …« Eva ruckelte am Herd, aber er hatte sich zwischen den Schränken verkeilt.

»Du«, sagte David. »Wie oft haben wir schon vergessen, ihn auszuschalten, wenn wir ins Bett gegangen sind, ohne dass deshalb etwas passiert ist?«

»Ja, ja. Aber einfach wegzufahren …« Sie trat gegen die Ofenluke. »Hinter dem Ding haben wir seit Jahren nicht mehr saubergemacht. Mistherd. Scheiße, hab ich vielleicht Kopfschmerzen.«

»Eva, willst du jetzt wirklich hinter dem Herd putzen?«

Sie ließ die Hände fallen, schüttelte den Kopf und lachte auf.

»Nein. Ich bin nur ziemlich drauf angesprungen. Es kann warten.«

Als wäre es die letzte verzweifelte Attacke eines eingesperrten Tiers, zerrte sie trotzdem nochmals an dem Herd, aber vergeblich. Sie hob die Hände, gab auf. Magnus kam mit seinem Geld in die Küche.

»Siebenundneunzigtausendvierhundert.« Er kniff die Augen zusammen. »Mir tut der Kopf total weh. Das ist blöd.«

Als wäre es ein Abschiedstrunk, bevor sie sich trennten, nahm jeder von ihnen ein Aspirin mit einem Glas Wasser, und sie prosteten sich zu und schluckten.

Magnus würde bei Davids Mutter schlafen, Eva ihren Vater in Järfälla besuchen, aber noch in der Nacht heimkehren. Sie hoben Magnus zwischen sich hoch, gaben sich alle drei einen Kuss.

»Aber nicht zu viel Cartoon Network bei der Oma«, sagte David.

»Ach Quatsch«, erwiderte Magnus. »So was guck ich doch gar nicht mehr.«

»Wie schön«, sagte Eva. »Das wird …«

»Ich guck jetzt Disney Channel. Der ist viel besser.«

David und Eva küssten sich noch einmal und zwinkerten sich zu, als sie daran dachten, wie es später am Abend sein würde, wenn sie allein waren. Anschließend nahm Eva Magnus an die Hand, und die beiden gingen davon, winkten ein letztes Mal. David blieb auf dem Bürgersteig stehen, sah ihnen nach.

Sie nie mehr sehen zu dürfen …

Ihn packte das gewohnte Grauen. Gott hatte es zu gut mit ihm gemeint, ein Fehler war begangen worden, er hatte mehr bekommen, als er verdiente. Nun würde ihm alles genommen werden. Eva und Magnus verschwanden um die Straßenecke, und eine spontane Eingebung mahnte David, ihnen hinterherzulaufen, sie aufzuhalten und zu sagen: »Kommt, wir gehen nach Hause. Wir gucken Shrek, wir spielen Monopoly, wir … dürfen uns nicht trennen.«

Das gewohnte Grauen, allerdings stärker als sonst. Trotzdem bezähmte er sich, machte kehrt und ging Richtung Sankt Eriksgatan, während er leise seinen neuen Text leierte, um ihn sich einzuprägen.

Wie entsteht so ein Bild? Die beiden Frauen sind aufgebracht, was tun sie also? Nun, sie gehen ins Alkoholgeschäft und kaufen sich eine Kiste Schnaps und anschließend einen Stapel Pornos. Nachdem sie zwei Stunden dagestanden und geschüttet und geschüttet haben, fallen sie REIN ZUFÄLLIG Aftonbladets Fotograf PUTTE MERKERT ins Auge.

»Hallo!«, sagt Putte Merkert. »Was macht ihr denn da?«

»Ja, also, wir stehen hier und gießen Schnaps auf Pornos«, antworten die Frauen.

»Oho«, denkt der Fotograf. »Hier habe ich wohl eine super Schlagzeile aufgetan.«

Nein. Nicht der Fotograf. Putte Merkert. Die ganze Zeit.

»Oho«, denkt Putte Merkert. »Hier habe ich wohl eine super Schlagzeile aufgetan …«

Als David die Brücke halb überquert hatte, fiel sein Blick auf etwas Seltsames, und er blieb stehen.

Erst kürzlich hatte er in der Zeitung gelesen, dass es in Stockholm Millionen von Ratten gab. Er hatte nie auch nur eine einzige von ihnen gesehen, aber hier, mitten auf der Sankt Eriksbrücke, waren gleich drei. Eine große und zwei kleinere. Sie liefen auf dem Bürgersteig im Kreis herum, jagten sich gegenseitig.

Die Ratten fauchten und bleckten die Zähne, und eine der kleineren biss der großen in den Rücken. David wich einen Schritt zurück, blickte auf. Ein älterer Mann stand ein paar Schritte entfernt auf der anderen Seite der Ratten, verfolgte ihren Kampf mit offenem Mund.

Die kleineren hatten die Größe junger Kätzchen, die größere die eines Zwergkaninchens. Die nackten Schwänze wischten über den Asphalt, und die große Ratte schrie, als auch die zweite kleine Ratte sich in ihrem Rücken verbiss und ihr Fell sich vom Blut feuchtschwarz verfärbte.

Sind das … ihre Jungen, die kleinen?

David hielt sich die Hand vor den Mund, auf einmal war ihm schlecht. Die große Ratte warf sich krampfhaft hin und her und versuchte die kleinen abzuschütteln. David hatte noch nie eine Ratte schreien gehört, ja nicht einmal gewusst, dass sie schreien konnten. Doch der Laut, der von der großen kam, war grauenvoll, wie von einem sterbenden Vogel.

Zwei weitere Menschen waren auf der anderen Seite der Szene stehen geblieben. Alle verfolgten den Kampf der Ratten, und David hatte für Sekundenbruchteile das Bild von Menschen vor Augen, die sich versammelt hatten, um sich irgendeine Form von Wettkampf anzusehen. Rattenkampf. Er wollte fortgehen, war aber unfähig, es zu tun. Zum einen fuhren viele Autos über die Brücke, zum anderen konnte er den Blick nicht von den Ratten lassen.

Plötzlich erstarrte die große, ihr Schwanz stand wie ein Strich vom Körper ab. Die kleinen wanden sich und scharrten mit den Krallen über ihren Bauch. Ihre Köpfe bewegten sich ruckartig vor und zurück, als sie an der Haut zerrten. Die große schleppte sich vorwärts, bis sie den Brückenrand erreichte, mit der Last auf ihrem Rücken unter dem Geländer hindurchkroch und über die Kante fiel.

David schaute gerade rechtzeitig über das Brückengeländer, um den Aufprall zu sehen. Der Verkehrslärm übertönte das Klatschen, als die Ratten ins schwarze Wasser fielen und eine Kaskade aus Tropfen für einen Moment im Licht der Straßenlaternen schimmerte, dann war es vorbei.

Die Menschen gingen, sich lebhaft unterhaltend, weiter.

»So was habe ich noch nie gesehen … das muss die Hitze sein … mein Vater hat mir mal erzählt, dass er … Kopfschmerzen …«

David massierte seine Schläfen und setzte seinen Weg über die Brücke fort. Die Menschen, die ihm entgegenkamen, begegneten seinem Blick, und alle lächelten schwach und verschämt, als wären sie gemeinsam Zeuge von etwas Verbotenem geworden. Als der ältere Mann, der von Anfang an dabeigestanden hatte, an ihm vorbeiging, fragte David ihn: »Entschuldigen Sie bitte, aber … haben Sie auch solche Kopfschmerzen?«

»Ja«, antwortete der Mann und presste eine geballte Faust gegen seinen Schädel. »Ganz fürchterliche.«

»Ja, also, es hat mich nur interessiert.«

Der Mann zeigte auf den schmutzig grauen Asphalt, auf dem Spritzer von Rattenblut zu sehen waren, und sagte: »Vielleicht hatten die ja auch welche. Vielleicht war es ja das, was sie …« Er verstummte und sah David an. »Sie sind schon mal im Fernsehen gewesen, stimmt’s?«

»Stimmt.« David sah auf die Uhr. Fünf vor neun. »Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss …«

Er setzte seinen Weg fort. Gedämpfte Panik lag in der Luft. Hunde bellten, und die Menschen gingen schneller als sonst auf den Straßen, als strebten sie danach, dem zu entkommen, was immer hier näher rückte. Er ging mit schnellen Schritten die Odengatan hinab, holte das Handy heraus und wählte Evas Nummer. Auf Höhe der U-Bahn-Station meldete sie sich.

»Hallo«, sagte David. »Wo bist du?«

»Ich habe mich gerade in den Wagen gesetzt. Du? Bei deiner Mutter war es das Gleiche. Als wir kamen, wollte sie den Fernseher ausschalten, aber es ging nicht.«

»Na, da wird Magnus sich freuen. Du? Ich … ich weiß nicht, aber … musst du heute wirklich zu deinem Vater fahren?«

»Wieso?«

»Na ja … hast du immer noch Kopfschmerzen?«

»Schon, aber sie sind nicht so, dass ich nicht fahren kann. Mach dir keine Sorgen.«

»Okay. Ich habe nur so ein Gefühl, dass … irgendetwas Schlimmes in der Luft liegt. Spürst du das nicht auch?«

»Nein. Kann ich nicht behaupten.«

Ein Mann stand in der Telefonzelle an der Kreuzung Odengatan und Sveavägen, drückte die Gabel des Telefons herab. David wollte Eva gerade von den Ratten erzählen, als die Verbindung unterbrochen wurde.

»Hallo? Hallo?«

Er blieb stehen, wählte noch einmal die Nummer, bekam aber keine Verbindung. Hörte nur statisches Rauschen. Der Mann in der Telefonzelle knallte den Hörer auf die Gabel und fluchte, verließ die Zelle. David versuchte das Telefon abzuschalten, um es anschließend ein weiteres Mal zu versuchen, aber das Display weigerte sich, dunkel zu werden. Ein Schweißtropfen fiel von seiner Stirn auf die Tasten. Das Handy erschien ihm unnatürlich heiß, als hätte sich die Batterie aufgeheizt. Er drückte vergeblich auf den Ausschaltknopf. Das Display leuchtete weiter, und die Statusanzeige des Akkus ging einen Balken nach oben. Auf seiner Uhr war es 21.05, und er eilte im Laufschritt zum Norra Brunn.

Schon in einiger Entfernung vom Restaurant hörte er, dass die Vorstellung bereits begonnen hatte. Benny Lundins Stimme schallte auf die Straße hinaus, er brachte seine Nummer über die unterschiedlichen Toilettengepflogenheiten von Männern und Frauen, und David verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Zu seiner Freude hörte er bei der Pointe jedoch kein Lachen. Es wurde für einen Augenblick still, und als David den Eingang erreichte, griff Benny im gleichen Moment den nächsten Faden auf: die Geschichte von den Kondom-Automaten, die immer dann streikten, wenn man sie brauchte. David blieb im Eingang stehen, blinzelte.

Das ganze Lokal war hell erleuchtet. Das Saallicht, das normalerweise ausgeschaltet wurde, um den Spot auf die Bühne hervorzuheben, war auf hellster Stufe eingeschaltet. Die Menschen an den Tischen und an der Bar wirkten gequält, blickten auf Boden und Tische hinab.

»Nehmen Sie American Express?«

Das war die Pointe. Die Leute lachten sich sonst immer tot über Bennys Geschichte, darüber, wie er versucht hatte, der jugoslawischen Mafia Schwarzmarktkondome abzukaufen. Diesmal lachte jedoch kein Mensch. Alle litten nur.

»Scheiße, halt’s Maul!«, schrie ein betrunkener Mann an der Bar und hielt sich den Kopf. David konnte ihn gut verstehen. Das Mikrofon war viel zu laut eingestellt, und es schepperte in den Wänden. Da alle Kopfschmerzen hatten, war es Massenfolter, was hier geschah.

Benny grinste nervös und sagte: »Auf Ferien aus der Sonderschule, oder was?«

Als auch darüber niemand lachen mochte, steckte Benny das Mikrofon auf den Ständer und sagte: »Vielen Dank, Sie waren ein fantastisches Publikum«, ging von der Bühne ab und zur Küche. Als seine Nummer so abrupt endete, waren alle für einen Moment wie paralysiert. Dann hatte das Mikrofon eine Rückkoppelung, und ein grauenhaftes kreischendes Pfeifen durchschnitt die stickige Luft.

Alle Anwesenden packten sich an den Kopf, und einige begannen, mit der Rückkoppelung um die Wette zu schreien. David biss die Zähne zusammen, lief zum Mikrofon und versuchte die Schnur abzuziehen. Der Schwachstrom sandte Ameisenstraßen durch seine Haut, die Schnur saß fest. Zwei Sekunden später war die Rückkoppelung eine Schlachthofsäge durch das Fleisch des Gehirns, und er musste aufgeben, sich die Ohren zuhalten.

Er machte kehrt, um in die Küche zu flüchten, aber Leute, die von ihren Tischen aufgesprungen waren und zum Ausgang eilten, versperrten ihm den Weg. Eine Frau mit weniger Respekt vor dem Inventar des Restaurants, stieß ihn zur Seite, wickelte sich die Mikrofonschnur einmal um die Hand und zerrte daran. Es gelang ihr so jedoch nur, den Ständer umzukippen. Die Rückkoppelung ging weiter.

David blickte zum Mischpult hoch, an dem Leo stand und vergeblich auf alle Knöpfe drückte, die er nur finden konnte. David wollte ihm gerade zurufen, den Stecker zu ziehen, als ihn ein Schlag traf und er auf die Bühne fiel. Die Hände weiter auf seine Ohren gepresst, lag er da und sah, wie die Frau das Mikrofon über ihren Kopf schwang und auf den Steinfußboden krachen ließ.

Es wurde still. Das Publikum blieb stehen, schaute sich um. Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung ging durch den Raum. David rappelte sich auf, kam auf die Beine und sah Leo winken, sich mit dem Zeigefinger über den Hals fahren. David nickte, räusperte sich und sagte laut:

»Hallo!«

Die Gesichter wandten sich ihm zu.

»Wir müssen die heutige Vorstellung leider wegen … technischer Probleme abbrechen.«

Man hörte Lachen. Höhnisches Lachen.

»Wir danken unserem Hauptsponsor Vattenfall und … bis zum nächsten Mal.«

Vereinzelt ließen sich Buhrufe vernehmen. David breitete die Hände in einer Geste aus, die bedeuten sollte: Entschuldigen Sie vielmals, dass es nicht meine Schuld ist, doch die Leute hatten schon wieder das Interesse an ihm verloren. Alle bewegten sich zum Ausgang. Binnen weniger Minuten war das Restaurant menschenleer.

Leo schien sauer zu sein, als David in die Küche kam.

»Was war denn das mit Vattenfall?«, fragte er.

»Ein Scherz.«

»Soso. Na toll.«

David war drauf und dran, eine Bemerkung über die Verantwortung des Kapitäns auf dem sinkenden Schiff zu machen, da Leo immerhin der Restaurantmanager war. Nächstes Mal konnte er ja ein fertiges Drehbuch für umgekehrte Stromausfälle zur Hand haben, aber dann hielt er sich doch zurück. Zum einen konnte er es sich nicht leisten, sich mit Leo zu überwerfen, und zum anderen hatte er anderes im Kopf.

Er ging ins Büro und wählte Evas Handynummer auf dem Festnetzapparat. Jetzt bekam er zwar eine Verbindung, aber nur mit ihrer Mailbox. Er hinterließ ihr eine Nachricht und bat sie, ihn möglichst bald im Restaurant anzurufen.

Es wurde Bier geholt, und die Komiker tranken es in der Küche, wo die Dunstabzugshauben donnerten. Die Köche hatten sie eingeschaltet, um die Hitze von den Kochfeldern erträglicher zu machen, die sich nicht abschalten ließen, was jetzt auch für die Abzugshauben galt. Eine Unterhaltung war so kaum möglich, aber es war zumindest kühl.

Die meisten verzogen sich schnell, aber David beschloss, für den Fall, dass Eva anrief, noch etwas zu bleiben. In den Zehnuhrnachrichten im Radio hieß es, das elektrische Phänomen betreffe nur die Region Stockholm, die Spannung in Volt per Meter sei an manchen Stellen mit einem kurz bevorstehenden Blitzeinschlag zu vergleichen. David spürte, dass sich die Haare auf seinen Armen sträubten. Vielleicht ein Schaudern, vielleicht auch statische Elektrizität.

Als er eine Vibration an seiner Hüfte spürte, dachte er im ersten Moment, dies wäre nur ein weiterer Effekt der Spannung in der Luft, begriff dann jedoch, dass sie von seinem Handy kam. Die Nummer im Display sagte ihm nichts.

»Hallo, hier ist David.«

»Spreche ich mit David Zetterberg?«

»Ja?«

Irgendetwas in der Stimme des Mannes ließ einen sorgenvollen Kloß in Davids Bauch wabern. Er stand vom Tisch auf, entfernte sich ein paar Schritte durch den Korridor zur Loge, um besser hören zu können.

»Mein Name ist Göran Dahlman, ich bin Arzt im Krankenhaus Danderyd …«

Als der Mann gesagt hatte, was er mitteilen musste, wurde Davids Körper in kalten Nebel gehüllt, und seine Beine verschwanden. An der Wand hinabrutschend, fiel er auf den Zementboden. Er starrte das Telefon in seiner Hand an, warf es von sich wie eine giftige Schlange, rutschte über den Fußboden, schlug gegen Leos Fuß. Leo sah auf.

»David! Was ist los?«

Später sollte sich David an die nächste halbe Stunde kaum erinnern können. Die Welt war erstarrt, sinnlos geworden. Leo hatte Probleme gehabt, sich einen Weg durch den Verkehr zu bahnen, der seit dem Ausfall aller Ampelanlagen nur noch den elementarsten Verkehrsregeln folgte. David saß zusammengekauert auf dem Beifahrersitz und stierte mit blinden Augen gelb blinkende Ampeln an.

Erst im Krankenhausfoyer schaffte er es, sich so weit zu sammeln, dass er Leos Angebot, ihn nach oben zu begleiten, ablehnen konnte. Er wusste nicht mehr, was Leo gesagt oder wie er zur richtigen Station gefunden hatte. Plötzlich war er einfach dort, und die Zeit nahm ihren zähen Lauf wieder auf.

Doch, an eins erinnerte er sich. Als er durch den Krankhausflur zu Evas Zimmer gegangen war, hatten die Lampen über allen Türen geblinkt und pausenlos Alarmsignale gekrächzt, was ihm nur konsequent erschien, weil die schlimmste aller Katastrophen eingetreten war.

Sie war mit einem Elch zusammengeprallt und gestorben, als David auf dem Weg ins Krankenhaus war. Der Arzt hatte ihm am Telefon gesagt, es gebe keine Hoffnung mehr, aber ihr Herz schlage noch. Jetzt schlug es nicht mehr. Um 22.36 Uhr war es stehen geblieben. Vierundzwanzig Minuten vor elf hatte ihr Herz aufgehört, Blut durch die Adern zu pumpen.

Ein einziger Muskel im Körper eines einzigen Menschen. Ein Fliegenschiss in der Zeit. Und die Welt war tot. David stand mit hängenden Armen an ihrem Bett, hinter seiner Stirn brannten die Kopfschmerzen.

Hier lag seine ganze Zukunft, alles Gute, was er sich vom Leben erhofft hatte. Hier lagen die letzten zwölf Jahre seiner Vergangenheit. Alles war fort, und die Zeit schrumpfte zu einem einzigen unerträglichen Jetzt zusammen.

Er fiel an ihrer Seite auf die Knie, nahm ihre Hand.

»Eva«, flüsterte er. »Das geht doch nicht. Das darf einfach nicht sein. Ich liebe dich doch. Begreifst du das nicht? Ich kann ohne dich nicht leben. Du musst jetzt aufwachen. Es geht nicht ohne dich, nichts geht. Ich liebe dich so sehr, und dann kann es doch nicht sein wie jetzt.«

Er redete und redete, es war ein Monolog aus immer gleichen Sätzen, die ihm mit jeder Wiederholung wahrer und richtiger erschienen, bis die Überzeugung in ihm reifte, dass sie Wirkung zeigen würden. Je öfter er sagte, dass es unmöglich war, desto absurder wurde das Ganze, und es war ihm gerade gelungen, sich von dem Gefühl einlullen zu lassen, dass ein Wunder geschehen würde, wenn er nur immer weiterbetete, als die Tür aufging.

Eine Frauenstimme sagte: »Wie geht es Ihnen?«

»Gut. Gut«, antwortete David. »Gehen Sie weg.«

Er presste Evas kühler werdende Hand an seine Stirn, hörte das Rascheln von Stoff, als die Krankenschwester in die Hocke ging. Eine Hand legte sich auf seinen Rücken.

»Kann ich etwas für Sie tun?«

David drehte sich langsam zu der Krankenschwester um und schreckte mit Evas Hand noch in der seinen zurück. Die Frau sah aus wie der leibhaftige Tod. Ihre Wangenknochen stachen deutlich hervor, die Augen waren aufgesperrt, gequält.

»Wer sind Sie?«, flüsterte er.

»Ich heiße Marianne«, antwortete die Schwester, fast ohne die Lippen zu bewegen. Sie starrten sich mit großen Augen an. David hielt Evas Hand ganz fest, um sie vor der Person zu schützen, die gekommen war, um sie zu holen. Doch die Schwester kam ihm nicht näher. Stattdessen schluchzte sie auf und sagte: »Entschuldigen Sie mich …«, kniff die Augen zusammen und presste die Hände an den Kopf.

David verstand. Diese Schmerzen im Schädel, ein stachliges, pulsierendes Herz hatte nicht nur er. Die Schwester richtete sich langsam auf, wankte kurz und verließ den Raum. Für einen kurzen Moment drang die Außenwelt durch die Glocke herein, und David hörte eine Kakofonie aus Signalen, Alarmlauten und Sirenen im und vor dem Krankenhaus. Alles war in Aufruhr.

»Komm zurück«, flüsterte er. »Magnus. Wie soll ich das denn Magnus erzählen? In einer Woche wird er neun, das weißt du doch. Er wollte eine Pfannkuchentorte haben. Wie macht man eine Pfannkuchentorte, Eva? Die solltest du machen, du hast doch schon Himbeeren und alles gekauft. Sie liegen zu Hause im Gefrierfach, wie soll ich nach Hause kommen und das Gefrierfach aufmachen können, und da liegen dann die Himbeeren, die du gekauft hast, um eine Pfannkuchentorte zu machen, und wie soll ich sie nehmen können und …«

David schrie. Es war ein einziger langgezogener Klagelaut, bis er keine Luft mehr in den Lungen hatte. Er presste seine Lippen auf ihre Fingerknöchel und murmelte: »Es ist alles aus. Du bist nicht mehr. Ich bin nicht mehr. Nichts ist mehr.«

Die Kopfschmerzen wurden so stark, dass er ihnen Beachtung schenken musste. Ein Hoffnungsschimmer schoss ihm durch den Kopf: Er war selbst dabei zu sterben. Ja. Er würde auch sterben. Es knisterte, in seinem Gehirn würde etwas kaputtgehen, wenn die Schmerzen stärker wurden, immer stärker wurden, und er hatte gerade voller Überzeugung gedacht:

Ich sterbe. Jetzt sterbe ich. Danke.

als es aufhörte. Alles aufhörte. Alarmsignale und Sirenen verstummten. Der Raum war nicht mehr hell erleuchtet, sondern lag im Dunkeln. Er hörte seine keuchenden Atemzüge. Evas Hand war klebrig von seinem Schweiß, rutschte über seine Stirn. Die Kopfschmerzen waren verschwunden. Geistesabwesend rieb er ihre Hand auf der Haut seiner Stirn hin und her, ritzte sie mit ihrem Trauring auf, wollte die Schmerzen zurückhaben. Als sie fort waren, wallte stattdessen der Schmerz in seiner Brust auf.

Er starrte zu Boden und sah deshalb nicht die weiße Larve, die durch die Decke drang, herabfiel, auf dem gelben Krankenhauslaken landete, das Eva bedeckte, und sich weiter hinabbohrte.

»Liebling«, flüsterte er und drückte ihre Hand. »Wir wollten uns doch niemals trennen, erinnerst du dich nicht mehr?«

Ihre Hand zuckte zusammen, erwiderte seinen Druck.

David schrie nicht, rührte sich nicht. Er starrte nur ihre Hand an, drückte. Ihre Hand erwiderte seinen Druck. Sein Kinn fiel herab, die Zunge fuhr heraus und leckte die Lippen. Freude war nicht das richtige Wort für das, was er empfand, es war eher jene Verwirrung in den Sekunden nach dem Erwachen aus einem Albtraum, und anfangs wollten ihm seine Beine nicht gehorchen, als er sich auf die Füße zog, um sie ansehen zu können.

Sie hatten Eva, so gut es ging, gewaschen und zusammengeflickt, trotzdem war das halbe Gesicht eine Wunde. Der Elch musste noch den Kopf gedreht oder das Auto in einem letzten verzweifelten Verteidigungsversuch attackiert haben. Der Kopf mit den Schaufeln hatte als Erstes die Windschutzscheibe durchstoßen, und ein Ende seines Geweihs hatte ihr Gesicht getroffen, ehe sie unter dem Gewicht des Tierleibs zermalmt worden war.

»Eva! Hörst du mich?«

Keine Reaktion. David strich sich mit den Händen übers Gesicht, sein Herz pochte wie wild.

Das war ein … Reflex. Sie kann nicht leben. Sieh sie dir doch an.

Obwohl ein großer Verband die rechte Gesichtshälfte bedeckte, sah man, dass sie … zu klein war. Dass darunter Knochen, Haut, Fleisch fehlten. Man hatte ihm gesagt, sie sei übel zugerichtet worden, doch erst jetzt erkannte er das volle Ausmaß der Verletzungen.

»Eva? Ich bin es.«

Diesmal war es kein Reflex. Ihr Arm zuckte, schlug gegen sein Bein. Auf einmal setzte sie sich auf. David wich instinktiv einen Schritt zurück. Das Laken glitt von ihr herab, und man hörte ein leises Klirren. Er sah, dass er längst noch nicht erkannt hatte, wie massiv ihre Verletzungen waren.

Der Oberkörper war nackt, die Kleider weggeschnitten. Die rechte Seite ihres Brustkorbs war ein gähnendes, von Hautfetzen und geronnenem Blut gesäumtes Loch, in dem es klimperte und klirrte. Für einen Moment sah David nicht Eva, sondern nur ein Monster, und wollte davonlaufen. Aber seine Beine rührten sich nicht, und wenige Sekunden später kam er wieder zur Vernunft. Er trat erneut an ihr Bett. Jetzt erkannte er, woher das klimpernde Geräusch rührte. Klemmen. In ihrem Brustkorb hingen zahlreiche Metallklemmen an verletzten Blutgefäßen, schaukelten und schlugen gegeneinander, wenn sie sich bewegte. Er schluckte trocken, sagte: »Eva?«

Sie wandte ihren Kopf dem Geräusch seiner Stimme zu und öffnete ihr einziges Auge.

Da schrie er.

Vällingbyplan 17.32

Mahler bewegte sich langsam über den Platz, Schweiß klebte unter seinem Hemd. In der Hand hielt er eine Tüte mit Lebensmitteln für seine Tochter. Abgasgraue Tauben trippelten mit einem Spielraum von etwa zehn Zentimetern vor seinen Füßen davon.

Er selbst sah aus wie eine große graue Taube. Das fadenscheinige Jackett hatte er vor fünfzehn Jahren gekauft, als er kräftig zugenommen hatte und seine alten Kleider nicht mehr anziehen konnte. Für die Hose galt das Gleiche. Von seinen Haaren war nur noch ein Kranz über den Ohren geblieben, und die Sonne hatte seine Glatze rot und sommersprossig werden lassen. Es fiel einem nicht weiter schwer, sich vorzustellen, dass Mahler in seiner Tüte leere Pfandflaschen hatte, dass er Mülltonnen durchstöberte, wie die Tauben vor einem Schnellimbiss Kartoffelpüree aus weggeworfenen Papptellern pickten.

Das war nicht der Fall. Aber er erweckte den Eindruck. Ein Verlierer.

Im Schatten des Kaufhauses Åhléns, unterwegs zur Ångermannagatan, begrub Mahler die Finger seiner freien Hand unter seinem Doppelkinn und zog die Halskette heraus. Ein Geschenk von Elias. Siebenundsechzig farbenfrohe, auf eine Angelschnur gefädelte Plastikperlen, die für alle Zeit um seinen Hals gebunden waren.

Als er weiterging, tastete er die Perlen nacheinander ab wie einen Rosenkranz, wie im Gebet.

Nach den Treppen, die zur Wohnung seiner Tochter im dritten Stock hinaufführten, musste er erst wieder zu Atem kommen. Dann schloss er die Tür mit seinem Schlüssel auf. Die Wohnung lag im Zwielicht, war stickig von eingesperrter Hitze.

»Hallo, Kleines. Ich bin’s nur.«

Keine Antwort. Wie immer befürchtete er das Schlimmste.

Aber Anna war da, und sie lebte. Sie lag zusammengekauert in Elias’ Bett, auf dem Tino-Tatz-Bettbezug, den Mahler gekauft hatte, mit dem Gesicht zur Wand. Mahler stellte die Tüte ab, stieg über staubige Legosteine zum Bett und setzte sich vorsichtig auf die Kante, nahe an ihrem Bein.

»Wie geht es dir, Liebes?«

Anna sog Luft durch die Nase ein. Ihre Stimme war schwach.

»Papa … ich kann ihn riechen. Sein Geruch hängt noch im Laken. Sein Duft ist noch hier.«

Mahler hätte sich gerne zu ihr ins Bett gelegt, hinter ihren Rücken. Sie umarmen und Vater sein und alles Böse zum Verschwinden bringen wollen. Aber er traute sich nicht. Das Holz des Lattenrosts würde unter seinem Gewicht zusammenbrechen. Also saß er nur da und betrachtete die Legosteine, mit denen seit zwei Monaten keiner mehr gespielt hatte.

Als er nach einer Wohnung für Anna suchte, hatte es im gleichen Haus auch eine im Erdgeschoss gegeben, aber er hatte sie aus Furcht vor Einbrechern nicht genommen.

»Komm was essen.«

Mahler verteilte zwei Portionen Roastbeef und Kartoffelsalat aus Plastikbehältern auf zwei Tellern, schnitt eine Tomate in Stücke und drapierte sie auf dem Tellerrand. Anna antwortete nicht.

Die Jalousien in der Küche waren herabgelassen, aber die Sonne presste sich durch die Lücken, zeichnete glühende Striche auf den Küchentisch und beleuchtete wirbelnde Staubkörner. Er hätte putzen sollen, konnte sich aber nicht dazu aufraffen.

Zwei Monate zuvor war der Tisch noch voller Dinge gewesen: Obst, Post, ein Spielzeug, eine Blume, die auf einem Spaziergang gepflückt worden war, etwas, das Elias im Kindergarten gebastelt hatte. Der Krimskrams des Lebens.

Jetzt gab es nur die beiden Teller mit Fertiggerichten. Die Hitze und den Staubgeruch. Die leuchtend roten Tomatenstücke; ein pathetischer Versuch.

Er ging zu Elias’ Zimmer, blieb im Türrahmen stehen.

»Anna … du musst was essen. Es ist fertig.«

Anna schüttelte den Kopf, blickte an die Wand: »Ich esse später. Danke.«

»Kannst du nicht einen Moment aufstehen?«

Als sie nicht antwortete, kehrte er in die Küche zurück, setzte sich an den Tisch und begann, mechanisch Essen in sich hineinzuschaufeln. Er hatte das Gefühl, dass sein Kauen zwischen den stummen Wänden widerhallte. Als Letztes aß er die Tomatenstücke. Eins nach dem anderen.

Ein Marienkäfer hatte sich auf das Balkongeländer gesetzt.

Anna war mit Packen beschäftigt gewesen. Sie wollten in Mahlers Sommerhaus in Roslagen, der Schärenregion nördlich von Stockholm, fahren, dort ein paar Wochen verbringen.

»Mama, ein Marienkäfer … guck.«

Sie war im richtigen Moment aus dem Wohnzimmer gekommen, um Elias auf dem Balkontisch stehen und sich zu dem Marienkäfer hinauslehnen zu sehen, als dieser davonflog. Ein Tischbein gab nach. Sie kam nicht mehr rechtzeitig hin.

Unter dem Balkon befand sich ein Parkplatz. Schwarzer Asphalt.

»Hier, Kleines.«

Mahler hielt Anna die Gabel mit einem mundgerechten Bissen hin. Sie setzte sich im Bett auf, nahm die Gabel und führte sie selbst zum Mund. Mahler reichte ihr den Teller.

Ihr Gesicht war rot und aufgedunsen, in ihren braunen Haaren sah man graue Strähnen. Sie aß vier Bissen, reichte ihm dann den Teller zurück.

»Danke. Das hat gut geschmeckt.«

Mahler stellte den Teller auf Elias’ Schreibtisch, legte die Hände in den Schoß.

»Bist du heute draußen gewesen?«

»Ich bin bei ihm gewesen.«

Mahler nickte. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte. Als er aufstand, stieß sein Kopf gegen die Wildgans Akka mit Nils Holgersson auf dem Rücken, die über dem Bett hing. Die Holzgans schlug ein paarmal mit den Flügeln, wedelte Luft über Annas Gesicht. Kam zur Ruhe.

In seiner eigenen Wohnung auf der anderen Seite des Innenhofs zog er seine schweißnassen Kleider aus, duschte, zog einen Bademantel an und nahm zwei Alvedon gegen die Kopfschmerzen. Er setzte sich an den Computer und loggte sich bei Reuters ein. Verwandte eine Stunde darauf, drei Meldungen herauszusuchen und zu übersetzen.

Ein japanischer Apparat, der deuten konnte, was Hunde mit ihrem Bellen sagten. Siamesische Zwillinge bei Operation getrennt. Der Mann, der in Lübeck ein Haus aus Blechdosen gebaut hatte. Zu der japanischen Maschine gab es kein Foto, weshalb er ein Bild von einem Labrador heraussuchte und beifügte und anschließend das Ganze der Zeitung schickte.

Anschließend las er eine Mail von einem seiner alten Informanten bei der Polizei, der wissen wollte, wie es ihm ging, lange her, dass man voneinander gehört hatte. Er antwortete, dass es ihm dreckig ging, dass sein Enkelkind vor zwei Monaten gestorben war und er täglich überlegte, sich das Leben zu nehmen. Er löschte die Antwort, ohne sie abzuschicken.

Die Schatten auf dem Fußboden waren länger geworden, es war nach sieben. Er stand vom Stuhl auf, massierte seine Schläfen, ging in die Küche und holte ein Leichtbier aus dem Kühlschrank, trank es im Stehen halb aus, kehrte ins Wohnzimmer zurück. Neben der Couch blieb er stehen.

Auf dem Fußboden unterhalb der Armlehne stand die Burg.

Elias hatte sie vor vier Monaten zu seinem sechsten Geburtstag bekommen. Die größte Legoburg. Sie hatten sie gemeinsam aufgebaut und dann nachmittags immer damit gespielt, Ritter an verschiedenen Positionen aufgestellt, sich Geschichten ausgedacht, um- und angebaut. Jetzt stand sie da, wie sie beide die Burg beim letzten Mal zurückgelassen hatten.

Jedes Mal, wenn Mahler sie sah, tat es weh, jedes Mal dachte er, dass er sie eigentlich wegwerfen oder doch zumindest auseinanderbauen sollte, aber er konnte sich einfach nicht dazu durchringen. Vermutlich würde sie dort stehen bleiben, solange er lebte, so wie man ihn auch mit der Perlenkette begraben würde.

Elias, Elias …

In seinem Inneren tat sich ein Abgrund auf. Die Panik nahte, der Druck auf der Brust. Er eilte an den Computer, loggte sich bei einer der Pornoseiten ein, für die er bezahlte, saß da und klickte eine Stunde herum, ohne auch nur das leiseste Kribbeln im Unterleib zu spüren. Nur Teilnahmslosigkeit, Ekel.

Kurz nach neun verließ er die Seiten und schaltete den Computer aus. Der Bildschirm blieb an. Er war zu erledigt, um sich Gedanken darüber zu machen. Die Kopfschmerzen pressten mittlerweile von innen gegen seine Augen, machten ihn rastlos. Er drehte ein paar Runden durch die Wohnung, trank noch ein Bier, blieb schließlich vor der Burg stehen und ging in die Hocke.

Einer der Legoritter lehnte sich über den Rand des Turms und schien dem Feind etwas zuzurufen, der das Tor einzunehmen versuchte.

»Verschwindet, sonst kipp ich die Plumpsklotonne über euch aus!«, hatte Mahler mit schnarrender Stimme verkündet, und Elias hatte so gelacht, dass er kaum Luft bekam, und gerufen: »Mehr! Mehr!«, und Mahler war alle abstoßenden Dinge durchgegangen, die ein Ritter womöglich über einem anderen auskippen konnte. Saure Milch.

Mahler nahm das Männchen heraus, drehte es zwischen den Fingern. Der Ritter trug einen silbernen Helm, der halb seinen verbissenen Gesichtsausdruck verbarg. Das kleine Schwert, das er in seiner Hand hielt, glänzte noch. Die Farbe auf den Schwertern der Männchen, die Elias zu Hause gehabt hatte, war abgeblättert. Mahler betrachtete das silbern glänzende Schwert, und zwei Erkenntnisse sanken durch ihn hindurch wie schwarze Steine:

Dieses Schwert wird immer glänzen.

Ich werde nie mehr spielen.

Er stellte den Ritter an seinen Platz zurück, stierte die Wand an.

Ich werde nie mehr spielen.

In seiner Trauer hatte er nach dem Tod von Elias alle Dinge aufgezählt, zu denen es nie wieder kommen würde: Spaziergänge im Wald, der Spielplatz, Saft und Zimtschnecken in der Konditorei, der Zoo und noch mehr, viel mehr. Aber hier war es, nackt und hart: Er würde nie mehr spielen, und das galt nicht nur für Lego und Schlüssel verstecken. Mit Elias’ Tod war sowohl sein Spielkamerad als auch seine Lust am Spiel verschwunden.

Deshalb konnte er nicht schreiben, deshalb fand die Pornografie keinen Widerhall in ihm, und deshalb vergingen die Minuten so langsam. Er konnte nicht mehr fantasieren, ihm fiel nichts mehr ein. Es müsste ein gesegneter Zustand sein können, nur in dem zu leben, was ist und was man vor Augen hat, die Welt nicht umzugestalten. Das müsste es sein können, war es aber nicht.

Mahlers Finger strichen über die Operationsnarbe auf seinem Brustkorb.

Das Leben ist, was wir daraus machen.

Er hatte die Fähigkeit verloren, war an einen übergewichtigen Körper gekettet, der sich freudlos durch Tage und Jahre schleppen musste. Das sah er, in einer plötzlichen Erkenntnis, und daraufhin packte ihn die Lust, etwas zu zertrümmern. Seine geballte Faust zitterte über der Burg, aber er beherrschte sich, richtete sich auf und trat auf den Balkon hinaus, wo er das Geländer umklammerte, daran rüttelte.

Auf dem Hof lief ein bellender Hund immer im Kreis. Mahler wäre am liebsten seinem Beispiel gefolgt.

When in trouble, when in doubtRun in circles, scream and shout.

Er warf einen Blick über das Geländer, sah sich fallen und auf dem Erdboden aufplatzen wie eine überreife Melone. Der Hund würde vielleicht angelaufen kommen und ihn anfressen. Der Gedanke rückte die Aktion in ein verführerisches Licht. Er könnte seine Tage als Hundefutter beschließen. Doch der Hund würde vermutlich überhaupt nichts merken, er wirkte hysterisch. Es kam sicher bald jemand vorbei, um ihn zu erschießen.

Er presste seine Hände links und rechts gegen den Kopf. So wie es aussah, würde er ohnehin platzen, jedenfalls wenn die Schmerzen noch stärker wurden.

Es war kurz nach halb elf, als Mahler erkannte, dass er trotz allem wohl doch noch ein wenig leben wollte.

Acht Jahre zuvor hatte er seinen ersten Morgagni-Adam-Stokes-Anfall bekommen, als er unterwegs war, um einen Fischer zu interviewen, dem eine Leiche ins Garn gegangen war. Als sie von seinem Boot kommend an Land gingen, war die Lichtstärke rasch gesunken und zu einem Punkt geschrumpft, und von diesem Moment an konnte Mahler sich an nichts mehr erinnern, bis er auf einem Berg aus Netzen liegend erwachte. Wenn der Fischer nicht zufällig über das nötige Wissen verfügt hätte, um eine Herz-Lungen-Massage durchzuführen, hätten sich Mahlers Probleme für immer erledigt gehabt. Ein Arzt stellte fest, dass er an chronischer Myokardischämie litt und einen Herzschrittmacher benötigte, damit sein Herz zuverlässig schlug. Mahler war damals so deprimiert gewesen, dass er in Erwägung gezogen hatte, es darauf ankommen und den Tod seinen Lauf nehmen zu lassen, hatte sich aber schließlich dennoch operieren lassen.

Später kam dann Elias, und Mahler bekam zum ersten Mal seit vielen Jahren einen guten Grund, überhaupt ein Herz zu haben. Der Schrittmacher hatte verlässlich weitergetickt und ihn so viel und so oft Großvater spielen lassen, wie er wollte.

Aber jetzt …

Am Haaransatz bildeten sich Schweißtropfen, und Mahler presste die Hand aufs Herz; es schlug mindestens doppelt so schnell wie sonst. Irgendwie gelang es seinem Herzen, die steten Impulse des Schrittmachers zu ignorieren und auf eigene Faust davonzugaloppieren. Unter seiner Hand spürte Mahler, wie sein Herz das Tempo weiter erhöhte.

Er legte die Finger ans Handgelenk, sah auf den Wecker und zählte die Sekunden. Sein Herz schlug hundertzwanzig Mal in der Minute, aber er war sich nicht sicher, ob das wirklich stimmte, denn auch der Sekundenzeiger der Uhr schien sich schneller zu bewegen als sonst.

Ruhig … ganz ruhig … das geht vorbei …

Er wusste, dass solche Herzattacken im Grunde nicht gefährlich waren, solange sie nicht zu extrem ausfielen. Es war die Sorge, die Angst, die dem Patienten schadete. Mahler versuchte ruhig zu atmen, während sein Herz immer schneller und schneller raste.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er legte die Finger auf den Schrittmacher, jenes Metallteil gleich unter seiner Haut, das sein Leben schützte. Es ließ sich nicht feststellen, ob er schneller als gewöhnlich arbeitete, aber Mahler nahm es fast an: Mit dem Schrittmacher war es das Gleiche wie mit der Uhr.

Er kauerte sich auf der Couch in Fötusstellung zusammen. Die Kopfschmerzen drohten seinen Kopf zu zersplittern, sein Herz raste wie verrückt, und zu seiner eigenen Überraschung merkte er, dass er nicht sterben wollte. Nein. Zumindest wollte er nicht daran sterben, dass eine Maschine sein Herz hetzte, bis es platzte. Er setzte sich auf und blinzelte ins Licht des Computerbildschirms. Auch er war heller geworden, und alle Icons waren in blendendem Weiß ausradiert.

Was soll ich tun?

Nichts. Er würde nichts tun, was sein Herz zusätzlich belasten könnte. Er legte sich wieder hin, presste die Hand auf den Lebensmuskel. Sein Herz schlug jetzt so schnell, dass sich die einzelnen Schläge nicht mehr auseinanderhalten ließen, es war ein Trommelwirbel aus dem Totenreich, dessen Tempo immer höher wurde, und Mahler schloss die Augen und wartete auf das Crescendo.

Als er schon glaubte, die Trommelfelle würden platzen und sein Blickfeld einschrumpfen wie damals, war es vorbei.

Das Herzflimmern legte sich, die Herzschläge verfielen wieder in ihren alten, saugenden Rhythmus. Er lag mucksmäuschenstill mit geschlossenen Augen da, atmete dann tief durch und tastete sein Gesicht ab, als wollte er kontrollieren, ob es noch da war. Das Gesicht war schweißnass, aber dort, wo es hingehörte an seinem Platz. Warme Tropfen liefen durch die Falten in seinem Bauch, kitzelten ihn.

Er öffnete die Augen. Die Icons auf dem Bildschirm leuchteten wie üblich vor einem dunkelblauen Hintergrund, bis der Bildschirm schließlich erlosch. Der Hund auf dem Hof hatte aufgehört zu bellen.

Was war passiert?

Die Uhr verdrängte die vor ihr liegenden Sekunden im normalen Takt, und eine große Stille hatte sich auf die Welt herabgesenkt. Erst jetzt wurde ihm bewusst, welche Kakofonie aus Geräuschen und Schreien dem großen Abbruch vorhergegangen war, jetzt, da sie nicht mehr zu hören waren. Er leckte sich die salzigen Lippen, kauerte sich zusammen und starrte auf die Uhr.

Sekunden, Minuten … in der einen Sekunde werden wir geboren, in der anderen sterben wir.

Er hatte vielleicht zwanzig Sekunden so gelegen, als das Telefon klingelte. Er ließ sich von der Couch gleiten und krabbelte zum Schreibtisch. Seine Beine hätten ihn vermutlich getragen, aber er spürte, dass er lieber krabbeln sollte. Er zog sich auf den Schreibtischstuhl hinauf und hob den Hörer ab.

»Ja, hier spricht Mahler.«

»Hallöchen, hier ist Ludde. Vom Danderyd.«

»Ja … hallo.«

»Du, ich hab da was für dich.«

Ludde war einer seiner zahllosen Späher und Informanten gewesen, als Mahler noch bei der Zeitung arbeitete. Als Hausmeister im Krankenhaus Danderyd kamen Ludde manchmal Dinge zu Ohren, die »für die Öffentlichkeit von Interesse« sein mochten, wie Ludde es immer ausdrückte.

Mahler sagte: »Ich arbeite nicht mehr, du musst Benke anrufen … Bengt Jansson, den Nachtredakteur beim …«

»Jetzt hör doch erst mal zu. Die Abgenippelten sind aufgewacht.«

»Was erzählst du da?«

»Die Abgenippelten. Die Leichen. In der Leichenhalle. Sie sind wieder zum Leben erwacht.«

»Nein.«

»Wenn ich’s dir doch sage. Die Pathologie hat gerade völlig hysterisch angerufen. Sie wollen, dass Leute zum Helfen herunterkommen.«

Mahler sah, dass sich seine Hand ganz automatisch über den Schreibtisch zu seinem Notizblock bewegte, aber er zog sie zurück, schüttelte den Kopf.

»Ludde, jetzt beruhig dich mal ein bisschen. Ist dir eigentlich klar, was du da …«

»Ja, ich weiß. Ich weiß. Aber es ist wahr. Die Leute flitzen hier rum, und da unten herrscht völliges Chaos. Sie sind aufgewacht. Alle.«

Mahler hörte im Hintergrund tatsächlich erregte Stimmen, konnte allerdings nicht verstehen, was sie sagten. Irgendetwas ging da vor, aber …

»Ludde. Jetzt gehen wir das Ganze noch mal durch. Von Anfang an.«

Ludde seufzte. Im Hintergrund rief jemand: »Fragt bei der Notaufnahme nach!«, und als Ludde wieder sprach, war sein Mund näher am Hörer, und seine Stimme klang beinahe erotisch.

»Erst sind hier ja alle völlig durchgedreht wegen der Sache mit dem Strom. Alles war an, und nichts funktionierte. Du weißt, was ich meine? Das mit dem Strom?«