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Das Franken-Debüt des Nürnberger Kulturpreisträgers 2022 Lucas Fassnacht alias Lars Sommer Ein hervorragend recherchierter Frankenkrimi um rechte Online-Netzwerke Hauptkommissar Gaißinger zählt die Tage bis zur Rente, das Internet empfindet er als unnötig kompliziert. Dass sein Heimatort Hilpoltstein einen Digital-Campus plant, verfolgt er nur am Rande; vision ist das einzige Start-up, das bisher den Schritt in die mittelfränkische Provinz gewagt hat. Doch dann wird der Gründer von vision brutal ermordet – und ausgerechnet Gaißinger muss ermitteln. Zum Glück ist gerade seine Nichte Jana zu Besuch aus München, wo sie eigentlich als Webdesignerin arbeitet – wäre sie nicht aufgrund ihres Dickschädels mal wieder frisch gefeuert worden. Mit Janas Hilfe entdeckt Gaißinger eine Spur, die in die dunkelsten Ecken des Netzes führt.
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Seitenzahl: 333
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Foto: © Hannah Gericke
LARS SOMMER ist das Pseudonym des erfolgreichen Thriller-Autors Lucas Fassnacht. Er wurde 1988 in Dieburg geboren und lebt heute in Nürnberg. 2022 erhielt er den Nürnberger Kulturpreis.
Lars Sommer
Kriminalroman
ars vivendi
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen
Originalausgabe (Erste Auflage August 2023)
© 2023 by ars vivendi verlagGmbH & Co. KG, Bauhof 1,90556 Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
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www.arsvivendi.com
Umschlaggestaltung: ars vivendi
Coverfoto: © Ivana Cajina / unsplash
eISBN 978-3-7472-0523-5
Für Angela
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Ewelina bekreuzigte sich. Sie würde bald sterben, da war es gut, den Erlöser auf ihrer Seite zu wissen. Nun, vielleicht so bald auch wieder nicht. Ihre Mutter war hundertundzwei geworden, die Tante immerhin vierundneunzig – während Ewelina selbst noch nicht einmal die achtzig erreicht hatte.
Sie hob das Putzwägelchen von der Ladefläche, warf die Lappen in den Eimer, klemmte den Wischmopp in seine Halterung und hakte die Box mit den Reinigungsmitteln ein.
Die Räder knirschten im Kies, als sie das Wägelchen die Einfahrt entlangschob. Ihre letzte Station für heute. Was für ein riesiges Haus! Mit Fenstern, die bis zum Boden gingen. Wie in einer Großstadt.
An der Wand neben der Tür war ein Tastenfeld befestigt. Ewelina griff in ihren Kittel und kramte den Zettel hervor, auf dem sie sich die Ziffernfolge notiert hatte. Sie schob ihre Brille zurecht und tippte die Zahlen ein. Ein Surren, sie drückte den Knauf, die Tür gab nach.
Die Diele musste größer sein als ihre gesamte Wohnung. Ewelina öffnete das Medienprogramm auf ihrem Handy, und zwei Sekunden später tönte die beruhigend tiefe Stimme von Bischof Marczewski aus ihren Ohrstöpseln. Der Herr hat dich geschaffen als eine Blume. Neige dich seinem Licht entgegen, und wie eine Blume wirst du aufblühen … Ewelina schüttelte den Kopf. Was für ein unsinniger Vergleich. Blumen konnten gar nicht anders, als sich der Sonne entgegenzustrecken. Menschen hingegen …
Im ersten Raum stand ein Flügel. Aus vier Metern Entfernung konnte sie den Staub auf seinem Deckel sehen. Ewelina seufzte. Obwohl der Flügel offensichtlich nicht genutzt wurde, war er geöffnet. Hatten die Menschen denn vor gar nichts mehr Respekt? Zärtlich schloss sie den Deckel. In einer Obstschale lagen ein paar verschrumpelte Äpfel. Sie nahm sich einen und roch daran. Nicht schlecht.
Im nächsten Raum stand eine Vitrine voller goldener und silberner Pokale. Neugierig trat Ewelina näher. Sie nahm einen der Pokale und hielt ihn sich so nah vor die Augen, dass sie die Inschrift lesen konnte: Landesmeister Brandenburg im Mittelgewicht der Junioren. Darunter waren Boxhandschuhe und eine Zahl graviert: 1989. Sie biss in den Apfel.
Der Herr ist Wasser, das sich über deine dürstende Seele ergießen will. Während der Bischof in Ewelinas Ohren säuselte, begutachtete sie die Küche. Alles an seinem Platz, hier hatte schon lange niemand mehr gekocht. Dabei war der Arbeitsbereich eingerichtet wie für eine Sterne-Köchin. Ewelina zog eines der japanischen Messer aus dem zugehörigen Holzblock, schnitt das Kerngehäuse aus ihrem Apfel. Heilige Jungfrau Maria, ein ganzer Einkaufswagen voller Treuepunkte würde für so eine Klinge nicht reichen. Die Polen klauten ja alles, sagten die Deutschen, und Ludmilla stampfte dann immer auf vor Wut über diese Sprüche, aber Ewelina zuckte darüber nur die Schultern. Alle Menschen klauten, sonst hätte der Herr damals Moses wohl kaum darauf hingewiesen, dass es eine Sünde war. Nachdem sie das Messer zurück in den Holzblock gesteckt hatte, sah sie die Schränke durch. Sie fand den Gewürzschrank und streute beglückt Zimt auf das verbliebene Apfelstück.
Kauend ging sie die Treppe hoch ins obere Stockwerk. Und zuckte zusammen. Verschluckte sich. Rang nach Luft. Hustete, würgte den breiigen Bissen hervor und fing ihn mit der hohlen Hand auf. Bekreuzigte sich mit der anderen. Ein zweites Mal, ein drittes. Und zur Sicherheit auch noch ein viertes.
Die Wand, die dem Treppenkopf gegenüberlag, war von einem Bild bedeckt, das vom Boden bis zur Decke reichte. Es war geschützt hinter Glas, das in einen schweren Rahmen aus dunklem Holz gefasst war. Auf den ersten Blick sah das Bild aus wie gemalt, aber Ewelina ließ sich nicht täuschen – von ihren Fernsehzeitschriften kannte sie diese Art Fotografien, bei denen Frauen keine Falten mehr hatten, keine Leberflecken, keine Härchen am Kinn. Nur dass dieses Foto keine Frau zeigte, sondern einen Mann. Er sah sehr sportlich aus, obwohl er bereits in Ludmillas Alter sein mochte. Er hatte lockige, rotblonde Haare, ein starkes Kinn. Breitbeinig stand er da, den Oberkörper zur Seite gedreht. Hoch über dem Kopf hielt er einen Speer, zum Wurf bereit. Seine Haut schimmerte golden vor aschegrauem Hintergrund. Vorsichtig hob Ewelina den Blick, gleichermaßen fasziniert wie entsetzt.
Nein, sie hatte sich nicht getäuscht, der Mann war nackt. Vollkommen nackt. Es gab kein Geheimnis, das nicht preisgegeben worden war. Zwischen den Beinen baumelte selbstbewusst und gelassen seine Männlichkeit. Und was für eine.
Erneut bekreuzigte Ewelina sich. Seit zweiundfünfzig Jahren putzte sie jetzt Wohnungen, erst in Katowice, dann in Nürnberg, inzwischen in Hilpoltstein. Und bei der Heiligen Muttergottes, sie hatte schon vieles erlebt – doch das? Verstohlen zog sie das Handy aus ihrem Kittel und machte ein Foto. Sie fühlte sich selbst ein bisschen schmutzig dabei, aber wie sonst würde ihr Ludmilla später die Geschichte glauben?
Die nächste Tür stand offen. Auf dem Teppichboden leuchteten rote Farbflecken. Die würde Ewelina sich nachher genauer ansehen, sie würde das passende Reinigungsmittel schon dabeihaben, sie war immer gut vorbereitet. Ludmilla behauptete, sie sei zwanghaft, aber was wusste das Kind schon?
Die Tür führte zu einem Schlafzimmer. Als Ewelina es betrat, fielen ihr die Apfelreste aus der Hand. Die roten Flecken sprenkelten einen Pfad bis zur Stirnseite eines übergroßen Wasserbetts. Und an der Wand darüber prangten riesige, leuchtend rote Lettern. Für Jerusalem!, stand da.
Die Farbe war dünnflüssig gewesen, von der Unterseite der Buchstaben liefen fahle Rinnsale die Tapete hinunter.
Dann sah sie den Mann, der vom Bett halb verdeckt auf dem Boden lag. Ewelina erkannte ihn sofort wieder, obwohl er älter war als auf dem Foto und eine Hose trug. Sein Rücken sah aus, als hätte jemand einen Topf Tomatensoße darüber ausgeleert. Abgesehen davon fehlte ihm der halbe Kopf.
Ewelina vergaß, sich zu bekreuzigen.
Die neuen Rollen konnten wirklich was. Jana brauste auf ihrem Longboard am Gasteig vorbei, Flash wäre stolz auf sie gewesen. Leider war Rushhour, sonst wäre sie auf der Straße gefahren; so musste sie sich zwischen Fahrradfahrerinnen und Fußgängern hindurchschlängeln. Am Isartor saßen ein paar Jugendliche auf ihren BMX-Rädern und rauchten Selbstgedrehte. Jana raste auf sie zu. Die Jugendlichen sahen erschrocken auf. Im letzten Moment ließ sie den linken Fuß über das Pflaster schlittern, sprang vom Board, trat es hoch und fing es auf.
»Sag mal, Khalid, hast du nicht Schule?«
Der Angesprochene schnipste grinsend einen Kippenstummel auf die Straße. »Und Sie, Frau Jana, haben Sie nicht Arbeit?«
Jana grinste zurück. »Allein dafür, dass du mich siezt, müsste ich dir den Hintern versohlen. Als ob ich eine alte Tante wäre.«
»Bruder, Sie sind alt.«
»Hör zu, Schwester. Ich habe dich am Montag vermisst. In zwei Wochen kommt die Zeitung. Die anderen sind lahmer als dein Oberlippenbart. Ohne dich sind wir aufgeschmissen. Den einzigen Preis, den wir dann gewinnen, ist der für den hässlichsten Fußgängertunnel in Haidhausen.«
Khalid sah zu Boden. »Gab Stress.«
»Dein Bruder?«
Er nickte.
»Weißt du was«, Jana sah sich um, »bis auf die andere Seite vom Viktualienmarkt.« In der Westenriederstraße würde sich der Verkehr in Grenzen halten. »Ich mit dem Board. Du mit dem Rad. Wenn du zuerst da bist, kauf ich dir und deinen Kumpels ne Limo.«
»Echt?«
Auch Khalids Kumpels merkten auf.
Er riss sein Rad herum. »Ich lösch Sie.«
»Wart mal ab.« Jana ließ ihr Board aufs Pflaster fallen. »Wenn du verlierst, gehst du in die Schule.«
»Ich verlier nicht.« Schon trat er in die Pedale, strampelte los wie ein Verrückter, verfolgt vom Anfeuerungsgeheul seiner Kumpels.
Jana bretterte hinterher. Verdammt, war der Junge schnell. Auf der Westenrieder hatte sie keine Chance, aber auf dem Markt wurde gerade irgendwas aufgebaut. Zwischen den Buden lag alles voller Paletten und Rohre, Lkw manövrierten, Arbeiter fluchten, eine Bühne wurde zusammengeschraubt. Geschickt wich Khalid einem Stapel Zeltplanen aus, sprang über eine Kabeltrasse, umkurvte eine Technikerin, die ein Flightcase vor sich herschob. Bei den Zeltplanen und der Kabeltrasse tat Jana es ihm gleich, holte auf. Doch das Flightcase versperrte inzwischen komplett den Weg, und sie konnte sich kein Ausweichmanöver mehr leisten. Wenn ihr Board bloß nicht so lang gewesen wäre. Egal. Sie beschleunigte, brauste auf das Case zu, die Technikerin riss die Augen auf, Jana hob ab, flog über das Hindernis, stabilisierte das Board mit einer Hand, landete hart auf dem unebenen Pflaster, fand ihr Gleichgewicht, raste weiter. Sie duckte sich unter einer Holzlatte hindurch und spürte endlich Aufwind. Khalid hatte eine längere Route gewählt und wertvolle Sekunden verloren. Gehetzt sah er sich nach ihr um. Mit der Zunge im Mundwinkel stöhnte er vor Anstrengung.
Nur noch zwanzig Meter. Leute schrien oder zeigten den Mittelfinger. Aus der Seitentür eines Transporters sprang ein bärtiger Mann mit Werkzeugkiste, Jana rauschte ihm fast über die Füße. »Sorry!« Zehn Meter. Die Betreiberin des Würstchenstands hatte gerade einen gelben Eimer herbeigeschleppt. Wie in Zeitlupe drehte sie sich Jana zu, stellte den Eimer ab. Jana, tief in den Knien, riss das Board herum, stellte es quer zur Fahrtrichtung. Die blockierten Räder schabten über den Asphalt, das Deck raste auf den Eimer zu, wurde abrupt langsamer, tippte gegen ihn, lag still.
Mit zur Entschuldigung erhobenen Händen richtete Jana sich auf, bemühte sich um ihr einnehmendstes Lächeln. »Hören Sie …«
Ein kolossales Scheppern ertönte hinter ihr, dann ein Angstschrei. Sie wirbelte herum – und sah gerade noch, wie Khalid mit voller Geschwindigkeit in einen Haufen Bühnenelemente krachte. Shit. Sie rannte hinüber, schob die anderen zur Seite, die ihm zu Hilfe eilen wollten. Siedend heiß wurde ihr bewusst, dass er keinen Helm trug. Shit, Shit, Shit. Khalid lag reglos auf dem Bauch, halb begraben unter seinem Rad und einem Dutzend Metallrohre. Jana kniete sich hin, berührte ihn an der Schulter. »Khalid, hörst du mich?« Ihre Kehle war trocken, ihr Herz trommelte.
Da, plötzlich kam Bewegung in den Jungen. Schwerfällig hob er den Kopf, richtete den Oberkörper auf, drehte sich Jana zu. »Hab ich verloren?«
Von Erleichterung überschwemmt packte sie ihn, drückte ihn an sich.
»Wissen Sie was«, erklärte Khalid an ihrer Schulter, »Sie sind nicht echt, Frau Jana.«
»Es tut mir so leid. Das war eine superdumme Idee.«
»Was? Das war voll Gold. Das war so … so …«
»Tut dir irgendwas weh?«
»Können Sie mich bitte loslassen jetzt? Sonst denken die Leute noch, Sie sind meine Mutter.«
Als Jana die Agentur erreichte, war sie immer noch neben der Spur. Warum machte sie bloß ständig so einen Blödsinn – dass sie sich selbst in Gefahr brachte, na gut. Aber Khalid? Wenn ihm etwas geschehen wäre … sie wagte nicht, es sich auszumalen.
An der Rezeption saß Stefan, wie immer ein Sudoku-Heftchen auf dem Schoß. »Hey, Jana.«
»Hey.«
»Alles okay?«
Sie winkte ab, drückte den Fahrstuhlknopf.
»Die Chefin will dich sehen.«
»Ist gut.«
Der Fahrstuhl kam, sie wählte den vierten Stock. Jana selbst arbeitete als Webdesignerin im dritten. Im vierten saß das Artdesign, und wichtiger noch: Sophie. Sie hatten sich auf der vorletzten Weihnachtsfeier kennengelernt. Beide waren neu in der Agentur gewesen und hatten die Ansicht geteilt, dass schlechter Alkohol weniger schlimm war, wenn man die Cocktails selbst mischte.
Jana vermutete, dass sie über ihr eigenes Leben weniger wusste als über das von Sophie, denn diese redete gewöhnlich ohne jedes Satzzeichen. Doch wenn es darauf ankam, hörte sie zu. Auch diesmal brauchte sie nur von ihrem Bildschirm aufzusehen, um die richtige Frage zu stellen: »Kaffee?«
»Kaffee.«
Auf dem Weg zur Teeküche schilderte Jana Sophie ihre Dummheit. »Ach was«, sagte diese, während sie das Kaffeepulver suchte, »ist doch alles gut gegangen. Glaubst du, du hättest einen solchen Draht zu den Jungs, wenn du immer nur gewaltfreie Kommunikation mit ihnen üben würdest?« Ohne sich zu unterbrechen, bediente sie die Maschine. »Du machst was, Jana, da kann immer was schiefgehen. Aber was wäre denn die Alternative – Stickdeckchen und Kamillentee? Du würdest es doch nicht ertragen, einfach zu schlucken, was dir vorgesetzt wird. Du brennst für die Dinge, die du tust. Ehrlich, ich hätte gern dein Feuer, mit allen Gefahren …«
»Ah, Frau Baumgarten«, wurde sie unterbrochen. »Hier sind Sie.« Sophie zuckte, als sei sie bei etwas Verwerflichem ertappt worden. Dabei hatte die Bemerkung gar nicht ihr gegolten. Jana nickte nur. »Morgen.«
In der Agentur 2XH – was für Hart & Hügel stand und wohl nach Berlin klingen sollte – gab es nur eine einzige Person, die einen mit Nachnamen ansprach: Cornelia Hügel, die Co-Chefin.
Unter den Mitarbeitern war man sich einig, dass Hügel den falschen der beiden Gründernamen trug.
»Sie sollten in mein Büro kommen, wurde Ihnen nicht Bescheid gesagt?«
Jana zuckte die Schultern. »Ich war gerade auf dem Weg.«
Die Chefin warf einen Blick auf die randvolle Kaffeetasse in Janas Händen. »Dann kommen Sie doch gleich mit.« Sie musste ihre Stimme frisch aus dem Eisfach geholt haben. Schon wandte sie sich ab.
Hinter ihrem Rücken verdrehte Sophie die Augen. Missmutig stellte Jana die Tasse ab und trottete der Chefin hinterher. Hügel trug pseudoverschlissene Jeans, ihre Haare fielen ihr offen über die Schultern – wäre sie dreißig Jahre jünger gewesen, hätte man sie auch für die Bewerberin einer Teenie-Castingshow halten können. Und ja, auch mit Ende vierzig vermochte sie charmant zu wirken und zu schnurren wie ein Kätzchen, wenn sie etwas von einem wollte. Wenn sie sauer auf einen war, dann gute Nacht.
Hügels Büro versprühte die kühle Leere eines Museums zwischen zwei Ausstellungen. In der gesamten Agentur herrschte eine radikale Clean-Desk-Policy. Die Schreibtischplatten waren aus Glas, der Rest war Beton. 2XH hatte vor ein paar Jahren sogar einen Preis für seine Einrichtung gewonnen. Als Stefan ihr davon erzählt hatte, wäre Jana beinahe das Gurkenglas aus der Hand gefallen. Spöttisch hatte Stefan hinzugefügt, Hügel habe, bevor die Fotografen gekommen seien, eine externe Agentur beauftragt, das Haus entsprechend herauszuputzen; eine Woche lang seien Sofas und Zimmerpflanzen herbeigeschleppt worden, sogar die Lichter habe man ausgetauscht. Die gesamte Belegschaft habe unter die Maske gemusst. Zwei Fotos später dann alles wieder auf Anfang.
Es gab in Hügels Büro keine Möbel, nur einen hohen Schreibtisch zum Arbeiten im Stehen. Hügel schloss die Glastür und drehte sich zu Jana um. »Wissen Sie, wie viel Uhr es ist?«
Jana zuckte die Schultern. »Halb elf vielleicht?«
»Und erinnern Sie sich vielleicht auch daran, auf wann der Call mit Petersen terminiert war?«
Shit. Die Reederei Petersen war der wichtigste Kunde, den 2XH im letzten halben Jahr betreut hatte. Und der schwierigste.
»Gleitzeit heißt nicht, dass sie kommen und gehen können, wann Sie wollen, Frau Baumgarten …«
»Ich habe den Entwurf gestern Abend noch hochgeladen…«
Hügel schnitt ihr das Wort ab. »Ihre fragwürdigen Arbeitszeiten sind das eine. Aber einen Kunden-Call zu verpassen – wissen Sie, wie doof wir heute Morgen dastanden? Drei Chinesen ohne Kontrabass.«
»Tut mir leid.« Jana schob die Unterlippe vor. »Mir war nicht klar, dass ich bei dem Call hätte dabei sein sollen.«
Mit theatralischer Langsamkeit zog Hügel die Ärmel ihrer Bluse glatt. »Wie lange arbeiten Sie jetzt bei uns?«
»Anderthalb Jahre.«
»Sie machen auch Jugendarbeit, ist das richtig?«
»Ab und zu, ja.«
»Ich nehme an, ehrenamtlich?«
»Ja.«
»Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Frau Baumgarten. Ich frage mich, warum Sie sich für unsere Agentur entschieden haben.«
»Ich wollte in München bleiben, und da ist Hart & Hügel nun mal der Maßstab.« Außerdem dachte ich, es gibt Pflanzen auf dem Flur.
»Das heißt, Sie können sich eine Zukunft bei uns vorstellen?«
Jana blies die Backen auf. Sie hatte kein Problem mit Machtspielchen – sie tat sich nur schwer, sie ernst zu nehmen. »Sicher.«
Die Chefin wischte eine Spur nicht vorhandenen Staub von ihrer Schreibtischplatte. »Gut. Dann würde ich mich freuen, wenn Sie künftig Ihre Arbeitsweise unserer Firmenphilosophie anpassen könnten.«
»Okay.«
Hügel fixierte sie mit ihren kleinen Raubvogelaugen, sagte aber nichts. Jana wandte sich zum Gehen.
»Eine Sache noch …«
»Ja?«
»Suchen Sie sich jemanden, der Ihre Arbeit mit den Jugendlichen übernehmen kann.«
Verständnislos wartete Jana auf eine Erklärung.
»Sie werden keine Zeit mehr dafür haben.« Es klang wie eine Drohung. »Petersen will, dass Sie die Leitung des Projekts übernehmen.« Hügel beschäftigte sich bereits mit ihrem Computer. »Er war ganz aus dem Häuschen, als er Ihren Entwurf gesehen hat. Herzlichen Glückwunsch.«
So lange Ludwig Gaißinger zurückdenken konnte, beschäftigte ihn das Wappen von Hilpoltstein-Neuenhofen. Nicht die drei Türme im Schildfuß, obwohl Türme üblicherweise weiter oben im Feld gesetzt wurden. Schon merkwürdiger war, dass der Löwe nach rechts schritt, also nach hinten gemäß Blasonierung. Doch die Frage, die ihn am meisten quälte, lautete: Warum zog sich ein roter Bastardfaden diagonal über den Schild? Wieder und wieder hatte Ludwig die Urkunden durchforstet, die in den Regalen des Neuenhofener Geschichtsvereins schlummerten – und immer noch keinen Hinweis darauf gefunden, dass die Fürsten von Lüdenbach, die Neuenhofen im ausgehenden vierzehnten Jahrhundert gegründet hatten, einem Unehelichen die Herrschaft übertragen hätten.
Während er nachdenklich den Wagen in der Einfahrt parkte, kam ihm Franziska von der Haustür entgegen. Ludwig nahm den Blumentopf vom Beifahrersitz und stieg aus. In seinem Rücken zuckte der Nerv, der ihm seit Jahren zu schaffen machte.
»Tulpen?« Ein Lächeln flog über Franziskas Gesicht. »Du bist ein Schatz.«
Sie küssten sich. »Warum bist du denn schon zu Hause?«, fragte Ludwig. »War was?«
»Nichts Besonderes. Marlene hat die lange Schicht übernommen. Ich wollte doch noch einen Kuchen backen, bevor Jana kommt.« Sie nahm ihm den Blumentopf ab. »Und bei dir?«
»Die Truppe hat mir einen Kalender gebastelt, der meine Tage bis zum Ruhestand runterzählt.«
»Tatsächlich? Jetzt schon? Das ist doch noch ewig hin.«
»Ab Sonntag tausend Tage. Und sobald ich weg bin, wird die Station geschlossen, es betrifft also auch die anderen.«
Franziska legte den Kopf schief und sah ihn in der ihr eigenen Mischung aus Mitleid und Neugier an. »Und, wie geht’s dir?«
Ludwig zögerte. Seine Frau war für die Gefühle zuständig. Er selbst ging solchen Fragen lieber aus dem Weg. Zum Glück kannte Franziska ihn gut genug, um ihm Zeit zu lassen. »Ich denke«, brummte er schließlich, »ich werde das Arbeitszimmer neu einrichten. Die Regale nehmen das Licht weg.«
»Herzlichen Dank für Ihre präzise Antwort, Herr Kriminalhauptkommissar Gaißinger.« Franziska kniff ihn in den Oberarm. »Komm rein, es fängt an zu regnen.«
Ludwig sah auf seine Armbanduhr. Eigentlich wäre das nicht nötig gewesen, er hatte ein gutes Zeitgefühl. »Ich fahr lieber gleich zum Bahnhof, Jana sollte in ein paar Minuten ankommen.«
Auf einen Schlag verdunkelte sich Franziskas Miene. Ihr Blick ging an ihm vorbei.
»Was ist los?«
Stumm zeigte sie auf den Wagen hinter ihm. Ludwig sah sich um – und stöhnte auf. Auf der Verkleidung des Armaturenbretts vibrierte sein Diensthandy. Wenn die Zentrale nach Feierabend anrief, konnte das nur eines bedeuten.
»Kannst du dich bitte um Jana kümmern?«
Franziska nickte nur. Dankbarerweise fragte sie nicht, wann er zurück sein würde. Die Frage wäre sowieso nicht zu beantworten gewesen. Er stellte die Einsatzleuchte aufs Autodach und setzte aus der Einfahrt zurück.
Der Tatort war eine Villa am Ortsrand, ein kantiger Neubau mit fast parkähnlich großem Garten. Hinter dem Gelände zeigten sich die südlichen Ausläufer des Nürnberger Reichswalds, dessen Kiefern so schlank und stolz dem Regen trotzten, als hätten ihnen Jahre der Dürre und der Käferplagen nichts anhaben können.
Als Ludwig eintraf, sah er nur zwei Fahrzeuge, die verloren auf dem Rasen vor dem Gebäude herumstanden: neben einem Streifenwagen ein ziviler Kombi, der seinem Team gehörte. Die Spurensicherung kam aus Nürnberg und würde noch mindestens zehn Minuten hierher brauchen.
Der Regen prasselte auf die Windschutzscheibe. Missmutig stieg Ludwig aus seinem Wagen. Trotz des grauen Wetters ragte die Villa herausfordernd vor ihm auf. Wer hatte sie gebaut? Es musste ein Zugezogener gewesen sein, der einheimische Geldadel residierte im Stadtkern von Hilpoltstein.
In der Absicht, die Einfahrt abzusperren, kämpfte Jürgen Hoff mit dem Trassierband. Korrekte Vorgehensweise – auch wenn es weit und breit keine Schaulustigen gab. Das Wasser tropfte ihm aus dem Schnauzer. »Das ist mal ein Anwesen, gell. Im Staatsdienst kommt man dazu nicht.«
»Wem gehört es denn?«
»Olaf Wittenheim.«
»Dem Olaf Wittenheim?«
Hoff wickelte das rot-weiße Band um eine Zaunlatte. »Ich wüsste nicht, dass es in Neuenhofen zwei von der Sorte gibt.«
»Und wer ist das Opfer?«
»Noch nicht identifiziert.«
Das versprach ja ein interessanter Fall zu werden. »Warten Sie noch mit dem Festmachen, bis die Spurensicherung da ist.«
Ludwig spürte die Nässe bereits durch seinen Mantel dringen. Er nickte Hoff zu und eilte zur Villa. Unter den überdachten Eingang hatte sich auch Yvonne Kolritz zurückgezogen. Sie war damit beschäftigt, eine bucklige Frau im Arbeitskittel zu beruhigen, die heftig gestikulierend auf sie einredete. Die Bucklige trug zu ihrem grauen Kittel ein Kopftuch; ihr Gesicht hatte Falten wie ein Blatt Papier, das man zerknüllt und wieder auseinandergezogen hatte.
Nachdem er Kolritz begrüßt hatte, deutete Ludwig auf den Kombi. »Huber und Obermüller? Sind die im Objekt? Wenn ich noch einmal Obermüllers DNS am Tatort finde, kann sie den Rest ihres Lebens Akten sortieren.«
Kolritz hob hilflos die Schultern. Im selben Moment zeigten sich die beiden Subjekte in der Tür. Als sie Ludwigs gewahr wurden, zuckten sie wie auf frischer Tat ertappt. »Herr Gaißinger«, murmelten sie im Chor. Gemeinsam mit Ludwig bildeten sie die kleinste Mordkommission Mittelfrankens. Maria Obermüller war lang und dünn, Frank Huber klein und dick. Doña Quijote und Sancho Panza nannten sie sich selbst. Und wenn sie nicht genauso seltsame Szenen geliefert hätten wie ihre Vorbilder, hätte Ludwig es womöglich sogar erheiternd gefunden. Mit heulenden Sirenen brausten derweil zwei weitere Streifenwagen aufs Grundstück.
»Also, da drinnen sieht es aus …«, begann Obermüller.
Ludwig hob die Hand. »Alles der Reihe nach.« Er drehte sich der Alten im Kittel zu, sah dann zu Kolritz. »Sie war es, die angerufen hat?«
»Ewelina Sikora«, bestätigte Kolritz.
»Bitte, verstehen Sie«, plapperte da die Alte los, die einen starken Akzent hatte. »Ich bin Ersatz, für Lara. Lara kann Ihnen erklären. Nur heute bin ich hier. Für Lara. Ich habe Rente, ich habe Tochter. Mein Mann ist gegangen, ich bin allein …« Sie war den Tränen nahe.
»Verzeihung, Frau Sikora.« Ludwig bemühte sich um einen tröstlichen Ton. »Aber wovon reden Sie?«
»Sie scheint Angst um ihren Job zu haben«, bemerkte Kolritz. »Vermutlich hat sie schwarz gearbeitet.«
»Hören Sie, Frau Sikora«, beschwichtigte sie Ludwig. »Es war gut, dass Sie angerufen haben. Ihre Arbeitsverhältnisse kümmern uns nicht. Sie können ganz unbesorgt sein.«
»Genau genommen«, warf Huber ein, »müssen wir dem Zoll eine Mitteilung machen. Sonst handeln wir verfahrenswidrig gemäß Paragraf …«
Ludwig warf ihm einen finsteren Blick zu. Huber verstummte.
»Können Sie uns kurz schildern, was Sie erlebt haben?«
Die Alte sah unsicher zur Einfahrt, auf der die Spurensicherung herangerauscht kam. »Ich habe schon.«
»Und Sie werden es auch später noch einmal auf der Station erzählen müssen. Das können wir Ihnen leider nicht ersparen.«
Während die Spurensicherung ihre Maleranzüge überzog, wurde Ludwig von Obermüller unterrichtet: Bei der Leiche, die Sikora in einem der Schlafzimmer gefunden hatte, handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Olaf Wittenheim persönlich. Ihm sei von vorne in den Kopf geschossen worden. Vermutlich habe die Tatperson anschließend die Wand beschmiert.
»›Für Jerusalem‹?« Ludwig verzog das Gesicht. Islamistischer Terror in Mittelfranken? Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
»Ja. In roter Farbe, quer übers Bett geschrieben.« Der Eimer mit der Farbe sei noch abgängig, fuhr Obermüller fort. »Aber wir waren ja nur zur Gefahrenabwehr drin.«
»Schon gut«, winkte Ludwig ab. »Lassen wir die SpuSis ihre Arbeit machen.«
Huber trat zu ihnen, sein Telefon in der Hand. »Bei vision sagen sie: Dass der Chef heute nicht zur Arbeit erschienen ist, hat zwar für Irritation gesorgt, aber freitags war er wohl öfter mal nicht erreichbar. Gestern ist er um halb fünf nach Hause. Ein bisschen früher als sonst, aber nicht auffällig. Nichts Ungewöhnliches in seinem Verhalten. Fände ich auch schön, wenn ich mal vor fünf nach Hause könnte. Oder gleich ein paar Tage, das wär was, einfach mal die Füße hochlegen … ach, mir fällt gerade ein – in unserem Dienstplan steht doch sogar Huber frei fürs Wochenende …«
»Augen auf bei der Berufswahl.« Ludwig dachte an Jana, die er versetzt hatte. »Rufen Sie in München an, Huber, die sollen uns ihre Schriftexpertin schicken.«
»Warum schicken wir denen nicht einfach die Fotos der Spurensicherung?«, fragte Obermüller. Wer sonst.
»Weil hier gerade ein Mord passiert ist«, entgegnete Ludwig etwas zu scharf. Die Frau war so arbeitsscheu, die litt sogar darunter, wenn andere Menschen arbeiteten. An der Aufrichtigkeit ihres Berichts freilich hegte er keinen Zweifel. »Telefonieren Sie nach Nürnberg, dass wir eine SoKo einrichten, Mord mit Verdacht auf ein politisches Motiv.«
Obermüller und Huber stöhnten unisono. Kein Wochenende für niemanden. Was hatten sie denn erwartet?
Kolritz hob den Arm. »Was machen wir mit Frau Sikora?«
»Fahren Sie sie ins Revier. Ich warte hier noch auf den Leichenschauer, dann komme ich nach und vernehme die Dame.«
Weinsfeld sauste vorbei. Die Lagerhalle von Keller & Kalmbach. Das Feld mit der Photovoltaikanlage. In hektischen Schlieren zog der Regen die Scheiben entlang. Jana sah trübe aus dem Fenster, während in ihren Ohren die Beats von Kraftwerk dröhnten. Normalerweise beruhigten sie die Achtzigerjahre-Synthesizer, aber heute nahm sie sie kaum wahr. Listening to early electronic music is like listening to a brighter future that never happened, hatte ihr ein Kommilitone in London mal gesagt. Sie erinnerte sich nicht mehr an seinen Namen. Aber sie hätte ihn heiraten sollen.
Der Regional-Express passierte den Main-Donau-Kanal. Vor Göggelsbuch kam der Tunnel. Der Zug hielt in Allersberg, hier stieg sie in den Bus. Zurück über den Kanal. Mit blinkenden Lichtern rauschte ein Rettungswagen vorbei. Janas Brust zog sich zusammen. Vierzehn Jahre war es her, dass ihre Mutter gestorben war, und noch immer warf jedes Blaulicht sie in die Erinnerung zurück. Jana ließ sich nach hinten sinken und legte den Kopf in den Nacken, bis sie den abgewetzten Sitzbezug spürte. Es kostete sie jedes Mal Überwindung, nach Neuenhofen zu fahren. Doch es nicht zu tun, wäre ihr wie ein Verrat vorgekommen. Nicht nur an ihrer Mutter, auch an Onkel Ludo.
Nächste Haltestelle: Neuenhofen-Ost.
Jana griff nach ihrem Rucksack und sprang auf den Bürgersteig. Es schüttete aus allen Eimern der Welt. Sie steckte ihre Ohrstöpsel weg und sah sich nach Ludo um. Er war nirgendwo zu sehen. Auf dem Parkplatz standen zwei Autos, keines davon war seines. Komisch. Niemand legte größeren Wert auf Pünktlichkeit als ihr Onkel. Als Jana noch bei ihm gewohnt hatte, hatte sie das regelmäßig zur Verzweiflung getrieben. Sie rief auf dem Festnetz an, aber keiner nahm ab. Pro forma versuchte sie es auf seinem Handy, aber das war von vornherein zum Scheitern bestimmt – Zissi zuliebe hatte er es sich angeschafft, aber Jana hatte es noch nie in Benutzung erlebt. Und der Tag, an dem man ihn auch noch zu einem Diensthandy gezwungen hatte, markierte den Untergang seines Glaubens an die Menschheit.
Jana sah sich den Aushang mit den Busverbindungen an. Keine neuen Linien – wäre auch zu schön gewesen. Also zu Fuß. Sie presste die Lippen zusammen und trat unter der Haltestellenüberdachung hervor. Regen – in ein paar Generationen würden die Menschen wohl in dankbarem Staunen auf die Knie fallen, wenn es regnete. Nach zwei Minuten klebten ihr die Klamotten auf der Haut, als wäre sie in einen Pool gefallen.
Das Wasser schmatzte in ihren Turnschuhen. Wie lange würde es dauern, wenn sie in dieser Ödnis ein Taxi riefe? Seit sie für 2XH arbeitete, wurde sie regelmäßig mit dem Taxi zu irgendwelchen Meetings geschickt, aber noch immer kam ihr das dekadent vor. Sie hätte mit fünfzehn weniger Marx lesen sollen; das machte ihr noch heute das Leben schwer.
Ein Wagen rollte ihr entgegen. Sie musste den Fahrer nicht sehen, um zu wissen, wem die breigelbe Schrottlaube gehörte – ihrem ehemaligen Klassenkameraden Thomas Förster. Thomas war nicht nur der schlimmste Maulheld der Schule gewesen, sondern leider auch ihr erster Freund. Zwei verworrene Monate jugendlicher Schwärmerei and a lifetime of shame.
Mit gesenktem Kopf hastete Jana weiter, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
Der Wagen rauschte an ihr vorbei. Und wurde langsamer. Na klar. Sie blieb nicht stehen, drehte sich nicht um, doch es half nichts. Sie hörte, wie der Wagen wendete, dann zu ihr aufschloss. Als sie auf gleicher Höhe waren, konnte sie ihn nicht mehr ignorieren, ohne sich lächerlich zu machen. Widerwillig sah sie auf. Thomas hatte sich über den Beifahrersitz gelehnt und kurbelte das Fenster runter. Fuhr also wirklich noch dieselbe Karre, die seine Eltern ihm zum Achtzehnten besorgt hatten.
»Hey, Jana.« Sein Grinsen reichte von einem Ohr zum andern. »Was treibst denn du hier?«
»Hey, Thomas.« Sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Gut, dich zu sehen. Besuchst du deinen Onkel?«
Sie nickte.
»Soll ich dich mitnehmen?«
»Du wolltest doch in die andere Richtung.«
»Ich treff mich bloß zum Skat. Die paar Minuten können die Jungs schon warten.«
»Nee, mach dir mal keinen Stress.« Es schüttelte sie. Teils vor Kälte, teils davor, wie lahm die Erwiderung in ihren eigenen Ohren klang.
»Jetzt spring schon rein.« Er stieß die Beifahrertür auf. »Du bist ja klatschnass.«
Na ja, die Fahrt würde ja wirklich nur zwei Minuten dauern. In Ermangelung eines plausiblen Vorwands ließ sie sich in den Sitz fallen. Im Radio plärrte inhaltsleerer Pop.
»Wie lange bist du hier?« Thomas’ Grinsen hatte die Naturgesetze besiegt und war noch breiter geworden.
»Bis Sonntag.«
»Stippvisite? Morgen ist Party bei uns, wenn du Bock hast, komm vorbei. Wir wohnen jetzt im Tannenweg.«
Während er sprach, stieg ein beunruhigendes Gefühl in Jana auf, dass irgendetwas nicht stimmte. Thomas’ Goldkettchen war verschwunden, und seine Wolfgang-Petry-Gedächtnis-Frisur war einem richtigen Haarschnitt gewichen. Aber das war es nicht.
»Wir grillen. Du musst nichts mitbringen.« Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. »Außer du isst vegan, da müssen wir mal schauen, was wir dahaben. In München esst ihr ja jetzt alle vegan, richtig?«
Es war nicht sein Aussehen. Seine Sprüche: Sie waren nicht so bodenlos wie früher. Das war es. Der Thomas, den Jana kannte, hätte keine drei Sätze von sich geben können, ohne zweimal Baby zu sagen und einmal einen Witz über Brüste zu machen.
»Danke dir, ich schau mal, aber rechnet lieber nicht mit mir.«
Er bog in die Seestraße ein. »Schade.«
Bist du tatsächlich erwachsen geworden, Thomas Förster? »Bei euch?«
»Was?«
»Du sagtest, die Party ist bei euch … mit wem feierst du?«
»Mit Jessy … das weißt du noch gar nicht?«
»Jessy? Welche Jessy?« Jana überlegte. »Doch nicht die mit den Sommersprossen? Die, die uns im Kino mit Popcorn beworfen hat?«
»Genau die.« Er strahlte, als hätte er eine Sonne verschluckt. »Wir haben im Dezember geheiratet.«
»Gut für euch.«
Am Straßenrand zeigte sich die Buchsbaumhecke der Gaißingers. Thomas hielt an, schaltete den Motor aus. »Vielleicht packst du’s ja doch morgen. Ich würde mich jedenfalls freuen.«
»Mal gucken.« Sie schnallte sich ab.
»Mensch, ich würde echt gern wissen, wie sich’s lebt in München. Ist es echt so versnobt, wie alle sagen?«
»Ach«, murmelte Jana, den Türgriff in der Hand, »mal so, mal so. Wie überall.«
Thomas drehte sich ihr zu, sein Grinsen war verschwunden. »Du siehst geknickt aus. Was ist los?«
»Meine Mutter.« Jana wusste nicht, wieso, aber plötzlich sagte sie es einfach: »Morgen ist ihr Todestag.«
»Kommt dein Vater?«
»Nein.«
Jana klingelte ein drittes Mal. Als noch immer niemand öffnete, gab sie auf und setzte sich auf die Stufen vor der Haustür. Sie war sich im Klaren darüber, dass sie häufiger Termine versemmelte als andere. Aber bestimmt nicht das Datum, an dem ihre Mutter gestorben war. Sie zog die Knie an die Brust. Inzwischen zitterte sie am ganzen Körper. Vielleicht hatte Ludo einen Einsatz. Was allerdings nicht erklärte, wo Zissi geblieben war.
Jana war im Begriff, sich ernsthaft Sorgen zu machen, da rollte der silberne Familienwagen der Wiedemanns in die Einfahrt. Und am Steuer saß niemand anderes als Zissi. Sie winkte fröhlich, kletterte mit Schwung aus dem Wagen und eilte Jana entgegen. »Da bist du ja, Kind. Wir müssen uns gerade verpasst haben.« Sie umarmten sich. »Oje, bist du nass. Komm erst mal rein.«
Während Zissi den Nachbarn den Wagen zurückgab, zog Jana sich um. Sie war gerade fertig damit, sich zu föhnen, als sie ihre Tante in der Diele hörte. »Ich mach uns erst mal einen Tee«, rief Zissi das Treppenhaus hoch.
Zissi hatte für Jana Wilde Hagebutte in der Marienkäfertasse aufgebrüht. Sie hatte schon immer einen Blick für Details besessen. Dankbar nahm Jana den Tee entgegen.
»Das ist ein Wetter«, verkündete Zissi kopfschüttelnd, »in den Nachrichten sagen sie, morgen wird’s noch schlimmer.«
»Da wird Thomas seine Partypläne wohl noch mal überarbeiten müssen …«
»Thomas Förster? Ach was, der hat ein Festzelt in seinem Garten, das hält ein Erdbeben aus. Hast du ihn getroffen?«
»Er hat mich ein Stück mitgenommen.«
»Wusstest du, dass er die Jessy von den Schimanskis geheiratet hat?«
»Hat er mir erzählt, ja.«
»Ein feiner Mann ist das geworden.« Zissi seufzte.
Jana blies den Dampf von ihrer Tasse. »Du weißt wirklich nicht, wann Ludo zurückkommt?«
»Wenn er Pech hat, kommt er heute gar nicht mehr heim. Aber dann würde er sich melden. Hast du Hunger? Mit dem Essen brauchen wir nicht auf ihn zu warten. Wie schön, dass du da bist.« Zissi strich ihr über den Scheitel, als wäre sie zehn und nicht bald dreißig. »Zum Nachtisch gibt’s Zitronenkuchen.«
Es war halb acht vorbei, als Ludwig Polizeimeisterin Kolritz in den Verhörraum 1 rief und sie bat, Ewelina Sikora aus der Wache zu geleiten. Dass der Verhörraum nummeriert war, war der Vergangenheit geschuldet; bis in die Neunziger hinein hatte die Dienststelle Hilpoltstein noch über drei Gebäude verfügt. In dem einzigen verbliebenen hatte man Verkehr- und Kriminalpolizei zusammengelegt, und von den vier Verhörräumen waren drei zu Büros umgebaut worden.
Ludwig warf einen Blick in den großen Konferenzraum, in dem Obermüller und Huber gerade damit beschäftigt waren, Laptops zu verkabeln. Das künftige Herz der SoKo. Die Unterstützung aus Nürnberg würde morgen dazustoßen. Er ging in die Teeküche und rieb sich den Punkt im Rücken, wo sein Nerv schmerzte. Während die Kaffeemaschine lief, rief er Franziska an und erklärte, dass es später werden würde. Er ließ sich Jana reichen. Seine Nichte versicherte ihm gerade, gut angekommen zu sein, als er hinter sich ein Klopfen hörte. Kolritz stand in der Tür. Er legte eine Hand auf die Stelle seines Handys, wo er das Mikrofon vermutete. »Was gibt’s?«
»Die Bürgermeisterin.«
»Sagen Sie ihr, ich rufe sie gleich zurück.«
»Sie steht am Empfang.«
Entgeistert starrte er Kolritz an.
»Soll ich sie hinhalten? Sie wirkte ziemlich … ungeduldig.«
»Nein, ich komme.« Er wandte sich wieder seinem Handy zu. Wie gerne wäre er mehr für Jana da gewesen. »Ich muss auflegen. Wir sehen uns spätestens morgen früh.«
»Okay. Bis dann.«
»Bis dann.«
Konstanze Röckl war das Fleisch auf den Tellern der Lokalpresse. Sie war erst Ende der Nullerjahre mit ihrer Lebensgefährtin – allein das schon ein Skandal – nach Hilpoltstein gezogen. Mit ihrem altbayerischen Geld hatte sie eine Kegelbahn eröffnet und zur Empörung der Alteingesessenen auch noch Erfolg damit gehabt. Sie war in die Linke eingetreten, und obwohl man sich an allen Stammtischen gegenseitig versicherte, dass sie auf verlorenem Posten kämpfte, war sie in den Stadtrat gewählt worden. Sie hatte sich dafür eingesetzt, die Gewerbesteuer zu senken, war von ihrer eigenen Partei ausgebremst worden und kurzerhand zur FDP übergelaufen. An den Stammtischen schäumte nicht mehr nur das Bier. Als Röckl dann auch noch bei der letzten Bürgermeisterwahl kandidiert hatte, erhielt sie Morddrohungen.
Röckl ließ sich nicht einschüchtern und gewann die Wahl.
Kaum im Rathaus, entwickelte sie ein derart wirtschaftsliberales Programm, dass alle Seiten gleichermaßen vor den Kopf gestoßen waren. Als sie ihren früheren Plan in die Tat umsetzte, die Gewerbesteuer zu senken, warf man Farbbeutel gegen die Fenster ihrer Privatwohnung. Als sie den Digitalcampus Neuenhofen ins Leben rief, starrten die Stammtische nur noch resigniert in ihre Humpen und bestellten frisches Bier. Und als sich die ersten Firmen nach Baugrund umsahen, wandte man sich wieder der Frage zu, ob der Club in dieser Saison eine Chance auf den Aufstieg haben würde.
Ludwig hatte bisher kaum mit Röckl zu tun gehabt. Ein paar formale Treffen, mehr nicht. Ihre Gestaltungswut hatte sich noch nicht auf die Polizei ausgewirkt, und wenn es nach ihm ging, konnte das auch so bleiben. Politik war zweifelsohne ein Teil des Kampfes um eine bessere Welt, und in seinen romantischeren Momenten sah Ludwig sich auch selbst als einen Krieger für das Gute. Trotzdem – er war nur ein armseliger Infanterist. Wehmütig riss er sich vom Anblick der Kaffeefäden los, die aus der Maschine gurgelten, und ging hinter Kolritz zum Empfang.
Die Bürgermeisterin war eine große Frau mit Bürstenhaarschnitt. Sie trug einen maßgeschneiderten beigen Hosenanzug und tippte mit flinken Fingern auf ihrem Telefon herum.
»Einen Moment«, murmelte sie, ohne aufzusehen.
Ludwig wartete.
Nach einer Minute steckte sie das Handy weg, streckte ihm die Hand entgegen. »Was wissen Sie?«
Höflich ergriff er die dargebotene Hand. »Frau Bürgermeisterin. Guten Abend.«
»Ich will, dass diese Scheußlichkeit so schnell wie möglich aufgeklärt wird, hören Sie mich?«
»Selbstverständlich. Wir haben bereits mit den Ermittlungen begonnen.« Auf den politischen Teil seiner Arbeit hätte er mit Freude verzichtet. »Wollen Sie mir vielleicht in einen der Besprechungsräume folgen?«
»Wo?«
»Hier entlang, bitte.« Er deutete in die Richtung des kleineren, freien Konferenzraums.
Schon stürmte sie los. Kolritz sah mit großen Augen erst Röckl hinterher, dann Ludwig an.
»Die Hand, die dich füttert …« Aufmunternd nickte er der verstörten Polizeimeisterin zu. Dann machte er sich auf gen Besprechungsraum.
Um einen Konferenztisch, der mit zahllosen braunen Kaffeeringen gemustert war, standen acht Stühle aus Hartplastik, die vermutlich zu einer Zeit gefertigt worden waren, als das Wort Ergonomie noch nicht einmal erfunden war.
Doch Röckl machte nicht den Fehler, sich zu setzen. Während Ludwig die Türe schloss, beobachtete sie ihn mit lodernden Augen. »Sie sind sicher, dass es Mord war?«
Es war keine Stunde her, dass ihm Eva Heiland, die Leiterin der Spurensicherung, die Fotos gezeigt hatte; der Schuss musste aus nächster Nähe abgefeuert worden sein. Während Wittenheims Gesicht noch einigermaßen intakt gewesen war, konnte man seinen Hinterkopf von der Wand kratzen. »Ja«, entgegnete Ludwig, »ziemlich sicher.«
»Was ist mit Selbstmord?«
Ludwig schüttelte den Kopf. »Dann hätten wir die Tatwaffe bei ihm finden müssen.«
Röckl stromerte durch den Raum wie ein Tiger im Käfig. »Wer immer das getan hat, Sie müssen die Person kriegen.« Sie ballte die Fäuste. »So schnell wie möglich.«
»Wie gesagt«, entgegnete Ludwig geduldig, »die Ermittlungen laufen bereits.«
Mit einer fahrigen Bewegung zog Röckl ihr Telefon aus der Hosentasche, sah aufs Display, steckte es wieder ein. »Haben Sie schon einen Verdächtigen?«
Ludwig verschränkte die Arme, musterte die Bürgermeisterin. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Was?«
»Standen Sie in einer persönlichen Beziehung zu dem Opfer?«
Die Antwort kam schnell und scharf. »Wie kommen Sie darauf?«
»Sie wirken sehr aufgewühlt.«
»Und dafür brauche ich einen Grund, der über meine Verantwortung als Bürgermeisterin hinausgeht?« Röckl fuhr sich über den rasierten Schädel. »Wissen Sie überhaupt, wer Olaf Wittenheim war?«