Reise nach Andalien - Kerstin Ruch - E-Book

Reise nach Andalien E-Book

Kerstin Ruch

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Beschreibung

Kelcie Leman ist Mitte Zwanzig, wohnt in London, studiert Wirtschaftswissenschaften im fünften Semester und jagt nebenher die Mörder ihrer Eltern. Die Magie ist dabei ihr ständiger Begleiter und Beschützer.

Doch eines Tages spielt ihr genau diese einen Streich und sie landet in einer fremden Welt, welche gerade dem Schrecken eines Krieges ins Auge blicken muss. Ehe sie sich versieht, steht Kelcie mitten auf dem Schlachtfeld.

Diego Iagosson ist Ende Zwanzig, wohnt in Thornen, ist Oberster General der Andalischen Armee und hat einen Haufen Probleme am Hals. Nicht nur, dass er sein Land gegen eine heillose Übermacht verteidigen darf, er muss dies auch noch vom denkbar ungünstigsten Ort Andaliens aus tun: Nàvossa, eine kleine, zerfallene Handelsstadt im Süden, die ihre besten Zeiten schon lange hinter sich hat. Mit wenig Aussicht auf Erfolg treibt Diego die Kriegsvorbereitungen voran. Erst als Kelcie Leman auftaucht, wittert Diego den Hauch einer Chance.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Kerstin Ruch

Reise nach Andalien

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Reise nach Andalien

Kerstin Ruch

 

Reise nachAndalien

 

 

 

Alle Rechte dieser Ausgabe sind vorbehalten

© Originalausgabe: Kerstin Ruch

© Text: Kerstin Ruch, 2015

Layout und Design: Selina Ruch

 

 

 

«Wenn ich eines gelernt habe, dann dass es tausendmal einfacher ist, eine ganze Armee von Männern zu befehligen als eine einzige Frau. Besonders wenn es sich bei der Frau um Kelcie Leman handelt!»

Originalton Diego Iagosson, Prinz von Andalien und Oberster General

 

 

 

 

«Kann man den Grad eines Generals mithilfe einer zwielichtigen Abendschule erreichen? Ansonsten ist mir nicht klar, warum so viele Männer den Titel tragen dürfen!

Originalton Kelcie Leman, Andaliens Armeekritikerin Nummer 1

 

 

 

 

 

 

 

Einmal Andalien einfach, bitte!

 

Die Turmuhr der nahegelegenen Kirche schlug gerade eine Viertelstunde nach Mitternacht, als Kelcie mühsam ihre Position auf ihrem Baum veränderte. Sie hockte nun seit einer halben Stunde auf diesem vom Alter gezeichneten Baum, welcher am Rande eines Friedhofs in Hounslow bei London stand.

«War ja klar, dass die mal wieder unpünktlich sind», murmelte Kelcie und schaute weiterhin gebannt auf das grosse Eingangstor am anderen Ende des Friedhofs. Als sie schon lauthals zu fluchen beginnen wollte, weil ihr Fuss mittlerweile zum zweiten Mal eingeschlafen war, öffnete sich das Tor und sechs schemenhafte Gestalten schlüpften lautlos herein. Sie versammelten sich bei einer Gruppe Grabsteine, keine zwanzig Meter von Kelcie entfernt. Na endlich, dachte sie und spannte ihren Körper auf die bevorstehenden Ereignisse an. Die Gestalten waren alle vermummt, weshalb sie nicht erkennen konnte, wer sich darunter verbarg. Allerdings wusste sie genug, um eine Vorstellung zu haben, wer sich heute hier für ein mitternächtliches Stelldichein auf dem Friedhof traf. Schliesslich hatte sie ihre Quellen, welche stets zuverlässig waren. Sie verfolgte diese Gruppe schon eine ganze Weile und war deshalb froh, als heute der langersehnte Anruf kam, dass sich die Gruppe um Mitternacht auf einem Friedhof bei Hounslow treffen wollte. Eine der Gestalten nahm etwas aus ihrem Umhang. Es war ein toter Babykörper, welchen sie sorgfältig auf die frisch aufgewühlte Erde eines Grabes legte. Kelcie seufzte leise und traurig. Sofort stimmten die anderen Gestalten einen eigenartigen Singsang an. Der Körper des toten Babys begann zu vibrieren und leuchtete seltsam auf. Kelcie musste sich zwingen, nicht laut aufzukeuchen aufgrund dieses widerwärtigen Rituals. Sie mochte sich gar nicht erst ausmalen, was da unten genau geschah. Die singenden Gestalten gehörten zur Sekte der Mannaten, eine Gruppe, der ausschliesslich Männer angehörten. Sie besassen wie Kelcie Zauberkräfte, allerdings waren ihre Kräfte nicht besonders ausgeprägt. Trotzdem sorgte die Sekte immer wieder für grossen Ärger, da sie sich auf menschliche Opfergaben spezialisiert zu haben schien. Wie schon andere Opfer vor dem Baby, war dieses sicherlich nicht freiwillig aus dem Leben geschieden. Kelcie schüttelte sich innerlich und bereitete sich auf ihren Angriff vor. Endlich hatte sie die Möglichkeit zumindest einen Teil der Sekte zu eliminieren, welche sie schon so lange jagte. Lautlos sprang sie von ihrem Baum herunter und noch bevor einer dieser Männer sie bemerkt hätte, hatte sie schon zwei von ihnen mit ihren blauen Magieblitzen, welche sie aus ihren Händen bilden konnte, an die gegenüberliegende Friedhofswand geschleudert. Die Blitze hatten ungefähr die gleiche Wirkung, als ob ein Naturblitz einschlagen würde. Deshalb war es nicht weiter verwunderlich, dass die zwei Gestalten rauchend die Wand wieder herunterrutschten und reglos liegen blieben. Sie hatte sie mitten in die Brust getroffen. Sauber und effizient wie immer, dachte sie und widmete sich dem Rest der Gruppe. Diese hatte nicht lange gefackelt und sich strategisch auf dem Friedhof verteilt. Kelcie spürte, wie auf ihrer linken Seite ein magischer Feuerball in der Grösse eines Fussballs auf sie zu raste. Sie sprintete auf ihn zu, wich ihm in letzter Sekunde aus und erledigte den Verursacher des Feuerballs mit einem sauberen Schnitt ihres langen Dolches, welchen sie immer griffbereit an der Hüfte trug. Sofort regnete es noch weitere Feuerbälle der drei verbliebenen Sektenmitglieder. Kelcie verlor keine Zeit und rettete sich hinter zwei nebeneinander stehende Grabsteine. Sie holte kurz Luft und blickte dann zwischen den Spalt der beiden Grabsteine hindurch. Zwei befanden sich in ihrer unmittelbaren Schussnähe. Idioten, dachte sie und verzog die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln. Sofort streckte sie ihre Hand aus und schleuderte auf die zwei Gestalten erneut ihre blauen Blitze ab. Einer wurde am Kopf getroffen, welcher ihm in hohem Bogen von den Schultern flog. Der andere konnte allerdings ausweichen, als er sich flach auf den Boden warf. Kelcie war darauf vorbereitet und während sich der Mann wieder aufzurappeln versuchte, stand sie bereits hinter ihm und durchtrennte seine Wirbelsäule. Sofort sackte er wieder in sich zusammen. Stille breitete sich über den Friedhof aus. Einer fehlte und obwohl sie ihn nicht sah, konnte sie ihn deutlich spüren. Ihrer Meinung nach war dies ihre beste Fähigkeit, dass sie andere in einem bestimmten Radius problemlos mit ihrem Geist aufspüren konnte. Das letzte der Sektenmitglieder befand sich auf dem Baum, auf dem Kelcie zuvor ausgeharrt hatte. Im selben Moment, als er sich auf sie fallen liess, trat Kelcie einen Schritt zur Seite und verpasste ihm noch im Flug einen kräftigen Tritt, der ihn einige Meter davonschleuderte. Sofort bildete sie in ihrer Hand ihre tödlichste Waffe. Schwarzes Feuer loderte auf und sie richtete es direkt auf den sich aufrappelnden Mann. Dieser wurde mitten in die Brust getroffen und das schwarze Feuer schleuderte ihn unwiederbringlich ins Jenseits. Der Lärm auf dem Friedhof legte sich wieder, die Turmuhr schlug jetzt halb eins. Kelcie trat zu dem Mann, dem sie die Wirbelsäule durchtrennt hatte. Dieser lag keuchend auf dem Boden und konnte sich aufgrund seiner Verletzung keinen Millimeter bewegen. Sie hatte diesen Mann absichtlich leben lassen, damit sie ihn befragen konnte. Wenn er sich dabei nicht mal bewegen konnte, war das umso besser.

«Wer ist euer Anführer?», traktierte sie den am Boden liegenden Mann. Dieser gab nur ein ersticktes Keuchen von sich und verschluckte sich an einem plötzlichen Hustenanfall. Kelcie beugte sich hinab, packte den Mann am Kragen und zog ihn unmittelbar vor ihr Gesicht.

«Nochmal, wer ist euer Anführer?», fragte sie mit einer tödlichen Ruhe in der Stimme. Der Mann lachte krächzend: «Als ob ich dir das verraten würde». Kelcie verlor langsam die Geduld. Warum mussten die sich immer so unkooperativ zeigen? Sie liess den Mann fallen, holte den Dolch hervor und bohrte ihn in seine linke Wange. Der Mann schrie überrascht auf. «Wer ist euer Anführer?», brüllte Kelcie den Mann an. Dieser begann allerdings fürchterlich zu husten und spuckte eine grosse Menge Blut auf die Friedhofserde. Noch bevor Kelcie irgendetwas tun konnte, hörte der Mann auf zu atmen und seine glasigen Augen starrten ohne jeglichen Glanz in den bewölkten Nachthimmel. Kelcie seufzte und schaute sich um. Sie ärgerte sich fürchterlich, dass es ihr wieder mal nicht gelingen wollte, die Identität des Anführers ausfindig zu machen. Das Einzige, was sie heute erreicht hatte, war, dass sie dem Friedhof in Hounslow lästigen Abfall in Form von toten Sektenmitgliedern beschert hatte. Sie seufzte nochmals und liess die Leichname der Männer mithilfe ihrer hart antrainierten Psychokinese auf einen Haufen stapeln. Mit einem Wink ihrer Hand entzündete sich der Haufen und das Feuer zehrte mit unnatürlicher Geschwindigkeit die sterblichen Überreste auf. Kelcie drehte sich um und ging zu dem Grab, auf dem das tote Baby lag. Sorgfältig nahm sie es in den Arm und trug es zu dem knorrigen alten Baum hinüber. Dort legte sie es nieder und suchte nach einem Geräteschuppen, wo sämtliche Utensilien des Friedhofgärtners gelagert wurden. Als sie fündig wurde, brach sie das Schloss mit Leichtigkeit auf und entnahm dem Schuppen eine grosse Schaufel. Zurück beim Baby begann sie ein kleines Loch zu schaufeln. Als sie es für tief genug befunden hatte, legte sie den Leichnam des Babys hinein. Sie schaufelte das Loch wieder zu und brachte die Schaufel zurück in den Schuppen. Wieder beim Grab sprach sie ein paar Gebete; schliesslich war sie ihr Leben lang Katholikin gewesen und fühlte sich deshalb dazu verpflichtet. Anschliessend zupfte sie ein paar Blumen vom Nachbargrab und legte sie auf das behelfsmässige Grab des Babys. Als sie spürte, dass ihre Augen langsam feucht wurden, drehte sie sich um und ging schnell zum Ausgang. Beim Tor drehte sie sich nochmals um und blickte über den Friedhof. Dieser lag so ruhig und verlassen da, wie sie ihn vor einer Stunde vorgefunden hatte. Dieser nächtliche Ausflug war aus ihrer Sicht alles andere als ein Erfolg gewesen. Resigniert schloss sie das Tor des Friedhofs und verschwand in der Nacht.

 

Diego schloss betrübt die Tür hinter sich. Er stand jetzt endlich in seinen Gemächern und atmete einmal tief durch. Nach fünf Stunden hatten die Senatoren und Ratgeber seines Vaters, Grosskönig Iago vom alten Königreich Andalien, sich endlich dazu entschlossen, die Armee von Andalien zur Kriegsvorbereitung zu rüsten. Diego, als jüngster Sohn von Iago und Oberbefehlshaber der andalischen Armee, hatte sich den Mund fusselig geredet, um die Senatoren und seinen Vater von der unmittelbaren Bedrohung aus dem Westen zu überzeugen. Nach stundelangem Hin und Her kamen die halsstarrigen Männer des Senats endlich zu dem längst überfälligen Entschluss, die Armee an die südliche Grenze zu Angrovia stationieren zu lassen. Sein Vater hatte den Entschluss als Grosskönig anschliessend abgesegnet. Seit Diego denken konnte, wuchs die Bedrohung, die Angrovia darstellte, immer mehr an. Goldor, der Hexenkönig von Angrovia, streckte seine gierigen Arme nun über seine Grenzen hinaus und liess zahlreiche Städte nahe der angrovischen Grenze von seiner Armee belagern und plündern. Die angrovische Armee war bekannt dafür, keine Gnade gegenüber ihren Feinden walten zu lassen, weshalb deren Städte und Dörfer praktisch von der Landkarte getilgt wurden. Vor drei Tagen erhielt Diego als oberster Befehlshaber eine Eilnachricht, dass Riossa, eine kleine Handelsstadt im Südwesten von Andalien, von der angrovischen Armee angegriffen und gnadenlos niedergemacht wurde. Dieser Angriff erfolgte so schnell und unerwartet, dass die bewachten Grenzposten keine Chance zur Verteidigung gehabt hatten. Innerhalb eines Tages wurde Riossa zu einem Häufchen Asche verarbeitet. So wurde es Diego jedenfalls berichtet. Nach einem ausgiebigen Wutanfall hatte er schnurstracks seinen Vater aufgesucht, um ihm die schreckliche Nachricht über den Angriff auf Riossa mitzuteilen. Dieser hatte sofort den Senat zusammengerufen, damit über eine Kriegsvorbereitung abgestimmt werden konnte. Leider benötigten die Mitglieder des Senats drei volle Tage für eine Entscheidung, die seiner Meinung nach offensichtlicher nicht sein könnte. Mürrisch murmelnd entledigte sich Diego seiner Kleidung und trat in den angrenzenden Waschraum, um ein Bad zu nehmen, welches er zuvor angeordnet hatte. Als er sein Badezimmer betrat, drang ihm der angenehme Duft von Lavendel in die Nase. Erschöpft liess er sich in die Wärme des Badezubers gleiten. Der Tag war lang gewesen und er musste sich zahlreiche Kritik von den Senatoren gefallen lassen, warum es überhaupt zu diesem Angriff kommen konnte. Diese verbalen Attacken strapazierten seine mühsam erzwungene Geduld bis zur Zerreissprobe, schliesslich war es einst der Senat gewesen, der keine Verstärkung der Grenzposten bewilligt hatte. Diego hatte die Bedrohung von Angrovia damals schon richtig eingeschätzt und leider Recht behalten. Interessanterweise konnte sich keiner der Senatoren an diesen Entscheid mehr erinnern. Wie auch immer, sein Vater hatte heute sein Machtwort eingelegt und die Kriegsvorbereitungen konnten nun beginnen. Morgen früh würde sich Diego mit seinen obersten Generälen treffen, damit der Kriegsaufruf im ganzen Land erschallen würde und somit die Männer von Andalien in ihre Pflicht nahm, ihr Land zu verteidigen. Nachdem er die Seife abgespült hatte, stieg er aus dem Badezuber und trocknete sich mit einem bereitliegenden Handtuch ab. Es war angenehm warm. Wahrscheinlich hatte man es mit heissen Kohlen erhitzt. Gewisse Vorteile hatte es schon, ein Prinz von Andalien zu sein, dachte er sarkastisch und ging hinüber in sein Schlafgemach. Nachdem er sich in einen Sessel vor den brennenden Kamin gesetzt und eine Weile ins Feuer gestarrt hatte, erhob er sich und ging todmüde zu Bett. Als er in seinen vertrauten Laken lag und die letzte Kerze löschte, wollte er sich gar nicht vorstellen, welch katastrophalen Zeiten für Andalien anbrechen würden.

 

Diego schritt den langen Gang der Kaserne in Thornen entlang. Sein Ziel war der Offizierssaal ganz am Ende des Gebäudes. Dort warteten seine obersten Generäle auf seinen unmittelbaren Befehl. Als er die Türe mit einem Schwung öffnete, erfasste er mit einem Blick, dass sämtliche Generäle anwesend waren. Sie sassen an dem langen Tisch, der in der Mitte des prunkvollen Saals stand. Diego ging ohne ein Wort zu seinem Stuhl am Ende der Tafel, während sich seine Generäle gleichzeitig erhoben und ihm dadurch ihren Respekt zollten. Mit einem Wink seiner Hand bedeutete er ihnen, dass sie sich wieder setzen konnten. Diego schaute alle seine Generäle einzeln an und sein Blick blieb am Schluss bei dem Mann zu seiner Linken hängen. João de Sanchez war seit seiner Jugend sein bester Freund und seit einigen Jahren auch sein stellvertretender Oberbefehlshaber. Die gleichen Sorgen, die auch ihn plagten, sah er sich in den braunen Augen von João widerspiegeln. Er erhob das Wort. «Wir werden in den Krieg ziehen», sagte er schlicht. Ein lautes Raunen erfüllte den Raum. Obwohl seine Generäle auf keinen Fall überrascht waren, war es doch eine andere Sache, diesen Satz laut ausgesprochen zu hören. João beugte sich zu ihm und fragte leise: «Der Senat hat endgültig zugestimmt?»

«Endlich ja. Noch einige weitere Tage und Wochen des Zauderns und wir hätten uns eine neue Heimat suchen können», murmelte Diego ebenso leise zurück. João seufzte zustimmend und setzte sich in seinem Stuhl wieder gerade hin. Diego wartete, bis sich die Unruhe im Saal wieder etwas gelegt hatte und sprach erneut.

«Goldor wird nicht mehr lange warten. Schon bald wird er sich erheben und mit seiner Armee an der angrovischen Grenze zu Andalien Aufstellung beziehen und sich zum grossen Schlag gegen uns wappnen. Sein Ziel ist die Herrschaft über Andalien. Vor zehn Jahren fiel Mysien im Grossen Angrovischen Krieg, welcher auf den Schlachtfeldern von Menilien seinen traurigen Höhepunkt fand. Seither ist Mysien ein Schatten seiner selbst und unter der grausamen Knechtschaft von Goldor. Das Schicksal Mysiens wollen wir nicht teilen. Deshalb muss im ganzen Land der Kriegsaufruf erfolgen. Jeder waffenfähige Mann wird zur Wehrpflicht gerufen und muss sich innerhalb eines Monats in Nàvossa einfinden. Dort werden wir uns zusammenziehen und uns auf den Angriff vorbereiten. Das Tal von Nàvossa ist der einzige Weg nach Andalien, der Goldor und seinem grossen Heer genug Platz bietet. Ausserdem sind die Mauern von Nàvossa gross und breit und eignen sich somit bestens für unsere Verteidigung».

«Wir greifen also nicht an und überlassen es unseren Feinden, den Zeitpunkt des Angriffs zu wählen?», unterbrach Jorge de Suize, einer der älteren Generäle.

«Wir haben leider keine andere Wahl. Wenn wir Goldor zuerst angreifen, laufen wir ihm geradewegs in die Arme. Wir müssten uns auf seinem Hoheitsgebiet schlagen, was uns sehr zum Nachteil gereichen würde. Nein, wir versuchen die Schlacht nach unseren Regeln zu spielen, sofern man von einem Spiel reden kann», antwortete Diego bestimmt. Stille kehrte im Offizierssaalein, viele der Generäle nickten und Diego sah, dass auch João ihm zustimmte.

«Beobachtungen zufolge wartet Goldor mit fünfhunderttausend Mann östlich von Torgalen nahe der Grenze zu Andalien. Wenn wir sämtliche kampffähigen Männer unseres Landes in die Schlacht schicken würden, wären wir immer noch fünf zu eins unterlegen. Deshalb wäre es Wahnsinn, dem Feind durch einen von uns ausgeführten Angriff in die Karten zu spielen. Unser Heer würde innerhalb weniger Tage komplett aufgerieben werden», erläuterte João emotionslos. «Unsere einzige Chance ist die Verteidigung über die Stadt Nàvossa».

Wenn es vorhin schon still im Saal war, so konnte man jetzt eine Feder zu Boden fallen hören, dachte Diego bei sich. João hatte allerdings völlig Recht: Die einzige Möglichkeit, den Hexenkönig aufzuhalten, wäre nur hinter den Mauern von Nàvossa möglich. Diego erhob seine Stimme:

«Sind noch andere Fragen, auf die eine Antwort gewünscht wird?»

«Wie viele Soldaten werden in Thornen bleiben? Oder werden wir es schutzlos zurücklassen?», fragte ein blonder Offizier ungefähr im gleichen Alter wie Diego oder João.

«Hauptmann Adriano, Ihr solltet mich besser kennen. Natürlich

wird Thornen nicht komplett schutzlos zurückgelassen. Allerdings brauchen wir jeden kampffähigen Mann an der Front. Deshalb werden wir ungefähr fünfhundert Mann in Thornen zurücklassen. Sollten wir in Nàvossa fallen, wird es sowieso bald kein Thornen mehr geben, wie wir es kennen. Ist Eure Frage somit beantwortet?», fragte Diego höflich nach.

«Ja, vielen Dank, Eure Hoheit», antwortete Adriano etwas unsicher. «Wenn somit keine Fragen mehr zu klären sind, entlasse ich Euch, meine Herren, aus dieser Runde. Unsere nächste Zusammenkunft wird spätestens in einem Monat in Nàvossa sein. Ausser Euch, Hauptmann Adriano. Ihr werdet in Thornen die verbliebenen Truppen führen».

«Zu Befehl, Eure Hoheit!», antwortete Adriano energisch.

«Somit sollte alles geklärt sein. General de Suize, Euch untersteht die Botenabteilung. Bitte schickt sämtliche Boten in die verschiedenen Regionen des Landes. Nennt ihnen den Tag der Sommersonnenwende, an dem sich sämtliche für die Front tauglichen Männer in Nàvossa einfinden müssen. Tragt ihnen ebenso auf, dass sich auch die Zivilbevölkerung auf einen Kriegszustand vorbereiten muss. Obwohl ich hoffe, dass wir in Nàvossa erfolgreich sind, müssen doch sämtliche Vorkehrungen getroffen werden». «Wird sofort erledigt», antwortete de Suize im barschen militärischen Tonfall. Diego nickte und erhob sich. Sofort erhoben sich auch alle anderen und einzeln nacheinander verliessen sie den Saal. Nur João und Diego blieben an ihren Plätzen stehen.

«Wir kennen uns schon seit Jahren. Wir haben schon gemeinsam viele Schlachten geschlagen und noch nie habe ich dich dies gefragt, doch Angrovia bereitet mir grosses Unbehagen. Glaubst du, wir werden in Nàvossa erfolgreich sein?» João blickte ihn geradeaus an. Diego seufzte: «Ich wünschte, ich könnte dir diese Frage beantworten. Wir müssen einfach erfolgreich sein, sonst wird die Zukunft für Andalien finster werden.» «Ich mache mir weniger Sorgen über die Truppenstärke von Goldor als über seine magischen Fähigkeiten und die seiner Häscher. Du und ich und einige andere in der Armee besitzen nicht unerhebliche magische Fähigkeiten, aber wird das reichen, um gegen Goldor anzukommen?» Diego wählte seine Antwort vorsichtig. Es stimmte. Er, João und viele seines Volkes besassen Magie. Während Diego und João sowie zahlreiche andere Soldaten, die genug magische Fähigkeiten aufwiesen, in der Kriegszauberei ausgebildet wurden, besassen viele der einfachen Bevölkerung gerade nur so viel Magie, dass sie einen Topf voll Wasser zum Kochen bringen konnten. Aber es gab einige, die beträchtliche Zauberkräfte aufweisen konnten. Viele davon hatten oder studierten immer noch an der angesehenen Fakultät der Zauberei in Thornen. Diese Zauberer waren allerdings meistens auf ein Fachgebiet wie zum Beispiel Naturheilkunde, Alchimie oder anderes spezialisiert. Leider erwiesen sich diese Zauberer im Kriegszustand meist als nicht besonders nützlich, was bedeutete, dass sie sich allein auf die Zauberer in ihrer Armee verlassen konnten.

«Dieser Teil des Plans bereitet mir auch grösstes Kopfzerbrechen. Wir haben sehr fähige Leute und auch wir beide können uns magisch sehr gut schlagen. Doch zweifle ich, dass wir damit gegen Goldors Hexerei ankommen werden. Wir müssen versuchen, ihn mit anderen Waffen zu schlagen oder unsere Magie auf eine Weise einsetzen, mit der er nicht rechnet».

«Dies scheint offensichtlich unsere einzige Chance zu sein», entgegnete João wenig überzeugt, «in diesem Fall bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als es zu versuchen und das Beste zu hoffen».

Diego lächelte: «So spricht ein wahrer Optimist. Die Soldaten werden Thornen in gestaffelten Einheiten verlassen. Wir werden mit der letzten Einheit in einer Woche abziehen. Du kannst dich also noch in Ruhe von deinen Geliebten verabschieden». Jetzt lächelte auch João.

«Ich weiss gar nicht, wovon du sprichst», antwortete er mit einem Augenzwinkern, «das Gleiche gilt allerdings auch für dich.»

«Wohl kaum, die Wärme einer Frau habe ich schon seit Wochen nicht mehr gespürt. Irgendwie scheint mir die Zeit dafür zu fehlen.»

«Wenn wir zurück sind, sollten wir wieder einmal ein richtiges Gelage feiern. Wie zu alten Zeiten», schlug João augenzwinkernd vor.

«Dies scheint mir eine gute Idee zu sein. Wir werden die üblichen Verdächtigen dazu einladen müssen», antwortete Diego und beide verliessen lachend den Saal.

 

Als Diego über seine Schultern schaute, verschwanden gerade die Mauern von Thornen hinter dem Horizont. Seit fünf Uhr morgens war er auf den Beinen und koordinierte den Aufbruch des letzten Kontingentes. Er ritt an der Spitze des Hauptzuges, die Vorhut konnte er gerade so mit blossem Auge am Horizont erkennen. Sie ritten nun durch die wunderschönen Wälder und Felder um Thornen. Er liebte diese Gegend sehr und nutzte oft seine spärliche Freizeit, um durch die malerischen Wälder von Thornen zu reiten. Hier konnte er ohne gestört zu werden seinen Gedanken nachhängen und über sich und die Welt nachsinnen. Doch heute verspürte er keine Lust, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Er wusste ganz genau, dass er über die bevorstehenden Ereignisse nicht allzu fest nachdenken durfte. Dies würde nur seinen Zweifeln Auftrieb verleihen und das konnte er sich nicht erlauben. Ihre Reise bis nach Nàvossa würde drei Wochen dauern, wenn nicht noch länger. Ihr Kontingent umfasste mehr als zehntausend Mann und in Mellan würden nochmals so viele zu ihnen stossen. So kamen sie nur schleppend voran, was nicht gerade zur allgemeinen Erheiterung beitrug.

João, wie immer die Ruhe selbst, liess sich nicht von der allgemeinen Ungeduld anstecken und ritt fröhlich pfeifend neben Diego. Nach einem kurzen Seitenblick auf seinen Freund schüttelte Diego den Kopf. Seine typische Leichtigkeit von früher war nun definitiv Geschichte. Er zermarterte sich das Gehirn, wann er zu dem ernsthaften Griesgram wurde, der er jetzt war. Vielleicht sollte er seine Soldatenkarriere weit hinter sich lassen und sich auf eine einsame Insel absetzen, um aller Verantwortung zu entgehen. Er verdrängte diesen Gedanken sofort wieder und schalt sich einen Narren. Er war nun mal, was er war und viel ändern konnte er an dieser Situation auch nicht; deshalb wäre es wohl am einfachsten einfach weiterzureiten und nicht weiter darüber nachzudenken. Schon in drei Tagen würden sie in Mellan sein und anschliessend ihre Reise nach Nàvossa fortsetzen.

 

Kelcie wartete ungeduldig, bis sich die Fahrstuhltüre öffnete und sie mitsamt ihren Taschen wortwörtlich in ihre Wohnung in den Londoner Docklands gespült wurde. Bei einer vollgestopften Tasche riss der Tragegriff und die Hälfte ihrer Beute aus der weltberühmten Oxford Street ergoss sich über den dunklen Parkettboden.

Sie fluchte lauthals. Vor allem als sie merkte, dass einer ihrer neu erworbenen BHs die Fahrstuhltüre blockierte. Als sie daran zog, riss er in zwei Teile und die rechte Hälfte ihres neuen, roten BHs fuhr mit dem Fahrstuhl wieder in die Tiefe. Sie seufzte und setzte sich resigniert in ihren Kleiderhaufen auf den Boden. Sie hatte keine Nerven, jetzt noch einem halben BH nachzurennen. Seit ihrem Misserfolg auf dem Hounslower Friedhof war sie in mürrischer Stimmung. Um sich aufzuheitern, hatte sie sich heute nach ihrer letzten Vorlesung eine Shoppingkur verschrieben. Diese hatte bis vor kurzem ganz gut funktioniert.

Sie rappelte sich auf, liess das neu Erworbene liegen und ging zum Kühlschrank. Natürlich war nichts Brauchbares drin, denn sie hatte vergessen, Lebensmittel einzukaufen. Nun gut, dachte sie und griff zum Telefonhörer, um sich eine Pizza beim Italiener um die Ecke zu bestellen. Nachdem sie wieder aufgelegt hatte, klingelte es an der Türe.

Als sie zur Tür eilte, stolperte sie über ihren Kleiderhaufen und wäre beinahe hingefallen. Als sie die Tür aufriss, stand der Portier ihres Wohnhauses im Flur und hielt ihr blöde grinsend die eine BH-Hälfte entgegen. Mit einem unwirschen «Danke» riss sie ihm

 

diesen aus der Hand und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Für einen kurzen Augenblick fragte sie sich, woher er wusste, dass es ihre Unterwäsche war. Sie warf die Reste ihres BHs in Richtung des Mülleimers und ging zu der grossen Fensterfront, die gegenüber der Tür und des Aufzugs war. Als sie aus dem Fenster blickte, erstreckte sich die Themse wie ein silberglitzernder Teppich unter ihr. Sie genoss diesen Anblick, denn schliesslich war diese Aussicht einer der Hauptgründe für den Kauf dieser Wohnung gewesen.

Dass sie sich eine Wohnung wie diese leisten konnte, war durchaus ein Privileg. Als Studentin für Wirtschaftswissenschaften im fünften Semester verdiente sie noch keinen müden Cent. Jedoch konnte sie seit ihrem 21. Lebensjahr auf ihr volles Erbe zugreifen und das steigerte ihre Lebensqualität enorm. Als sie genug gesehen hatte, ging sie zur Küche hinüber, die offen im Wohnzimmer stand. Nachdem sie ein paar Schränke geöffnet hatte, wurde sie endlich fündig und nahm die bereits geöffnete Weinflasche sorgfältig herunter.

«Ich sollte mir unbedingt ein System zulegen», murmelte sie leise vor sich hin und goss sich ein Glas Rotwein ein. Kaum wollte sie zum Trinken ansetzen, klingelte es erneut an der Tür. Zum Glück war es diesmal kein perverser Portier, sondern der Pizzalieferant. Als dieser wieder gegangen war, fläzte sie sich mit Pizza und Wein aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein. Ein Singleabend, wie er im Buche steht, dachte sie und zog sich genüsslich ihre Lieblingsfernsehsendung rein.

 

Diego schlich vorsichtig die kahle, steinerne Treppe zu den Kerkern hinab. Ganz langsam setzte er einen Fuss vor den anderen und versuchte, möglichst kein Geräusch zu machen. Das Letzte, was er wollte, war, von irgendjemandem gehört zu werden. Mit einer Flasche schwarz gebranntem Schnaps, den er in den Strassen von Nàvossa einem älteren, etwas zwielichtig aussehenden Mann abgekauft hatte, und zwei ebenfalls selbst gedrehten Zigarren bahnte er sich seinen Weg durch die vielen verwinkelten Gänge unter der Burg von Nàvossa. Bei der hintersten Zelle hatte er sich mit João verabredet, um mal wieder ungestört zu rauchen und einen über den Durst zu trinken.

Seit sie vor zwei Wochen in Nàvossa angekommen waren, wurde er die ganze Zeit von verschiedenen Leuten belagert. Jeder schien etwas von ihm zu wollen und anscheinend hielt sich jeder für wichtig genug, um Diegos Aufmerksamkeit zu fordern, obwohl er diese lieber vollumfänglich in die Pläne zur Verteidigung der Stadt investiert hätte. Als Diego mit seinem Kontingent ankam, war er entsetzt über die schlechten Verteidigungsmassnahmen der Stadt gewesen. Das Tor bestand aus altem, morschem Holz, das Goldor bereits mit seinem Hohngelächter auseinanderbrechen könnte.

Die Stadtmauer war brüchig und an manchen Orten klafften grosse Löcher. Am Schlimmsten waren allerdings die Soldaten von Nàvossa. Schlecht ausgebildet, faul und träge hingen sie an ihren Posten herum. Viele von ihnen waren offensichtlich minderjährig, sodass es Diego fröstelte. Am liebsten wäre er sofort wieder abgereist und hätte sich eine andere Verteidigungsanlage gesucht, wenn es denn eine Alternative gegeben hätte. Deshalb war er gezwungen, Nàvossa erst mal kriegstauglich zu machen.

Dabei ging leider sehr viel Zeit verloren, die sie beim besten Willen nicht hatten. Das Tor musste verstärkt werden. Ebenso musste die Mauer um Nàvossa, so gut es eben ging, ausgebessert werden.

Die Soldaten von Nàvossa hatte Diego umgehend in sein Heer integriert und dafür gesorgt, dass dieses permanent beschäftigt blieb. Nichts wäre schlimmer als eine unterbeschäftigte Armee, dies wusste Diego aus Erfahrung. Deshalb beauftragte er seine Generäle, ihre Kontingente so gut wie möglich zu beschäftigen. Sei es mit Kampftraining oder Wiederaufbau.

Am meisten ging ihm jedoch Latross auf die Nerven. Latroslats war der Statthalter von Nàvossa, ein schmieriger, arroganter Kerl, der sich wie ein König aufführte. Als Diego vor zwei Wochen das erste Mal den Palast des Statthalters von Nàvossa betrat, kam ihm Latross mit weit ausgestreckten Armen und einem falschen Lächeln entgegen.

«Willkommen in Nàvossa, Euer Hoheit. Bestimmt seid Ihr erschöpft von der langen Reise. Ich habe Euch ein Mahl in meinem bescheidenen Heim anrichten lassen. Bitte lasst mich Euch hin- führen». Dies klang sehr vielversprechend, doch Diego musste bald einsehen, dass er besser allein auf seinem Zimmer gegessen hätte. Nach dem Austausch einiger höflicher Floskeln beim Abendessen hatte Diego Latross direkt auf den schlechten Zustand von Nàvossa angesprochen. Latross verfiel daraufhin in ausschweifendes Jammern, dass seine Stadt kein Geld mehr hätte, und verwies mit anklagendem Blick, dass Thornen niemals Hilfe geleistet habe, obwohl diese doch als Hauptstadt dazu verpflichtet gewesen wäre. Daraufhin wurde Diego wütend, denn er wusste ganz genau, dass jeder Bezirk von Andalien dazu verpflichtet war, Buchhaltung zu führen und dies dem königlichen Schatzamt mitzuteilen.

In Thornen war deshalb niemandem bekannt, das Nàvossa Schwierigkeiten hatte. Schliesslich hatten sie die glänzendsten Bilanzen vorzuweisen. Dies warf er Latross sogleich an den Kopf, denn er hatte nach dem langen Ritt keine Nerven mehr für diplomatisches Geschwätz. Er stand auf, ohne auf den entsetzt dreinblickenden Latross zu achten und verliess sofort den Raum. Draussen hielt er einen vorbeieilenden Diener an und bat diesen, ihm sein Zimmer zu zeigen. Als er den üppig ausgestatteten Raum betreten hatte, hatte er keine Augen für das bereitstehende Bad gehabt und hatte sich stattdessen vollständig angezogen aufs Bett gelegt. Ohne dagegen ankämpfen zu können, schloss er die Augen und schlief sofort ein.

In den darauffolgenden Tagen war Latross sehr kühl zu ihm gewesen und schloss sich die meiste Zeit in seine Gemächer ein.

«Mir soll es recht sein», dachte sich Diego, als er bei der letzten Tür des Ganges angekommen war. Vorsichtig schob er die nur angelehnte Tür auf. Ein Quietschen ertönte, doch die Tür bewegte sich ein Stück und Diego schob sich durch den Spalt.

Eine schwebende Kerze spendete spärliches Licht. Diego sah, dass João es sich auf dem Boden gemütlich gemacht hatte und in der Hand eine bauchige Rumflasche hatte. Diego setzte sich ohne viel Federlesens dazu, entkorkte seine eigene Schnapsflasche und reichte João eine Zigarre.

«Du bist ein wahrer Freund», murmelte João und zündete seine Zigarre an der Kerze an. Diego tat es ihm gleich und beide sassen schweigend nebeneinander, stumpfsinnig die gegenüberliegende Wand anstarrend. Nach einer Weile durchbrach Diego als erster die Stille. «Es tut gut, hier zu sitzen und einen Moment lang über keines der zahlreichen Probleme von Nàvossa nachdenken zu müssen».

«Ich hätte niemals gedacht, dass Nàvossa in so einem schlechten Zustand ist», murmelte João.

«Ich auch nicht», flüsterte Diego und nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Schnapsflasche.

Das Zeug war unheimlich stark, also perfekt für seine jetzige Gemütsverfassung. Er dachte über den heutigen Morgen nach.

Als Diego sich gerade mit seinen obersten Generälen in einem für sie hergerichteten Raum niederliess, um die weiteren strategischen Massnahmen zu besprechen, wurde die Tür geöffnet und zwei Soldaten trugen eine völlig verstümmelte Leiche herein. Diego erkannte die Leiche trotz ihrer Missbildungen sofort wieder. Es war einer der Späher, die er vor drei Tagen losgeschickt hatte, um festzustellen, wo die angrovische Armee stationiert war. Die Männer legten die Leiche sorgfältig auf den Boden und traten einen Schritt zurück. Einer der Soldaten meldete sich zu Wort. «Euer Hoheit, wir fanden diesen Mann unweit der Mauer mitten auf der grossen Grasfläche vor dem Stadttor.» «Danke, dass ihr ihn hergebracht habt. Ihr dürft abtreten», murmelte Diego und trat näher zu der Leiche. Die beiden Soldaten salutierten, machten auf dem Absatz kehrt und schlossen die

breiten Flügeltüren hinter sich. Als Diego nur noch zwei Schritte von der Leiche entfernt war, passierte etwas, wie Diego es noch nie erlebt hatte. Die Leiche krümmte sich, drehte sich auf den Bauch und kroch langsam auf Diego zu. Ein schreckliches Grinsen breitete sich auf dem völlig zerstörten Gesicht des Spähers aus und eine Stimme ertönte aus dem Mund, dass sich Diego die Nackenhaare aufstellten.

«Diego Iagosson, Prinz von Andalien, du bist also tatsächlich hier. Die Gerüchte stimmen also. Welch lächerlicher Einfall, mir diese stümperhaften Späher zu schicken und noch zu glauben, dass ich sie nicht bemerken würde. Wie enttäuschend!»

Diego sprang ein paar Schritte zurück. Sofort erhob sich João und stellte sich vor Diego, das Schwert in der Hand. Die Leiche lachte heiser, doch kroch sie nicht mehr weiter. «Ich unterbreite dir ein letztes Angebot, Diego von Andalien. Gib auf, öffne die Tore der Stadt und ich werde dein Volk verschonen. Widersetzt du dich mir, lasse ich keine Gnade walten und Andalien wird zerstört, Stadt für Stadt, mit Nàvossa angefangen.»

Wieder lachte die Leiche leise auf und blickte mit toten Augen direkt in Diegos Gesicht. Diego erwachte endlich aus seiner Starre, schob João beiseite und trat direkt vor die Leiche.

«Du kennst keine Gnade, Goldor! Niemals werde ich mein Volk aufgeben, solange noch ein Hauch Leben in mir ist.»

Diego zog sein eigenes Schwert aus der Scheide und hieb mit einem Brüllen der Leiche den Kopf ab. Kein Blut spritzte, was an sich schon sehr merkwürdig war, und der Kopf rollte quer durch den ganzen Raum und blieb neben dem Kamin liegen, das zerstörte Gesicht mit einem schrecklichen Grinsen Diego zugewandt. Einen Moment lang war es still im Raum, dann sprach General de Suize in fassungslosem Tonfall: «Solch teuflische Hexerei habe ich noch nie gesehen!».

Diego musste ihm zustimmen. Er hatte schon allerhand Magisches und Nichtmagisches gesehen, aber eine wiedererweckte Leiche war auch für ihn neu. Langsam wurde es kalt in der Zelle, João bewegte sich neben ihm.

«Hast du gewusst, dass Goldor nekromantische Fähigkeiten besitzt?», murmelte João, als ob er Diegos Gedanken lesen konnte.

«Natürlich habe ich das gewusst, so dicke Freunde wie wir sind», seufzte Diego und nahm einen tiefen Zug von der Zigarre. João hob entschuldigend die Hände und verschüttete einen Teil seines Rums.

«Tut mir leid, Diego. Ich bin nur fassungslos, dass ich daran gar nie gedacht habe. Im Vergleich zu Goldors Fähigkeiten sind unsere lächerlich. Was weiss ich, was er sonst noch für Magie ausüben kann!»

Diego nickte bekümmert, schliesslich dachte er genau dasselbe wie João. Sie hatten sich auf etwas eingelassen, das sie gar nicht richtig einschätzen konnten. Solche Situationen hasste Diego.

«Nun, vielleicht blufft Goldor nur», meinte Diego halbherzig. João sah ihn ungläubig an.

«Daran glaubst du doch selbst nicht, oder?»

«Nein, nicht wirklich …», murmelte Diego und nahm nochmals einen grossen Schluck aus seiner Schnapsflasche. Sie brauchten dringend Verstärkung, aber Diego wusste nicht, wo er eine solche Verstärkung herholen sollte.

 

In diesem Moment spürte Kelcie ein starkes Unwohlsein irgendwo in der Nähe ihres Magens. Wahnsinns-Timing, dachte sie, denn sie befand sich gerade auf einer Rolltreppe in der U-Bahn-Station Monument.

«Hab ich etwa was Falsches gegessen?», überlegte sie lautlos. Nein, das konnte nicht sein, schliesslich hatte sie heute Mittag nur zwei belegte Brote gegessen. Für mehr hatte die Zeit zwischen ihren Vorlesungen nicht gereicht. Die Schmerzen schienen sich jetzt auf ihren ganzen Körper auszuweiten. Ihr Kopf pulsierte so stark, dass sie kaum noch etwas sehen konnte. «Da stimmt was nicht!», murmelte sie leise und spielte bereits mit dem Gedanken, irgendwelche Passanten auf sich aufmerksam zu machen. Sie entschied sich dagegen und stolperte auf eine graue Tür zu, auf der sie ein Notfall-Schild ausmachen konnte.

Die Tür schwang auch sofort auf, doch der Raum dahinter war leer bis auf ein Notfall-Kästchen an der gegenüberliegenden Wand. Kelcie taumelte in den Raum und die Tür hinter ihr fiel ins Schloss.

«Na toll, ich verrecke in einer U-Bahn-Station und keiner kriegt es mit!»

Sie fiel zu Boden und lag gekrümmt da, den schmerzenden Kopf zwischen den Händen haltend. Alles schien sich zu drehen, immer schneller, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, in ein tiefes Loch zu fallen und kreischte laut auf. Doch es half nichts, sie fiel immer weiter. Als sie irgendwann glaubte, komplett den Verstand zu verlieren, schlug sie hart auf dem Boden auf.

Fremde Welten

 

Diego schirmte seine Augen gegen die helle Nachmittagssonne ab. Mit kritischem Blick beobachtete er die Kampfübungen seiner Eliteeinheit. Die Bewegungen der Soldaten waren fliessend und wohl durchdacht. Mit seiner Elitetruppe, welche zwanzig Mann umfasste, war Diego äusserst zufrieden. Er war es auch gewesen, der diese Eliteeinheit gegründet hatte. Alle waren sie ausgebildete Kriegszauberer, welche auch im Nahkampf hervorragende Krieger waren. Der heutige Tag war ohne besondere Ereignisse verlaufen. Bei ihren Bemühungen, die Stadt kriegstauglich zu rüsten, machten sie mittlerweile Fortschritte. Immerhin war nun die Mauer ausgebessert und alle Tore, welche in die Stadt führten, waren verstärkt worden.

Überall waren Armeeeinheiten unterwegs, angeführt von ihren Offizieren, entweder im Laufschritt oder in irgendwelche Exerzierübungen vertieft. Als Oberster General war es Diego wichtig, dass seine Soldaten stets beschäftigt waren. Eine gelangweilte Armee konnte er jetzt als Letztes noch gebrauchen. Plötzlich hörte Diego hinter sich Lärm. Er drehte sich um und erkannte einen Diener des Palastes, der völlig verschwitzt quer über den ganzen Übungsplatz auf ihn zu gerannt kam. Völlig ausser Atem blieb er vor ihm stehen. Die Soldaten in seiner Nähe erstarrten in ihren Übungskämpfen und blickten zu dem Diener, der jetzt anscheinend genug Luft hatte, um zu sprechen.

«Euer Hoheit, im Palast ist etwas Merkwürdiges geschehen! Es … nun wie soll ich sagen …»

Ein ungutes Gefühl erfüllte Diego.

«Sprich!», forderte er den Diener auf. Mittlerweile hatten die anderen Soldaten ihre Übungen ebenfalls unterbrochen und schauten interessiert zu dem Palastdiener und Diego hinüber.

«Also, wie soll ich das erklären … eine Frau ist aufgetaucht, wie aus heiterem Himmel!»

«Aus heiterem Himmel? Was soll denn das heissen?», fragte Diego. Es nervte ihn, dass er diesem Kerl alles aus der Nase ziehen musste.

«Nun, die Frau erschien einfach aus dem Nichts, mitten in der Eingangshalle! Ich war dabei, ich kann’s bezeugen!»

«Was heisst aus dem Nichts?», blaffte Diego den Bediensteten an.

«Eben aus dem Nichts! Da war nichts ausser Luft und einen Moment später war sie da. Ihr solltet Euch das unbedingt ansehen, Mylord!»

Diese Meldung hörte sich tatsächlich sehr seltsam an. Diego rief sofort nach João, der sich ebenfalls unter den Soldaten befand.

«João, bitte übernimm du an meiner Stelle. Ich werde im Palast nachsehen, was genau passiert ist.» João nickte knapp und gab den Männern den Befehl, weiterzumachen. Diego eilte inzwischen dem Palastdiener nach, der ihn durch kleinere und grössere Gassen auf direktem Weg zum Palast führte.

 

Betäubender Schmerz hielt Kelcie davon ab, die Augen zu öffnen. Sie wusste nicht, wie lange sie ohnmächtig dagelegen hatte. Der pochende Schmerz in ihrem Kopf schien langsam nachzulassen,

denn sie konnte Stimmen hören. Viele Stimmen. Wie konnte das sein? Schliesslich war sie in diesem kleinen Notfallraum zusammengebrochen. Vielleicht hatte sie jemand gefunden und nach draussen gebracht. Vorsichtig öffnete sie einen Spalt breit ihre Augen. Eine Person, sie konnte nicht sagen, ob Mann oder Frau, dafür sah sie alles noch viel zu verschwommen, beugte sich über sie.

Sie konnte nicht genau verstehen, was die Person sagte, aber offenbar sprach sie mit einer anderen Person, die Kelcie nicht sehen konnte.

Kelcie konnte aufgeregte Stimmen im Hintergrund hören, jedoch weder Autolärm noch sonstige übliche U-Bahn-Station-Geräusche. Irgendetwas stimmte hier nicht … träumte sie etwa?

Sie versuchte sich etwas aufzurichten, doch sofort wurde ihr dermassen übel, dass sie sich an Ort und Stelle übergeben musste.

Als sie ihren sämtlichen Mageninhalt auf den Boden entleert hatte, merkte sie, dass es ein Marmorboden war.

Was für ein seltsamer Traum, dachte sie und hob langsam den Kopf. Sie befand sich in einer Eingangshalle eines grösseren Gebäudes. Die Wände waren schneeweiss und über die ganze Länge mit Portraits irgendwelcher illustren Persönlichkeiten behängt, die alle vor langer Zeit gelebt haben mussten. Überall in der Halle waren Menschen. Komisch gekleidete Menschen.

Sie hielten Abstand zu ihr und beäugten sie vorsichtig. Mehrere Personen tuschelten aufgeregt miteinander. Doch das Seltsamste an dieser ganzen Geschichte war der Mann vor ihr. Er war gross, breitschultrig, hatte rabenschwarze Haare und sah auf unverschämte Weise sehr gut aus … und sie hatte ihm volle Kanne über die Schuhe gekotzt. Kelcie stöhnte laut auf und schloss schnell die Augen. Bescheuerter Traum, dachte sie.

«Wer bist du?», fragte der schwarzhaarige Mann über ihr.

«Wer will das wissen?», fragte Kelcie schnöde zurück. Noch immer hielt sie die Augen geschlossen. Sie hörte, wie der Mann scharf die Luft einzog. Das Getuschel im Hintergrund wurde lauter. Anscheinend war er es nicht gewohnt, dass seine Frage nicht umgehend beantwortet wurde.

Hände packten sie an den Oberarmen und zogen sie unsanft auf die Füsse.

«Hey!», protestierte Kelcie und versuchte auf ihren Füssen zu stehen. Sie schwankte gefährlich und sie wäre wieder zu Boden gefallen, wenn der Mann sie nicht festgehalten hätte. Allerdings hielt er sie weit von sich entfernt, als ob er sich vor ihr ekeln würde. Kelcie konnte es ihm nicht verübeln.

Was für einen Anblick musste sie abgeben! Verwirrt und vollgekotzt sah sie wahrscheinlich nicht gerade atemberaubend

aus. Der Mann schüttelte sie. «Wer bist du? Antworte mir!»

Bei diesen Worten sah Kelcie rot und jagte einen blauen Magieblitz in den Körper des Mannes. Er flog quer durch die ganze Halle und schlug gegen eine weisse Säule, sodass weisser Verputz von der Decke rieselte. Die Leute, die einen Kreis um sie gebildet hatten, stoben schreiend auseinander.

Der schwarzhaarige Mann stand jedoch sofort wieder auf und hob die Hand. Kelcie wurde an die Wand hinter ihr geschleudert und eine unsichtbare Kraft hielt sie dort fest. Irgendetwas drückte auf ihre Kehle. Ihr war immer noch schwindelig und dies verhinderte zusätzlich, dass sie klar denken konnte. Sie spürte, dass sie wieder ohnmächtig wurde und konnte sich nicht dagegen wehren, als sie wieder in die Dunkelheit abtauchte.

 

Als Diego die Halle betrat, hatte sich schon eine grössere Menschenmenge in der Eingangshalle versammelt. Die meisten drückten sich an den Wänden entlang, einen vorsichtigen Abstand zu den Gestalten in der Mitte wahrend. Eine Bedienstete beugte sich über eine junge, bewusstlose Frau am Boden.

Als er sich näherte, stand die Bedienstete rasch auf, verbeugte sich vor ihm und machte ihm sofort Platz. Die Frau am Boden bewegte sich stöhnend. Sie war jung, jünger als er, vielleicht Mitte Zwanzig. Sie hatte lange dunkelbraune Haare, die sich in Wellen über ihre Schultern ergossen. Soweit er erkennen konnte, war sie viel kleiner als er. Am seltsamsten war aber ihre Kleidung. Sie trug enge blaue Hosen aus einem Stoff, den er noch nie gesehen hatte. Auch ihre Oberkörperbekleidung war in jeder Hinsicht speziell. Hauteng schmiegte sich der Stoff an ihren Körper. Vorne auf ihrer Kleidung stand in schrägen Buchstaben der Schriftzug «Fuck ya, Bitches!».

Was für eine Sprache soll das sein, überlegte sich Diego, denn die Worte sagten ihm gar nichts.

Die Frau versuchte sich aufzurichten und ehe er sich versah, kotzte sie sich die Seele aus dem Leib und das noch direkt auf seine Stiefel! Schnell trat Diego einen Schritt zurück.

«Wer bist du?!», fragte Diego. Die Frau am Boden lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen.

«Wer will das wissen?», fragte sie herausfordernd zurück. Diego verlor die Geduld und packte die Frau unsanft und schüttelte sie.

«Wer bist du und woher kommst du?!», stiess er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Die Frau öffnete die Augen und blickte ihn geradeheraus an. Sie hatte grosse, grüne Augen und er verlor sich einen Augenblick darin. Plötzlich durchzuckte ihn ein unglaublicher Schmerz, der ihn quer durch die Halle schleuderte. Diego prallte unsanft gegen etwas Hartes und rutschte zu Boden. Doch sein Kriegergeist war erwacht. Sofort stemmte er sich wieder auf die Füsse und schleuderte mit seiner Psychokinese die Frau an die gegenüberliegende Wand. Trotz mehreren Metern Entfernung drückte Diego mit seiner Hand langsam ihre Kehle zu. Sofort schien sie wieder das Bewusstsein zu verlieren und er liess sie los. Sie rutschte die Wand hinab und blieb am Boden liegen. Stille trat in der Halle ein. Keiner wagte sich zu bewegen, geschweige denn etwas zu sagen.

Keuchend wankte Diego auf die Frau zu. Ihre Magie hatte ihm stärker zugesetzt, als er es erwartet hatte. Als er sie erreicht hatte, beugte er sich zu ihr hinunter. Sie atmete schwer und ihre Lieder zuckten. Trotzdem schien sie ohnmächtig zu sein.

Doch die Frau war gefährlich. Zweifellos war sie eine Zauberin oder ähnliches. Diego konnte ihre Magie immer noch in sich spüren. Sie könnte von Goldor geschickt worden sein, doch das konnte Diego sich nicht vorstellen. Einerseits schien sie sehr verwirrt zu sein und nicht zu wissen, wo sie sich befand. Andererseits war ihre ganze Erscheinung derart seltsam und auffällig, dass er nicht glaubte, dass Goldor so eine Spionin auf ihn hetzen würde. Ganz sicher konnte sich Diego allerdings nicht sein. Denn es fiel ihm auch keine andere Erklärung ein, woher sie so plötzlich auftauchen konnte. Noch ein Problem, als ob ich nicht genug davon hätte, dachte Diego etwas zerknirscht.

«Ihr da!», sprach er zwei nàvossische Soldaten an, die den Palast bewachten und sofort herbeigeeilt kamen.

«Bringt die Frau in die Kerker. Sie scheint eine Magierin zu sein, also schaut, dass die Zelle auch mit magischem Schutz versehen wird!»

«Selbstverständlich, Euer Hoheit!», entgegnete der eine Soldat energisch und beide salutierten. Anschliessend hoben sie die junge Frau hoch und trugen sie davon. Diego sah ihnen nach, bis sie hinter der nächsten Tür verschwunden waren.

 

«Kaum zu glauben!», flüsterte João völlig verwirrt. Sie sassen an der grossen Tafel, welche reichlich für das Abenddinner gedeckt war. Obwohl der Tisch mit opulenten Speisen überhäuft war, war es trotzdem der Speisesaal, der die ganze Aufmerksamkeit einforderte. Wunderschöne Gemälde hingen an den Wänden und die Decke war mit herrlichen Fresken bemalt. Überall verkleidete Blattgold die Wände und Säulen des Raumes. Wer hier sass, konnte sich kaum vorstellen, dass Nàvossa in so einem schlechten Zustand war.

Ich kann mir vorstellen, wohin die Steuergelder geflossen sind, dachte Diego verstimmt und sah sich verstohlen um.

«Ich weiss selbst nicht, was ich glauben soll!», entgegnete Diego

ebenfalls flüsternd. Am Tisch befanden sich zwar einige Offiziere, vor denen Diego grundsätzlich keine Geheimnisse hatte, aber es sassen noch zahlreiche religiöse Würdenträger am Tisch und natürlich Latross, den man durch den ganzen Saal hören konnte. Prahlerisch gab er gerade einer seiner Jagdgeschichten zum Besten, die nach Diegos Meinung alle auf jeden Fall erfunden waren. Er und João flüsterten, denn die Stimmung war sehr angespannt.

Als Latross vom heutigen Vorfall Wind bekommen hatte, hatte er sich bei Diego beschwert, dass dieser seine Verantwortung als Statthalter untergraben hätte. Für Vorfälle solcher Art, insbesondere in seinem Palast, wäre er zuständig gewesen. Dann hatte er Diego eine gute Stunde lang mit überschwänglichen Reden über den Vorfall mit der jungen Frau genervt. Wenn er, Latross, vor Ort gewesen wäre, hätte er kurzen Prozess gemacht und die Frau hängen lassen. Diego war von der Front schon einiges gewohnt, aber die Brutalität, die Latross an den Tag legte, gab Diego schon zu denken.

«Irgendwie glaube ich nicht, dass sie von Goldor geschickt wurde. Das würde gar keinen Sinn ergeben, schliesslich hat sie mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als wenn ein Heer von hunderttausend Mann plötzlich vor den Stadttoren erschienen wäre. Ausserdem war sie völlig verwirrt und desorientiert und so was wie ihre Kleidung habe ich noch nie gesehen!»

Diego schüttelte verwirrt den Kopf. «Was wäre, wenn Goldor uns damit nur verwirren will? Was wäre, wenn es sein Plan ist, dass wir ihr nichts Böses unterstellen und sie im geeigneten Moment zuschlägt? Du hast gesagt, sie besitzt Zauberkräfte. Woher soll sie denn sonst stammen? Du hast gesagt, dass du nicht glaubst, dass sie zu unserem Volk gehört. Also kann sie nur von Goldor kommen», mutmasste João.

«Ich weiss auch nicht, was ich glauben soll. Ich kann genauso nur Vermutungen anstellen wie du. Aber ich kann auch keine Unschuldige bestrafen, denn das würde mich nicht besser als Goldor machen. Ich werde nicht drum herumkommen, mit ihr zu reden. Sofern sie wieder bei Bewusstsein ist.»

«Wo befindet sie sich denn im Augenblick?», fragte João ganz leise, denn Latross hatte sie bereits mit einem berechnenden Blick quittiert.

«Sie befindet sich meines Wissens nach in der grössten Zelle unten in den Kerkern. Ich werde nach dem Essen hinuntersteigen und versuchen mehr herauszufinden. Aber es ist ärgerlich, dass ich mich auch damit herumplagen muss», murmelte Diego die letzten Worte halblaut.

«Ich wäre ausserdem froh, wenn du heute Abend noch einen Rundgang bei den Wachen auf der Stadtmauer machen könntest. Mir ist zu Ohren gekommen, dass der Alkohol dort reichlich fliesst und wir können keine betrunken Wachen gebrauchen!» «Alles klar, ich gebe dir anschliessend einen Lagebericht, falls du dich nicht schon zur Ruhe gelegt hast», antwortete João mit einem Augenzwinkern.

«Ich glaube nicht, dass mein Bett mich heute Nacht so schnell sieht», seufzte Diego. Er wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, wie Recht er behalten würde.

Mit einem starken Hämmern im Kopf wachte Kelcie auf. Sie konnte nicht erkennen, wo sie sich befand, denn es war dunkel. Bin ich etwa blind, dachte sie nervös und tastete hastig ihre Augen ab, als ob sie dadurch etwas erkennen würde. Sie blieb eine Weile reglos liegen, doch bald erkannte sie, dass sie nicht auf unerklärliche Weise plötzlich erblindet war. Denn das Mondlicht schien ganz schwach durch ein kleines, vergittertes Fenster, welches ungefähr drei Meter über dem Boden angebracht war.

Sie konnte jetzt auch die Umrisse im Raum wahrnehmen. Sie befand sich in einem grösseren Raum mit kahlen Steinwänden. Der Boden und die Decke waren ebenfalls nackter Stein und an einer Wand befand sich etwas, das wie eine Pritsche aussah. Sonst war der Raum leer.

Träume ich etwa immer noch, dachte Kelcie etwas benommen und versuchte sich aufzurichten. Obwohl sie leicht schwankte, schaffte sie es aufzusitzen. Sie hatte auf dem Boden gelegen und ihre Glieder waren steif. Als sie ihre schmerzenden Beine massierte, dachte sie über ihren immer noch andauernden Alptraum nach. Vielleicht liege ich im Koma, überlegte sie sich. Doch der Steinboden füllte sich unglaublich real an und als sie noch einen modrigen Geruch feststellen konnte, wurde sie langsam, aber sicher nervös. Wo war sie?

Kelcie versuchte die aufkommende Panik zu unterdrücken und überlegte fieberhaft. Sie war sich nun ziemlich sicher, dass sie weder schlief noch im Koma lag. Doch wo war sie dann? Wurde sie entführt? Offensichtlich befand sie sich in Gefangenschaft, denn sie konnte nun auch die eisenbehauene Tür erkennen. Leider die einzige im Raum.

Vielleicht war sie der Mannaten-Sekte in die Hände gefallen? Ihr war bestimmt schon aufgefallen, dass Kelcie ihren Mitgliederbestand etwas reduziert hatte. Als sie einige Zeit so da- sass, fühlte sie sich stark genug aufzustehen. Sie wankte zur Türe und legte die Hand darauf. Sie spürte ein vertrautes leichtes Kribbeln unter ihrer Handfläche, was bedeutete, dass die Tür magisch geschützt war. Kelcie fluchte leise. Sie konnte zwar fühlen, dass die Türe magisch verstärkt war, allerdings konnte sie nicht feststellen, wie gut die Qualität des Zaubers war. Es gab nur einen Weg, dies herauszufinden. Kelcie sammelte all ihre Kräfte und jagte einen Energiestoss durch die Tür. Doch der Schutzzauber war zu gut. Kelcie wurde quer durch den ganzen Raum geschleudert und prallte schmerzhaft auf dem Steinfussboden auf. Sie rappelte sich vorsichtig wieder auf und wankte wieder zur Tür. Die Tür war zu gut geschützt, also musste Kelcie nach anderen Auswegen suchen. Sie tastete sich die Wand entlang und spürte leider zu ihrem Bedauern überall das vertraute Kribbeln. Somit war nicht nur die Tür magisch geschützt, sondern auch die Wand. Also blieb als einziger Ausweg nur noch das kleine Fenster. Mit wenig Hoffnung trat sie darauf zu. Obwohl sie noch ein paar Schritte entfernt war, konnte sie den magischen Schutzschild auch beim Fenster spüren. Resigniert setzte sich Kelcie auf die Pritsche.