Reise nach Russland - Zweig Stefan - E-Book

Reise nach Russland E-Book

Zweig Stefan

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Beschreibung

Stefan Zweig (1881-1942) war ein österreichischer Schriftsteller. 1928 bereiste Stefan Zweig die Sowjetunion, wo seine Bücher auf Betreiben von Maxim Gorki, mit dem er im Briefwechsel stand, auf Russisch herauskamen. 1934 flüchtete er vor den Nationalsozialisten über London und New York nach Brasilien. In der Nacht vom 22. zum 23. Februar 1942 nahm sich Stefan Zweig in Petrópolis bei Rio de Janeiro das Leben. Depressive Zustände begleiteten ihn seit Jahren. Seine Frau Lotte folgte Zweig in den Tod. In seinem Abschiedsbrief hatte Zweig geschrieben, er werde "aus freiem Willen und mit klaren Sinnen" aus dem Leben scheiden. Die Zerstörung seiner "geistigen Heimat Europa" hatte ihn für sein Empfinden entwurzelt, seine Kräfte seien "durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft". Stefan Zweig wurde ein Symbol für die Intellektuellen im 20. Jahrhundert auf der Flucht vor der Gewaltherrschaft.

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Seitenzahl: 48

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Reise nach Russland

Redliche VorbemerkungGrenzeUmstellung ins RussischeMoskau: Straße vom Bahnhof her Moskau: Blick vom KremlMoskau: Der Rote PlatzDas alte und neue HeiligtumMoskau: MuseenHeroismus der IntellektuellenBesuch bei GorkiDie jungen DichterTheaterTolstoifeierJasnaja PoljanaAusflug nach LeningradSchatzkammer der EremitageDas schönste Grab der WeltEpilogImpressum

Redliche Vorbemerkung

Welche Reise innerhalb unserer näheren Welt wäre heute (1928) auch nur annähernd so interessant, bezaubernd, belehrend und aufregend wie jene nach Rußland? Während unser Europa, und besonders die Hauptstädte, dem unaufhaltsam zeitgemäßen Prozeß wechselseitiger Anformung und Verähnlichung unterliegen, bleibt Rußland völlig vergleichslos. Nicht nur das Auge, nicht nur der ästhetische Sinn wird von dieser urtümlichen Architektonik, dieser neuen Volkswesenheit in unablässiger Überraschtheit ergriffen, auch die geistigen Dinge formen sich hier anders, aus anderen Vergangenheiten in eine besondere Zukunft hinein. Die wichtigsten Fragen gesellschaftlich-geistiger Struktur drängen sich an jeder Straßenecke, in jedem Gespräch, in jeder Begegnung unabweisbar auf, ununterbrochen fühlt man sich beschäftigt, interessiert, angeregt und zwischen Begeisterung und Zweifel, zwischen Staunen und Bedenken leidenschaftlich angerufen. So voll ballt sich jede Stunde mit Weltstoff und Denkstoff, daß es leicht wäre, über zehn Tage Rußland ein Buch zu schreiben.

Das haben nun in den letzten Jahren ein paar Dutzend europäische Schriftsteller getan; ich persönlich beneide sie um ihren Mut. Denn klug oder töricht, lügnerisch oder wahr, vorsichtig oder apodiktisch, alle haben sie doch eine fatale Ähnlichkeit mit jenen amerikanischen Reportern, die nach zwei Wochen Cook-Rundfahrten sich ein Buch über Europa erlauben. Wer der russischen Sprache nicht mächtig ist, nur die Hauptstädte Moskau und Leningrad, bloß also die beiden Augen des russischen Riesen gesehen, wer außerdem die neue revolutionäre Ordnung mit den zaristischen Zuständen nicht aus früherer Erfahrung zu vergleichen vermag, sollte, meine ich, redlicherweise lieber verzichten auf Prophezeiung und auf pathetische Entdeckungen. Er darf nur Impressionen geben, farbig und flüchtig wie sie waren, ohne jeden anderen Wert und Anspruch als den gerade in bezug auf Rußland heute wichtigsten: nicht zu übertreiben, nicht zu entstellen und vor allem nicht zu lügen.

Grenze

In Niegoroloie erste russische Erde. Spät abends, so dunkel schon, daß man den berühmten roten Bahnhof mit der Überschrift »Proletarier aller Länder vereinigt euch« nicht mehr wahrnehmen kann. Aber auch die von fabulierenden Reisevorgängern so pittoresk und fradiavolesk geschilderten Rotgardisten, grimmig bis an die Zähne bewaffnet, kann ich mit bestem Willen nicht erblicken, einzig ein paar klug aussehende, durchaus freundlich Uniformierte, ohne Gewehr und blinkende Waffe. Die Holzgrenzhalle wie alle anderen, nur daß statt der Potentaten die Bilder Lenins, Engels', Marx' und einiger anderer Führer von den Wänden blicken. Die Revision exakt, genau und geschwind, mit aller erdenklichen Höflichkeit; schon beim ersten Schritt auf die russische Erde spürt man, wieviel Lüge und Übertreiblichkeit man noch totzutreten hat. Nichts ereignet sich härter, strenger, militärischer als an einer anderen Grenze; ohne jeden Übergang steht man plötzlich in einer neuen Welt.

Aber doch, ein erster Eindruck gräbt sich sofort ein, einer jener ersten Eindrücke, wie sie so oft eine erst später bewußt erkannte Situation divinatorisch umfassen. Wir sind im ganzen vielleicht dreißig oder vierzig Personen, die heute die Grenze Rußlands überschreiten, die Hälfte davon bloß Durchreisende, Japaner, Chinesen, Amerikaner, die ohne Aufenthalt mit der mandschurischen Bahn nach Hause sausen; das gibt mathematisch einen Rest von etwa fünfzehn bis zwanzig Personen, die mit diesem Zuge wirklich nur nach Rußland reisen. Dieser Zug wieder ist der einzige am Tage, der von London, Paris, Berlin, Wien, von der Schweiz, aus ganz Europa nach dem Herzen Rußlands, nach seiner Hauptstadt Moskau zielt. Unbewußt erinnert man sich an die letzten Grenzen, die man passierte, erinnert sich, wie viele Tausende und Zehntausende jeden Tag in unsere winzigen Länderchen einreisen, indes hier zwanzig Personen in allem ein Riesenreich, einen Kontinent beschreiten. Zwei oder drei geradelaufende Eisenbahnadern verbinden im ganzen Rußland mit unserer europäischen Welt, und jede von diesen pocht nur matt und zaghaft. Da erinnert man sich an die Grenzübergänge zur Zeit des Krieges, wo auch nur ein siebenmal gesiebtes Häufchen die unsichtbare Linie von Staat zu Staat überschritt, und begreift instinktiv etwas von der augenblicklichen Situation: Rußland ist eine umschlossene Festung, ein wirtschaftliches Kriegsgebiet, durch eine Art Kontinentalsperre, ähnlich jener, die Napoleon über England verhängte, von unserer anders eingestellten Welt abgeschlossen. Man hat eine unsichtbare Mauer überstiegen, sobald man die hundert Schritte vom Eingang zum Ausgang zwischen diesen beiden Türen getan.

Umstellung ins Russische

Noch ehe sich der Zug in Bewegung setzt, Moskau entgegen, erinnert mich ein freundlicher Mitreisender, daß man die Uhr jetzt umstellen müsse, um eine Stunde, von westeuropäischer auf osteuropäische Zeit. Aber dieser rasche Handgriff, diese winzige Schraubendrehung, bald wird man es merken, reicht bei weitem nicht aus. Nicht nur die Stunde auf dem Zifferblatt muß man umstellen, sondern sein ganzes Gefühl von Raum und Zeit, sobald man nach Rußland kommt. Denn innerhalb dieser Dimensionen wirkt sich alles in anderen Maßen und Gewichten aus. Die Zeit wird von der Grenze ab einen rapiden Kurssturz des Wertes erfahren, und ebenso das Distanzgefühl. Hier zählt man die Kilometer nach tausend statt nach hundert, eine Fahrt von zwölf Stunden gilt als Exkursion, eine Reise von drei Tagen und drei Nächten als verhältnismäßig gering. Zeit ist hier Kupfermünze, die keiner spart und sammelt. Eine Stunde Verspätung bei einer Verabredung gilt noch als Höflichkeit, ein Gespräch von vier Stunden als kurze Plauderei, eine öffentliche Rede von anderthalb Stunden als kurze Ansprache. Aber 24 Stunden in Rußland, und die innere Anpassungsfähigkeit wird sich daran gewöhnt haben. Man wird sich schon nicht wundern mehr, daß ein Bekannter von Tiflis drei Tage und drei Nächte herfährt, um einem die Hand zu schütteln, acht Tage später wird man mit gleicher Gelassenheit und Selbstverständlichkeit die Kleinigkeit von 14 Stunden Bahnfahrt auf sich nehmen, um selbst einen solchen »Besuch« zu machen, und sich schon allen Ernstes überlegen, ob man nicht – bloß sechs Tage und sechs Nächte – in den Kaukasus fahren sollte.