Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft -  - E-Book

Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft E-Book

0,0

Beschreibung

Religiosität und Spiritualität zeigen sich in der Schweiz - so die These dieser Studie - in vier grossen Milieus: "Institutionelle" sind traditionell und freikirchlich christlich, "Alternative" setzen auf Esoterik und spirituelle Heilung, "Säkulare" sind indifferent oder religionsfeindlich. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung aber gehört den "Distanzierten" an. Ihnen ist Religion nur in bestimmten Situationen wichtig, ihre religiösen und spirituellen Überzeugungen sind oft diffus. Anhand repräsentativer Umfragen und Tiefeninterviews zeigen die Autoren, wie sich diese Milieus innerhalb der letzten fünf Jahrzehnte aufgrund von Wertwandel und sozialen Trends tiefgreifend verändert haben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 436

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jörg Stolz, Judith Könemann, Mallory Schneuwly Purdie, Thomas Englberger, Michael Krüggeler

Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft

Vier Gestalten des (Un-)Glaubens

Beiträge zur Pastoralsoziologie (SPI-Reihe) 16

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich

Titelbild: Jean-Charles Rochat

Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz

ISBN 978-3-290-20078-7 (Buch)

ISBN 978-3-290-20112-8 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf den Beginn der jeweiligen Seite der gedruckten Ausgabe.

© 2014 Theologischer Verlag Zürich

www.edition-nzn.ch

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotografischen und audiovisuellen Wiedergabe, der elektronischen Erfassung sowie der Übersetzung, bleiben vorbehalten. |5|

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
1 Einleitung
1.1 Zentrale Fragestellung
1.2 Bisherige Antworten
1.3 Eine neue Typologie
1.4 Eine neue Theorie
1.5 Die These des Regimewechsels religiös-säkularer Konkurrenz
1.6 Methode12
1.7 Was ist neu?
1.8 Grenzen und eigene Position
1.9 Darstellung und Plan des Buches
2 Theorie: Religiös-säkulare Konkurrenz in der Ich-Gesellschaft
2.1 Theorien zu Religion und Moderne
Säkularisierungstheorie
Theorie der Individualisierung und spirituellen Revolution
Markttheorie
2.2 Die allgemeine Theorie religiös-säkularer Konkurrenz
Vorbemerkungen
Vorläufer der Theorie
Analytische Soziologie
Religion, religiöse Organisationen, Religiosität
Definitionen
Die sich wandelnde Vorteilhaftigkeit von Religion
Soziale Konkurrenz
Religiöse und säkulare Anbieter und kollektive Akteure
Ressourcen und Machtverteilungen
Strategien
Individuelles Handeln
Externe Einflussfaktoren
Effekte des Konkurrenzgeschehens
2.3 Sozio-historische Konkretisierung
Religiös-säkulare Konkurrenz in der industriellen Gesellschaft
Der Wechsel des Konkurrenzregimes der 1960er Jahre
Religiös-säkulare Konkurrenz in der Ich-Gesellschaft
Konkurrenzbeziehungen
2.4 Hypothesen
Übergang zur Ich-Gesellschaft
Individuelle Anpassungen
Grossgruppen
Anbieter
3 Vier Gestalten des (Un-)Glaubens
3.1 Eine Typologie auf zwei Ebenen
3.2 Institutionelle
3.3 Alternative
3.4 Distanzierte
3.5 Säkulare
4 Identität und Sozialstruktur
4.1 Typen, Subtypen und Identität
Identität – kategorial, kollektiv, personal
Konfessionelle Identität
Religiös-spirituelle und säkulare Identität
Positiv- und Negativbeschreibungen: Ich/Wir vs. die Anderen
4.2 Soziodemografische Merkmale der Typen
Der institutionelle Typus: Etablierte und Freikirchliche
Der alternative Typus: Esoterische und Sheilaisten/alternative Kunden
Der distanzierte Typus
Der säkulare Typus: Indifferente und Religionsgegner
5 Glauben, Wissen, Erfahren, Handeln
5.1 Institutionelle Religiosität
Etablierte
Freikirchliche
5.2 Alternative Spiritualität
Esoteriker
Sheilaisten und alternative Kunden
5.3 Distanzierte Religiosität
Distanziert-Institutionelle
Distanziert-Alternative
Distanziert-Säkulare
5.4 Säkularität
Indifferente
Religionsgegner
6 Werte und Wertewandel
6.1 Die Typen und ihre Werte
Institutionelle
Alternative
Distanzierte
Säkulare
6.2 Wertewandel und Religiosität
Wie Religion an «Wert» und Legitimationsfunktion verliert
Die Kritik an «alten» Werten und deren Verbindung zur Religion
Die Freisetzung «neuer» Werte|6|
7 Kirchen, Freikirchen und alternativ-spirituelle Anbieter
7.1 Drei Typen von Anbietern
Grosskirchen, Freikirchen, alternativ-spirituelle Anbieter
Verankerung und Ausstrahlung der drei Anbieter
7.2 «Heilsgüter» und «Nutzen» der Angebote
Kirchen: Kraft, Halt, Tradition und ein Nutzen für andere
Freikirchen: Leben mit Jesus und anderen Christen
Alternativ-spirituelle Anbieter: Spirituelles Wachstum und Problembehebung
7.3 Das Mitgliedschaftsverhältnis zum religiös-spirituellen Anbieter
Grosskirchen: Bleiben oder Austreten
Freikirchen und alternativ-spirituelle Anbieter: wettbewerbsstarke Mitglieder- und Kundenmärkte
7.4 Die Wahrnehmung der religiös-spirituellen Anbieter
Das Image der Grosskirchen: sinnvoll, aber veraltet und konservativ
Kirchliche Pfarrer und Priester: von altmodisch bis «cool»
Das Image der Freikirchen und ihrer Pastoren: von lebendig bis gefährlich
Das Image alternativ-spiritueller Techniken und Anbieter: von neutral bis aussergewöhnlich
8 Die Wahrnehmung und Bewertung von Religion(en)
8.1 Wahrnehmung und Bewertung von «Religion an sich»
Wahrheitsrelativismus und «Gleichheit» der Religionen
Kriterien für die Einschätzung «guter» oder «schlechter» Religion
Die Rückkehr der Religionskritik
8.2 Wahrnehmung und Bewertung spezifischer religiöser Gruppen
Christentum
Katholizismus
Evangelisch-Reformierte
Buddhismus
Islam
Neue religiöse Gemeinschaften
8.3 Ursachen der Wahrnehmungen und Bewertungen
Religiöses (Sub-)Milieu
Massenmedien und Nahwelt-Diskurse
Persönlicher Kontakt
Politische Einstellung und Einstellung zu Ausländern
Alter und Generation
9 Der Wandel von Religiosität, Spiritualität und Säkularität
9.1 Der Übergang zur Ich-Gesellschaft
Ich-Gesellschaft und Wirtschaftswachstum
Ich-Gesellschaft und Kultur
Normierte vs. optionale religiöse Praxis
Normierte vs. optionale religiöse Sozialisation
Partnerwahl, Heiratsverhalten, Einfluss des Partners
Veränderungen des Coping
Ich-Gesellschaft und Geschlecht
Ich-Gesellschaft und Stadt/Land
9.2 Individuelle Anpassungen
Säkularisierendes Driften
Religiöse Individualisierung/Konsumorientierung
9.3 Effekte auf Typen und Milieus
Wachstum und Schrumpfen der Typen und Milieus
10 Schluss: Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft
10.1 Rückblick
Eine neue Beschreibung
Eine allgemeine Theorie
Eine spezifische Erklärung
10.2 Die Zukunft der Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft
11 Literatur
12 Anhang
12.1 Methode
Quantitative Teilstudie
Qualitative Teilstudie
Die Verbindung der qualitativen und quantitativen Teilstudien: Mixed Methods
Fragestellung
Operationalisierung
Sampling:
Vergleich der Samples MOSAiCH09 und RuM:
Analyse
Writing up
Das Erstellen der Typologie
12.2 Kurzporträts der Befragten (qualitative Stichprobe)
12.3 Tabellen
Kapitel 3 (Vier Gestalten des [Un-]Glaubens)
Kapitel 4 (Identität und Sozialstruktur)
Kapitel 5 (Glauben, Wissen, Erfahren, Handeln)
Kapitel 6 (Werte)
Kapitel 7 (Kirchen, Freikirchen und alternativ-spirituelle Anbieter)
Kapitel 8 (Die Wahrnehmung und Bewertung von Religion(en))
Autorinnen und Autoren
Anmerkungen|7|

Vorwort

Mit diesem Buch schliessen wir an eine Forschungsrichtung an, die vor mehr als 20 Jahren begann. 1989 wurde die erste gross angelegte Studie zur Religiosität in der Schweiz durchgeführt. Sie führte zur Publikation «Jede(r) ein Sonderfall? Religion in der Schweiz: Ergebnisse einer Repräsentativbefragung», die von Alfred Dubach und Roland Campiche herausgegeben wurde.1 Zehn Jahre später legte Roland Campiche die Nachfolgestudie «Die zwei Gesichter der Religion. Faszination und Entzauberung» vor, während Alfred Dubach und Brigitte Fuchs ihr Buch «Ein neues Modell von Religion. Zweite Schweizer Sonderfallstudie – Herausforderung für die Kirchen» publizierten.2 Mit dem vorliegenden Band wird die Serie fortgesetzt. Und wie schon in der ersten Studie ist es wieder eine Kooperation einer Lausanner und einer St.-Galler Forschungsgruppe, die sich an die Vermessung der Religiosität und Spiritualität der Schweizer Bevölkerung macht. Neu gegenüber den zwei Vorläuferstudien ist jedoch, dass wir in diesem Buch nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Daten verwenden, dass wir auch der alternativen Spiritualität und der Säkularität grosse Aufmerksamkeit schenken und eine neue Konkurrenztheorie religiös-sozialen Wandels vorschlagen.

Die unserem Buch zugrundeliegenden Daten wurden im Rahmen des Projektes «Religiosität in der modernen Welt: Konstruktion, Bedingungen und sozialer Wandel. Eine qualitative und quantitative Studie über individuelle Religiosität in der Schweiz» erhoben. Das Projekt wurde vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 58 unterstützt. In diesem Zusammenhang entstanden ein öffentlich zugänglicher Schlussbericht3 und ein vom SNF publiziertes Themenheft4.

Das vorliegende Buch wäre ohne vielfältige Unterstützung nicht möglich gewesen. Folgenden Personen möchten wir für ihre Unterstützung, Hilfeleistung und Kooperation herzlich danken: Ein erster Dank geht an die 1302 Interviewten, die uns teils in qualitativen, teils in quantitativen Befragungen berichtet haben, wie sie zu Fragen der Religiosität und Spiritualität stehen. |8|

Bettina Combet, Eva Marzi, Emilie Fleury und Julie Montandon haben ausgezeichnete zusätzliche Interviews und Transkriptionen für unser Projekt durchgeführt. Marianne Jossen hat Teile des Textes vom Französischen fachkundig ins Deutsche übersetzt. Ingrid Storm hat als Post-Doc Forscherin drei Monate lang am Observatoire des Religions en Suisse am Projekt mitgearbeitet und entscheidenden Einfluss auf die letztlich gewählte Typologie genommen. Durch ihre hervorragenden Einwände hat sie uns dazu gezwungen, zähneknirschend alles über den Haufen zu werfen und nochmals von vorne zu beginnen.

Der Schweizerische Nationalfonds hat uns optimal unterstützt. Besonders danken möchten wir den Mitgliedern der Leitungsgruppe des SNF 58, insbesondere Christoph Bochinger und Christian Mottas. Es war äusserst angenehm, für ein nicht ganz einfaches Projekt auf die effiziente und umsichtige Leitung des Gesamtprogramms zählen zu können.

Bei der Erarbeitung des quantitativen Zusatzfragebogens und bezüglich der Auswertung der ISSP-Daten haben wir sehr gut mit FORS, insbesondere Dominique Joye, Marlène Sapin und Alexandre Pollien zusammengearbeitet. Bei der Rekrutierung der qualitativen Interviewpartner und -partnerinnen haben wir auf das Befragungsinstitut LINK zurückgegriffen und möchten Isabelle Kaspar und Ermelinda Lopez für eine ausgezeichnete Zusammenarbeit herzlich danken. Für die Bekanntmachung der Ergebnisse des Projektes haben wir mit Almut Bonhage, Célia Francillon, Xavier Pilloud und Urs Hafner ausgezeichnet kooperiert. Jean-Charles Rochat fotografierte das Titelbild. Ewald Mathys besorgte das vorbildliche Korrektorat. Markus Zimmer und Marianne Stauffacher vom Theologischen Verlag Zürich haben uns sehr professionell editorisch betreut und unsere ständigen Verzögerungen grosszügig in Kauf genommen. Verschiedene Personen haben Teile des Manuskripts in unterschiedlichen Phasen seiner Entstehung gelesen und kritisch kommentiert. Sie haben uns durch ihre z. T. hartnäckigen Einwände vor vielerlei Fehlern und Fallstricken bewahrt. Es sind: Christoph Bochinger, Olivier Favre, Denise Hafner Stolz, Stefan Huber, Daniel Kosch, Gert Pickel, Detlef Pollack, Ingrid Storm und Monika Wohlrab-Sahr. Stefan Rademacher hat das fertige Manuskript nochmals ganz durchgelesen und sorgfältig kommentiert. Die Diskussionen mit Urs Altermatt, Mark Chaves, Detlef Pollack, Philippe Portier, David Voas und Jean-Paul Willaime waren uns in kritischen Phasen des Projektes ebenfalls sehr wichtig.

Die Ergebnisse des Projektes sind an den ISSR-Kongressen in Aix-en-Provence und Turku, dem Kongress zu «Religions as Brands» des ISSRC (Lausanne) sowie bei Vorträgen am GSRL (Paris), am CSRES (Strasbourg), dem Soziologischen Institut der Universität Zürich und der Graduiertenklasse «Säkularitäten» der Universität Leipzig vorgestellt und diskutiert worden. Diese Diskussionen haben das Projekt stark bereichert. |9|

Für finanzielle Unterstützung danken wir der Faculté de Théologie et Sciences des Religions (FTSR), der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz, der Katholischen Kirche im Kanton Zürich, der Société Académique Vaudoise, dem Publikationsbeitrag SPI, der Stiftung Van Walsem und dem Département Interfacultaire d’Histoire et de Sciences des Religions (DIHSR).

Wie schon unsere Vorgängerprojekte so haben auch wir erfahren müssen, dass ein mehrjähriges Forschungsprojekt zu fünft mit zwei Forschungsteams, mehreren methodischen Zugangsweisen und verschiedenen beruflichen Veränderungen im Team alles andere als einfach ist. Insgesamt aber hat die Freude am gemeinsamen Forschen die gelegentlichen Irritationen bei Weitem aufgewogen, und wir sind stolz auf das gemeinsame Produkt.

Wie anfangs schon erwähnt, steht das vorliegende Buch in einer von Roland Campiche und Alfred Dubach begründeten Forschungstradition. Diesen beiden Pionieren ist unser Buch daher gewidmet.

Lausanne, August 2013

Jörg Stolz, Judith Könemann, Mallory Schneuwly Purdie, Thomas Englberger, Michael Krüggeler |10|

1 Einleitung

Jörg Stolz, Judith Könemann

The way to God is by our selves

Phineas Fletcher

Wie immer man die heutige Gesellschaft charakterisiert – keine soziologische Beschreibung wird darum herumkommen, dem einzelnen Menschen, dem Individuum, einen hervorragenden Platz einzuräumen. Nie zuvor hat der einzelne Mensch eine solche Vielzahl von Entscheidungen in ganz eigener Sache treffen können, sei es in schulischer, politischer, ökonomischer, den Lebensstil betreffender, sexueller – oder auch religiöser Hinsicht. Nie zuvor hatte er so viel selbst zu verantworten, so viel allein zu bewältigen und zu verarbeiten, wenn seine Lebenspläne nicht gelangen. Nie zuvor schliesslich musste der Einzelne den Sinn seines Erlebens und Tuns so sehr aus sich selbst und aus den Konsequenzen seiner Entscheidungen schöpfen. In diesem Sinne leben wir heute in einer Ich-Gesellschaft.

1.1 Zentrale Fragestellung

Auf den kürzesten Nenner gebracht, analysiert unsere Studie, welchen Einfluss die so gekennzeichnete Ich-Gesellschaft auf Religiosität, Spiritualität und Säkularität ausübt. Genauer formuliert, geht es uns darum zu erforschen:

welche zentralen religiös-sozialen Typen in der Gesellschaft auszumachen sind. Als Typen bezeichnen wir dabei grosse Gruppen von Menschen, die sich durch gemeinsame Wahrnehmungen, Werte und sozialstrukturelle Merkmale wie auch soziale Grenzen auszeichnen;5welche religiösen und spirituellen Glaubensüberzeugungen, Praktiken, Werte und Wahrnehmungen diese religiös-sozialen Typen aufweisen; |11|wie sich die Religiosität, Spiritualität und Säkularität der Typen in den letzten Jahrzehnten verändert haben und wie dieser Wandel zu erklären ist.

Jedes Kapitel unseres Buches liefert einen spezifischen Teil der Antworten auf diese Fragen.

1.2 Bisherige Antworten

Natürlich liegt schon jetzt eine umfangreiche Literatur vor, die versucht, die religiös-sozialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte in westeuropäischen Ländern zu beschreiben und zu erklären. Die gegenwärtig bekanntesten Theorien sind die Säkularisierungstheorie, die Individualisierungstheorie und die Markttheorie.6 Gemäss der Säkularisierungstheorie haben Elemente der Modernisierung dazu geführt, dass Religion sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben immer unbedeutender wird.7 Gemäss der Individualisierungstheorie ist es nicht etwa zu einer Abnahme der Religiosität gekommen, sondern dazu, dass die Religiosität immer individueller und vielgestaltiger wird.8 Die Markttheorie schliesslich benutzt ökonomische Einsichten, um religiöse Veränderungen zu erklären. Ihr gemäss leben wir zunehmend in einem religiösen Markt mit religiösen Anbietern (Kirchen) und religiösen Kunden (Gläubige). Da der religiöse Markt in europäischen Ländern stark reguliert sei (d. h. kein freier Markt herrsche), würden sich die Menschen immer mehr von Religiosität entfernen. Erst wenn der Markt liberalisiert würde und neue Anbieter auf den Markt kämen, könne es wieder zu einem religiösen Aufschwung kommen.9 Alle drei Theorien überzeugen jedoch – wie wir in diesem Buch zeigen werden – nur zum Teil. Vor allem gelingt es ihnen nicht, die Gesamtheit der Phänomene befriedigend zu erklären, die Tatsache also, dass wir sowohl religiösen Niedergang als auch Aufschwung sehen, mehr religiöse Individualisierung, aber auch mehr Fundamentalismus, mehr religiöse Freiheit, aber auch mehr religiöse Indifferenz. Genau an dieser Stelle setzt unser eigener Beitrag an. Wir versuchen, eine befriedigendere Antwort auf die oben gestellte Leitfrage zu geben, und zwar mit einer Typologie, einer Theorie und einer These. |12|

1.3 Eine neue Typologie

Ein erster Teil unserer Antwort auf die Frage, wie die Menschen in der Ich-Gesellschaft Religiosität, Spiritualität und Säkularität erleben, besteht in einer neuen Typologie. Auf einer abstrakten Ebene unterscheiden wir vier Typen: die Institutionellen, die Alternativen, die Distanzierten und die Säkularen. Jeder der Typen lässt sich anschliessend in Untertypen unterteilen. Der Sinn der Typologie besteht zunächst einmal darin, die komplexe Welt zu vereinfachen. Wer aufmerksam zuhört, wie heute Menschen in der Schweiz und anderen westeuropäischen Ländern von ihrer Religiosität, Spiritualität oder Religionslosigkeit berichten, wird zunächst mit einer riesigen Vielfalt konfrontiert. Dazu nur einige wenige Beispiele: Die 50-jährige Witwe Mima hat sich unter dem Eindruck verschiedener Todesfälle in der Familie von der katholischen Kirche distanziert. Aus ihr selbst nicht ganz verständlichen Gründen war sie auf das Schicksal, Gott und die Kirche wütend. Ganz anders Barnabé, ein 58-jähriger Landwirt. Er hat sich als junger Mann zum christlichen Glauben bekehrt, ist mit seiner Frau einer Freikirche beigetreten und bekleidet heute in dieser Gemeinde das Amt des Ältesten. Keinerlei Stabilität dieser Art findet man in der noch vergleichsweise kurzen Lebensgeschichte der 24-jährigen Studentin Julie. Sie wurde katholisch erzogen, durchlief eine atheistische Phase, fühlte sich dann von Esoterik und Buddhismus angezogen und interessiert sich seit dem plötzlichen Tod ihres Vaters wieder für das Christentum, nun allerdings das orthodoxe. Der 39-jährige Ingenieur Siegfried erzählt nochmals eine ganz andere Geschichte. Als er sich mit seiner Frau fragte, ob sie ihre zwei Kinder taufen lassen wollten, fiel die Antwort negativ aus. So zog das Paar die Konsequenz – und trat aus der Kirche aus. Betrachtet man die hier genannten Religiositätsformen im biografischen Kontext, so fällt zunächst das je Einzigartige jeder Person auf. Vermehrt man jedoch die Beispiele, so zeigt sich, dass im Hintergrund der einzelnen Lebensgeschichten immer wiederkehrende soziale Formen auszumachen sind, die sich als Typen und Milieus beschreiben lassen. In diesem Buch versuchen wir zu zeigen, dass Mima, Barnabé, Julie und Siegfried verschiedenen gut unterscheidbaren religiös-sozialen Typen und Milieus angehören, mit deren Hilfe wir besser verstehen, welchen religiösen Wandel die Schweiz in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat. Wichtig ist hierbei die Idee, dass wir die zentralen Eigenschaften, wie sie die eingangs gekennzeichnete Ich-Gesellschaft hervorbringt, in allen Typen wiederfinden. In allen Typen etwa erzählen uns die Menschen, wie sie sich in Bezug auf ihre Glaubensansichten und Praxis ganz auf sich selbst verlassen. Die Inhalte, Praxisformen und Glaubensansichten der einzelnen Typen unterscheiden sich dann jedoch drastisch. |13|

1.4 Eine neue Theorie

Es geht uns allerdings nicht nur um die Beschreibung der Typen, sondern auch um deren Erklärung. Hierfür stellen wir in Kapitel 2 eine neue Theorie religiös-säkularer Konkurrenz vor. Gemäss dieser Theorie finden wir in allen Gesellschaften religiöse und säkulare (kollektive) Akteure, die um drei Dinge streiten: Macht in der Gesellschaft, Macht innerhalb von Gruppen/Organisationen/Milieus und individuelle Nachfrage. Um in dieser Konkurrenz bestehen zu können, verwenden die kollektiven Akteure verschiedene Strategien: Sie versuchen z. B. ihre Mitglieder zu mobilisieren, politische Aktionen zu starten, Skandale zu provozieren, Koalitionen einzugehen, attraktive Güter anzubieten usw. Hierbei werden sie von vier externen Faktoren beeinflusst: von wissenschaftlich-technischen Innovationen (z. B. Erfindung des Fernsehens), sozialen Innovationen (z. B. Erfindung der Demokratie), Grossereignissen (z. B. Kriege) und soziodemografische Faktoren (z. B. unterschiedliche Geburtenraten). Die Konkurrenzkämpfe führen im Effekt zu diversen höchst interessanten Ergebnissen, deren Erklärung das Ziel der Theorie ist. Neben Erfolg und Misserfolg der verschiedenen Konkurrenten kommt es zu Pattsituationen und Absprachen sowie Situationen der Differenzierung und Entdifferenzierung, Individualisierung und Kollektivierung, Säkularisierung und Resakralisierung. Befriedigende Erklärungen liefert die Theorie allerdings nur, wenn sie an den jeweiligen historischen Verlauf angepasst wird, weshalb wir im Kapitel 2 die Geschichte des säkular-religiösen Konkurrenzgeschehens in der Schweiz seit ca. 1800 nachzeichnen. Aus der so durch die historischen Randbedingungen konkretisierten Theorie können wir eine Reihe von Hypothesen ableiten, die im Verlauf der Arbeit geprüft werden.

1.5 Die These des Regimewechsels religiös-säkularer Konkurrenz

Ein dritter Teil unserer Antwort besteht aus der These eines Regimewechsels religiös-säkularer Konkurrenz in den 1960er Jahren. In diesem Zeitraum, so unsere These, ist es zu einer kulturellen Revolution gekommen, die wir als einen Wechsel vom «Regime der Industriegesellschaft» zum «Regime der Ich-Gesellschaft» bezeichnen wollen.10 Vor dem Hintergrund eines beispiellosen Wirtschaftsaufschwungs von 1945 bis 1973 (das «Wirtschaftswunder») kam es in den 1960er |14| Jahren zu einer kulturellen Revolution, bei der Autoritäten aller Art angegriffen und das Individuum in seiner Eigenständigkeit zentral gesetzt wurde. Die sich seit der Aufklärung immer stärker durchsetzenden Ideen der Subjektivität, Freiheit und Selbstbestimmung wurden zum bestimmenden Lebensgefühl der Menschen. Damit avancierte das Individuum zur Letztinstanz von Entscheidungen aller Art, seien es politische, familiäre, ökonomische, konsumorientierte, sexuelle – oder eben auch religiöse. Sowohl im alten wie auch im neuen Regime finden wir religiös-säkulare Konkurrenz auf allen drei Ebenen: um Macht in der Gesellschaft, um Macht innerhalb von Gruppen/Organisationen/Milieus, um individuelle Nachfrage. Aber der zentrale Punkt, um den es sich in der Konkurrenz dreht, hat sich völlig verändert. Im alten Regime der Industriegesellschaft war Religion und Konfession ein für die Gesellschaft zentrales kollektives Identitätsmerkmal, und das Christentum wurde als verbindendes Grundmerkmal der Gesellschaft betrachtet. Im neuen Regime der Ich-Gesellschaft gilt dies nicht mehr. Religion und Konfession werden als private und optionale Identitätsmerkmale gesehen, und das Christentum wird mehr und mehr als nur eine Religion unter anderen behandelt. Im kollektivistischen Regime der Industriegesellschaft ging man von der selbstverständlichen Vorherrschaft des Christentums aus – die wichtigsten religiös-säkularen Konkurrenzen bezogen sich auf die Frage, wie viel Platz Reformierte oder Katholiken einnehmen konnten oder wie stark alternative Wertsysteme das Christentum bedrängten. Im individualistischen Regime der Ich-Gesellschaft ist die wichtigste religiös-säkulare Konkurrenz diejenige um individuelle Nachfrage. Religiöse Praxis wird nicht mehr sozial erwartet; sie gehört nicht mehr zur öffentlichen Person; vielmehr wird sie in den Bereich der Freizeit abgedrängt, wo sie sich gegen eine starke Konkurrenz mit anderen Formen von «Freizeitbeschäftigung» und «Selbstentfaltung» behaupten muss.11

Das neue Regime der Ich-Gesellschaft hat nun in den letzten Jahrzehnten zu verschiedenen Effekten auf individueller wie auch kollektiver Ebene geführt. Auf individueller Ebene zeigen sich vor allem Tendenzen des «säkularen Driftens» und der fortschreitenden religiös-säkularen Individualisierung und Konsumorientierung. In sehr vielen Bereichen der Konkurrenz wählen Individuen die säkularen und nicht die religiösen Optionen. Andere Zeitverwendungen (Ausschlafen, Sport usw.) verdrängen den Kirchgang am Sonntagmorgen; säkulare Berufsgruppen (z. B. Psychologen, Coaches) nehmen die Stelle des kirchlichen Seelsorgers ein. Säkulare Erklärungen (z. B. Big Bang, Evolution) werden immer öfter als plausibler angesehen als religiöse Erklärungen (z. B. Schöpfung). Insbesondere in der Erziehung führen die religiös-säkulare Konkurrenz und die den Kindern neu gewährte Freiheit zu massenhafter Abwahl religiöser Optionen. Im Effekt wird |15| jede neue Generation stärker säkular als die vorherige. Ausserdem hat sich die vollständige religiöse Individualisierung und Konsumorientierung durchgesetzt. Die Menschen sehen sich normalerweise selbst als «letzte Autorität» in religiösen Fragen an und sind der Ansicht, dass man niemandem, auch den eigenen Kindern nicht, religiöse Ideen aufzwingen dürfe. Jede Person soll selbst auswählen und «konsumieren», was sie als am wichtigsten erachtet.

Auf kollektiver Ebene zeigt sich, dass religiöse Typen oder Subtypen in der Ich-Gesellschaft vor allem dann Erfolg haben, wenn sie die säkulare Konkurrenz entweder radikal bekämpfen oder gerade versuchen, sie auf ihrem eigenen Feld zu übertreffen. Das gelingt am besten durch Schliessung, d. h. Ausschluss konkurrierender säkularer Möglichkeiten, wie es bei den Freikirchlichen praktiziert wird. Oder durch die radikale Aufnahme der Marktform, indem alle eigenen Angebote in die Form der käuflichen Ware gebracht werden – wie es die Anbieter des alternativen Typus vormachen. Verschiedene Mischformen werden ausprobiert – mit wechselndem Erfolg.

1.6 Methode12

Die wissenschaftliche Erforschung religiös-sozialen Wandels gleicht in manchem der Detektivarbeit. Genau wie ein Kriminalist muss der Sozialforscher sich auf vorhandene Fakten und Indizien stützen, aus denen er – immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftete – Schlussfolgerungen (Inferenzen) ziehen muss. Je mehr unabhängige Indizien in die gleiche Richtung weisen, desto sicherer wird die entsprechende Schlussfolgerung. Diese Technik wird in der Forschung häufig «Triangulation» genannt und ist für unsere Studie von grösster Wichtigkeit.13 Um unsere Befunde so gut wie möglich abzusichern, stützen wir uns auf eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Datenarten. Unsere wichtigste Datenquelle besteht in einer sogenannten Mixed-Methods-Erhebung in den Jahren 2008/9. Hierbei wurden 1229 zufällig ausgewählte, in der Schweiz wohnhafte Personen mit standardisierten Fragebögen zu Religiosität und Spiritualität befragt.14 Diese quantitative |16| Teilstudie kann als für die Schweizer Bevölkerung repräsentativ gelten. Ferner wurden 73 zusätzliche Personen (wiederum zufällig, aber nach Quoten ausgewählt) in halboffenen Interviews zu den gleichen Themen befragt. Diese Gesprächspartner erzählten uns während 60 bis 90 Minuten detailliert, wie sie aufwuchsen, wie sie heute zu Religiosität und Spiritualität stehen, was ihnen im Leben wichtig ist und wie sie ihre Kinder erziehen. Die Kombination der beiden Teilstudien ermöglicht uns die Triangulation von quantitativen und qualitativen Daten: Statistische Zusammenhänge können mit Erzählungen und individuellen Handlungsweisen in Zusammenhang gebracht werden, so dass wir ein schlüssiges Gesamtbild der Religiosität, Spiritualität und Religionslosigkeit in der Schweiz erhalten.15 Neben dieser Hauptstudie wurden auch die Volkszählungsdaten herangezogen sowie 22 repräsentative Befragungen zu Religiosität in der Schweiz ausgewertet.16 Unter diesen Befragungen sind die beiden Vorläuferstudien von 1989 und 1999 besonders wichtig, denn viele ihrer Fragen wurden durch unsere Studie direkt repliziert.17 Schliesslich haben wir zu Vergleichszwecken auch die Daten einer repräsentativen, ebenfalls Mixed Methods verwendenden Studie über evangelische Freikirchen in der Schweiz herangezogen.18

1.7 Was ist neu?

Auch wenn wir in vielem auf früheren Arbeiten aufbauen, nehmen wir doch in Anspruch, in verschiedener Hinsicht einen neuen Beitrag zu leisten. Zum einen bieten wir eine neuartige Beschreibung der religiös-spirituellen Landschaft der Gesellschaft. Wir hoffen, dass unsere Typologie der Institutionellen, Alternativen, Distanzierten und Säkularen samt ihren Untertypen der zukünftigen Forschung dient und auch den Praktikern zur Orientierung eine gute Hilfestellung ist. Gegenüber den bisherigen Studien haben wir insbesondere darauf geachtet, nicht nur die hoch (und vor allem institutionell) Religiösen zu untersuchen, sondern auch der alternativen Spiritualität, den säkular Denkenden und der sehr grossen, aber bisher völlig vernachlässigten Gruppe der Distanzierten die gebührende Beachtung zu schenken. Zum anderen liefern wir eine neue Erklärung des religiösen Wandels, die wir Theorie der religiös-säkularen Konkurrenz nennen. Diese Theorie erklärt, so meinen wir, die vorliegenden Phänomene besser als alternative |17| Theorieangebote; ausserdem lässt sie sich besser mit historischen Analysen zusammenschliessen. Schliesslich betreten wir auch mit unserer Methode gegenüber den Vorläuferstudien Neuland, indem wir sowohl qualitative als auch quantitative Daten verwenden und die Phänomene sowohl statistisch als auch in ihrer subjektiv empfundenen Wirklichkeit darstellen.

1.8 Grenzen und eigene Position

Wissenschaftliche Aussagen zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Reichweite methodisch bedacht wird. Eine erste Grenze besteht darin, dass unsere Ergebnisse sich strikt auf die individuelle Ebene beziehen. Gemeinschaften und Organisationen – etwa Kirchen – kommen nur aus der Perspektive der einzelnen Menschen vor. Eine zweite wichtige Grenze unserer Studie ist, dass sich unsere Typologie und Erklärung auf christliche, alternative und konfessionslose Religiosität bzw. Religionslosigkeit beschränkt. Aus methodischen und organisatorischen Gründen schliessen wir Mitglieder nichtchristlicher Religionen und religiöser Minderheiten (z. B. Islam, Buddhismus, Hinduismus, Judentum, neue religiöse Bewegungen) von der Analyse aus. Ein Einbezug all dieser Religionen würde unseren Rahmen sprengen und ein ganz anderes (sehr viel aufwändigeres) Forschungsdesign erfordern. Ausserdem wurden im Nationalen Forschungsprogramm (NFP 58) zu «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft», dem auch diese Studie ihre Finanzierung verdankt, eine Vielzahl von Forschungsprojekten zu diesen verschiedenen Religionen durchgeführt.19 Ein dritter Punkt betrifft die Geltungsreichweite unserer Befunde: Auch wenn wir durchaus der Meinung sind, dass unsere Hauptergebnisse sich in vielem auf die Geschehnisse in anderen westeuropäischen Ländern übertragen lassen, gelten sie doch streng genommen nur für die Schweiz, etwa seit 1930.

Ein Wort zu unserer Position als Wissenschaftler/innen. Wir nehmen eine dezidiert religionssoziologische Position ein, die religiöse und säkulare Phänomene «von aussen» betrachtet. Es geht uns allein darum, die Phänomene so genau wie möglich zu erfassen und zu erklären. Hingegen versuchen wir – so gut es geht – eigene Werte aus der Analyse herauszuhalten. Wir äussern uns also nicht dazu, ob das Schrumpfen oder Wachsen eines bestimmten Milieus zu begrüssen oder mit Sorge zu betrachten sei. Wir reden auch keiner religiösen, spirituellen oder säkularen |18| Richtung das Wort.20 Eine weitere Position unserer Studie ist der sogenannte «methodologische Agnostizismus»21. Hiermit ist gemeint, dass wir aus methodologischen Gründen die Frage nach der Wahrheit spezifischer religiöser, spiritueller oder säkularer Positionen ausklammern.22

1.9 Darstellung und Plan des Buches

Soziologen – so der Volksmund – sagen, was jeder weiss, in einer Sprache, die keiner versteht. In diesem Buch haben wir uns alle Mühe gegeben, das Gegenteil zu beweisen und unsere Aussagen in leicht verständlicher Sprache darzustellen. Auf wissenschaftliche Fachausdrücke konnten wir zwar nicht völlig verzichten; wir haben aber versucht, schwierige Konzepte so einfach wie möglich zu erklären. Komplexere methodische Überlegungen und statistische Analysen haben wir in den Anhang gestellt.

Eine Bemerkung zur Art, wie wir Befragte zitieren: Längere Zitate stehen ausserhalb des Fliesstextes, sind immer kursiv gesetzt und mit der (anonymisierten) Identität, dem Alter und der Konfession der betreffenden Person versehen. In Kapitel 3 und im Anhang finden sich Kurzbeschreibungen der Befragten, so dass interessierte Lesende einen (anonymisierten) weiteren persönlichen Kontext einzelner Befragter rekonstruieren können. Kurze Zitate im Text sind kursiv gesetzt und stehen in Anführungszeichen; nicht immer geben wir die Person an, die das Betreffende gesagt hat. Hier geht es uns darum zu zeigen, wie der gleiche Sachverhalt oft ganz unterschiedlich formuliert wird. |19|

In Kapitel 2 stellen wir bisherige Theorien, unsere eigene Konkurrenztheorie sowie aus dieser abgeleitete Hypothesen vor. Kapitel 3 präsentiert in einem Überblick die vier Typen bzw. «Gestalten des (Un-)Glaubens». In Kapitel 4 beschreiben wir die sozialstrukturellen Eigenschaften und Selbstbeschreibungen der Typen, in Kapitel 5 gehen wir auf ihre Religiosität (Glauben, Praktizieren, Erleben) ein, und Kapitel 6 behandelt ihre Beziehungen zu Werten. In der Folge zeigen wir, wie sich die Typen in ihrem Verhältnis zu religiösen Anbietern (Kapitel 7) und ihrer Wahrnehmung der multireligiösen Gesellschaft (Kapitel 8) unterscheiden. In Kapitel 9 schliesslich kommen wir auf unser erklärendes Modell zurück, indem wir die Hypothesen aus Kapitel 2 empirisch prüfen. Kapitel 10 bündelt die Ergebnisse und schliesst mit einem Ausblick auf die Zukunft von Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. |20|

.

2 Theorie: Religiös-säkulare Konkurrenz in der Ich-Gesellschaft

Jörg Stolz, Judith Könemann

«Statt der betenden Wallfahrtszüge sieht man Sänger, Turner, Feuerwehrmänner, Schützen, Jahrgänger, Sonntagsschänder in Gesellschaft moderner Damen Berg und Thal überfluthen, in ungestümer Hast und unbezämbarer Gier nach freiem Athem und Lebensgenuss haschen»

Pius-Annalen, 1875

In diesem Kapitel stellen wir eine neue Theorie religiös-säkularer Konkurrenz vor, die versucht, die zu beobachtenden Veränderungen der Religion in der Gesellschaft zu erklären. Bisherige Erklärungsversuche haben zwar wichtige Einsichten zutage gefördert, sie weisen aber auch verschiedene Mängel auf. Insbesondere sind diese Ansätze manchmal zu beschreibend und zu unhistorisch. Die hier vorgelegte Theorie soll im Unterschied dazu in der Lage sein, die Phänomene in deutlicher Nähe zu den spezifischen historischen Gegebenheiten zu erklären. In diesem Kapitel behandeln wir zunächst die wichtigsten bisherigen Thesen und Theorien: die Säkularisierungstheorie, die Individualisierungstheorie und die Markttheorie. Anschliessend stellen wir unseren eigenen Erklärungsansatz, die Konkurrenztheorie religiös-sozialen Wandels, vor. Aus dieser Theorie lassen sich verschiedene Hypothesen ableiten, die im Verlauf des Buchs empirisch getestet werden.23|21|

2.1 Theorien zu Religion und Moderne

Säkularisierungstheorie24

Die wichtigsten Klassiker der Soziologie – Auguste Comte, Herbert Spencer, Max Weber, Emile Durkheim und Karl Marx – waren allesamt überzeugt, dass die Folgen der Aufklärung, das Voranschreiten der Industrialisierung und die zunehmende Arbeitsteilung langfristig zu einem Niedergang des Religiösen führen müssten. Sie haben die Tradition begründet, die wir hier als «Säkularisierungstheorie» bezeichnen. Auguste Comte25 etwa dachte, die menschliche Gesellschaft entwickle sich gesamthaft von einem theologischen über ein metaphysisches zu einem vollständig wissenschaftlichen Stadium. Die Wissenschaft (und vor allem die Soziologie) würde also – so Comte – die Religion ersetzen. Max Weber26 war der Meinung, vor allem der Protestantismus habe (ungewollt) zur Entwicklung des modernen Kapitalismus geführt. Einmal entstanden, stosse die moderne kapitalistische Gesellschaft das Religiöse als eine ihr fremde «Wertsphäre» jedoch immer mehr ab.27 Durkheim28 schliesslich argumentierte, die moderne Gesellschaft zeichne sich durch eine immer stärkere Arbeitsteilung aus, was die Religion, die ursprünglich alles umfassen konnte, immer mehr schwäche.29

Verschiedene Religionssoziologen haben die Säkularisierungstheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgenommen und fortentwickelt.30 Sie heben jedoch je unterschiedliche zentrale Merkmale des Modernisierungsprozesses hervor. Wilson31, Luhmann32 und Casanova33 etwa halten das schon von Durkheim und Weber beobachtete Element der Ausdifferenzierung der Gesellschaft für besonders wichtig.34 Gemäss diesen Theoretikern differenziert sich die Gesellschaft, |22| wodurch verschiedene Systeme (z. B. Wirtschaft, Erziehung, Recht, Politik, Medizin usw.) entstehen, die nach je eigenen Gesetzen und «Logiken» ablaufen. Hinsichtlich der Bedeutung religiöser Bezüge in der Gesellschaft werden unterschiedliche Positionen vertreten, so halten Wilson und Luhmann daran fest, dass religiöse Bezüge durch die Ausdifferenzierung immer mehr in den Hintergrund gedrängt würden. Religion als eigenes System stehe in einer strukturellen Spannung zur Modernisierung und sei zudem nicht besonders leistungsfähig. Demgegenüber vertritt Casanova entschieden die These einer strukturellen Vereinbarkeit von Religion und Moderne. Differenzierung führe nicht notwendigerweise zu einem Niedergang religiöser Überzeugungen – auch wenn dies in Europa empirisch vielfach der Fall sei. Von dieser Ausgangsposition her entwirft Casanova das Modell der «öffentlichen Religion», deren Organisationsformen starke zivilgesellschaftliche Akteure sein können.35

Eine zweite Form der Säkularisierungstheorie wird von Pippa Norris und Ronald Inglehart vertreten. Diese Variante stellt die Tatsache in den Vordergrund, dass es im Lauf der Modernisierung zu einer deutlichen Anhebung des Lebensstandards und einer Verringerung zentraler Lebensrisiken komme.36 Im Vergleich zu anderen Regionen der Welt zeichnen sich etwa westeuropäische, stark modernisierte Länder durch grossen Reichtum, einen Wohlfahrtsstaat, hochwertige medizinische Versorgung, Versicherungen usw. aus. Da es bei Religion zentral um die Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen gehe und da Modernisierung solche Situationen entweder zum Verschwinden bringe (z. B. Pest, Kindersterblichkeit) oder mit technischen, säkularen Mitteln bearbeitbar mache, sinke in modernisierten Ländern die Nachfrage nach Religion.

Der Religionssoziologe Steve Bruce macht in einer dritten Variante der Säkularisierungstheorie speziell auf die Tatsache aufmerksam, dass Religion und Religiosität bis in die Moderne hinein gar keine individuellen Angelegenheiten waren, sondern sozial erwartet wurden.37 Ein Abweichen vom rechten Glauben konnte schwerwiegende Folgen haben; die Inquisitionen, Hexenverbrennungen wie auch die vielen um Religion geführten Kriege zeigen dies mit grösster Deutlichkeit. Durch Modernisierung und die mit ihr einhergehenden Toleranz- und Religionsfreiheitsgesetze werden die Normen, die Religion als für die Menschen verbindlich erklären, immer mehr aufgelöst. Früher war Unglaube, heute ist Glaube Privatsache.38|23|

Eine vierte und letzte Variante stellt die mit zunehmender Modernisierung abnehmende Plausibilität der Religion in den Vordergrund. Das moderne Bewusstsein empfindet es – so Peter Berger39 – als immer schwieriger, an «transzendente Mächte» wie etwa Götter, Engel oder Teufel zu glauben. Ein Grund liege – erneut – in der uns umgebenden modernen Gesellschaft, die unerwartete Geschehnisse routinemässig wissenschaftlich (geologisch, medizinisch, physikalisch usw.) erklärt. Ein anderer Grund kann darin gesehen werden, dass moderne Gesellschaften plural sind: Das Individuum sieht sich vielen verschiedenen Religionen und nicht-religiösen Weltanschauungen gegenüber, die alle je einen (manchmal absoluten) Wahrheitsanspruch anmelden.40 Dies führt im modernen Bewusstsein zu einer Selbstrelativierung und zur Distanzierung vom eigenen religiösen Standpunkt.41 Alle Religion verliert damit an Gewissheit; es kommt zum «Zwang zur Häresie».42

Viele der genannten Argumente sind plausibel, und es ist empirisch nicht von der Hand zu weisen, dass Modernisierung (Demokratisierung, die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats, Alphabetisierung, Industrialisierung) und die Abnahme von Religiosität weltweit Hand in Hand gehen.43 Dennoch ist die Säkularisierungstheorie von verschiedener Seite scharf kritisiert worden. Sie sei zu allgemein, einseitig, ethnozentrisch, gender-blind usw.44 Wie Detlef Pollack gezeigt hat, sind viele dieser Kritikpunkte nur zum Teil gerechtfertigt und beruhen oft auf Übertreibungen und falschen Annahmen.45 Dennoch kann man u. E. drei Punkte an der Säkularisierungstheorie bemängeln:

Erstens fehlt vielen modernisierungstheoretischen Ansätzen eine Akteurperspektive.46 Individuen und kollektive Akteure (wie Gruppen und Organisationen) kommen in diesen Theorien einfach nicht vor; stattdessen ist die Rede von abstrakten Prozessen wie «Differenzierung», «Sozietalisierung», «Pluralisierung», die |24| sich in letztlich nicht geklärter Weise gegenseitig beeinflussen sollen. Dobbelaere bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt:

«Too little attention has been paid to the question of just which people in just which social positions became the ‹sacralizers› or the ‹secularizers› in given situations […] Laicization is not a mechanical process to be imputed to impersonal and abstract forces.»47

Zweitens (und mit dem ersten Punkt zusammenhängend) fehlen den modernisierungstheoretischen Ansätzen klare Vorstellungen über die genauen kausalen Mechanismen, die ihre Erklärung voraussetzt. Solche Mechanismen müssten angeben, wie genau gesellschaftliche Bedingungen die Situation von individuellen und kollektiven Akteuren beeinflussen, aufgrund welcher Interessen, Ressourcen, Glaubensüberzeugungen usw. diese Akteure im Anschluss daran handeln und welche gewollten und ungewollten Effekte sich hieraus ergeben. Nur eine Theorie, die in dieser Weise Makro-, Meso- und Mikrophänomene durch kausale Mechanismen verbindet, ist wirklich erklärend. Stattdessen finden wir bei den meisten modernisierungstheoretischen Ansätzen relativ allgemeine Aussagen über Zusammenhänge von Makroprozessen. Smith formuliert diesen Kritikpunkt folgendermassen:

«A […] problem with secularization theory is that scholars in this tradition often under-specify the causal mechanisms that are presumed to link the social factors that are claimed to have transformed the role of religion in public life with the secularization outcome.»48

Drittens schliesslich führen die beiden genannten Punkte dazu, dass modernisierungstheoretische Ansätze oft relativ abstrakt bleiben, nur schwer mit den konkreten historischen Geschehnissen in Verbindung gebracht werden können und insbesondere nicht in der Lage sind, die grossen historischen, regionalen und nationalen Unterschiede zu erklären. So kritisiert der Historiker Mark E. Ruff an den soziologischen Säkularisierungstheorien:

«[…] these debates have operated with a host of weaknesses. They have consistently lacked a sound empirical basis and have frequently bordered on the ahistorical. […] Most importantly most of the theorists of secularization from the 1960s and 1970s |25| applied these processes indiscriminately to almost all European nations, regardless of differing national and religious traditions.»49

Wir werden später eine eigene Theorie vorstellen, die versucht, diese Probleme besser zu lösen. Zuvor ist jedoch noch die von Thomas Luckmann formulierte Kritik gegenüber der Säkularisierungstheorie zu erörtern.

Theorie der Individualisierung und spirituellen Revolution

Bereits Ende der 1960er Jahre publizierte Thomas Luckmann sein Buch «Die unsichtbare Religion»50, worin er die Säkularisierungstheorie scharf kritisierte. Der eigentliche Fehler der gesamten Klassiker, vor allem aber der zu seiner Zeit starken Kirchensoziologie, liege, so Luckmann, in einer zu engen Definition des zu erklärenden Sachverhalts.

«Was für gewöhnlich bloss für ein Symptom für den Rückgang des traditionellen Christentums gehalten wird, könnte Anzeichen für einen sehr viel revolutionäreren Wandel sein: die Ersetzung der institutionell spezialisierten Religion durch eine neue Sozialform der Religion. Eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Die zu einem ‹offiziellen› oder einst ‹offiziellen› Modell der Religion erstarrten Normen der traditionellen religiösen Institutionen können nicht mehr als Gradmesser zur Einschätzung der Religion in der modernen Gesellschaft dienen.»51

Der Fehler der Säkularisierungstheorie bestehe also gemäss Luckmann darin, Religion zu eng zu definieren. Hierdurch, so Luckmann, bekämen die Modernisierungstheoretiker nur einen Niedergang in den Blick und würden blind für andere religiöse Formen, die die alten Formen ersetzen. Würden etwa Historiker «politische Organisation» zu eng als «Königtum» definieren, so wäre im Verlauf der letzten Jahrhunderte ein ständiger Niedergang der «politischen Organisation» zu beobachten gewesen – ohne dass der Aufschwung der totalitären Regimes und der Demokratien als neue Formen von politischer Organisation in den Blick gekommen wäre.52 In Wirklichkeit hätten wir es also, so Luckmann, nicht mit einem Niedergang, sondern mit einer Veränderung der Religion und Religiosität in modernen Gesellschaften zu tun. Zwar schrumpfe das «offizielle Modell» mit seinen |26| «erstarrten Normen» – d. h. also traditionelle Kirchlichkeit. Aber diese Form würde durch individualisierte, frei wählbare neue Spiritualitätsformen ersetzt. Worin diese neue Spiritualität genau besteht, wird bei Luckmann allerdings nicht völlig ersichtlich. An einer Stelle spricht er davon, dass Ratgeberseiten, positives Denken im «Playboy» oder Popmusik-Lyrik Elemente letzter Bedeutung enthielten.53 An anderer Stelle meint er, Themen rund um das Individuum und seine Autonomie (wie Selbstverwirklichung, Familialismus, eigene Sexualität) seien religiös aufgeladen.54

Luckmanns Argumentation – zusammen mit dem eingängigen Buchtitel von der unsichtbaren Religion – inspirierte ganze Generationen von Religionssoziologen und Religionswissenschaftlerinnen dazu, an diversen, z. T. kontra-intuitiven Orten nach «unsichtbarer» (und durch die Forschung sichtbar zu machender) Religion zu suchen.55 Hierbei können wir drei grössere Varianten unterscheiden. Eine erste Gruppe von Forschern sieht die unsichtbare Religion in diversen Phänomenen, die der Common Sense nicht unbedingt mit Religion in Verbindung bringen würde, die aber aus der Sicht der Wissenschaftler/innen ebenso ein «Bedürfnis nach letztem Sinn» oder nach «Ritual» abdecken. Gemäss der These der religiösen Dispersion von Hans-Joachim Höhn hat sich Religion in verschiedene kulturelle Versatzstücke der modernen Gesellschaft wie Fussball, Werbung, Fernsehen hinein verlagert.56 Der stark von Luckmann beeinflusste Hubert Knoblauch spricht in diesem Zusammenhang von populärer Religion.57 Eine zweite Variante besteht darin, die unsichtbare Religion in bisher weniger beachteten Elementen der traditionellen Religiosität zu sehen. Zwar, so diese Autoren, sinke die beobachtbare religiöse Praxis und die Verbindung zu den Kirchen. Aber die Leute hielten doch an ihrem Glauben fest. Dies ist die berühmte These des «Believing without belonging» von Grace Davie.58 Eine andere Form dieses «Believing without belonging» kann in der These von Roland Campiche einer «Dualisierung der Religion» gesehen werden.59 Zwar sinke die institutionelle Religiosität – aber eine universale Religiosität (die v. a. allgemeine Werte beinhaltet) bleibe bestehen. Eine |27| dritte Variante sieht die «unsichtbare Religion» in Phänomenen, die heute oft «New Age» oder «alternative Spiritualität genannt werden. Paul Heelas und Linda Woodhead haben gar von einer «spirituellen Revolution» gesprochen.60 Die kirchliche Religiosität würde langfristig durch Phänomene wie Astrologie, Yoga, Channelling, Engelsglauben, Kristall-Heilungen usw. ersetzt oder verwandle sich unmerklich in eine solche.61

Auch die Individualisierungstheorie ist scharf kritisiert worden. Zwar kann kein Zweifel daran bestehen, dass in den letzten Jahrzehnten in den westeuropäischen Ländern so etwas wie eine «Individualisierung» stattgefunden hat.62 Die Frage ist aber, wie sie Religion genau beeinflusst. Hier hat die Kritik sowohl empirische als auch theoretische Einwände geltend gemacht. Empirisch haben verschiedene Arbeiten gezeigt, dass es keine scharfe Trennung der Entwicklung von Believing und Belonging gibt63 und dass der Aufschwung der sogenannten alternativen Spiritualität den Niedergang der institutionellen Kirchlichkeit bei Weitem nicht aufwiegt. Von einer «spirituellen Revolution» kann also keine Rede sein.64Theoretisch haben Kritiker bemängelt, dass Luckmann und seine Nachfolger Religion zu weit definieren. In der Folge kann so gut wie alles zu Religion werden, wodurch das Konzept jegliche Trennschärfe verliert. Rein aufgrund der Definition ist es dann nicht mehr möglich, eine «Abnahme» oder «Zunahme» von Religion zu beobachten.

Für unseren Zusammenhang ist ferner wichtig, dass sich die Individualisierungstheorie in genau gleicher Weise kritisieren lässt wie die Säkularisierungstheorie. Auch hier fehlt eine Akteurperspektive: Zwar wird behauptet, die Individuen würden immer individueller, aber in vielen Versionen der Individualisierungstheorie wird dies als abstrakter, die Individuen als Objekte erfassender Prozess dargestellt. So bleibt auch hier unklar, wie die Situationsveränderungen und daraus folgenden individuellen und kollektiven Handlungen zur Individualisierung geführt haben sollen und wie die Theorie mit den konkreten historischen Geschehnissen verbunden werden kann. Genau betrachtet haben die Individualisierungstheoretiker letztlich keine neue Erklärung für ein bestehendes Phänomen vorgeschlagen. Ihr wesentlicher Beitrag besteht vor allem in zweierlei: Zum einen weisen sie darauf hin, dass durch Modernisierung eine individuelle Wahlfreiheit in religiösen und spirituellen Belangen entsteht, die sehr entscheidende Auswirkungen |28| auf Religion und Religiosität hat. Zum anderen rufen sie dazu auf, das zu erklärende Phänomen neu zu definieren, m. a. W. Religiosität weiter zu fassen, als mit einer Konzentration auf christlich-kirchliche Religiosität erreicht wird. Diese beiden Punkte müssen u. E. von jeder zukünftigen Theorie religiösen Wandels aufgenommen werden.

Markttheorie

Vor allem seit den 1980er Jahren haben die Vertreter der sogenannten Markttheorie die Säkularisierungstheorie stark infrage gestellt. Eine Gruppe von vor allem US-amerikanischen Forschern – Rodney Stark, Roger Finke, William Bainbridge und Laurence Iannaccone – behauptete in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil dessen, was Modernisierungstheoretiker seit vielen Jahrzehnten als gesichertes Wissen angenommen hatten.65 Die Markttheoretiker bestreiten energisch, dass die Modernisierung westlicher Gesellschaften zu einer Abnahme von Religion und Religiosität geführt habe. Dies sei eine Selbsttäuschung, die es ein für alle Mal zu begraben gelte.66 Der religiöse Niedergang in Europa sei ein Mythos, religiöse Glaubensüberzeugungen in Europa seien nach wie vor sehr hoch, in früheren Zeiten seien die Personen viel weniger religiös gewesen als oft vermutet, und ganz generell sprächen die Entwicklungen in den USA, den arabischen Ländern und Osteuropa gegen die These fortschreitender Säkularisierung.67 Wenn nicht durch die Modernisierungstheorie, wodurch lassen sich dann die grossen Religiositätsunterschiede zwischen verschiedenen Ländern erklären?

Die Lösung sei – so die Markttheoretiker – bestechend einfach: Es genüge, Religion als einen Markt mit Anbietern (Kirchen und religiöse Gruppen) und Nachfragern (Gläubige) zu verstehen und die allgemeinen ökonomischen Marktgesetze von Angebot und Nachfrage anzuwenden.68 Eine entscheidende, dem Ansatz zugrundeliegende Annahme ist eine konstant gleichbleibende religiöse Nachfrage – d. h., dass Menschen überall auf der Welt im Prinzip die gleichen religiösen Bedürfnisse, den gleichen Durst nach «überweltlichen Gütern» aufweisen. Das aber bedeutet, dass Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern ausschliesslich durch unterschiedliches religiöses Angebot zu erklären sind, und dieses wiederum hängt zentral von der staatlichen Regulierung des religiösen Marktes ab. |29|

In regulierten Märkten (in denen wir z. B. ein Monopol oder Oligopol finden) würden die Menschen – so die These der Markttheorie – mit zu teuren und qualitativ tief stehenden religiösen Produkten versorgt. Religion sei deshalb unattraktiv und würde aus diesem Grund wenig nachgefragt. Dies erkläre die tiefe Religiosität in Westeuropa. In Ländern ohne Regulierung, in Ländern mit freier Konkurrenz also, stünden die religiösen Gemeinschaften miteinander im Wettstreit, eiferten um die Gunst der Gläubigen und produzierten genau diejenigen religiösen Güter, die den Menschen am besten zusagten. Die Konsequenz bestünde in einer hohen Gesamtreligiosität, wie sie sich etwa in den USA zeigt. Überhaupt sähe man, so die Markttheoretiker weiter, gerade an der Geschichte der USA, wie Industrialisierung und Modernisierung gerade nicht mit einer Abnahme, sondern mit einer Zunahme von Religiosität einhergegangen seien.69

Die Markttheorie weist im Vergleich zu Modernisierungs- und Individualisierungstheorie völlig andere Stärken und Schwächen auf. Positiv ist zu werten, dass diese Theorie die Akteurperspektive beinhaltet. Der Ansatz spricht nicht nur abstrakt von Prozessen, sondern von Individuen und kollektiven Akteuren (Kirchen, Organisationen usw.), die nicht nur passiv den Geschehnissen ausgeliefert sind, sondern diese aktiv gestalten können. Auch wird hier im Unterschied zu den zwei vorherigen Theorien ein klarer kausaler Mechanismus vorgestellt: Es ist einleuchtend, wie – der Theorie gemäss – unterschiedliche gesellschaftliche Makrobedingungen die Situation von Individuen und kollektiven Akteuren verändern, wie diese reagieren und wie sich hieraus die zu erklärenden neuen Situationen ergeben.

Der Schwachpunkt der Theorie liegt nicht in zu geringer Konkretheit, sondern gerade umgekehrt darin, dass ein sehr spezieller Mechanismus in unzulässiger Weise auf alle möglichen Zeiten und Gesellschaften verallgemeinert wird. So ist offensichtlich, dass sich Kirchen in sehr vielen Gesellschaften nicht als Firmen verstehen und Gläubige sich nicht wie Kunden verhalten.70 Empirisch zeigt sich, dass der von der Markttheorie postulierte Mechanismus oft nicht spielt. Vermehrter Pluralismus, ein freierer Markt und weniger Regulierung führen oftmals gerade nicht zu mehr Religiosität.71 Zudem kann auch der religiöse Bedarf nicht einfach als konstant angesehen werden, sondern unterliegt Veränderungen und Beeinflussungen durch die jeweiligen Regionen und Umweltbedingungen.

Auch wenn die Ideen der Markttheoretiker sich als Ganzes nicht bewährt haben, sind u. E. doch verschiedene Elemente ihrer Theorie durchaus brauchbar. |30| Vor allem die Idee der Konkurrenz um die Gunst, Zeit und Energie der Menschen werden wir für unsere eigene Theorie aufgreifen.

2.2 Die allgemeine Theorie religiös-säkularer Konkurrenz

Im Folgenden schlagen wir eine neue Theorie vor, die versucht, die genannten Schwierigkeiten der bisherigen Ansätze zu vermeiden. Die von uns vertretene Theorie sieht den religiösen Wandel als Resultat religiös-säkularer und intra-religiöser Konkurrenzverhältnisse auf verschiedenen Ebenen. Diverse interne und externe Faktoren (z. B. Kriege oder Erfindungen) wirken darauf ein, wer sich in diesen Konkurrenzverhältnissen durchsetzt. Ferner postulieren wir einen Wechsel des religiösen Konkurrenzregimes in den 1960er Jahren. Hiermit ist gemeint, dass die religiös-säkulare und intra-religiöse Konkurrenz betreffenden gesellschaftlichen Regeln in dieser Zeit einen tiefgreifenden Richtungswechsel durchgemacht haben. Wir skizzieren zunächst die allgemeine Theorie und wenden sie dann in einer «sozio-historischen Konkretisierung» auf den uns interessierenden Fall der Schweiz an.72

Eine terminologische Bemerkung: Unsere Theorie bezieht sich auf religiös-säkulare und intra-religiöse Konkurrenz; wichtig ist, dass der Konkurrenzbereich sowohl religiöse als auch säkulare Anbieter umfassen kann. Im Folgenden verwenden wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit den Begriff «religiös-säkulare Konkurrenz» oft inklusiv, d. h., intra-religiöse Konkurrenz ist mitgemeint. Wo es ausschliesslich nur um das eine oder andere geht, machen wir dies speziell kenntlich.

Vorbemerkungen

Vorläufer der Theorie

Schon andere Forschende haben auf religiös-säkulare und intra-religiöse Konkurrenzverhältnisse hingewiesen. Wir finden diesbezügliche Befunde und Bemerkungen in so verschiedenen Disziplinen wie der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, dem Marketing oder der Geschichte. Diese Einsichten sind allerdings bisher noch nie gesamthaft dargestellt und in einer einheitlichen Theorie zusammengefasst worden. Betrachten wir kurz die wichtigsten dieser Elemente.73|31|

Eine Reihe von Autoren hat auf religiös-säkulare oder intra-religiöse Konkurrenz um Macht und Ansehen auf einer gesellschaftlichen Ebene oder innerhalb von Organisationen aufmerksam gemacht. So haben schon Max Weber und auch Pierre Bourdieu Konkurrenzverhältnisse zwischen Priestern, Propheten und Magiern in einem «religiösen Feld» analysiert.74 Andrew Abbott hat mit «Systems of Professions» eine hervorragende Arbeit vorgelegt, die zeigt, wie Kleriker und andere Professionen sich in einem ständigen Konkurrenzkampf um das Monopol über bestimmte Produktionsmöglichkeiten und Jurisdiktionen befinden.75 Christian Smith erklärt die Säkularisierung der Institutionen in den USA von 1870 bis 1930 als Ergebnis eines Konkurrenzkampfes zwischen protestantischem Establishment und neuen, säkularen Eliten. In ähnlicher Weise schlägt Mark Chaves vor, Säkularisierung auf drei Ebenen durch den Konkurrenzkampf um religiöse oder säkulare Autorität zu erklären.76 Schliesslich analysiert eine Forschergruppe um Monika Wohlrab-Sahr seit einigen Jahren Konkurrenzverhältnisse und Konflikte zwischen religiösen und säkularen Weltsichten (und den dahinter stehenden Eliten).77

Andere Autoren haben Konkurrenz um individuelle Nachfrage in den Vordergrund ihrer Analysen gestellt.78 Die Ökonomen Corry Azzi und Ronald Ehrenberg sowie im Anschluss daran Laurence Iannaccone haben ein Modell entwickelt, in dem Individuen zwischen religiöser und säkularer Zeitverwendung entscheiden können, so dass Kirchen, Arbeitgeber und Freizeitanbieter um die Zeit der Individuen in Konkurrenz stehen. In einer ebenfalls ökonomischen Studie haben Jonathan Gruber und Daniel M. Hungerman gezeigt, dass die Öffnung von Supermärkten an Sonntagen dazu führt, dass die Menschen seltener in die Kirche gehen.79 Die Soziologen Tony Gill und Erik Lundsgaarde haben in einer wichtigen Untersuchung darauf hingewiesen, dass der moderne Wohlfahrtsstaat in westlichen Ländern die religiösen Anbieter konkurrenziert, indem er ähnliche Güter anbietet.80 Jochen Hirschle, ebenfalls Soziologe, hat am Beispiel der Säkularisierung Irlands und in anderen Arbeiten gezeigt, wie die moderne Konsumkultur zu einem wichtigen Konkurrenten für Religion wurde.81 Und Historiker wie |32| Urs Altermatt, Hugh McLeod oder Mark Edward Ruff haben nachgezeichnet, wie der Jugendarbeit der Kirchen in der westlichen Welt nach 1945 durch Rock ’n’ Roll, James Dean, «Bravo», Kinos und Tanzhäuser ein unbezwingbarer Konkurrent erwuchs.82 Um all diese Analysen und Erkenntnisse in ein einheitliches Konzept zu fassen, benötigen wir einen theoretischen Rahmen. Diesen liefert uns die sogenannte analytische Soziologie.

Analytische Soziologie

Die analytische Soziologie ist ein im Wesentlichen auf dem Forschungsprogramm Max Webers basierender soziologischer Ansatz, der davon ausgeht, dass Soziologie rätselhafte soziale Phänomene mit Hilfe von deutendem Verstehen kausal erklären sollte. Dies bedeutet, dass man zum einen die subjektive Sicht der Akteure in hermeneutischer Weise zu rekonstruieren hat und zum anderen die genauen kausalen Mechanismen herausarbeiten muss, die zu einem spezifischen zu erklärenden Phänomen geführt haben.83

Die hierdurch entstehenden Erklärungen bauen auf dem Prinzip des methodologischen Individualismus auf, womit gemeint ist, dass die soziale Welt aus verschiedenen «Ebenen» besteht, die durch kausale Mechanismen miteinander verknüpft sind: eine Makro-Ebene kultureller und gesellschaftlicher Randbedingungen, eine Meso-Ebene (Gruppen, Organisationen, Milieus) und eine Mikro-Ebene individuellen Wahrnehmens und Handelns. Soziologische Erklärungen wollen immer Phänomene auf der Meso- oder Makro-Ebene erklären – dies ist jedoch nur möglich, wenn man sie als Ergebnisse des Verhaltens der Individuen auf der Mikro-Ebene auffasst.84

Aus der Sicht der analytischen Soziologie handeln Individuen meist (begrenzt) rational. Sie haben normalerweise «gute Gründe» für ihr Verhalten, wobei sie aufgrund ihrer Ressourcen, Präferenzen, Glaubensansichten wie auch aufgrund der wahrgenommenen geltenden Normen und des verfügbaren Angebots auswählen. Wenn ein Handeln von aussen als unverständlich oder irrational erscheint, ist es sinnvoll, mit qualitativen Methoden die Situation des betreffenden Individuums |33| zu untersuchen, was häufig zu einer befriedigenden Erklärung des Verhaltens führt.85 Indem viele (begrenzt) rationale Individuen aufgrund sich verändernder sozialer Umwelten in ähnliche Richtungen wählen, ergeben sich soziale Trends, z. B. Säkularisierungs- oder Resakralisierungsphänomene. Erst die Summe der vielen Einzelentscheidungen führt zu dem, was unser Modell letztlich erklären will.

Gute Erklärungen sind schliesslich aus der Sicht der analytischen Soziologie nur möglich, wenn sie in den historischen Kontext gestellt werden, d. h., wenn gezeigt wird, aufgrund welcher typischen Anfangsbedingungen (Ressourcen, Präferenzen, Glaubensüberzeugungen, Optionen) typische Akteure gehandelt haben.86 Hierfür eignen sich neben quantitativen insbesondere auch qualitative und historische Methoden.

Insgesamt hilft uns dieser Rahmen der analytischen Soziologie, die oben genannten Probleme der Modernisierungs- und Individualisierungstheorie zu vermeiden. Es wird so nötig, akteursorientiert zu denken und die genauen kausalen Mechanismen zu benennen, die die zu erklärenden Phänomene hervorbringen sollen.

Religion, religiöse Organisationen, Religiosität

Definitionen

Es ist offensichtlich, dass eine Theorie religiös-säkularer Konkurrenz nur Sinn macht, wenn religiöse und säkulare Phänomene sich trennen lassen. Für unsere Zwecke unterscheiden wir Religion, religiöse Gruppen und Religiosität in folgender Weise:87|34|

Religion ist die Gesamtheit der kulturellen Symbolsysteme, die auf Sinn- und Kontingenzprobleme mit dem Hinweis auf eine transzendente Realität reagieren. Die transzendente Realität beeinflusst gemäss dieser Symbolsysteme das tägliche Leben, lässt sich aber nicht vollständig kontrollieren. Religiöse Symbolsysteme beinhalten mythische, ethische und rituelle Elemente wie auch Vorstellungen von Heilsgütern.88 Die Verwendung einer transzendenten Ebene (mit Göttern, Geistern u. ä.) erlaubt es, Nichtverstehbares in einer symbolischen Weise dennoch zu verstehen und Nichtkontrollierbares in symbolischer Weise dennoch zu bearbeiten.89 Beispiele für Religionen sind etwa das Judentum, der Islam, das Christentum, der Hinduismus oder der Raelianismus.Religiöse Gruppen und Organisationen sind kollektiveAkteure, die einen zentralen Bezug zu einer Religion aufweisen, also etwa eine religiöse Ideologie vertreten, religiöse Güter anbieten oder religiöse kollektive Aktivitäten durchführen. Beispiele sind etwa Kirchen, religiöse Zentren, Tempelgemeinschaften, Gebetskreise u. ä.Religiosität ist ein individuelles Erleben oder Handeln, insofern es sich auf ein oder mehrere Religionen bezieht. Religiosität weist verschiedene Dimensionen auf (Handeln, Erleben, Wissen, Glauben usw.).90 Der Besuch eines Gottesdienstes oder eines Meditationskurses, ein Gebet, eine Wallfahrt oder der Glaube an Engel sind Beispiele einer so definierten individuellen Religiosität.

Mit Hilfe dieser Definitionen können wir Religiöses von Nicht-Religiösem unterscheiden: Alle kulturellen, sozialen und individuellen Phänomene, die nicht religiös sind, gelten uns als säkular. Natürlich kommen in der Realität manchmal hybride Phänomene und Graustufen vor. Dennoch zeigt sich in konkreter soziologischer Arbeit, dass diese Definitionen in den meisten Fällen eine eindeutige Zuordnung in religiös bzw. säkular erlauben. |35|

Die sich wandelnde Vorteilhaftigkeit von Religion

Aus der genannten Definition folgt aber auch eine weitere Annahme unserer Theorie: der Wandel der Vorteilhaftigkeit von Religion und religiösen Strukturen im Zeitverlauf. Während langer Phasen der Gesellschaftsentwicklung brachten religiöse Strukturen viele Vorteile, da «unlösbare» Probleme dennoch einer Bearbeitung zugeführt werden könnten: Viele Krankheiten, Naturkatastrophen, persönliche Armut, die Entstehung der Welt oder die Entstehung des Menschen in früheren Gesellschaften liessen sich nur schwer kontrollieren oder erklären und waren daher für eine religiöse Behandlung geradezu prädestiniert.91

Seit der Neuzeit zeigt sich nun aber, dass säkulare Innovationen oft eine höhere Kontrolle und ein besseres Verständnis ermöglichen, wodurch Phänomene dem religiösen Bereich tendenziell entzogen werden. Beispiele sind etwa die Entdeckung von Bakterien und Viren, die Kontrolle von Risiken durch Versicherungen, |36| die Entdeckung der ökonomischen Ursachen von Armut, die Entdeckung der fortwährenden Expansion des Universums oder die Entdeckung der Gesetzmässigkeiten der Evolution. Diese Innovationen führen nun aber nicht direkt und notwendig zu einem Entzug von Themen und Zuständigkeiten aus dem religiösen Bereich. Vielmehr verändern sie die Rahmenbedingungen der Konkurrenzverhältnisse, in denen sich die verschiedenen Akteure befinden. Es ist erst der Ablauf des Konkurrenzgeschehens, der zu den je ganz verschiedenen möglichen sozialen Ergebnissen führt.

Diese Konzeption erklärt, warum wir in sich modernisierenden Gesellschaften einerseits einen einheitlichen Gesamttrend der Säkularisierung beobachten, andererseits die Arten, wie die Entwicklungen ablaufen, sich zwischen verschiedenen Ländern und Regionen extrem unterscheiden.92

Grafik 2.1: Die Theorie religiös-säkularer Konkurrenz

Soziale Konkurrenz

Religiöse und säkulare Anbieter und kollektive Akteure