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Die 17-jährige Lorraine Fisher ist tot. Dennoch geht ihre Geschichte weiter. Dabei wollte sie doch nur ihre Ruhe haben. Was wollen nur alle von ihr? Plötzlich kriegt sie Bedingungen und ein Ultimatum aufgedrückt, Engel und Dämonen sind gleichermaßen hinter ihr her und laufend spürt sie diesen eigenartigen Sog in die Dunkelheit. Der Nach-Tod geht ihr schnell gehörig auf die Nerven. Sie beschließt zu fliehen und fordert damit unweigerlich das Schicksal heraus. Vorsicht, dieses Buch hat es in sich! Eine rasante Teenage-Nach-Tod-Erfahrung zwischen mystischer Ewigkeit und der Sex-Drugs-Rock'n'Roll-Realität des Lebens. Eine fesselnde Dark-Fantasy Kreation, die Ihr lieben werdet! Diese Geschichte ist so direkt, heftig und ungeschönt wie das Leben nun mal ist. Lorraine nimmt kein Blatt vor den Mund und lässt sich von niemanden etwas sagen. Sie kämpft ihren eigenen Kampf, aber das Schicksal hat offensichtlich andere Pläne mit ihr. Ein Buch über das, was in einem steckt: der Ärger, die Ängste, die Unsicherheit genauso wie Mut und Stärke. Wir erschaffen im Leben unsere eigene Realität und das zeigt Lorraine auf schonungslose Art und mit direkter Sprache. Schließlich ist auch das Leben voller Turbulenzen. Und natürlich geht es um die Sehnsucht nach Dunkelheit, seelenwärmende Melancholie, Verbotenes, Tabus, psychodelischen Teenage-Sex, genauso wie zornig, vierliebt, verwirrt und ahnungslos zu sein, bis man auf sein Innerstes hört und seinen Weg findet. Viel Spaß beim Lesen! Benedict Ernst Follow me on Instagram: @der_benedict_ernst
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Seitenzahl: 611
Veröffentlichungsjahr: 2025
Rest in Peace?
von Benedict Ernst
Buchbeschreibung:
Die 17-jährige Lorraine entflieht dem Leben, doch auch der Tod geht ihr gehörig auf die Nerven. Anstatt ewige Ruhe zu finden, kriegt sie Bedingungen und ein Ultimatum aufgedrückt und wird von Engeln und Dämonen bedrängt. Sie versucht beiden Seiten zu entkommen, bis sie eine folgenschwere Entscheidung trifft und damit das Schicksal herausfordert.
WARNUNG:
Dieses Buch hat es in sich. In dieser Geschichte wird geflucht, geschrien, gekämpft, gestritten, geheult, gelacht, wird gehofft, gezweifelt, gewonnen und verloren. Das ganze dunkle Spektrum der Gefühle wird erlebt, die gesamte Agonie des Lebens gespürt. Wenn Du damit nicht klarkommst, lies erst gar nicht weiter.
Dies ist nichts für happyendfreudige, liebessehnsüchtige, romantische Seelen.
Wer auf Dark Romance steht wird ebenso enttäuscht werden.
Diese Geschicht ist dark, ja, aber sicher nicht romantisch.
Dies ist weder Werwolf und Vampir, noch pseudomystisches Liebesgedudel.
Hier geht es um Leben und Tod.
Das Buch wird für Personen ab 16 Jahren empfohlen und ist absolut nicht geeignet für Personen, die zwischen fiktiver Welt und Wirklichkeit nicht unterscheiden können. Sie liegen hier einfach zu nah beieinander.
Lorraine erlebt Hölle und Himmel, auf Erden und im Jenseits. Mit all ihren dunklen Facetten. Dies drückt sie so frei aus, wie ihr das passt. Schließlich ist es ihr Leben, beziehungsweise ihr Tod.
Nun hast Du die Wahl: Legst Du das Buch weg oder liest Du weiter?
Doch eines sei noch zuletzt gesagt: Lasst alle Hoffnungen fahren, die Ihr hier in die Geschichte eintretet.
Über den Autor:
Benedict Ernst, geboren 1983 in München, schreibt aus der Leidenschaft heraus, den Gefühlen, Emotionen, Ängsten, Erwartungen und Träumen, die in der Dunkelheit entstehen, Gestalt zu geben. Lorraine entstand im Traum und formte sich aus den Schatten der Nacht. Ihre ungezähmte Wildheit ist für ihn Ausdruck dafür, dass Menschen sich mit ihrer Dunkelheit auseinandersetzen müssen, um ihr wahres Wesen erkennen zu können.
Folge ihm auf Instagram: @der_benedict_ernst
Rest in Peace?
von Benedict Ernst
© 2025 Benedict Ernst
Website: https://benernst.wixsite.com/benernst
Covergrafik von: Marek Piwnicki, Unsplash
Verlagslabel: Benedict Ernst, https://benernst.wixsite.com/benernst Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Ernst Riehle, Katharina-von-Bora-Str. 8d, 80333 München, Germany. Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Designsupport: https://www.bittenbinder.eu
ISBN softcover: 978-3-384-49182-4
ISBN hardcover: 978-3-384-49183-1
ISBN e-book: 978-3-384-49184-8
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 - Die Geschichte meines Todes
Kapitel 2 - Astor
Kapitel 3 - (K)ein Leben nach dem Tod
Kapitel 4 - Absolution auf Raten
Kapitel 5 - Der Baum des Lebens
Kapitel 6 - Moonwrecker
Kapitel 7 - Wie man stirbt
Kapitel 8 - O-Guru
Kapitel 9 - Lebensretter
Kapitel 10 - Nikodemus
Kapitel 11 - Asche zu Asche
Kapitel 12 - Fünf vor Zwölf
Kapitel 13 - In die Schatten
Kapitel 14 - Duell um Mitternacht
Kapitel 15 - Bewährungsstrafe
Kapitel 1 - Die Geschichte meines Todes
Ich starb am Tag des ersten Schnees. Es war ein Novembertag mitten im schrecklichsten Krieg, den die Menschheit bis dahin erlebt hatte. In der Früh war es eiskalt gewesen, und das Licht der frostigen Morgensonne hatte mich nach draußen gelockt.
Hoch oben in weiter Ferne sah ich die zarten Flocken, wie sie in der Luft aus dem Nichts erschienen, im Wind tanzten und langsam zur Erde schwebten.
Zarte, geheimnisvolle Sterne.
Ich hatte sie erwartet. Ich hatte sie gefühlt. Noch bevor sich die ersten Flocken glitzernd in der Luft formten, hatte ich sie tief in meinem Herzen spüren können.
Ich starrte nach oben, betrachtete die Wolken und merkte, wie eine erwartungsvolle Nervosität in mir wuchs. Ein sonderbar erfüllendes und zugleich beunruhigendes Gefühl.
Als ich sah, wie die Flocken vorsichtig und leicht vom Himmel tanzten, wie sie Stück für Stück erschienen, scheinbar aus dem Nichts, von göttlicher Hand geformt und in den Wind gelegt, da fühlte ich mehr als nur den Schnee.
Ich spürte den Winter in meiner Seele.
Ich streckte meine Hand aus und berührte die kristalline, himmlische Kälte. Engelsgleich schwebten sie herab und glänzten im fahlen Licht der aufgehenden Sonne, die durch die Wolken brach. Sie landeten auf meiner Haut und lösten sich auf wie Träume, die über meine Fingerspitzen rannen.
Dann sah ich sie.
Sie tauchten wie Boten der Hölle aus den Schatten der Straßen auf. Als die Wolken das Licht der Sonne verdeckten, erwuchsen sie aus den Gassen – schwer bepackte, müde Gestalten mit zerfurchten Gesichtern und wahnsinnigen Blicken. Die Gewehre im Anschlag.
Ich gefror. Ich rannte nicht weg. Ich konnte nicht. Ich verharrte wie ein Reh, das auf die heranbrausenden Scheinwerfer starrte.
Dann zwang ich mich. Ich riss mich los aus meiner Schockstarre. Ich rannte los, doch ich kam nicht weit.
Ein Schuss zerriss die Welt und hallte in mir, wie das einzige Geräusch auf Erden.
Dem folgte nur mehr Stille.
Die Tiefe zog mich zu sich und ich schlug auf den erstarrten Boden.
Der Frost nahm meinen Atem.
Die Kälte wiegte mich in ihren Armen.
Endgültigkeit flüsterte mir verheißungsvoll ins Ohr.
Und sie tanzten.
Weiße kristalline Himmelsgeschöpfe.
Ein Meer aus glitzernden Engeln.
Jede Flocke einzigartig. Jede Einzelne dem Tod geweiht.
Sie kreisten in der Luft. Sie wirbelten im eisigen Wind, leicht, mühelos, schwebend. Sie verstrahlten für einen kurzen Augenblick die Herrlichkeit der Unendlichkeit, den Glanz dieses ewigen Momentes, in dem das Leben gefror, nur um sich im nächsten Moment aufzulösen.
Sie segelten behutsam auf mich herab. Sie blieben auf meinen Händen liegen und schmolzen nicht. Sie waren kristallklares Eis und glitzerten wie Millionen Sterne am Firmament.
Sie betteten mich zur sanften Ruhe, sie bedeckten das erfrorene Leben, schlossen mich ein und erstarrten mit mir.
Kapitel 2 - Astor
Es war schon komisch, dass es das Erste war, was ich tat: mir eine Geschichte auszudenken.
Vielleicht hatte ich sie ja auch bereits vorher im Kopf. Ich weiß es nicht. Vielleicht war sie immer schon Teil von mir gewesen und jetzt kam sie heraus.
Es machte auch nichts, dass es vielleicht nicht hundertprozentig der Wahrheit entsprach. Wer wusste das schon? Es war ohnehin alles um mich herum erfunden und erdacht. Die Wahrheit ging niemanden etwas an.
Die Geschichte hatte was.
Etwas Düsteres. Etwas Erschlagendes und Trauriges. Etwas, das keine Fragen und erst recht keine Ratschläge aufwerfen würde.
Mensch, hättest du doch so oder so gehandelt; so oder so gedacht.
Nein, verdammt.
Niemand würde einen verurteilen.
Niemand würde mir Vorwürfe machen.
Man würde mich in Ruhe lassen.
Der Gedanke gefiel mir.
Immerhin eines an dieser Geschichte stimmte:
Ich war tot.
So viel stand fest. So viel war wahr. Daran bestand kein Zweifel. Glaubte ich zumindest.
Es war nur verdammt seltsam. Wenn ich tot war, warum ging ich dann durch die leeren Straßen meiner Stadt?
Und wieso stand ich im nächsten Moment vor meinem zu Hause? Einfach so.
Mein kack-mieses zu Hause.
Der bescheuerte, cremefarbene Bungalow, mit dem übertrieben pinken Briefkasten. Mit dem akkurat getrimmten Rasen davor und dem verfickten SUV meiner Mum.
Wie ich dieses Auto hasste.
Diese Scheißkarre.
Die protzige Mist-Karre.
Das verdammte Auto vor dem verfluchten Haus. Dieser ganze Müll. All das - diese spießige Kulisse - ragte unmittelbar vor mir auf und hing mir zum Hals heraus.
Was zur Hölle ging nur vor sich?
Weit und breit war kein Mensch. Niemand, der auf der Straße ging, niemand der im Garten oder sonst wo herumlungerte. Nichts und niemand. Nicht mal ein Hund oder irgendso ein dummes Vieh. Keine Autos. Gar nichts. Alles war wie ausgestorben.
Vielleicht hätte ich mich freuen sollen.
War es nicht eigentlich das, was ich wollte? Dass die ganzen Penner um mich herum verschwanden? Dass ich endlich meine Ruhe hatte?
Vielleicht hätte ich mich aber ebenso ärgern können, weil es anders war als erwartet.
War das jetzt dieses bescheuerte Jenseits? War ich tot? War ich im Himmel oder doch eher in der Hölle? Was passierte denn jetzt?
Ich glaubte eh nicht an den Scheiß.
Ich hatte mir das alles auf jeden Fall ganz anders vorgestellt. So hatte ich es sicher nicht erwartet. Vielleicht hatte ich es auch einfach anders erhofft. Aber was wusste ich schon. Es gehörte ganz sicher nicht zu meinem Plan. Nach meinem Plan ging es nicht weiter. Danach war es eben zu Ende. Einfach zu Ende.
Zack, aus.
So ein Mist.
Ich beschloss abzuhauen.
Was sollte ich auch sonst tun? Ich wollte nicht weiter auf diese miese Kulisse starren. Ich ging einfach die Straße runter, immer geradeaus. Tiefer in die Stadt. Bis ich irgendwann vor einem Ort stand, der mir zutiefst vertraut war. Ich stand urplötzlich vor meinem Stamm-Café.
Dort wo ich mir fast jeden Morgen einen Kaffee hole. Holte. Na jedenfalls wo ich erst noch vor kurzem gewesen war.
Ich betrat das Café und es war echt strange. Ich konnte Kaffee riechen. Ich schwöre es! Der Duft hing in der Luft. Es war dort. Ich roch es. Es war ganz deutlich. So als ob er gerade frisch aufgebrüht worden war. Doch keine der Maschinen lief!
Ich schaute mich um.
Da war kein Arsch. Niemand, der Kaffee hätte machen können. Es war keine Menschenseele zu sehen. Der Laden war leer. Alles war tot!
Dachte ich zumindest. Als ich mich umdrehte, saß da plötzlich jemand. Ich musste ihn zunächst übersehen haben.
In einer der Tischnischen saß ein Mann. Kahler Kopf, bleich, irgendwie groß aber nicht riesig, mit schwarzer Sonnenbrille.
Es war echt seltsam. Ich sah ihn vor mir, aber gleichzeitig hatte ich das Gefühl, alleine zu sein. Verrückt.
Im gleichen Moment blickte er auf und starrte mich an. Und dann wurde es erst recht seltsam: Ich konnte keinen Ton rausbringen. Ich fühlte mich, ich weiß auch nicht, beinahe verlegen. Unfähig zu sprechen. Ich traute mich nicht.
Das muss man sich mal reinziehen: Ich traute mich nicht, meine Klappe aufzumachen!
Ich glaube, ich hatte das Gefühl, dass egal was ich sagen würde, wäre es irgendwie falsch oder unangebracht.
Ist das nicht verrückt?
Keine Ahnung. Jedenfalls konnte ich nicht mal »Hallo« rausbringen und dieser Kerl sagte auch kein Wort, aber deutete mir sofort an, dass ich mich setzen sollte. Und ich gehorchte.
Fuck. Wie ein Hund.
Wie ein verdammter Köter, dem man einen Befehl gab, setzte ich mich dem bleichen Typ mit Sonnenbrille gegenüber. Und er nickte. So als ob er zufrieden mit mir war. Aber auch so, als ob ich ohnehin keine Wahl gehabt hätte und gut daran tat einfach zu gehorchen. Es war ein verdammter Befehl.
Er lächelte nicht. Er starrte einfach nur vor sich hin. Und auch wenn er seine Sonnenbrille nicht abnahm, ich war mir sicher, er glotzte mich an. Ich versuchte es dann doch und alles, was ich rausbrachte, war:
»Wo bin ich?«
Das muss man sich mal reinziehen. Ich saß in meinem Café! Ich wusste, dass es mein Café war, der Laden, wohin ich tagtäglich ging, und trotzdem fragte ich ihn, wo ich war. Aber ich meinte das ja auch nicht so. Ich wollte ja eigentlich wissen, was passiert war, wo all die Leute waren, wer er war und alles, was ich sagen konnte, war: Wo bin ich?
Als ob das eine Rolle gespielt hätte. Ich war echt daneben. Doch der Mann antwortete mir nicht. Zumindest nicht auf meine Frage. Er fing einfach an, sich vorzustellen.
»Mein Name ist Astor.«, sagte er.
Was für eine eigenartige Stimme.
Sie hallte in meinem Kopf. Es war, als käme sie aus mir selbst heraus. Ich kann sie nicht beschreiben. Sie ging tief in mich hinein und kam gleichzeitig aus mir selbst und zog mich völlig in ihren Bann.
»Lorraine.«, konnte ich ihm sagen und er nickte wieder.
Dann forderte er mich auf:
»Lass mich hören.«
Ich verstand nicht, was er meinte. Und fuck, der Kerl sagte ohne Mist, ich solle meine Geschichte hören lassen!
Ich fiel fast vom Hocker. Es war so, als ob er in meinen Kopf sah. Als ob er meine Gedanken las. War ich so leicht zu durchschauen? Hatte er mich am Ende beobachtet und belauscht?
Aber das war ja nicht möglich. Ich hatte mir das doch in meinem Kopf ausgedacht. Keine Ahnung, woher er es wusste, aber es war, was er sagte. Also holte ich meine Geschichte zum ersten Mal hervor.
Ich holte ziemlich aus. Ich ergänzte noch, dass ich vergewaltigt wurde, mein Verlobter mich verstoßen hatte, meine kleine Schwester verschleppt wurde und der Schuss mich vor dem Erfrieren erlöste. Alles in allem trug ich ziemlich dick auf und machte aus der Geschichte einen filmreifen Thriller. Ich gab mir auch reichlich Mühe, ein betroffenes und mitgenommenes Gesicht zu zeigen. Ich weiß nicht, ob mir das gelang.
Astor nickte.
»Das ist eine gute Geschichte.«
Ich war sprachlos.
Mir war klar, dass er log. Zumal ich wusste, dass ich log. Und ich würde nicht sagen, dass es eine gute Geschichte war. Wer findet denn eine Vergewaltigung im Krieg gut? Aber ich konnte nicht sagen, ob er das ernst meinte. Vielleicht sah er durch mich hindurch und wusste einfach Bescheid. Möglicherweise war es ihm auch einfach scheißegal.
»Bin ich …?«, begann ich, aber auch diesmal brachte ich die dummen Worte nicht über mich. Und sein Ausdruck veränderte sich kein bisschen.
»Was glaubst du?«, gab er frech zurück und verwirrte mich.
Was ich glaubte?
Ich zuckte mit den Schultern. Na was wohl.
»Ja.«, gab ich zurück und da lächelte er.
Er zeigte ein verdammtes, breites Grinsen.
»Komm.«, sagte er und stand kurzerhand auf.
Einfach so. Und ich wusste nicht, was ich tun sollte, also folgte ich ihm.
--
Im nächsten Moment war das Café verschwunden. Lorraine fand sich eingehüllt in weißen Nebel und vor ihr ging der kahlköpfige Mann durch das helle Nichts. Sie folgte ihm zögerlich. Sie konnte sich nicht mal richtig wundern. Etwas brodelte in ihr und ließ sie keinen klaren Gedanken fassen.
Das war also der Tod?
So eine miese Show.
Warum hörte es nicht einfach auf?
Eine Tür ging vor ihnen auf und Lorraine trat in einen dunklen Saal, an dessen anderem Ende eine helle Leinwand flimmerte.
‚What the fuck‘, dachte Lorraine.
Ein Kino?
Astor forderte sie wortlos auf, sich zu setzten und wieder gehorchte sie. Sie hatte keine Wahl. Sie konnte gar nicht anders. Sie wollte das alles nicht und doch kam sie nicht dagegen an. Ihr Blick haftete wie gebannt auf der flimmernden Wand vor ihr, aber es änderte sich nichts.
Sollte hier nicht mal ein Film starten oder sowas? Ihr Blick wanderte zu dem bleichen Kerl neben ihr, der ungerührt nach vorne starrte. Ohne sie anzusehen, fragte er sie, was sie sah und Lorraine fühlte sich verarscht.
Was sie sah? Na was schon. Eine flimmernde Leinwand. Was gab es da zu sehen?
»Das ist dein Leben, Lorraine.«, sagte Astor und sie begriff nicht, was diese Aussage sollte.
Sie starrte auf das Flimmern. Sie bemerkte, dass sich hier und da Farben mit rein mischten, und undeutliche Geräusche drangen plötzlich an ihr Ohr. Aber da war kein verdammtes Bild.
»Du willst es nicht sehen.«
Lorraine starrte Astor an.
Sie wollte es nicht sehen? Wollte er sie verarschen?
»Du weigerst dich.«
Es brodelte in ihr.
Ihr ging der Kerl gehörig auf den Arsch.
War sie nun tot oder nicht? Was sollte der Mist mit der Leinwand? Sie wollte es nicht sehen? Was gab es schon zu sehen? Ihr Leben? Ihr scheiß Leben? Das wollte sie nicht sehen, ja, und?
Und was ist das hier?
Was denn?
Was glotzte der Kerl so doof?
Vielleicht gab es ja auch nichts zu sehen. Nichts, was sehenswert war. Es war ja auch zu Ende. Warum zurückblicken? Um was zu sehen? Wie ich es beendete? Dass ich handelte? Dass ich eine Entscheidung traf? War das vielleicht verboten? Durfte ich es deswegen nicht sehen? War es am Ende vielleicht meine Schuld?
Moment mal!
Was soll der Scheiß?
Das ist meine Geschichte!
Was wird da für ein Mist wegen Schuld geredet?
Geht’s noch?
Was wird da behauptet, was ich dachte?
Diese Autoren glauben, sie könnten einfach tun und lassen, was sie wollten. Könnten mich mundtot machen. Sie denken, sie wüssten alles, dabei wissen sie gar nichts. Sie denken sich nur was aus. Sie können aber nicht darüber berichten, was tatsächlich in einem vorging. Sie stecken doch, verdammt nochmal, nicht drin!
Sie haben verdammt noch mal keine Ahnung davon, was man fühlt.
Dies ist verfickt noch mal meine Geschichte, also erzähle ich sie!
Klar?!
Ich erzähle sie so, wie ich sie erlebt habe. Also die Wahrheit. Zumindest aus meiner Sicht.
Klar?
Ja, selbst soweit bin ich schon, dass ich so etwas eingestehe. Aber Fakt bleibt, niemand außer mir kann wissen, was ich dachte, was ich empfand, wie ich mich fühlte und warum ich mich dazu entschied.
Ich fühlte mich schrecklich.
Es war wie Blei, das an meiner Seele zerrte. Ich fühlte mich einsam, verlassen und ohne Grund warum ich irgendwie so etwas wie Glück empfinden sollte. Ich sah keinen Anlass das Leben als ein Geschenk zu betrachten. Es gab für mich keinen Grund, zufrieden zu sein. Ich sah nicht, warum ich dankbar sein sollte. Ich war am Boden zerstört. Ich war leer.
Nein, ich war fertig.
Ausgelaugt. In mir brannte das scheiß Elend. Mich kotzte einfach alles nur noch an und ich wollte, dass es aufhörte. Dieser ganze Mist. All dieses geheuchelte Glück.
Menschen, die so taten, als ob sie ach so glücklich und zufrieden waren. Ich wusste, tief in ihrem Inneren, waren sie alle unglücklich. Jeder war verletzt. Keiner war ehrlich. Das Leben trat einen mit schweren Stiefeln. Das Leben war ein Wichser. Für die meisten zumindest. Und die Menschen selbst waren nicht besser.
Keiner wusste, was gut und was richtig war. Keiner sorgte sich wirklich um andere. Jeden interessierte verdammt nochmal nur sein eigenes, beschissenes Glück. Und der Anblick, den der Glatzkopf bot und die wenigen Worte, die er benutzte, waren alles andere als trostspendend und schon gar nicht erhellend.
Ich wusste nicht, wo ich war, und ich wusste nicht, was geschehen war. Ich hatte eine grobe Vorstellung und meine Fantasie hatte ja schon die passende Geschichte erdacht. Aber das war nicht ich. Mein wahres Ich war hilflos und allein und wusste weder vor noch zurück.
Das Letzte könnt Ihr streichen. Das ist Bullshit.
Es spielt doch eh keine Rolle. Als ob das irgendjemanden interessiert. Das ist scheißegal. Wichtig ist, dass ich plötzlich hier war.
Im Tod.
Nach dem Leben.
Etwas, von dem keiner wusste, was es war, und ich hatte keinerlei Anhaltspunkte.
Außer dem Glatzkopf, der vor mir durch die leeren Straßen lief.
Er ging einfach nur. Er sagte kein Wort. Er blickte sich nicht einmal um, ob ich ihm folgte.
Wie konnte man nur so arrogant sein?
Und warum ich ihm folgte, wusste ich auch nicht. Vermutlich war mir einfach danach. Was weiß denn ich. Ich war allein. Ich hatte keinen Plan wohin. Ich wusste nicht weiter. Und er war auf einmal da. Was sonst hätte ich tun sollen?
Und das Beste kam ja noch.
Er sagte, ich hätte eine Chance!
Und irgendwie kam es mir gleich wie der größte Blödsinn vor.
Was denn für eine Chance?!
Ich wollte keine Chance! Ich wollte meine verdammte Ruhe!
Das ganze Leben wird einem gesagt, dass man eine Chance hätte, und man solle sie nicht vertun. Dass ich nicht lache!
Wenn man eine Chance hätte, wäre man nicht am Boden. Und nun fing dieser Glatzkopf auch damit an. Sagte, ich müsste ihm folgen, tun was er mir auftrug, und ich hätte eine Chance. Ja genau. Und wovon träumst Du nachts?
Aber was soll’s, ich bin halt mitgegangen.
Mir doch egal.
Es wurde eh nur stranger.
Im nächsten Moment fanden wir uns in der Kunstgalerie wieder. Warum weiß ich auch nicht.
Wie wir dorthin gekommen waren?
Keine Ahnung.
Woher ich wusste, dass es die Kunstgalerie war?
Naja, ich war nicht völlig umnachtet und schließlich mussten wir mindestens zwei Mal mit der Schule dorthin. Aber ehrlich gesagt hatte es mich immer angeödet. All das alte, unnütze Zeug, das Leute kreiert hatten, die nichts Besseres zu tun gehabt hatten, und jetzt taten alle so, als ob das toll war. Manche Sachen waren ja nicht mal gut gemacht. Gemälde mit Menschen, die aussahen, als hätte sie ein Kind gemalt.
Echt jetzt, manchmal waren die Leute komisch. Und dann das abstrakte Zeug. Irgendwelche Materialien irgendwie zusammengeworfen. Ja, demnach wäre ich auch Künstlerin. Alles Schrott.
Aber da dieser Kerl vermutlich in mich hinein blickte, wie mit einem Röntgengerät und wusste, dass dies der letzte Ort war, wo ich gerne sein wollte, waren wir genau hier.
Möglicherweise war das ja auch die Hölle. Vielleicht war der Kerl ja der Teufel und er würde mich jetzt eine Ewigkeit mit diesem Schwachsinn quälen.
Was er dann sagte, bestätigte auch gleich meine Vermutung. Er war vor irgend so einem alten Schinken stehen geblieben und baute sich mit spürbarer Begeisterung davor auf.
Das war ja noch nicht mal echt!
Die winzige Stadt, aus der ich kam, konnte sich ja unmöglich die teuren Originale leisten. Das alles waren Kopien. Der ganze Schrott. Kein Wert. Nur das der lokalen Künstler, das war echt, aber wer wollte das schon sehen?
»Tizian.«, sagte er.
Meine Güte und wie er es sagte. Als würde er dem Tizian gleich einen runterholen.
»Tizian.«
Und dann sagte er wieder nichts. Glaubte der Kerl, ich würde irgendwie durchblicken, was er von mir wollte? Ich beachtete ihn kaum. Das schien ihn aber nicht sonderlich zu jucken. Aber ich konnte auch irgendwie nicht weg. Irgendetwas hielt mich fest, auch wenn ich keinen Bock hatte dort zu sein. Ich hatte keine Ahnung, wo ich sonst hätte hingehen sollen. Vielleicht erwartete ich auch einfach, dass noch irgendwas passieren würde.
»Ecce Homo!«, rief er da wie von der Tarantel gestochen und:
»Siehe, ein Mensch!«
Und dann hielt er mir ohne den Blick abzuwenden darüber einen Vortrag, dass das Bild, vor dem wir standen, auf unnachahmliche Weise das Wesen des Menschen auf den Punkt brachte. Er brabbelte irgendwas davon, dass Gott Mensch wurde und der Mensch Gott war, und trotzdem wären wir alle verdammt, weil wir nicht erkannten, dass wir Gott waren und dass ja im Bild so wie im Leben Gott vollkommen an den Rand gedrängt würde, blablabla.
Ich hab‘ keine Ahnung, warum ich mir das merken konnte. Ich weiß nicht einmal, warum ich mir das überhaupt anhörte.
Ich wäre nicht anders hatte er gesagt. Ich wüsste nicht, wer ich sei, ich hätte es nicht zu schätzen gewusst und darum sei ich, wo ich sei, und alles hätte ich mir selbst zu verdanken.
Dieser Kerl wurde nicht müde mich pausenlos fertigzumachen. Es war grässlich.
Dann spürte ich seinen Blick auf mir. Oder vielmehr sein Gesicht. Er starrte in meine Richtung auf unverändert ausdruckslose Weise.
»Lorraine.«, sagte er. »Es wird Zeit, dass du für dich und deine Taten Verantwortung übernimmst.«
Und ich dachte mir nur ‚here we go‘, und fühlte mich in alle Situationen zurückversetzt, in denen mir meine Mutter oder irgendein mieser Lehrer eine Standpauke gehalten hatte. Darüber, wie ich mich nicht gehen lassen sollte, dass ich mich zu konzentrieren habe, dass ich nicht zu spät kommen solle, dass ich nicht rauchen sollte, dass ich nicht auf dem Schulhof rummachen durfte, dass ich Respekt haben sollte. Die gesamte Litanei. Und jetzt ging es munter weiter. Dafür war ich also gestorben?
Doch Astor sagte nichts weiter. Er starrte mich nur an.
Das war alles?
Es wird Zeit, dass ich für meine Handlungen Verantwortungen übernehme und nichts weiter?
Er winkte mir und wir gingen raus aus dem Raum, durch Glastüren und plötzlich standen wir auf einem Hügel. Weit weg vom Museum. Draußen vor der Stadt.
Ich hätte zu gerne gewusst, wie er diese Ortswechsel hinbekam. Ich blickte es überhaupt nicht.
Ich kannte diesen Hügel. Ich war schon ein oder zweimal dort gewesen. Von dort konnte man die gesamte Stadt überblicken. Es war die einzige kahle Stelle in einem riesigen Wald. Wie die Halbglatze eines fetten, alten Kerls ragte der Hügel über die Bäume und die darunter liegende Stadt hinaus. Der Ausblick war eigentlich ganz schön.
Die Strahlen der untergehenden Sonne spiegelten sich in Astor’s Sonnenbrille und ich blickte über den Wald und die Stadt und erkannte, dass es beeindruckend war. Etwas regte sich in mir.
Alle möglichen Bilder und Gedanken kamen in mir auf, aber ich wollte sie nicht. Nicht jetzt. Nicht diese miesen Szenen. Das, was mich runterzog. Ich konnte es nicht ausstehen. Diese verdammten Gedanken. Also ignorierte ich sie. Ich drückte sie weg und starrte stur auf das Panorama.
Und plötzlich war es wieder Astor, der sprach. Gerade als so etwas wie Entspannung in mir aufkam, musste der Kerl dazwischen grätschen.
»Die Wahl zwischen Himmel und Hölle trifft man selbst, Lorraine. Es ist kein Schicksal. Du hast es in der Hand. Alles, was dir widerfährt, hast du selbst gewählt.«
Ich würdigte ihn keines Blickes. Ich hätte ihn umbringen können. Und wenn mir das schon gehörig auf die Nerven ging, das Beste kam ja erst noch.
»Lorraine, das sind die Regeln, an die du dich halten musst.«, sagte er zu meiner Überraschung und damit blickte ich auf und traute meinen Ohren nicht. Weil es einerseits alles überhaupt keinen Sinn ergab und es andererseits mich von Haus aus schon auf die Palme brachte, dass man mir Regeln aufgab.
Ich war tot, verdammt!
Hier ist also die Litanei:
Ich dürfte keinen Kontakt zu Familienangehörigen haben, denn niemand würde mich erkennen und wenn ich behauptete, ich wäre ich, wäre ich in Schwierigkeiten.
Dann dürfte ich mich niemandem zeigen. Er nannte es Offenbaren. Ich dürfte niemanden sagen, wer ich bin. Ich sei nun tot und das dürfte niemand wissen, denn schließlich sei ich ein Mensch und das sollte ich nicht vergessen, weil ich sonst andere in tiefe Krisen stürzen würde, und so weiter.
Dann meinte er allen Ernstes, ich dürfte kein Fast Food mehr essen und keinen Selbstmord begehen. Das sagte der Kerl in einem Satz. Natürlich dürfte ich Gott nicht lästern, müsste mit dem verdammten Fluchen aufhören, dürfte nicht lügen, müsste tun, was man mir aufträgt, und dürfte nicht am Schicksal anderer herumpfuschen.
Darüber hinaus wäre die Farbe Gelb verpönt.
Und das war der Moment, als ich ihn unterbrach, und fragte, was der ganze Mist sollte, wer er sei und was das alles zu bedeuten hatte. Also ich wollte das fragen, aber ich bekam es nicht raus. Ich starrte ihn fassungslos an und glaubte, dass das alles ein schlechter Scherz war.
»Gibt es irgendetwas, das ich darf?«, fragte ich nur zurück, ohne auf die Punkte einzugehen.
Mir war vollkommen gleichgültig, was das für Bestimmungen waren. So hatte ich mir den Tod nicht vorgestellt und ich sah nicht ein, mir irgendwelche Regeln aufbrummen zu lassen.
»Du hast von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, um Gutes zu tun.«, war alles, was zurückkam.
Was sollte das denn nun wieder heißen?
Ich merkte, dass ich wütend war. Anstatt dass man mir endlich mal erklärte, was mit mir los war und was nun kommen würde, redete der Mann nur wirres Zeug und ließ mich völlig ahnungslos links liegen.
»Du entscheidest, welcher Seite du angehörst, dem Licht oder der Dunkelheit.«, sagte er abschließend.
Da setzte es bei mir völlig aus und ehrlich gesagt will ich auch gar nicht weiter erzählen. Das alles ist einfach nur ärgerlich. Das alles ist ein riesen Haufen Scheiße. Und ich hatte nicht einmal bemerkt, dass wir wieder auf der Straße waren.
Ja, plötzlich waren wir erneut woanders. Ich lief hinter ihm her. Ich verstand weder ein Wort von dem, was er mir gesagt hatte, noch was passierte. Ich hatte Regeln, die ich nicht checkte, und nun sollte ich Gutes tun? Wem denn? Hier war doch keiner und warum überhaupt und was war mit Licht und Dunkelheit? Was für ein Scheiß.
Mann, regte der Kerl mich auf.
Hier, erzähl Du weiter! Du weißt doch eh alles besser.
--
Lorraine verstand nicht, was mit ihr geschah und was man von ihr wollte und warum überhaupt dieser bleiche, glatzköpfige Mann ihr Regeln aufgeben konnte.
Verdammt noch mal, dachte sie; das musste doch ein schlechter Scherz sein. War es das, was man vom Tod erwarten konnte? Weitere Regeln? Neue Pflichten? Noch mehr verdammte Erwartungen?
Sie rannte hinter Astor her und war genervt.
»Was soll das heißen, das mit dem Licht? Hallo?«, rief sie ihm plötzlich zu und da, endlich blieb er stehen.
Doch Astor hatte sich zwar umgedreht, aber er rührte sich nicht weiter.
»Was soll denn das alles?«, brüllte ihm Lorraine entgegen. »Dann hätte ich ja auch gleich am Leben bleiben können!«
Im gleichen Moment grinste Astor, breitete die Arme und Hände aus, hob den Kopf und ein gleißendes Leuchten strahlte mit einem Mal aus seinen Handflächen heraus, so als ob die Sonne selbst aus ihm schien.
Lorraine war geblendet. Ein helles Gleißen erfasste sie und sie musste sich die Hand vor das Gesicht halten.
Sie presste ihre Augen zusammen. Es blitzte.
Es dauerte einen Moment, bis sie die Geräusche um sie herum wahrnahm, doch plötzlich horchte sie auf.
Schritte klapperten über den Asphalt, der Wind rauschte an ihrem Ohr, ein Hund bellte, Autos brummten vorüber, Vögel zwitscherten und allerhand Geräusche dröhnten von allen Seiten auf Lorraine ein.
Auf einen Schlag explodierte um sie herum die Stadt mit all ihren Geräuschen, Gerüchen, Sinneseindrücken und dem gesamten Spektrum Leben.
Verwirrt und ungläubig nahm sie vorsichtig den Arm aus dem Gesicht. Sie versuchte sich an das Licht zu gewöhnen, blinzelte und traute ihren Augen nicht.
Sie stand an einer Kreuzung der 5th Street, am Stadtpark und ein Stück weiter runter war der Springbrunnen, das Eingangstor zum Stadtzentrum, erkennbar. Um sie herum liefen Menschen, alte und junge, auf den Straßen floss der Verkehr und alles hechtete von A nach B.
Sie sah einen Hotdog-Verkäufer, einen Zeitungsstand, städtische Arbeiter, Bettler, Schulkinder, Senioren, Leute, die sich im Park unterhielten oder auf Bänken saßen, Geschäftsleute am Telefon, Hunde, Vögel, Eichhörnchen und Eltern mit Kinderwagen. Sie war am Leben!
Es traf sie wie ein Albtraum.
Sie presste die Augen zusammen und riss sie wieder auf. Sie schüttelte sich innerlich und verstand nicht, was geschehen war. Sie befühlte ihre Hände, betastete ihr Gesicht und spürte ihren Körper.
Sie konnte fühlen!
Sie spürte jede Faser ihres Körpers – die Haare, die ihr ins Gesicht wehten, sah ihre Finger, den Nagellack darauf, bemerkte ihre Hände und spürte ihren Atem.
Verwirrt wirbelte sie um die eigene Achse.
Hatte sie geträumt? Hatte sie einen Tagtraum gehabt? War das alles nicht passiert?
Sie blickte sich um. Sie streckte die Hand aus und griff nach einem Passanten, der sie erschrocken anstarrte, fragte, was das sollte, sich losriss und davonrannte. Es war real! Alles um sie herum war echt. Sie war tatsächlich am Leben! Sie war nicht tot. Das war real!
Und im gleichen Moment wurde sie nervös. Sie verstand nicht mehr, was echt war und was nicht. Hatte sie erlebt, was sie geglaubt hatte, erlebt zu haben? War sie nun tot oder lebendig?
Aber wie konnte sie hier stehen, das alles sehen, erkennen, schmecken, fühlen, hören und dann nicht am Leben sein?
Nein, sie war lebendig.
Lorraine bekam es mit der Angst zu tun.
Alles woran sie denken konnte, war einen sicheren Ort aufzusuchen. Einen Platz, wo sie ihre Gedanken sortieren und begreifen konnte, was geschehen war.
Ihr Café kam ihr in den Sinn. Schließlich war sie dorthin als Erstes gegangen. Dort hatte sie auch Astor getroffen. Wenn das passiert war, dann würde sie ihn vielleicht wieder treffen. Sie musste verstehen, ob das, was sie jetzt erlebte, real war, oder ob das davor wirklich gewesen war und was überhaupt los war.
Noch bevor sie das Café betrat – sie hatte schnurstracks darauf zugehalten – und ehe sie nach dem Griff der Tür fasste, die ihr mit dem Klang der bekannten kleinen Glocke die Realität verkünden würde, blieb sie unvermittelt stehen und blickte in eines der rahmenlosen Fenster direkt vor ihr.
Sie war starr vor Fassungslosigkeit.
Doch es war nicht das, was sie im Inneren des Cafés sah, was sie ins Stocken gebracht hatte, es war das Spiegelbild selbst, dass sie erschütterte. In ihrer Brust raste es und sie atmete schwer. Langsam kam Lorraine näher an das Fenster heran.
Es war sie!
Sie wusste, dass sie es war, dass Sie es sein musste, doch was sie im Fenster gespiegelt sah, war nicht sie. Es sah nicht aus wie sie und doch wusste sie, dass sie sich selbst sah.
Ungläubig fasste sie an die Scheibe und erntete verstörte Blicke aus dem Inneren, als sie ihr erschrockenes Gesicht immer näher an die Scheibe heranführte.
Irgendwann blinzelte sie und sah das Paar, das unmittelbar vor ihr auf der anderen Seite der Scheibe saß und sie entgeistert anstarrte. Sie löste sich mit einem Ruck von der Scheibe, wankte zur Tür und schlurfte mehr, als dass sie ging, in das Café.
Sie war darum bemüht einen Tisch möglichst weit weg von dem Pärchen am Fenster zu finden.
Ein paar Sekunden später ließ sie sich auf eine der Sitzbänke fallen und zog sich zusammen. In dem Moment tauchte neben ihr eine der Mitarbeiterinnen auf. Lorraine kannte sie. Sie kannte sie gut. Sie hatte sie schon oft bedient. Sie hatten viele Male miteinander geredet und nun schaute sie ihr unvermittelt direkt ins Gesicht und alles, was ihr begegnete, war ein freundliches aber distanziertes Lächeln.
Ihr Name war Grace. Ja, genau, Grace.
»Kaffee?«, fragte sie.
Lorraine starrte sie an und brachte kein Wort heraus. Würde Grace nicht was sagen? Hallo, wie geht’s? Hatte sie von ihr gehört? Wusste sie, was geschehen war? Oder war es nicht passiert? Erkannte sie sie?
Grace lächelte, bemerkte den Blick von Lorraine und wirkte etwas nervös. Dann nahm sie kurzerhand die Tasse vor Lorraine, die sich im gleichen Moment von der Bedienung abwendete, und goss ihr Kaffee ein. Sie ging.
Grace hatte nichts gesagt. Nichts außer einem unsicheren, distanzierten »Kaffee?«.
Sie hatte sie nicht gefragt, wie es ihr ging. Sie hatte ihr nicht zu verstehen gegeben, dass sie sie erkannte.
So als wäre sie weiß Gott wer, jede x-beliebige Person. Sie hatte sich nicht besorgt gezeigt, nicht erfreut, hatte sie nicht gefragt, wo sie denn gestern gewesen sei oder warum sie sich umgebracht hatte.
Grace ging.
Lorraine merkte, dass sie unruhig mit ihrem Bein wackelte, nahm die Tasse und roch intensiv daran. Sie konnte es riechen. Es war Kaffee und die Tasse in ihrer Hand war warm, heiß sogar. Sie saß auf einer der Bänke in ihrem Café. Sie realisierte ihren Platz. Ein Schrecken durchzuckte sie.
Sie saß genau dort, wo zuvor Astor gesessen hatte.
Vor Kurzem. Es konnte nicht lange her gewesen sein. Heute Morgen, oder wann auch immer, da hatte sie hier gesessen und Astor ebenso und sie war tot. Sie war tot gewesen. Sie war nicht mehr am Leben gewesen. Und sie war schon gar nicht …
Kurzerhand stand Lorraine erschrocken auf, warf einen Blick durch den Raum und zum Fenster, wo das Pärchen saß, sie aber nicht mehr beachtete. Sie verließ kurzerhand ihren Tisch und ging zur Toilette. Sie stürzte förmlich hinein und war heilfroh, dass niemand anderes dort war. Sie hechtete zu einem der Waschbecken und zum Spiegel und starrte auf ihr Spiegelbild. Sie blickte in ihr Gesicht. Ein Gesicht, das ihres war und gleichzeitig nicht ihres. Sie war nicht mehr sie selbst, sie war zumindest nicht, wie sie gewesen war. Das, was sie sah, war nicht sie. Noch nicht.
Nein, das konnte nicht sein.
Doch je länger Lorraine in ihr Gesicht starrte, da wurde ihr eines mit aufkeimender Panik immer klarer: Sie blickte in ihr erwachsenes Selbst!
Sie schrie auf und rannte aus der Toilette, an den erschrocken gaffenden Gästen und an Grace vorbei und rannte ins Freie.
Kapitel 3 - (K)ein Leben nach dem Tod
Ich war außer mir. Ich hatte mich im Spiegel gesehen, ich hatte mir ins Gesicht geschaut. Ich hatte sie gesehen, die Falten, die Augenringe, den Ärger, die Anstrengung, die Hoffnungslosigkeit, die Enttäuschung. All das kam mir mit einem Mal entgegengeschleudert. All das sah ich dort vor mir, in mir, in meinem Spiegelbild.
Es war ich, aber es war gleichzeitig nicht ich. Ich sah nicht so aus, wie ich zuvor gewesen war. Nicht so, wie ich ging. Es war nicht ich.
Nein, das konnte auf keinen Fall ich sein!
Und doch; auch wenn ich mich noch so sehr dagegen sträubte und es mir einreden wollte, etwas in mir klopfte laufend an mein Bewusstsein, dass das einfach nur ich sein konnte. Ich sein musste.
Ich war alt.
Nicht alt, ok, aber gealtert. Keine Ahnung. Ich war erwachsen! Verdammte Scheiße.
Ich meine wirklich, es war erschreckend. Ich sah mich als verdammte erwachsene Frau, ich war plötzlich nicht mehr 17! Ich war mindestens 30!
Es war schrecklich. Ich sah mich und war schockiert, darüber, dass ich das sein sollte. Die ganzen Furchen. Und am Arsch Cellulitis. Ich kniff sogar rein.
Ich ekelte davor mich zu berühren, weil ich dann merkte, dass es echt war.
Verdammt, das war ich!
Ich steckte in diesem Körper, ich stand dort vor dem Spiegel, ich sah mir selbst in die Augen und ich konnte es nicht leugnen. Mein Gott.
Der Anblick war zu viel für mich und ich rannte aus dem Café. Ich überrannte beinahe Grace, die mich nur schockiert angaffte. Ich blickte mich nicht um. Ich sah nicht die verstörten Blicke und hörte nicht die meckernden Kommentare. Die Leute gingen mir alle sonst wo vorbei. In mir brodelte es.
Was ging nur vor sich?
Alles drehte sich um mich. Es konnte unmöglich wahr sein, es konnte nicht stimmen. Ich konnte nicht plötzlich alt sein. Ich konnte schon gar nicht am Leben sein.
Scheiße, Scheiße, Scheiße.
Nicht schon wieder. Nicht immer noch.
Aber ich rannte soeben durch meine Stadt, ich spürte jeden Schritt, ich fühlte das verdammte Leben um mich herum. Ich spürte meinen Atem und wie mein Puls in meinem Kopf klopfte.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich hinrannte. Ich lief zurück, glaube ich. Ich rannte einfach in irgendeine bestimmte Richtung. Und plötzlich war ich wieder in unserer Straße. Ich blieb abrupt stehen.
Ich war wieder dort. Mit einem Mal. Dort, wo ich aufgewacht war. Wo ich so plötzlich aufgetaucht war, nachdem ...
Ich wusste es nicht mehr. Nicht mehr sicher. Ich versuchte noch, mich krampfhaft zu erinnern. Ich versuchte mich an jede Sekunde zu erinnern. Was ich getan hatte, was ich gefühlt hatte, wann mir die Sinne verschwommen waren. Aber ich konnte es schon wieder nicht. Ich wusste nicht mehr, ob es wirklich so gewesen war. Mir war nicht klar, was geschehen war. Ich hatte keine Ahnung, ob ich mir vielleicht doch alles nur eingebildet hatte. Vielleicht war jetzt real.
Vielleicht war ich so abgedreht, dass ich einen totalen Blackout von meinem Leben hatte? Über mehrere Jahre?
Fuck.
Ich fluchte. Ich fluchte ohne Ende, weil ich einfach nicht weiter wusste. Und jetzt stand ich hier. Ich glaubte völlig durchzudrehen.
Wie war ich schon wieder in meine verdammte Straße gekommen? Warum war ich hier? War ich bewusst hierher gegangen? Warum konnte ich mich nicht daran erinnern? Und was wollte ich hier überhaupt?
Ich blickte an mir herunter. Ich wollte mich begreifen. Ich wollte wissen, ob ich echt war.
Ich bemerkte erst jetzt, wie ich aussah. Ich trug einen billigen Minirock und ein enges Tank-Top, aus dem meine Brüste quollen.
Verdammt, wo hatte ich die denn plötzlich her?
Ich betastete sie neugierig. Sie waren riesig. So fühlte sich das also an. Ich staunte nicht schlecht. Es fühlte sich seltsam an. Beinahe echt. Es war irgendwie hart und weich zugleich. Holy shit.
Und ich hatte tierisch Bock auf eine Zigarette und harten Alkohol. Es traf mich wie ein Faustschlag. Ich brauchte einen Schluck.
Woher dieser Gedanke kam, hatte ich auch keine Ahnung. Mir schien es beinahe so, als ob das meine Angewohnheit war. Es war total schräg.
Irgendwas setzte in mir aus.
Ich blickte zu meinem zu Hause und genau in dem Moment öffnete sich die Haustür und erst jetzt bemerkte ich die schwarze Limousine davor.
Wer waren all die Leute?
Aus dem Haus kamen Männer und Frauen. Alle in Schwarz. Was stieg da für eine Party?
Alle sahen verdammt mies aus.
Seit wann gab meine Mum Partys?
Keiner schenkte mir nur die geringste Beachtung. Nach und nach stiegen sie in die Limousine oder in andere geparkte Autos und dann sah ich meine Mum. Es gab mir innerlich einen Stoß. Ich sah, wie sie aus dem Haus kam.
Sie hatte einen Strauß Blumen in der Hand, trug ein enges schwarzes Kleid, einen leichten schwarzen Mantel, einen schrecklichen schwarzen Hut und, klar, was sonst ... pinke Schuhe. Sie war natürlich am Telefon und ohne lang zu zögern, stieg sie quatschend in die Limousine und fuhr davon.
Wo fuhren die hin?
Ich ging zum Haus. Warum weiß ich nicht, aber ich war völlig neben der Spur. Vielleicht wollte ich sehen, ob ich immer noch dort wohnte. Aber das verrückteste passierte. Ich stand direkt davor, vor unsere Haustüre, griff nach der Türklinke und konnte die verdammte Tür nicht öffnen.
Ich zog am Griff, doch sie war verschlossen. Aber ich wusste genau, dass meine Mum nie absperrte. Es war ein verrückter Tick, aber ich war mir absolut sicher und dann wurde es noch verrückter. Ich rüttelte an der Tür, rüttelte und rüttelte und plötzlich hörte ich hinter mir Stimmen. Es war zunächst undeutlich, aber jemand sprach, mit lauter Stimme und von irgendwoher ertönte der monotone Klang einer hellen Glocke. Dann packte es mich und ich nahm wahr, was vor mir war.
Ich stand nicht mehr vor unserem Haus!
Direkt vor mir hatte sich alles verändert. Ich stand plötzlich vor so etwas wie einer Metallplatte. Ich ließ erschrocken vom Griff in meiner Hand ab. Vor mir war eine metallische Tür.
Ich drehte mich erschrocken ab und blickte im gleichen Augenblick über einen verdammten Friedhof. Ich stand vor einer verfluchten Gruft oder so was, deren Tür natürlich verschlossen war und um mich herum reihten sich Grabsteine. Wohin ich auch blickte. Ein verdammter Friedhof.
Manche Gräber verwachsen, manche gepflegt. Und ich erkannte schlagartig, wo ich war. Ich registrierte die dicken Bäume und die schattigen Reihen. Es war der Friedhof unserer Nachbarschaft.
Er war nicht weit weg. Nur ein paar Blocks. Ich kannte den Ort. Meine Großeltern lagen hier begraben. Und im gleichen Moment musste ich unweigerlich an sie denken. Besonders an meine Großmutter – ich nannte sie Nana.
Ich glaube, als sie vier Jahre zuvor verstarb, starb auch etwas in mir. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich danach jemals wieder richtig glücklich war. Ich vermisste sie schrecklich. Ich hätte sie so gerne noch einmal gesehen.
»Liebchen« hatte sie mich immer genannt. Mir wurde schwer im Innersten. Wenn Sie doch nur am Leben geblieben wäre. Vielleicht wäre alles anders verlaufen. Möglicherweise wäre ich dann nicht hier. Nicht in diesem Zustand. Vielleicht wäre das alles nicht passiert.
Ich blickte mich um.
War ich hierher gelaufen? Wie war ich hierher gekommen?
Im gleichen Moment sah ich, woher die Stimmen kamen. Ein paar Meter entfernt, hinter ein paar großen Bäumen war gerade eine Beerdigung im Gange. Ich verstand die Welt nicht mehr.
War ich so neben der Spur? War ich vielleicht besoffen und irrte umher? Aber mein Kopf war ziemlich klar. Ich sah das alles. Ich nahm es genau wahr. Ich spürte den leichten Wind auf meinem Gesicht. Ich hörte die Vögel zwitschern. Ich vernahm die Stimmen der Trauerfeier. Ich sah den verdammten Pfarrer, der vor der Gruppe von Menschen stand.
Ein Sarg wurde von einem Wagen heruntergehoben und schwerfällig in die Richtung eines offenen Grabes getragen. Und jetzt erkannte ich die Gruppe von Leuten. Es waren die gleichen Menschen, die aus unserem Haus gekommen waren!
Es waren also Gäste einer Trauerfeier. Und ganz vorne stand meine Mum. Doch wo war Rodney? Wo war der Wichser?
Ich blickte mich suchend um und dann heftete sich mein Blick auf dem Sarg.
War es am Ende … ?
Unzählige Gedanken und Erinnerungen zogen nun plötzlich durch meinen Kopf und vor meinem inneren Auge auf und ab. Stimmen und Bilder, die ich bereits verdrängt hatte. Und es traf mich mit einem Schlag: Es musste sich um Rodney handeln!
Dies war seine Trauerfeier. Und im gleichen Moment wusste ich nicht, was ich denken sollte. Unzählige Bilder zischten an meinem inneren Auge vorbei. Die Lichter, die Geräusche, der Knall.
Hätte es mir leidtun sollen? Hätte ich mich schuldig fühlen sollen? Hätte ich Reue empfinden müssen?
Ich fühlte nichts. Ich hatte keine Empfindungen zu ihm und es wurde mir zum ersten Mal richtig deutlich: Ich fühlte rein gar nichts für ihn.
Er war nicht mein Vater, er war nicht mein Freund, er war ...
Ich musste mich zu diesen Worten durchringen:
Er war der verdammte Liebhaber meiner Mutter.
Alles drehte sich um mich, als ich mir das erste Mal diesen Worten in ihrer vollen Tragweite bewusst wurde. Er war der Lover dieser unliebsamen Frau, diesem Biest. Die nicht einmal, nicht ein einziges Mal, ein nettes Wort für mich übrig gehabt hatte. Für ihre verdammte Tochter.
Alles, was ich zu hören bekam, war, ich solle mich nicht so anstellen – »Glaubst du, du bist was Besonderes?«, »Nimm dich nicht so wichtig.«, »Es dreht sich nicht immer alles um dich.« – Immer wieder die gleichen abwertenden Kommentare.
Ihre Karriere war immer an erster Stelle gewesen. Ich spielte überhaupt keine Rolle. Außerdem hatte sie meinen Vater auf dem Gewissen. Ich war mir sicher. Und nur drei Wochen später hatte sie diesen Mistkerl. Mit seinem bescheuerten Schlangentattoo auf dem Arm. Dieser Arsch. Ihr Liebhaber und mein ...
Ach, was zum Teufel.
Er hatte es nicht anders verdient. Sie hatten es beide nicht anders verdient. Es war deren eigene Schuld. Sie war schuld. Und um den Mistkerl war es nicht schade. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was das für mich zu bedeuten hatte.
Ich trat näher.
Ich kam an die Seite der Gruppe heran und sah, wie der Sarg langsam in das Erdloch heruntergelassen wurde.
Was für eine lahme Trauerfeier. Niemand sagte etwas, niemand schluchzte. Ja, verdammt, kein Witz, kein einziger heulte!
War das normal bei einer Beerdigung?
Ich blickte zu meiner Mum. Sie war ungerührt. Sie stand einfach nur da und blickte stumm auf die Szene.
Ich sah keine Tränen! Keinerlei Traurigkeit!
Da war einfach nichts. Rein gar nichts. Nicht die kleinste Emotion.
War ihr der Mistkerl so scheißegal?
Was für ein Ungeheuer war sie denn? Und dann mit einem Mal erstarrte ich.
Als der Sarg herabgelassen wurde und unten aufsetzte, wurden die Taue herausgezogen, die Totengräber traten zur Seite und die Sicht wurde frei auf den Grabstein. Ich las, was dort geschrieben stand.
Es war nicht Rodney’s Trauerfeier.
Es war nicht er, der im Sarg lag. Der Grabstein hatte eine ganz andere Botschaft. In gravierter Schrift thronte dort ein völlig anderer Name und es erschlug mich:
† Lorraine Fisher †
Da stand mein Name!
Das war ich in der Kiste! Das war ich in dem Loch! Das war meine Beerdigung!
In mir raste und pochte es und ich begriff gar nichts mehr. Ich war also doch tot. Es war geschehen. Was verdammt noch mal machte ich dann hier?
Wie konnte ich hier sein, wenn ich dort gerade beerdigt wurde?
Und wo war Rodney? Wo war der Sack? Hatte es ihn nicht erwischt? Warum gab er nicht den Löffel ab? Wo war er dann? Warum war das nur meine verfickte Beerdigung?
Ich blickte meine Mum an und dann durchzuckte es mich. Verdammt noch mal.
Kein Arsch weinte! Keiner trauerte! Und in vorderster Reihe stand sie und starrte ungerührt auf das Grab!
Nicht mal an meiner Beerdigung kannst du um mich weinen?! Verdammt, du hast deine Tochter verloren!
»Wirklich!?«
Ich brüllte plötzlich in die Runde und in Richtung meiner Mutter und mit einem Mal drehten sich alle Köpfe zu mir um.
Ich zitterte vor Aufregung und erschrak.
Sie konnten mich sehen! Sie hörten mich. Ich war dort, ich war ganz klar vor ihnen.
Man tuschelte. Verstörte Blicke trafen mich.
Ich starrte meine Mutter an, die ihre genervte Visage zeigte. Ein Blick, den ich nur zu gut kannte. Ausdruckslos. Leer. Ein Blick, der mir sagte, dass ich keine Anstrengung wert war. Dass ich ein Nichts war.
Ich war wie angewurzelt. Ich starrte sie an. Ich konnte nicht anders.
Ich sah sie dort vor mir, unverändert, an meiner eigenen Beerdigung und es rührte sie nicht. Sie war nur hier, weil man das so machte. Vermutlich würde sie am Nachmittag zur Arbeit gehen. Sie war verdammt noch mal ohne jegliche Anteilnahme.
Der Priester räusperte sich und warf mir einen finsteren Blick zu. Ich rührte mich nicht und offensichtlich war das für die Gesellschaft Grund genug, mich zu ignorieren.
Manche tuschelten. Hier und da glitt ein Blick zu mir. Der Priester setzte an und las aus einem Buch. Seine Worte hallten hohl in meinem Kopf.
»Lesung aus dem zweiten Brief des Apostels Paulus an Timotheus: An Timotheus, meinen lieben Sohn: Wenn wir mit Christus gestorben sind, werden wir auch mit ihm leben. Wenn wir im Leid durchhalten, werden wir auch mit ihm herrschen.«
»Ha!«
Es platzte einfach aus mir raus. Was für ein Schwachsinn war das denn? Wenn wir mit Christus gestorben sind? Im Leid durchhalten?
Sah ich vielleicht so aus, als wäre ich mit Jesus Christus gestorben?
Ich glaubte, nicht richtig zu hören. Was wusste der Heini schon? Was wusste der schon von Leid? So ein Müll. Keiner war doch schon mal gestorben von denen, was wussten die also? Hatten sie eine Ahnung, wie es sich anfühlte? Wussten sie, was es bedeutet, wenn Leid einen in den Tod trieb?
Wo war ihre Anteilnahme? Wo war ihre Christlichkeit? Wo war denn dieser tolle Jesus?
Wieder hatten sich alle zu mir umgedreht und nun begann man intensiver zu tuscheln. Der dumme Priester räusperte sich noch einmal. Wieder traf mich sein bescheuerter, aufgesetzter Blick. Als ob es mich beeindrucken würde. Das, was er da las, war Schrott. Trotzdem fuhr er fort. Er betonte das nächste besonders.
»Ich ermahne dich nachdrücklich vor Gott und vor Jesus Christus, der alle Menschen richten wird, die Lebenden und die Toten. Er wird gewiss erscheinen und deine Herrschaft aufrichten. Für mich selbst ist nun die Zeit gekommen, dass ich geopfert werde und dieses Leben verlasse.«
Es war der Moment, als meine Mutter ihr Handy hervorholte. Und ich tickte aus. Ich schrie und es platzte nun erst recht aus mir raus.
»Nicht mal jetzt? Nicht mal jetzt, wo ich tot bin?!«, kreischte ich und ich starrte sie alle voll Entsetzen und Abscheu an.
»Nicht mal jetzt kannst du mich lieben?!«
Zwei der Totengräber waren sofort auf mich zugetreten und machten Anstalten mich wegzudrängen. Doch ich brüllte jetzt alle an.
»Ihr Heuchler! Ihr verdammten Heuchler!«
Ich nahm meine Mutter mit meinem Finger ins Visier und schrie vor allem sie an. Sie wurde indes schon von irgendwelchen Verwandten umzingelt.
»Was bildet ihr euch ein!?«
Dem folgten nur verachtungsvolle Blicke. Sie drehte sich zu jemanden um, dann wählte sie eine Nummer auf dem Telefon. Einer der Totengräber packte mich am Arm, doch ich riss mich los und rannte auf den Priester zu. Ich riss ihm unter entsetzten Rufen das Buch aus der Hand und schleuderte es ins Grab. Ich kreischte. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Ich konnte nichts sagen. Ich war so unglaublich wütend. Ich wollte meinen ganzen Ärger rausschreien.
Ich nahm kurzerhand auch den Kelch mit Weihwasser und schleuderte ihn auf die Trauergäste, die kreischend zurückwichen. Dann trat ich gegen meinen eigenen Grabstein und wahrscheinlich wäre ich noch auf den Sarg gesprungen, wenn mich die zwei Männer nicht gepackt hätten. Ich wehrte mich, doch sie waren stärker und schleiften mich weg.
Erst als sie mich wegzerrten, sah ich ihn. In dem Moment erstarrte ich innerlich. Er stand unter all den Erwachsenen, inmitten der nun endlich aufgewühlten Gesellschaft aus miesen Verwandten und Bekannten, die sich ihre Münder darüber verrissen, was ich doch für ein schrecklich hoffnungsloser Mensch gewesen war und sich nun über mich diese fertige Person, die ihre schöne Trauerfeier störte, das Maul zerrissen. Und die, in Scheinheiligkeit nicht zu überbieten, meiner Mutter mitleidige Blicke zuwarfen.
Inmitten dieses miesen Packs stand er und hatte seinen erschrockenen Blick gehoben und starrte nun mich an. Tränen rannten ihm über das Gesicht. Seine Augen waren rot. Ich sah Schmerz. Tiefste, aufrichtigste Trauer stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Es war Timmy. Der Nachbarsjunge. Er ignorierte das Palaver, das um ihn herum geschah. Er war völlig aufgelöst und stand starr vor Schreck dort. Ich schluckte, als ich ihn sah. Mir selbst stiegen Tränen auf. Er war der Einzige, der wirklich um mich trauerte und es tat mir beinahe leid um ihn. Er war wie ein kleiner Bruder für mich. Er hatte mir immer gesagt, dass ich hübsch sei, und bei dem Gedanken musste ich erst recht heulen. Dieser kleine Mensch war der einzige auf dieser Erde, dem ich etwas bedeutete. Bedeutet hatte.
Man schmiss mich vom Friedhof und drohte damit die Polizei zu rufen, sollte ich es noch einmal wagen, das Gelände zu betreten. Ich hob nur meinen Mittelfinger und ging wankend, schluchzend und verärgert davon. Und auch jetzt noch hatte ich ihre Stimme im Kopf.
»Stell dich nicht so an.«, würde sie mir jetzt vermutlich sagen. »Du bist nicht wichtiger als andere.«
Verdammt, ich hasste sie.
Ich weiß nicht wie lange ich lief. Ich merkte nicht mal, dass es anfing zu regnen. Und es musste verdammt kalt sein, aber ich lief einfach weiter, so wie ich war. Mich kümmerte nicht, ob ich fror oder ob ich nass wurde. Es war mir alles egal. Vielleicht stieg ich auch deswegen zu dem Kerl ins Auto.
Wie viel ich verlangen würde, wollte er wissen, während er langsam mit seinem Auto neben mir her rollte. Und ob mir nicht kalt wäre und dass es in seiner Karre schön gemütlich wäre. Und er wüsste, wie er mich aufwärmen könnte. Dieser ganze Müll.
Ich wollte ihn zuerst ignorieren. Oder ihm irgendwelche Beschimpfungen an den Kopf werfen. Aber irgendwie wollte ich es auch darauf ankommen lassen.
»500.« sagte ich schlicht und würdigte ihn keines Blickes.
Ich ging einfach weiter. Ich dachte, er würde Nein sagen. Ich war mir sicher. Ich hatte damit gerechnet, dass er das Fenster hochfahren und abdrehen würde. Doch er blieb stehen. Er willigte verdammt noch mal ein. 500 Lappen!
War der verrückt? Ich konnte offensichtlich alles verlangen. Und ich sah dabei so fertig aus. Was war mit Männern nicht in Ordnung?
Er sagte er würde mit mir in ein nettes Hotel fahren, aber ich könnte schon mal anfangen, ihm ein bisschen was zu zeigen.
Gott, war der Kerl widerlich. Und dennoch stieg ich ein. Ich ließ es einfach geschehen. So ein mittelalter Sack. Bestimmt hatte er Familie und vermutlich auch noch Kinder. Führte ein spießiges Familienleben und fuhr dann durch die Gegend und hurte rum. So ein Arsch.
Kaum war ich im miefenden Auto, landete seine Hand auf meinem Knie. Es ekelte mich innerlich, doch ich ließ es zu. Selbst als mir seine Finger, alles andere als zärtlich, zwischen die Beine fuhren. Dann gab er Gas. Er hatte eine Flasche Bier dabei und bot sie mir an. Ich nahm sie, ohne zu zögern, und leerte sie in einem Zug, was er tierisch lustig fand. Er fuhr dann noch zu einem Liquor-Store, besorgte Zigaretten und Schnaps, gab mir einen Klaps auf meinen Hintern und wollte mir seine Zunge in den Hals stecken. Doch ich wies ihn erst mal ab, was er wieder sau komisch fand. Er hatte eine scheiß Lache. Was für ein Drecksack.
Am Ende landeten wir in irgendeiner Absteige. Einem Loch, wo ich nicht mal begraben sein wollte, und nicht einmal da kam mir der Gedanke, dass ich das nicht tun sollte. Ich war mir selbst so egal. Ich stieg hinter ihm die Treppen zum Apartment nach oben, ich ging hinein, ich hörte, wie er seinen Gürtel öffnete, ich setzte mich aufs Bett, spürte die durchgelegene Matratze, roch den miesen Duft der verdreckten Bude, blickte den miesen Kerl mit einem aufgesetzten Lächeln an und spreizte, ohne zu zögern, die Beine als er auf mich zukam.
Ich ließ es einfach geschehen. Ich schenke dem Ganzen nicht mal richtig Beachtung. Ich griff zwischendurch zur Schnapsflasche und setzte an und wartete, bis es vorbei war. Lang dauerte es ohnehin nicht. Danach fragte er allen Ernstes, ob ich es auch so geil fand, und schoss sich selbst noch mit der Pulle ab.
Dann knallte er mit einem Mal schnarchend aufs Bett.
Das war der Moment, als ich beschloss abzuhauen. Aber vorher wollte ich mein Geld. Ich kramte in seinen Sachen, fand die Brieftasche in seiner Lederjacke und im gleichen Moment wurde ich stocksauer. So ein Penner!
Da waren gerade mal 200 Dollar. Ich verfluchte ihn. Dafür fand ich dann in seiner Hosentasche etwas, das die Sache wieder in ein anderes Licht rückte.
Zum einen den Autoschlüssel, der mich auf die nächstbeste Idee brachte und noch etwas ganz Besonderes. Es war nicht viel, aber es glänzte leicht und ließ mein Herz gleich ein wenig pochen. Es war ein kleines Päckchen und das Pulver darin war verlockend weiß. Ich hatte es noch nie ausprobiert. Heute war wohl der Tag der ersten Male.
Ich schnappte es kurzerhand, klaute ihm noch die Jacke und machte mich aus dem Staub.
Das Auto war nicht zu gebrauchen. Eine Dreckschleuder. Es hatte eine Gangschaltung. Wer zum Henker fuhr schon ein Auto mit Schaltung? Ich hatte keine Ahnung, wie man damit umging. Aber ich hielt mich nicht länger damit auf. Ich zerkratzte ihm kurzerhand den Lack und pfefferte den Schlüssel in die Umgebung. Ich fand ein Taxi, sagte dem Fahrer, er solle mich zu einer Bar bringen, egal welcher, und zwar flott.
Nein nicht Bar, korrigierte ich mich. Ich wollte in einen Club. In den Club.
Es gab nicht viele in dieser Stadt und nur einen, der ein bisschen was konnte. Und in den ich zuvor noch nie reingekommen war. Aufgrund meines Alters. Jedes Mal wollten die Penner meinen Ausweis. Aber so, wie ich jetzt aussah, sollte das kein Problem mehr sein. Ich grinste.
Ich beschloss, mich volllaufen zu lassen. Ich würde nun alles tun und lassen, bei dem ich früher noch so etwas wie Scham oder Zurückhaltung verspürt hätte. Wenn ich schon nicht sterben durfte, dann würde ich jetzt richtig die Sau raus lassen.
Ich wusste ja, wie ich an Geld kam. Vielleicht fand ich sogar welche, die besser zahlten. Wenn ich schon, verdammt noch mal, nicht in Frieden ruhen durfte, dann wollte ich es darauf ankommen lassen.
Bald stand ich in der Schlange vor dem Eingang. Ich machte mich, so gut ich konnte, zurecht, doch ich musste gar nichts tun. Bevor ich irgendwas sagen konnte, wurde ich bereits durchgewunken und den Kerl am Eingang hatte ohnehin nur meine Oberweite interessiert. Was für ein schleimiges Grinsen.
Dann prallten mir mit einem Schlag die Dunkelheit und das blitzende Licht entgegen. Die Bässe und Vibrationen der Nacht. Das Leben begann von neuem und ich tauchte tief darin ein.
Was dann passierte weiß ich nicht genau. Nicht mehr.
Irgendwann schwanden mir die Sinne. Ich sah noch ein paar Fetzen. Flaschen und schrille Gesichter. Dann nackte, verzerrte Körper. Ich wusste nicht mehr, wer und wo ich war. Blanke Brüste und das Gefühl von hunderten Zungen auf meinem Körper.
Alles drehte sich.
Als meine Sinne wieder einsetzten, fand ich mich erneut auf den Straßen dieser Stadt. Es war früh morgens. Es war grau. Es war kalt. Es war hoffnungslos.
Ich war immer noch unweigerlich am Leben. Oder wie man es auch nennen wollte. In mir brannte es. Ich wollte immer noch nicht in diesem Körper stecken.
Mein Atem stank.
Ich hatte einen furchtbaren Geschmack auf der Zunge. Eine Mischung aus Zigaretten, billigem Wein und ... Fuck. Mir war schlecht.
Was waren Männer nur für verdammte Schweine. Sie saugten das Leben aus einem. Sie wurden nur geil, wenn sie einen erniedrigten. Alle waren sie gleich.
Langsam ließ die Wirkung des weißen Wundermittels nach. Ich hatte alles verprasst. Mein Körper schmerzte. Ich war müde vom Laufen und in meinem Kopf kreiste es. Doch ich war geladen und das war gefährlich. Ich hatte alles verloren und nichts gewonnen. Ich war tot und war es nicht. Ich steckte in einem mir fremden, mir verhassten, veralteten Körper und lief durch diese miese, abgefuckte Stadt.