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Liah ist ein Engel, der nicht mehr fliegen kann. Sie hat aufgrund traumatischer Erlebnisse den Glauben an sich selbst und die Schöpfung verloren. Die 23-jährige Gesangslehrerin hilft außerirdischen und übernatürlichen Waisen in einem Camp, ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Als sie ein heiliges Artefakt stiehlt, um dem Bruder ihrer besten Freundin das Leben zu retten, trifft sie auf Keen. Keen hat vor Jahrhunderten seine niederen Emotionen an dieses Artefakt gebunden. Er will Liah für den Diebstahl zur Rechenschaft ziehen. Dabei geraten die beiden in einen tosenden Sturm aus alten Verletzungen, den nur die Liebe bezwingen kann. Die Geschichte greift aber nicht nur das Thema der Erlösung von schmerzhaften Emotionen auf, sondern befasst sich außerdem mit Konfliktbewältigung aus energetischer Sicht. Im gesamten Sonnensystem herrscht Krieg, der sich zunehmend verschärft. Die Protagonistin wird vor die Aufgabe gestellt, sich an ihr wahres Selbst zu erinnern und dabei die Menschheit in ein neues Bewusstsein zu führen.
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Seitenzahl: 828
Veröffentlichungsjahr: 2024
1- Liah
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5 - Keen
6 - Liah
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12 - Keen
13 - Liah
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20 - Keen
21 - Liah
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25 - Keen
26 - Liah
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28 - Keen
29 - Liah
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33 - Keen
34 - Liah
35 - Keen
36 - Liah
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39 - Keen
40 - Liah
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42 - Keen
43 - Liah
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46 - Keen
47 - Liah
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49 - Keen
50 - Liah
51 - Keen
52 - Liah
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54 - Keen
55 - Liah
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57 - Keen
58 - Liah
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62
63 - Keen
64 - Liah
65 - Keen
66 - Liah
67
68 - Kira
69 - Keen
70
71 - Liah
Epilog - Liah
Nachwort
Jessica Maria Tanz
Resurrection
Erkenne dich selbst
.
© 2024 Jessica Maria Tanz
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: Jessica Tanz, Suhler Str. 2d, 99885 Ohrdruf, Germany.
Jetzt! Der Impuls schoss durch meine Adern. So natürlich wie der Atem, der meine Lungen füllte, vertraute ich auf die innere Gewissheit, dass genau diese Stelle der richtige Ort für den Sprung war.
Meine nackten Hände und Füße tasteten sich mühelos dem Gestein entlang. Ich dankte den zwei Monden, die mit ihrem Licht meinen Weg bis nach Sierrana erhellt hatten. Es wäre mein Todesurteil gewesen, hätte man mich hier erwischt. Und so hüllte ich mich in die schützende Dunkelheit der Nacht, setzte jeden Schritt wohlüberlegt und ließ mich von der Mauer in die Finsternis fallen. Ein warmer Luftzug umspielte meine Tunika und ich empfing erleichtert den sandigen Boden unter meinen Füßen.
Ich sandte mein Bewusstsein durch die Umgebung und lauschte. Das Meer brandete an den Felsen und das Rauschen der Wellen beruhigte meinen Geist.
Es ist niemand hier. Nur weiter!
Die Dunkelheit mochte mich zwar vor anderen verbergen, verhüllte aber auch das alte Gemäuer, in das ich gerade eingebrochen war.
Ich führte meine Hand zur Stirn und dann zu meinem Herzen. „Ich bin ein Kind des Kosmos und ein Tor in diese Welt“, flüsterte ich und in meinem Handteller entfachte ein weiches Licht. Gerade so hell, dass ich zwei bis drei Schritte weit sehen konnte.
Die Festung hatte ihre besten Tage schon vor Jahrhunderten erlebt. Die Ruine lockte Touristen aus aller Welt an, um sie zu bestaunen. Von außen und aus der Ferne. Es war nicht erlaubt, den einst so prunkvollen Landsitz der Königsfamilie von Sierrana zu betreten.
Folge dem rechten Gang bis ins Innere der Ruine!
Ich setzte mich in Bewegung und gehorchte meiner Führung. Ich hinterfragte diese Stimme nicht mehr. Vor Jahren war sie kaum ein Flüstern. Ignoriert und belächelt ging sie im Lärm meiner stetig plappernden Gedanken unter. Bis zu jenem Tag. Ein Tag, an dem es in mir still wurde.
Der sandige Boden wich Stein. Ausgewaschen, uneben und moosbewachsen erstreckten sich die Gänge in alle Himmelsrichtungen.
An den Wänden schimmerten uralte Schriftzeichen. Ihre Leuchtkraft bezogen sie von den Monden, die heute beide in ihrer vollen Größe am Nachthimmel zu bestaunen waren. Die Sprache wurde schon seit Jahrhunderten nicht mehr auf diesem Planeten gesprochen. Und noch nie von einem Menschen. Selbst die Könige von Sierrana waren ihrer nicht mächtig.
Ich strich über die mir so bekannten Hieroglyphen und ein Kloß schnürte mir die Kehle zu.
Wer auch immer sie hier angebracht hatte, kannte sich mit seinem Handwerk aus.
„Solange Venghaa das Wirken unseres hellsten Sterns genießt, soll die Essenz der Träne von diesen Mauern getragen werden“, las ich die Inschrift leise.
Meine Finger glitten über die Symbole und das Gestein pulsierte als Antwort auf meine Präsenz. Es war ein Bannspruch mit einem eigenen Bewusstsein.
Ich las weiter: „Wer es wagt, die Träne zu rauben, wird den Zorn ihres Erben ernten.“
Ich verzog den Mund. Es war klar, dass mein Ausflug Konsequenzen haben würde. Ich ging schließlich nicht auf den Markt, um ein hübsches Souvenir zu erwerben.
Ich berührte das kalte Gemäuer und sandte dem Bannspruch etwas von meiner Essenz. Das Gestein leuchtete an der Stelle auf, wo meine Hände auflagen.
Vor meinem geistigen Auge erschien als Antwort ein stählernes Tor, das weit in den Himmel ragte. Unbezwingbar stellte es sich mir entgegen und ließ meinen Geist daran abprallen.
„Ich will sie doch nicht stehlen“, stöhnte ich genervt. Als hätte das Feilschen mit einem uralten Zauber jemals Erfolg versprochen, fügte ich hinzu: „Ich bringe sie schon bald zurück.“
Unnachgiebig zog sich der Bann zurück und gab meine Essenz wieder frei.
Ich lächelte und zwinkerte der Inschrift zu. „Wie du magst … dann eben nicht auf die sanfte Tour.“
Das Gestein vibrierte. Es fühlte sich an wie ein Lachen, das mich verhöhnte und gleichzeitig herausforderte. Die Symbole verschwanden und die Magie dieses Ortes zog sich zurück.
Becca hätte an dieser Stelle geflucht und in ihrer Wut die Festung Stein für Stein abgetragen. Nur um dann festzustellen, dass die Träne unter dem Schutt nicht zu finden war.
Und genau aus diesem Grund stand nun ich in der alten Festung und nicht meine beste Freundin. Ich konnte ebenso unnachgiebig sein wie Becca, hatte aber obendrein noch ein Händchen für alte Bannzauber.
Ich drang erneut mit meinem Bewusstsein in das Gestein ein und griff nach dem letzten Fünkchen Magie. Ich zog daran und zwang ihr meinen Willen auf.
Ein kaum hörbares Wispern hallte durch die Gänge. Es umspielte mich wie der Wind: „Das sind aber nicht die Waffen, die ein Kind des Kosmos für gewöhnlich gebraucht.“
Erfreut über das neu erwachte Interesse des Banns, hörte ich mich entgegnen: „Ich bin nicht länger ein Diener. Ich spiele nach meinen eigenen Regeln.“
Unsichtbare Hände strichen ganz sanft über meine Wangen und drangen unter meine Haut. Sie erkundeten mein Energiefeld.
„Bist du dir da ganz sicher?“, säuselte eine Stimme, die weder männliche noch weibliche Züge offenbarte.
Ich zog mich zurück und trennte unsere Bewusstseinsfelder wieder. „So sicher wie der unausweichliche Tod.“
„Es ist schade um dein verkümmertes Potenzial. Was hat dein Vertrauen in die Quelle zerstört? Warum hältst du dich selbst in solch engen Ketten gefangen?“
Ich schnaufte. Seit wann maßten sich alte Schutzzauber an, Therapeuten spielen zu können?
„Genug geplaudert!“, beendete ich unseren Austausch. Während die Präsenz mich durchleuchtete, hatte auch ich mir ein genaueres Bild von der Substanz des Zaubers gemacht. Niemand, dessen Fleisch und Blut im Bewusstseinsraum des Planeten Venghaa geboren wurden, wäre fähig gewesen, den Bann dieser Gemäuer zu lösen. Doch ich war kein Kind des Planeten Venghaa. Mein Geist war in anderen Sphären zu Hause, auch wenn ich in Fleisch und Blut an Venghaa gebunden war.
Ich umschloss das gesamte Wesen des Zaubers. Seine energetischen Gitternetze erstreckten sich bis in den angrenzenden Wald und ins Meer hinein.
Mein Geist packte die Energielinien, die durch die Dimensionsgeflechte zu ihrem Ursprung führten, und kappte deren Versorgung. Es war für mich ein Kinderspiel, sie zu zwingen, mir zu gehorchen.
„Gib frei, was von dir so treu geborgen wurde. Ich werde mich nun der Träne annehmen“, befahl ich dem Schutzzauber.
Ohne den Hauch eines Widerstandes materialisierte sich in der Mitte der Ruine ein gleißend grün schimmerndes Amulett. Wie von unsichtbaren Händen getragen, schwebte es auf Augenhöhe in der Dunkelheit. Sein Licht spiegelte sich an den feuchten Wänden der Festung. Das Medaillon hatte die Form eines Tropfens und in dessen Zentrum lag ein kleiner, blauer Stein eingebettet.
Eine fast übermächtige Traurigkeit belegte wie ein bleierner Umhang mein Herz.
„Ich danke dir!“, flüsterte ich und nahm das Artefakt an mich.
„Kind des Kosmos“, ermahnte mich das Bewusstsein ein letztes Mal, bevor es sich wieder in sein Gemäuer zurückzog. „Dein Feuer wird sich keinem Ego beugen. Sei es noch so gewaltig. Irgendwann wird es dein Ego verzehren. Spätestens dann wirst du wieder frei sein und zur natürlichen Ordnung zurückkehren.“
Der Boden unter mir bebte.
„Ich habe jetzt keine Zeit, deine Rätsel zu lösen“, antwortete ich. Die Atmosphäre hatte sich schlagartig verändert und versetzte mich in Alarmbereitschaft.
Ich legte mir das Amulett um den Hals und blickte durch das halb zerfallene Dach.
Am sternenübersäten Himmel schoss eine geflügelte Gestalt nieder. Seine Schwingen waren so schwarz wie die Nacht. Nur die Federkiele leuchteten silbern im Mondlicht. Der Rest des Mannes schluckte jegliches Licht und verkörperte die Natur einer alles einnehmenden Dunkelheit.
Mir stockte der Atem.
Wie ein herabstürzender Meteorit landete er direkt vor mir. Sein Aufprall verursachte ein markerschütterndes Grollen. Er verharrte in Angriffsstellung und sondierte sein Opfer – mich.
Das stechend grüne Licht seiner Augen erinnerte an das Amulett, welches nun auf meiner Brust zu glühen begann. Als würde es auf ihn, seinen Meister, reagieren.
Jetzt verfluchte ich mich dafür, Becca nicht doch geweckt zu haben. Die Chi-Hilka liebte es, sich einer körperlichen Konfrontation entgegenzustellen. Auch wenn dieser Todesengel Becca vermutlich zum Frühstück verspeist hätte.
Ich ließ mein Leuchten in den Augen erstrahlen und wappnete mich gegen den bevorstehenden Angriff.
Sein Blick folgte dem Glühen auf meiner Brust. Zielstrebig schritt er auf mich zu.
Nein! Du darfst ihm die Träne nicht überlassen.
Ich schloss meine Augen, ergriff das heiße Amulett und konzentrierte mich auf dessen Essenz. Meine Haut brannte, mein ganzer Körper schrie vor Schmerz, als ich den Gegenstand mit meinen Zellen verschmelzen ließ.
Eingebettet in meiner Brust, dicht über meinem Herzen, fand die Träne ihr neues Zuhause.
Ich rang nach Atem. Auch wenn die Macht der Träne noch in dem Artefakt eingeschlossen war, hatte mein System größte Schwierigkeiten, mit dem Fremdkörper zu koexistieren.
Ich schluchzte. Diese tiefe Traurigkeit hatte nun uneingeschränkten Zugang zu jedem Winkel meines Seins. Tränen liefen mir über die Wangen und meine Knie brachen vor lauter Kummer zusammen.
Mit all meiner Kraft hob ich den Kopf und schaute dem Fremden direkt ins Gesicht.
Dessen Züge erstarrten zu einer schockierten Maske. Seine Lippen formten stumme Worte. Nur einen Atemzug später funkelte der Zorn erneut in seinen Augen.
Die Finger seiner rechten Hand umfassten meinen Kiefer und zerrten mich erbarmungslos zurück in den Stand. Der Mann war gut anderthalb Köpfe größer als ich und so streckte sich mein Hals schmerzhaft, als er mein Gesicht zu seinem heranzog. Ich stand auf Zehenspitzen und unterdrückte den Drang zu atmen. Diese Geste war so kaltblütig wie seine Aura, die mich umschloss und taxierte.
Mit der linken Hand legte er mein Schlüsselbein frei. Die silberne Inschrift, die mich als Lichtwesen, gebunden in Fleisch und Blut, identifizierte, leuchtete dort verräterisch auf meiner Haut.
„Dachte ich es mir doch!“, drang seine tiefe Stimme zu mir durch. „Ein Engel, der ein heiliges Artefakt raubt?“, verhöhnte er mich. „Wollen wir mal sehen, welcher Ordnung du angehörst.“
Ich zitterte, als seine Hand meine Tunika aufknöpfte und über meine Schultern streifte. Mein Herz raste und meine Versuche, mich zu wehren, wurden mühelos niedergerungen.
Unbarmherzig drehte er mich herum. Mit der einen Hand umschloss er meine Handgelenke und mit der anderen fuhr er an meiner Halswirbelsäule entlang.
„Offenbare dich!“, befahl er meinem Wesenskern, sich zu zeigen und die Symbole auf meinen Wirbeln sichtbar zu machen. Seine Macht verwob sich dabei mit meiner. Sie führten einen stummen Kampf um die Oberhand.
Der Mann fluchte bei der Erkenntnis, dass meine geistigen Barrieren nicht so leicht zu überwinden waren wie meine körperliche Abwehr. Sein Atem hinterließ dabei ein Kribbeln in meinem Nacken.
Ich triumphierte innerlich.
„Fahr zur Hölle!“, hauchte ich und drehte meinen Kopf gerade so weit, dass ich ihm in die Augen sehen konnte. Ich würde mich nicht unterwerfen.
In seiner grünen Iris tanzten winzige Funken – wie gesprenkeltes Gold.
„Immer wieder gern“, raunte er an meinem Ohr. „Aber nicht heute.“
Ich sammelte meine Kraft und schleuderte eine Druckwelle aus Energie um meinen Körper. Gerade so viel, dass mich der Mann freigeben musste und zurücktaumelte. Seine Flügel schlugen einmal kräftig und brachten ihn wieder ins Gleichgewicht.
Schnell verbarg ich meine Haut unter dem dünnen Stoff meiner Tunika. Nun, nicht länger von meiner Angst beherrscht, richtete ich mich auf. „Wage es nie wieder, mich zu berühren, sonst verbrenne ich dich bei lebendigem Leib.“
Er legte den Kopf schief. Begutachtete seine Beute wie ein Raubtier. „Überschätze nicht mein Interesse an dir.“
Nicht im Geringsten von meiner Drohung beeindruckt, deuteten seine Finger über den Punkt auf meiner Brust, wo ich die Träne versenkt hatte. Sie verharrten nur einen Zentimeter über meiner Haut.
„Du hast mein Eigentum entwendet.“ Er hob die Augenbrauen und fügte gleichgültig hinzu: „Hättest du es nicht mit deiner Essenz verwoben, wärst du wohl jetzt bereits auf dem Weg zurück in deine Dimension.“
Sehnsucht entflammte in mir. Er musste diesen kurzen Moment der Schwäche in meinen Augen gelesen haben - die flehende Bitte, mich zu töten.
Aber so sehr ich auch den Glauben an den Sinn dieser Schöpfung verloren hatte, holten mich die klaren Fakten, welche meine Eltern mich gelehrt hatten, zurück in die Realität. Mein Tod würde rein gar nichts an meinem Dasein ändern. Meine Prüfungen, die mir das Leben stellte, würden nicht einfach verschwinden. Gesetz der Resonanz würde ich sie auf andere Art und Weise erneut anziehen. Egal in welcher Dimension.
„Tut mir leid, wenn ich deine Pläne durchkreuzt habe“, entgegnete ich sarkastisch.
Als kleine Warnung, dass ich meine Drohung bitter erst meinte, entzündete ich zwischen seinen Fingern und meiner Haut kleine Flammen. Sie verletzten mich nicht, denn sie waren ein Teil von mir - ein Ausdruck meines Wesenskerns. Diese Flammen waren aber heißer als das Feuer, welches die Menschen kannten. Sie waren alles verzehrend. Dieses Feuer konnte auch einem Engelwesen erheblichen Schaden zufügen.
Er zog endlich seine Hand zurück, machte aber keine Anstalten, den Abstand zwischen uns zu vergrößern.
Er war mir zu nah. Viel näher, als ich es einem Mann jemals gestattet hätte. Doch alles hing jetzt davon ab, ihm keinen Funken Schwäche zu zeigen. Jeden Anreiz, den ich ihm bot, mich zu quälen, käme einem gefallenen Engel wie ihm gerade recht. Also ertrug ich seine Nähe. Ich zog mein Energiefeld ganz tief in mich zurück und führte gegen jeden meiner Instinkte mein Gesicht ganz nah an seines heran. Ich konnte seinen Atem auf meinen Lippen spüren und hatte das Gefühl, dass er allein mit seinem eisigen Blick mein Herz zum Stillstand zwingen konnte.
„Was gedenkst du nun also zu tun, Kind der Dunkelheit?“, fragte ich mit fester Stimme.
Ich hörte das Rauschen in meinen Ohren und wartete auf die Antwort meines Henkers. Die Sekunden verstrichen und jede einzelne davon beinhaltete eine Ewigkeit, in der ganze Galaxien entstanden und wieder vergingen.
Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen, welches dann aber so abrupt verschwand, dass ich glaubte, mir die kurze Belustigung nur eingebildet zu haben.
„Bist du es gewohnt, dir einfach zu nehmen, wonach dir gerade der Sinn steht, kleine Diebin?“
Ich schluckte. Hielt standhaft unseren Augenkontakt.
Er fuhr fort: „Manchmal ist das, was wir uns anmaßen zu rauben, aber mehr Fluch als Segen.“
Sein Mund öffnete sich einen Spalt und er hauchte mir sanft seinen Atem ein. Er strömte in meine Lunge und ich spürte die Magie, die mein Blut tränkte.
„Ich besiegele deinen Entschluss. Die Träne soll in dir verankert bleiben. Du wirst mich schon bald anflehen wollen, dich von ihr zu befreien.“
Mein Atem ging langsamer und ein wohliges Gefühl wiegte mich in einen Zustand vollkommener Entspannung. Während ich in mich zusammensackte, kämpfte ich gegen das schwere Gefühl auf meinen Lidern.
Das dunkle Engelwesen wachte mit ausgebreiteten Flügeln über mir. Er kniete sich neben mich und sein Duft schmeichelte meiner Nase. Er erinnerte mich an das Gefühl nach einem kurzen Regenschauer im Wald, auf dem die Sonne folgte. Zedern und Zitronenmelisse.
Wie durch einen Nebel hörte ich seine leisen Worte: „Nur wirst du dich dann nicht mehr an mich erinnern können.“
Sein ernster Gesichtsausdruck war das Letzte, was ich sah, bevor der Nebel vollends Besitz von mir ergriff.
„Ach komm schon!“, flehte ich meine Mutter an. „Schließlich ist heute mein Geburtstag.“ Ich klimperte mit den Augen und zog einen Schmollmund.
Meine Mutter strich mir liebevoll eine Strähne hinters Ohr und küsste mich auf die Stirn. Ihre energetische Signatur umhüllte mich dabei wie eine tröstende Decke.
„Deiner Schulschwänzeritis nachzugeben, wäre kein angemessenes Geburtstagsgeschenk, Liah.“
Ich stöhnte und packte genervt eine Flasche mit Saftschorle in meinen Rucksack.
Meine Mutter hatte ja keine Ahnung. Sie musste nie eine Schule besuchen. Überall pubertierende Menschwesen auf engstem Raum. Jeder Einzelne hielt seine oberflächlichen Alltagsprobleme für den Nabel der Welt. Ständig prallten deren Angst-, Stress- und Neid-geschwängerten Auren gegen mein System. Ich war mehr mit dem Filtern all dieser Emotionen beschäftigt als damit, mich auf den Unterrichtsstoff konzentrieren zu können.
Josh würde sich den ganzen Tag der Aufgabe widmen, die nächste vollbusige Schönheit zu bezirzen, um sie in sein Bett zu zerren.
Nadja überlegte seit Wochen, ihre Nase korrigieren zu lassen. Sie glaubte, dass sie dann bessere Chancen bei Erik hätte.
Erik hingegen interessierte sich nicht für junge Mädchen. Er hatte ein Auge auf unseren Biolehrer geworfen.
Wenn es nicht der Sex war, den diese jungen Menschen antrieb, dann der Leistungsdruck dieser Gesellschaft.
Amy ritzte sich. Sie schrieb einfach nicht die Noten, die ihr Vater erwartete. Er setzte voraus, dass sie ihn später als Anwältin in seiner Kanzlei unterstützte. Doch sie träumte von einer Karriere als Tänzerin in einem großen Theater.
Ich hatte mich weitestgehend zurückgezogen. Als ich jedoch zum ersten Mal am öffentlichen Geschehen teilnehmen musste, war ich von dem Brei an Informationen völlig überwältigt. Irgendwann kannte ich jeden Abgrund, alle Begierden und Hoffnungen, die die Menschwesen antrieben. Und so ließ ich sie einfach durch mein System rauschen, ohne groß davon Notiz zu nehmen. Die Geschichten dieser Geschöpfe überrollten mich, noch bevor auch nur einer von ihnen den Mund aufmachen konnte, um mich zu begrüßen.
Ich hievte brav meinen Rucksack auf den Rücken.
„Der Kosmos ist gewaltig, aber ihr musstet euch ausgerechnet den Planeten Venghaa aussuchen“, sagte ich spöttisch.
Meine Mutter lächelte. Sie strahlte beständig Liebe aus. Jedem gegenüber. Sie beklagte sich nie über einen Kontakt mit einem Menschwesen, obwohl sie Rehabilitationshilfe in der Strafanstalt von Livra leistete. An einem Ort, an dem Menschwesen saßen, die wirkliche Probleme hatten.
„Weil wir hier gebraucht werden.“
Die lichtvollen Augen meiner Mutter strahlten voller Güte. „Du weißt doch, wie es um diesen Planeten steht, Liah. Sehr viele der Menschen hier schaffen es nicht aus eigener Kraft, sich von den Manipulationen der Seths zu befreien.“
Ich bewunderte ihre Zuversicht. Sie hatte wenigstens ein Ziel … eine Aufgabe. Sie erreichte jeden Tag Menschen mit ihrem Wesenskern. Berührte deren Licht und erinnerte sie an deren wahre Natur. Die Menschen weinten zum Teil, wenn sie die gefürchtete Strafanstalt verlassen mussten, um wieder in ihren Alltag zurückzukehren. Sie weinten, weil sie meine Mutter verlassen mussten – sie und ihr Licht, welches die Erkenntnis um die Vollkommenheit allen Seins wieder in ihnen erwachen ließ.
„Niemand braucht mich in dieser Schule, Ma“, stellte ich entmutigt fest.
In den Anfängen meiner Schulzeit hatte ich ernsthaft versucht, ein Mitglied dieser Gesellschaft zu sein. Ich verschenkte mich und mein Licht jeden Tag aufs Neue und ging viele Freundschaften ein. Ich war einem Menschen ähnlicher, als meine Eltern es je sein konnten. Mich beherrschten ebenfalls Emotionen und Bedürfnisse. Ganz zu schweigen von dem Kampf mit einem Hormon überfluteten Körper.
Doch schon in den untersten Klassenstufen war mir der Machtkampf innerhalb der Mädchengruppen um deren Stellung zuwider. Die Liebe, mit der hier gehandelt wurde, war immer an Bedingungen geknüpft. Nicht, dass mich das gestört hätte. Ich war nicht auf die Liebe der anderen angewiesen. Ich fand sie in mir selbst. Auch meine Eltern waren mir ein unaufhörlicher Quell dieser bedingungslosen Liebe. Aber die Menschen sahen mich nicht wie ich sie. Und so kratzen die Freundschaften, die ich einging, nur an der Oberfläche und drangen nicht in die Tiefe. Mit zunehmendem Alter war ich vom belanglosen Umgang der Menschen miteinander einfach nur genervt.
„In dieser Schule brauchen sie ihre Probleme genauso dringend wie die Luft zum Atmen“, schloss ich unsere kurze Unterhaltung.
Meine Eltern mussten nie fragen, wie es mir ging. Sie lasen es in meiner Signatur. Wir kommunizierten die meiste Zeit nonverbal. Ich konnte ihnen binnen einer Sekunde die Geschehnisse des ganzen Tages übermitteln. Dabei musste ich sie nicht einmal ansehen oder einen Laut von mir geben. Ich schickte ihnen einfach ein „Datenpaket“ und die Informationen flossen von System zu System.
Dies war keine Einbahnstraße. Ich lernte auch von den Erfahrungen meiner Eltern. Wir bildeten ein kleines, eigenständiges Kollektiv.
„Ich weiß, wie wir dich aufmuntern und deinen 16. Geburtstag gebührend feiern können“, sagte sie und klatschte vergnügt in die Hände.
Meine schon viel zu lange eingesperrten Flügel zitterten vor Freude unter meiner Haut, als ich das Bild auffing, welches sie mir in meine Gedanken schickte.
Die Vorfreude darauf, durch die Luft zu sausen und den Wind in meinen Flügeln zu spüren, würde mir helfen, den Schultag zu meistern.
*
Tränen kullerten seit Stunden über meine Wangen. Die Sonne wanderte langsam über den Waldrand und verpönte mich mit ihrem heiteren Glanz.
Die halbe Nacht hatte ich mich mit Erinnerungen an meine Kindheit und frühe Jugend gequält. Ich fürchtete mich davor, das Gesicht meiner Mutter oder den Klang ihrer Stimme zu vergessen.
Schluchzend vergrub ich mein Gesicht in meinen Kissen. Kurz darauf hörte ich Becca, wie sie das Schloss meiner Wohnung entriegelte und dann meine Schlafzimmertür aufriss.
„Guten Morgen, Schlafmütze“, begrüßte sie mich vergnügt. „Du liegst ja immer noch in den Federn.“ Mit einem Ruck zerrte Becca die Bettdecke von mir herunter.
Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, mein Nachthemd anzuziehen, nachdem ich mich in den frühen Morgenstunden zurück ins Camp geschlichen hatte. Und so kauerte ich noch immer mit den schmutzigen Klamotten der letzten Nacht in meinem Bett.
„Geh weg!“, forderte ich sie auf, das Zimmer wieder zu verlassen.
„Um Himmels willen, Liah.“ Echte Besorgnis schwang in ihrer Stimme, als sie in mein aufgequollenes Gesicht blickte. Sie stellte einen Kuchen mit Kerzen auf meinem Nachttisch ab und setzte sich dann auf meine Bettkante.
Ich betrachtete den Kuchen, der liebevoll mit einer 23 beschriftet war und die Tränen begannen erneut in Strömen meinen Wangen hinunterzulaufen.
Becca strich mir übers Haar. Sie war eine der wenigen, die meine Geschichte kannte. Eine der wenigen, die mich verstand und der ich mich anvertrauen konnte, denn sie teilte mein Schicksal.
„Lass uns heute nicht zur Arbeit gehen und stattdessen etwas Schönes unternehmen“, versuchte sie mich aufzumuntern. „Vielleicht einen Wellnesstag!? Wenn ich deine verdreckten Schienbeine betrachte, hast du ein Vollbad dringend nötig“, neckte sie mich und zog an einer meiner Haarsträhnen.
Ich lachte und schniefte in ein Taschentuch. Dann deutete ich auf den Kuchen. „Hast du den etwa gebacken? Ich wollte heute eigentlich nicht vergiftet werden.“
Becca verdrehte die Augen. „Keine Sorge. Ruth hat mir geholfen“, gestand sie.
Becca hatte in der Küche nichts verloren. Sie verwechselte gerne mal den Zucker mit dem Salz oder mischte eines ihrer Lieblingskräuter von ihrem Heimatplaneten Ketura mit unter das Essen. Für den Gaumen der Bewohner von Venghaa absolut ungenießbar oder gar unverdaulich. Als ich sie an einem Mädelsabend das erste Mal für uns kochen lassen hatte, musste ich danach eine Woche lang unter schmerzhaften, lilafarbenen Stuhlgang leiden. Damit hätte ich noch umgehen können, aber mein Geschmacks- und Geruchssinn spielten nach diesem Erlebnis tagelang vollkommen verrückt. Alle Süßspeisen schmeckten nach Seetang. Ich konnte kein pures Wasser mehr trinken. Ich hatte jedes Mal das Gefühl, ich schluckte Seifenlauge.
Erleichtert schnappte ich mir eine Gabel und schaufelte mir ein Stück nach dem anderen in den Mund.
„Mmmh, sehr gut“, schmatzte ich.
Becca strahlte wieder. Ihre Haare verfärbten sich von einem Braunton zu einem dunklen Purpurrot. „Alles Gute zum Geburtstag, Liah.“
Ich umarmte sie zum Dank.
„Den Wellnesstag müssen wir verschieben“, sagte ich mit vollem Mund und schon dabei, meine schmutzigen Kleider auszuziehen. „Ich werde gleich mal nach Collin sehen. Ich hoffe, sein Zustand hat sich zumindest nicht verschlechtert.“
Beccas Haarfarbe wandelte sich wieder zu einem matten Braunton. Das sagte mir, dass es Collin wohl nicht so gut ging.
Becca stand ebenfalls auf und wechselte das Thema: „Hast du auch eine Erklärung für deinen Zustand?“ Sie deutete auf mein Gesicht und meine verschmutzten Beine.
Ich ging ins Bad, um mein äußeres Erscheinungsbild zu korrigieren. Dabei zog ich die Schiebetür nur halb zu, sodass sie mich noch hören konnte.
„Ich war heute Nacht in der alten Ruine von Sierrana. Wir sind jetzt im Besitz der berühmt-berüchtigten Träne“, rief ich ihr ganz beiläufig zu.
Im Nebenzimmer polterte es, woraufhin ein schepperndes Geräusch folgte. Ich hielt inne und befürchtete das Schlimmste: Wenn sie meinen Kuchen herunterfallen lassen hatte, müsste sie heute noch einen neuen in Auftrag geben!
Ich öffnete die Duschkabinentür und lauschte. „Becca?“
„Du bist doch irre!“, schrie sie. „Das erklärt dein tränenüberströmtes Gesicht.“
Ich schloss beruhigt die Tür wieder und duschte weiter.
Es klang, als würde sie Scherben aufkehren.
„Liah, damit ist nicht zu spaßen. Ich weiß, dass du schlimme Dinge durchgemacht hast. Trotz dieser habe ich dich während der letzten 7 Jahre, die wir uns jetzt kennen, nicht ein einziges Mal weinen sehen.“
„Ich kann mir das auch nicht erklären“, gestand ich zerknirscht. „Irgendwie muss sich das Amulett mit meiner Essenz verwoben haben. Der Prozess lässt sich aber nicht rückgängig machen.“
Ich trocknete mich ab und angelte nach frischen Klamotten in meinem Schrank.
Becca beseitigte die Beweise ihrer Ungeschicklichkeit gerade im Mülleimer meiner Küche. Ich lugte durch einen Spalt in der Tür und stellte erleichtert fest, dass sie nur eine Glaskugel von einem Modell unseres Sonnensystems zerstört hatte.
„Das war ein Unikat“, sagte ich mit ernster Miene und stemmte die Hände in die Hüften.
Ein schuldbewusstes Grinsen breitete sich auf Beccas Gesicht aus. Ihre Reißzähne blitzten dabei kurz auf. „Ich weiß. Ich kenne die Künstlerin. Sie lebt aber zurzeit nicht auf Venghaa.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Passiert. Kein Weltuntergang.“
Die restlichen Planeten kreisten noch immer auf ihrer Umlaufbahn um unseren hellsten Stern – den Zahelion.
„Du weißt, dass du nicht für Collins Zustand verantwortlich bist?“, fragte Becca und prüfte meine Reaktion aus dem Augenwinkel, während sie die restlichen Scherben aufkehrte.
„Die Seths hatten es sicherlich nicht auf einen 8-jährigen Waisenjungen abgesehen, als sie ihre in Gift getränkten Pfeile auf uns abschossen“, entgegnete ich bitter. „Wir wissen doch beide, dass sie das Engelwesen unter uns als primäres Ziel anvisiert hatten.“
Die Seths waren die Dunkelmächte unseres Sonnensystems. In ihrer Definition waren sie Lichtwesen, die sich jedoch erfolgreich auf einigen Planeten in Fleisch und Blut manifestiert hatten. Ketura, Beccas Heimatplanet, stand vollkommen unter der Kontrolle der Seths. Sie lebten dort in physischer Form und versklavten die meisten der ursprünglichen Bewohner Keturas: die Chi-Hilkas.
Nachdem Beccas und Collins Eltern unter der Herrschaft der Seths gefallen waren, brachte man die Geschwister mit einem der wenigen Rettungsschiffe auf Venghaa.
Venghaa war in spiritueller Hinsicht ein eher rückschrittlicher Planet. Es gab nur wenige Camps, die verwaisten außerirdischen oder gar übernatürlichen Wesen wie mir Zuflucht boten. Offiziell wurden solche Camps unter dem Deckmantel sozial benachteiligter Waisenhäuser geführt. Kaum ein Mensch von Venghaa setzte sich mit dem Thema außerirdischen Lebens auseinander. Es wurde belächelt.
Die Seths hatten ganze Arbeit geleistet. Unter all ihren Verbrechen, die Menschen nicht in ihre wahre Größe zu entlassen, vertuschten sie außerdem die Wahrheit über die mannigfaltigen Lebensformen unseres Universums.
Sie infiltrierten die politische Führung, das medizinische Versorgungssystem und das Finanzsystem Venghaas. Auf diesem Planeten gab es eigentlich nichts, worin sie nicht verwickelt waren.
Der Mensch war lediglich eine kontrollierte Schachfigur, um die Seths in ihrer Machtposition zu halten. Alles, was ihrer Autorität schaden könnte, versuchten sie zu unterdrücken und auszurotten. Wir Engelwesen, die die Aufgabe hatten, die Menschen an deren Schöpferkraft und Licht zu erinnern, standen dementsprechend ganz oben auf ihrer Abschussliste.
Becca legte Besen und Kehrschaufel beiseite und sah mich verständnislos an. „Hör auf, die Märtyrerin spielen zu wollen, Liah! Du hast nicht geschossen. Also trifft dich auch keine Schuld. Die Träne zu rauben, grenzt an Todessehnsucht. In Sierrana wimmelt es nur so von Seths. Mal ganz abgesehen davon, will ich mir gar nicht ausmalen, was es für Folgen haben wird, dass du ein heiliges Artefakt gestohlen hast.“
Ich winkte ab. „Bevor das irgendjemand merkt, habe ich sie schon wieder an Ort und Stelle zurückgebracht. Wir brauchen ihre Kraft, um Collin zu heilen.“
Becca schnaufte verächtlich. „Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich dich mit der Träne an meinem kleinen Bruder herumexperimentieren lassen werde!?“
„Sollen wir ihn lieber sterben lassen?“, fragte ich sie herausfordernd. Mich schmerzte es, zu sehen, wie sie daraufhin erstarrte.
Die Seths hatten uns alles genommen, was wir liebten. Fast alles … Becca hatte noch Collin und ich würde verdammt sein, wenn ich nicht alles täte, was in meiner Macht stand, um ihn zu retten.
Ich brannte Collins Wunde mehrmals täglich mit meinem Feuer aus. Dabei arbeitete ich auf energetischer Ebene und befreite sein Fleisch von der Entzündung und den Schäden, die das Gift der Seths verursachten. Das Gift selbst konnte ich jedoch nicht neutralisieren. Das versprach ich mir von der Kraft, welche der Träne innewohnte.
Ich saß vor Collins Bett und konzentrierte mich auf das Artefakt in meiner Brust. Frustriert stieß ich mit meinem Geist immer wieder vor eine Schutzhülle aus verdichtetem Schmerz. Beim letzten Versuch, diesen Schutzmantel zu durchdringen, geriet ich an meine emotionalen Grenzen. Es war nicht möglich, mich weiter zu konzentrieren. Ich zitterte am ganzen Leib. Auf meiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet und ich schluchzte so heftig, dass ich kaum noch Luft bekam.
„Es reicht, Liah!“ Becca hatte beschlossen, diesem erfolglosen Unterfangen ein Ende zu bereiten. „Bei deinem Anblick bekomme ich direkt Angst. Das geht jetzt schon eine dreiviertel Stunde so. Du kannst ja kaum noch aufrecht sitzen. Ich habe das Gefühl, dieses Ding in deiner Brust saugt dir deinen Lebensmut aus dem Leib.“
Ich zog den Rest meiner Konzentration von dem Artefakt ab und weinte nun aus purer Erschöpfung und Erleichterung. Welcher Teufel hatte sich solch einen Schutzzauber nur ausgedacht?
Becca setzte sich neben mich und stützte ihren Kopf in den Händen ab. Die Atmosphäre des Raumes glich der einer Beerdigung.
„Und du bekommst die Träne auch nicht wieder aus deinem System?“, fragte sie erneut.
Ich hatte mehrmals versucht, die Träne von meiner Essenz zu entknoten. Immer wenn ich das Gefühl hatte, die energetischen Linien entwirrten sich langsam, verankerten sie sich im nächsten Moment noch fester in meinem Sein.
Völlig erschöpft schüttelte ich nur mit dem Kopf.
Resigniert seufzte Becca auf. „Dann müssen wir die Eigentümerin um Hilfe bitten!“
Ich schlug entmutigt die Hände vors Gesicht. „Da hätten wir zweieinhalb Jahrhunderte früher dran sein müssen.“
Arwinjha, die rechtmäßige Inhaberin der Träne, wurde wie nahezu alle Engelwesen erfolgreich von den Seths abgeschlachtet.
„Und ihre Erben?“, fragte Becca und in ihrer Stimme schwang tatsächlich so etwas wie Hoffnung mit.
Ich suchte in meinen Erinnerungen nach irgendeinem Hinweis über ihre Nachkommen, den ich in der Ruine eventuell übersehen haben könnte. Der Bannspruch fiel mir wieder ein: Wer es wagt, die Träne zu rauben, wird den Zorn ihres Erben ernten.
Ich zuckte mit den Schultern. „Bisher hat noch keiner einen Anspruch auf sein Eigentum erhoben. Vielleicht sollte ich nochmal nach Sierrana.“
Becca starrte gedankenverloren auf Collin. Sein Anblick schnürte mir erneut die Kehle zu und mein Herz wurde schwer.
Seine Augen waren geschlossen und er erweckte den Eindruck, als würde er friedlich schlafen. Ein Tiefschlaf, der nun schon seit 4 Tagen andauerte. Die Ärzte aus dem Camp konnten ihm nicht helfen. Zumindest stellten sie sicher, dass sein Körper ernährt und gepflegt wurde.
Ich nahm Beccas Hand und drückte sie aufmunternd. „Wir werden einen Weg finden, ihn zu heilen.“
*
Eine halbe Stunde später betrat ich die prächtige Halle unserer Thalia. An den Wänden thronten Bilder von Wesen anderer Planeten. Alle mit ihren einzigartigen Erkennungsmerkmalen abgebildet. Unter anderem auch die Chi-Hilkas mit ihren kräftigen Kriegerkörpern und den meist purpurroten Haaren. Im Hintergrund leuchtete deren lilafarbener Planet Ketura. Gleich daneben fand Venghaa seinen Platz in der kunstvollen Darstellung. Der grünblaue Planet zeigte vor sich den Menschen. Der Künstler hatte seinen Wesenszug gut eingefangen. Er stellte den Menschen als Tor der reinen Liebe dar - mit dem Potenzial der Güte, welche aus seinem Herzen wie eine lichtvolle Knospe in die Welt hinein erblühte.
Aber auch die restlichen Planeten unseres Sonnensystems fanden ihren Platz an den Wänden der Thalia. Angefangen bei dem gelben Giganten Lanoste, mit seinen schuppigen, kriechenden Bewohnern namens Echsitaras. Daneben seine beige- und rosafarbene Schwester Airana mit ihren ätherischen Luftwesten.
Die Decke war fast ausschließlich mit dem Planeten Aquerius bemalt. Dessen Wasserwesen, die Nyxesius, illustrierte der Künstler wie seidene Tücher, die Aquerius umtanzten und sich ineinander verwoben.
Satura erstrahlte durch einen onyxfarbenen Nebel. Er war der eigentliche Heimatplanet der Seths. Wunderschön und anmutig gliederte er sich in das Bild ein.
Die von Venghaa weiter entfernteren, nicht mit physischen Wesen bewohnten Planeten, schlossen den Kreis links neben der Bühne. Im Zentrum der Bühne erstrahlte unsere Sonne - Zahelion.
Einige außerirdische Arten hatten Schutz in unserem Camp Veritas gefunden. Vor allem die verwaisten Kinder von Ketura flüchteten vor den Seths – so wie Becca und Collin.
Aber auch einige Wesenheiten anderer Sternensysteme, die ihre physische Natur energetisch den Umweltbedingungen von Venghaa anpassen konnten, waren im Camp Veritas vertreten. Eine dieser Rassen waren die Plenarer. Sie besaßen nahezu das gleiche Erscheinungsbild wie der Mensch, waren nur etwas größer und lebten ein paar hundert Jahre länger. Einige wenige von ihnen erklärten sich bereit, deren Sternengefüge, die Plenaren, zu verlassen, um der Menschheit zu helfen, sich von den Seths zu befreien.
Vinja, eine solche Plenarerin, begrüßte mich herzlich, als ich die Stufen der Bühne hinaufschritt.
„Liah, welche Freude, dich zu sehen!“ Sie führte ihre Hand zur Stirn und dann zu ihrem Herzen. Ich tat es ihr nach und unsere erhobenen Handflächen berührten sich schließlich auf der Höhe unserer Herzen.
Kenos, ihr Gefährte, begrüßte mich ebenfalls auf diese Art - nur ohne den Körperkontakt.
„Wolltest du dir heute nicht einen Tag freinehmen?“, fragte er. „Schließlich hast du ja Geburtstag.“
Mir entging keinesfalls sein erschrockener Blick, der meinen geschwollenen Augen galt.
„Gerade heute möchte ich doch nicht auf die zuckersüßen Stimmen der Kids verzichten“, sagte ich so fröhlich wie möglich. Dabei zwinkerte ich Liv zu, die meine Anwesenheit ebenfalls zur Kenntnis genommen hatte. Die 6-jährige Echsitara strahlte übers ganze Gesicht und ihre Schuppen hinter den Ohren stellten sich wie ein Fächer auf.
Ich wandte mich wieder an Vinja und Kenos: „Außerdem rückt der große Tag der Aufführung immer näher und der ein oder andere hat noch ein wenig Übung nötig.“
Vinja nickte wohl wissend.
Sie und Kenos waren Lehrkräfte für Tanz und Choreografie in unserer schönen Thalia. Wir ergänzten unseren Unterricht gegenseitig.
Ich lehrte die Kinder, ihrem Gesang den entsprechenden Ausdruck zu verleihen. Ich lehrte sie, den Melodien ein Gefühl zu schenken und ihnen somit Leben einzuhauchen. Mein Wirken vollzog sich meist auf energetischer Ebene. Ich unterstützte die Kinder dabei, ihre blockierten Energien wieder ins Fließen zu bringen. Viele waren in ihrem Schock, aufgrund der erlittenen Schicksalsschläge, so erstarrt, dass bei ihnen gar nichts mehr floss. Die Musik und die Bewegung halfen ihnen wieder, ihren eigenen Rhythmus zu finden – zurück ins Leben.
Vinja berichtete von den Erfolgen, die sie heute Vormittag bei den Proben erzielt hatten. Eve und Liv spielten in unserem Theaterstück zwei Engelwesen, die in einer Szene einen sehr emotional aufgeladenen Tanz vorführen sollten.
Die Engel-Schwestern wurden voneinander getrennt. Eine der Schwestern starb und kehrte in die Dimensionen des All-Eins-Seins zurück.
Liv verkörperte das Engelwesen, welches in die Dunkelheit des Vergessens fiel. Im Anschluss an den Tanz sang Liv ein Solo. Es handelte von einer tiefen Sehnsucht nach der verloren gegangenen Schwester, welche in den himmlischen Sphären verweilte und für sie unerreichbar schien.
Ich hatte es mir heute zur Aufgabe gemacht, Liv dabei zu unterstützen, ihre Interpretation von ihrem Solo zu perfektionieren.
Vinja und Kenos würden den Rest der Kids in die nächste Szene choreografisch einweisen, während ich mit Liv probte.
Vinjas Redefluss hielt an und ich hörte der Plenarerin gespannt zu, als es plötzlich im unteren Bereich meiner Wirbelsäule angenehm warm wurde. Die Wärme stieg meinem Wirbelkanal empor und wurde von einem Prickeln begleitet, welches sich prompt in meinem Kopf ausbreitete und sich auf meine Augen legte. Ich blinzelte und versuchte, die kleinen Sterne zu vertreiben, die sich durch mein Sichtfeld zogen. Meine Ohren rauschten und eine fremdartige energetische Präsenz legte sich wie ein Schleier auf meine Haut. Das Gefühl war zwar alles andere als unangenehm, brachte mich jedoch etwas aus der Fassung.
So etwas war mir noch nie passiert.
„Alles in Ordnung, Liah?“, erkundigte sich Vinja beunruhigt.
Ich konnte die neuen Empfindungen nicht einordnen, schob sie aber auf das heilige Artefakt, welches sich in meiner Brust eingenistet hatte. Das war schließlich das einzig Neue in meinem Leben, was diese Präsenz hätte erklären können.
Es war die erste angenehme Erfahrung, die ich mit der Träne machte.
Ich blinzelte erneut und die Sternchen rückten an den Rand meines Sichtfeldes. Ein stetiges Surren rauschte durch meine Adern. Als würde mein Blut singen.
„Klar!“, entgegnete ich schnell. Denn das war es heute wirklich zum ersten Mal – alles in bester Ordnung.
Ich klatschte voller Tatendrang in die Hände und mischte mich unter die schnatternden Mädchen.
„Liv“, sprach ich die kleine Echsitara an, „wollen wir an deinem Solo arbeiten?“
Liv kroch im Vierfüßlergang auf mich zu und richtete sich dann auf. Die Schuppen hinter ihren Ohren spreizten sich erneut.
„Ich bin bereit“, vibrierte ihre samtene Stimme durch die Halle.
Vinja und Kenos blieben mit den restlichen Kindern auf der Bühne. Liv folgte mir auf die kleine Empore, um den Tänzern nicht im Weg zu stehen.
Wir machten ein paar Atem- und Stimmübungen und summten dabei vor uns hin. Mein Herz lachte bereits. Unsere Stimmen spielten miteinander. Liv erschuf mit ihrem rauchigen, samtenen Klang eine beruhigende Atmosphäre, während ich diese mit einer heiteren Melodie lockte.
Wir verloren uns ein paar Minuten lang in unserer eigenen kleinen Symphonie. Ich zog an einigen Stellen in Livs System an blockierten Energiesträngen und beobachtete erfreut, wie ihre Bahnen wieder mit Licht versorgt wurden und in ihrer normalen Funktion erstrahlten. Liv blühte immer weiter auf und als ich merkte, dass sie wirklich bereit war, verstummte ich.
Wir hatten mit unserem Gesang eine eigene kleine Welt erschaffen, die nun wieder in sich zusammenfiel. Wehleidig lächelte Liv mich an.
„Nach der Probe können wir das gerne wiederholen“, beschwichtigte ich sie.
Die Sternchen in meinem Augenwinkel begannen erneut zu tanzen und ich genoss die heitere Stimmung der neuen Präsenz in mir, die nach wie vor unterschwellig auf meiner Haut prickelte.
Die Echsitara richtete sich noch weiter auf. Sie schloss ihre Augen und war vollkommen in sich gekehrt – schwang sich emotional in die Grundstimmung des Solos ein.
Dann erklang der erste Ton aus ihrem Mund: Ganz leise und zerbrechlich gebar sie ihn aus Schmerz und Verzweiflung. Einen emotionalen Zustand, den hier jeder im Saal nur allzu gut kannte. Der Text untermalte die Schwere der Melodie.
Die Kinder unterbrachen ihre Tänze und hielten den Atem an. Alle lauschten ehrfürchtig Livs Gesang, deren Frequenz sich in der gesamten Halle ausbreitete und die Herzen aller Wesen im Raum in Resonanz gehen ließ.
Als sie endete, sah ich, wie Eve sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte.
Liv hatte seit unserer letzten Probe geübt und sich stark verbessert. Doch ich wusste, dass noch mehr in ihr steckte. Ich beobachtete während ihres Gesangs, wie sich ihr Energiefeld bewegte. An einigen Stellen geriet es jedoch noch ins Stocken. Sie traute sich nicht an die Gefühle heran, die den bestimmten Liedabschnitt wirklich zum Leben erweckt hätten.
„Das war sehr gut“, lobte ich sie, als sie sich wieder in Stille gehüllt hatte. „Bitte hör dir die folgende Stelle genau an und spüre dich hinein. Danach möchte ich, dass du sie noch einmal singst.“
Meine Intention war es, sie für das unterdrückte Gefühl resonanzfähig zu machen und es somit wieder zum Fließen zu bringen. Und so stimmte ich den erwähnten Abschnitt mit meiner Stimme an. Ich begann ein paar Takte zuvor und schwang mich in die Frequenz hinein. Der Ursprung der Tonbildung erfolgte nicht in meinem Körper. Ich gebar die Essenz der Melodie aus meinem Sein. Ich wurde zu ihr und mein Körper bildete das Instrument, welches die Schwingung in den Raum übertrug. Ich spürte die Vibrationen, öffnete mein Herz und gab mich der Geschichte, die das Stück erzählte, vollkommen hin.
Dann geschah etwas Außergewöhnliches. Die Trauer, die das Stück normalerweise in mir hervorrief, floss nicht in einem natürlichen Maß. Die Energie schien sich in mir zu potenzieren. Das kleine Bächlein, welches mein System mit Leichtigkeit zu fassen beherrschte, verwandelte sich erst in einen reißenden Fluss und dann in eine Sintflut. Ich verlor die Kontrolle und drohte, darin zu ertrinken.
Mein Gesang entführte meine Zuhörer für gewöhnlich in eine andere Realität. Alle Anwesenden in der Thalia wurden von meinem unnatürlich hohen Maß an Schmerz mitgerissen.
Die Kinder hatten sich mir gegenüber vertrauensvoll geöffnet. Mit meiner Gabe, ihre Energien zu lenken, verursachte ich gerade einen Schaden, der einem Trauma glich. Sie stürzten vor meinen Augen in tiefe Verzweiflung.
Vinja, die wie ich Energien lesen konnte, eilte auf die Empore und schüttelte mich. Sie versuchte, mich aus meinem Strudel aus Trauer und Schmerz zu reißen. Ich hatte schon lange aufgehört zu singen, weil sich in meiner Kehle ein fetter Kloß gebildet hatte, der mir die Luft zum Atmen nahm. Die Kinder waren aber noch mit mir verbunden. Der Gesang hatte sie in mein System gelockt und der Schmerz, den sie alle aufgrund ihrer tragischen Vergangenheit in ihren Zellen trugen, hielt sie dort wie ein Magnet gefangen.
Ich schrie und fiel auf die Knie. Die Sternchen am Rande meines Sichtfeldes tanzten und plötzlich bereitete sich eine erlösende Stille in mir aus. Es wurde dunkel und ich verlor das Bewusstsein.
Es war schon eine Weile her, dass ich im Büro der Campleitung vorsprechen musste.
Kathara lehnte ihre Ellbogen auf den Schreibtisch. Ich saß ihr gegenüber und starrte auf das große Wandbild hinter ihr. Die stürmische See brach ihre Wellen aufschäumend an den Küstenfelsen. Die Sonnenstrahlen fielen vereinzelt durch die violetten Wolken und schenkten der brodelnden Atmosphäre Hoffnung.
Kathara musterte mich. Trotz der heiklen Situation strahlte sie Ruhe aus. In ihren Worten lag keine Schuldzuweisung.
„Ist dir eigentlich klar, dass du viele der Kinder mit diesem Vorfall in ihr Trauma zurückgeworfen hast, Liah?“
Ich war mir dessen durchaus bewusst. Ich hatte die Verbindung zu jedem einzelnen Kind während jeder einzelnen Sekunde dieses verstörenden Erlebnisses gespürt.
Ich verabscheute mich zutiefst dafür.
„Ich werde alles tun, um den Schaden, den ich verursacht habe, wieder zu beheben“, versprach ich.
Kathara schüttelte den Kopf. „Es macht den Eindruck auf mich, als hättest du keine Kontrolle mehr über deine emotionalen Regulationsmechanismen. Es tut mir leid, aber ich kann dich unter diesen Umständen nicht länger mit den Kindern arbeiten lassen.“
Ich wurde bleich. „Du suspendierst mich!?“
Die einfühlsame Menschenfrau nahm meine Hand. Sie hatte die Gabe des Mitgefühls, welche sie für die Campleitung von Veritas prädestinierte.
„Solange das Artefakt einen solchen Einfluss auf dich ausübt, bist du eine Gefahr für den Heilungsprozess der Kinder.“
Ich nickte nur und blinzelte die Tränen weg.
Kathara kannte mich seit meinem 16. Lebensjahr. Sie war es, die mir damals Schutz und Halt gab, die mich aufgenommen und meinem Heilungsprozess Raum geschenkt hatte. Ich verdankte ihr so viel und vertraute auf ihr Urteil.
*
Ich brauchte dringend ein Ventil. Körperliche Aktivitäten wirkten bei mir während emotionaler Ausnahmezustände meist Wunder. Daher zog ich mir Sportkleidung an und beschloss, Becca einen Besuch auf dem Trainingsgelände abzustatten.
Der Himmel war grau und es wehte ein angenehmes Lüftchen - eine schöne Abwechslung zu den anhaltenden, heißen Sommertagen.
Die Präsenz hatte sich wieder um meinen Körper gehüllt und die Sternchen verharrten ruhig am Rande meines Sichtfeldes. Ich genoss das Gefühl dieser Energie. Ich fühlte mich darin geborgen. Sollte ich es schaffen, die Träne aus mir zu entfernen, würde ich diese Präsenz vermissen. Sie kam und ging, wann sie es beliebte. Sie stellte sich aber jetzt schon als eindeutiger Suchtfaktor heraus.
Ich stand am Waldrand und beobachtete Becca, die eine Gruppe von Neuankömmlingen über und unter Hindernissen hindurch befehligte. Sie hatte gegenüber ihren Schülern meistens einen herrischen Ton. Außer bei den Kleineren. Doch jetzt rannten Jugendliche durch den Parcours und Becca ging richtig in ihrer Rolle auf.
„Ich habe deine kleine Schwester bis ganz nach oben klettern sehen, Joey. Also mach dir nicht in die Hose und beweg deinen Hintern dort rauf!“, brüllte sie den jungen Mann an.
Er verdrehte die Augen und unternahm einen neuen Anlauf, das Seil hinaufzuklettern, um zum nächsten Hindernis vorstoßen zu können.
„Wenn du hier schon anfängst zu heulen, bin ich darauf gespannt, wie du mit den echten Herausforderungen des Lebens umgehen willst“, mahnte sie weiter.
Ich legte ihr von hinten eine Hand auf die Schulter. „Hast du wieder mit Unterrichtsverweigerern zu kämpfen?“, schmunzelte ich.
Becca zog die Augenbrauen nach oben und kommentierte sogleich einen neuen Anflug von Ungeschicklichkeit: „Du sollst über den Bock springen und nicht darüber fallen, Owen!“
Ich räusperte mich. Ich war auch keine besonders gute Sportskanone. Vielleicht sollte ich meine Entscheidung, an Beccas Training teilzunehmen, nochmal überdenken.
„Alles aufgeblasene Machos auf diesem Platz“, urteilte sie. Ihre nächsten Rufe richteten sich an einen dickeren jungen Mann, der noch mit der ersten Station des Parcours kämpfte. „Soll ich der Prinzessin nochmal vorführen, wie man einen Ball richtig wirft?“
Der arme Kerl würde es in ihrem Unterricht nicht leicht haben. Dafür aber viel Gewicht verlieren.
Becca drehte sich zu mir um und begutachtete mein Outfit. Ich trug enge Shorts und ein figurbetontes Top.
„Vorsicht, Liah! Wir haben ein paar neue Jungs im Camp. Sie wissen nicht, dass du hier eine Lehrkraft bist und könnten dich für leichte Beute halten.“
Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Ich vertrieb herannahende Erinnerungsfetzen aus meinem Geist.
„Mit ein paar Halbstarken komme ich schon klar“, scherzte ich, hatte dabei jedoch einen viel zu ernsten Tonfall aufgesetzt.
Becca wies mich an, meinen Körper zu dehnen und machte mir die Übungen vor. Im Vergleich zu ihrem muskulösen Erscheinungsbild stellte ich ein zerbrechliches Wesen dar - schlank und grazil.
„Ich habe von deiner Suspendierung gehört. Wonach steht dir der Sinn? Kraft- oder lieber Ausdauertraining?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich will einfach nur diesen Tag vergessen.“
Sie schickte mich mit einer Gruppe Jungs auf einen Ausdauerlauf durch den Wald. Wenigstens wurde ich von den Sandsäcken, die meine Mitstreiter an Hand- und Fußgelenken tragen mussten, verschont.
Ich hielt mit ihnen sehr gut Schritt und bewegte mich im vorderen Drittel. Nach 20 Minuten des Laufens bergauf und bergab durchfuhr mich ein Hochgefühl. Der stetige Rhythmus meines Atems zentrierte mich im Hier und Jetzt. Es nieselte leicht und ich begrüßte die Abkühlung auf meiner Haut.
Ungefähr 100 Meter vor mir hörte ich einen jungen Burschen aufschreien. Ich konnte den Grund dafür nicht erkennen, weil der Weg einen Bogen machte und in einer Senke mündete. Ich beschleunigte mein Tempo und rannte in Richtung der Schreie.
Ein weiterer Schrei von einer anderen männlichen Stimme ertönte vor mir.
Ein innerer Impuls wurde laut: Lauf schneller und bewaffne dich mit dem Ast vom Wegesrand!
Meine Finger griffen nach dem Stock und ich rannte, als wäre der Leibhaftige persönlich hinter mir her.
Hinter der Biegung erblickte ich das wohl gefürchtetste Ereignis, welches eine Lehrkraft unseres Camps haben konnte: Fünf ausgewachsene Seths stürzten sich auf drei unserer Schüler.
Zwei der Schüler waren Gestaltwandler, der dritte war ein Chi-Hilka. Wir hatten also gute Chancen, diese Zusammenkunft zu überleben.
Zu meinem Entsetzen wurde einer der Gestaltwandler sogleich niedergeschlagen. Der andere stellte sich schützend vor den bewusstlosn Körper seines Freundes. Bereit, ihn mit seinem Leben zu verteidigen. Er parierte gekonnt einige Angriffe von einem Seth und verteilte gegen diesen auch Fausthiebe, die in ihr Ziel fanden.
Der Chi-Hilka hielt sich tapfer gegen zwei Seths. Eifrig spielte der muskulöse Krieger den einen gegen den anderen aus. Ich konnte in seinem Gesicht tatsächlich so etwas wie freudige Erregung aufblitzen sehen. Als hätte er nur darauf gewartet, seinem Unmut Luft machen zu können.
Die anderen beiden Seths konzentrierten sich auf mich - das neu hinzugekommene Mitglied dieses Kampfes.
Die Aufmerksamkeit der Präsenz erwachte zu neuem Leben und mein Blut geriet in Wallung.
Die erste Regel bei einem Angriff gegen die Schüler lautete: ‚Vermindere das Risiko, dass sich die Bedrohung weiter ausbreitet!‘
Ich beschwor einen Feuerring herauf, der die Beteiligten in seinem Kreis einschloss. Ich hatte die Entscheidung keine Sekunde zu spät getroffen, da die nächsten jungen Männer bereits heraneilten.
Der zweite Gestaltwandler ging zu Boden und der Chi-Hilka bekam neues Futter für seinen Drang, seinen unterdrückten Aggressionen freien Lauf zu lassen. Er lächelte siegessicher. Eine Stimmung, die ich nicht teilen konnte.
Wenn ich doch nur noch dazu fähig gewesen wäre, meine Flügel heraufzubeschwören, dann hätte ich zumindest die wehrlosen Gestaltwandler aus dem Ring schaffen können.
Der erste der beiden Seths kam frontal auf mich zu und umfasste meinen Hals, während er mit der anderen Hand meinen Kopf an den Haaren nach hinten zerrte.
Zweite Regel bei einem Angriff: ‚Ruhe bewahren und zentrieren.‘
Ich sammelte mich und rief mir Beccas Selbstverteidigungstechniken in Erinnerung.
Ich hob meinen rechten Arm und hebelte von oben herab in einer Drehung sein Handgelenk aus und befreite meinen Hals somit aus seinem Würgegriff. Ich drückte seinen Arm nach unten und hatte freie Bahn, meine Finger in seine Augen zu versenken. Gleichzeitig trat ich ihm mit voller Wucht vor sein Knie. Er beugte sich nach vorn und ich konnte ihm ungehindert meinen Ellbogen ins Genick hauen. Mit dem Fuß trat ich noch einmal nach. Der Mann ging zu Boden.
Der zweite Seth umklammerte mich von hinten. Ich trat einen Schritt zur Seite und rammte ihm meinen linken Unterarm in den Unterleib. Dann beugte ich mich nach vorne und befreite einen Arm aus seiner Umklammerung. Ich drehte mich ein klein wenig ein und setzte einen gezielten Hieb mit meinem linken Ellbogen von unten gegen sein Kinn. Er gab mich frei, sodass ich mich komplett drehen konnte. Er hatte sich schon fast gefangen, doch ich stieß ihm explosionsartig meinen Handballen vor die Nase. Er taumelte zurück. Blut spritzte aus seinem Gesicht. Die Nase war mit Sicherheit gebrochen.
Der dritte Seth hatte von dem jungen Chi-Hilka abgelassen und nutzte die Tatsache, dass ich noch auf meine Abwehr gegen den zweiten Seth konzentriert war. Er zog meine Beine weg und schleifte mich durch den Dreck.
Ich drehte mich und wollte aufstehen, doch er setzte sich rittlings auf mich drauf. Meine Handgelenke fixierte er über meinem Kopf.
Ich unterdrückte den aufsteigenden Würgereiz. Sein dreckiges Grinsen und das Überlegenheitsgefühl in seinem Gesicht stachelten meine Wut an. Ich spuckte ihm in die Augen.
Als er meine Handgelenke freigab, um zum Schlag auszuholen, bewegte ich meinen Oberkörper ruckartig auf seine Brust zu. Ich rammte meinen Kopf in seinen Bauch und umschlang seinen Rumpf mit meinen Armen. Dabei verlor er das Gleichgewicht und sein Oberkörper neigte sich nach vorn. Ich nutzte diesen Schwung und hob mein Becken, sodass er mit voller Wucht vornüber, mit dem Gesicht voran, in den Dreck fiel.
Sein Schock über den Aufprall gab mir die Gelegenheit, seinen rechten Arm in seine Mitte zu schieben, seinen rechten Fuß mit meinem am Boden zu fixieren und mich zur Seite zu rollen. Damit bekam ich ihn zumindest von mir herunter.
Meine Arme und Beine zitterten. Ich keuchte vor Erschöpfung.
Der zweite und dritte meiner Angreifer hatten sich wieder gefangen. Ich wimmerte. Meine Kräfte waren am Ende.
Dritte Regel: ‚Flieh, wenn es möglich ist!‘
Diese Option kam für mich nicht infrage, weil der Chi-Hilka noch in meinem Feuerkreis gefangen war und ohne mich den fünf Seths alleine gegenübergestanden hätte.
Ich griff nach dem Ast, der mir anfangs vor lauter Schreck aus den Händen gefallen war. Ich entzündete ihn wie eine Fackel und hielt sie zur Abwehr vor meinem Körper.
Die zwei Seths, die wieder auf die Beine gekommen waren, stürzten sich nun gemeinsam auf mich.
Mit dem brennenden Stock holte ich zu einem Schlag aus und schmetterte ihn vor die Schienbeine des einen. Er schaffte es nicht, rechtzeitig auszuweichen und ging in die Knie. Sein Fleisch wurde von meinen Flammen unmittelbar nach dem Kontakt versengt. Es stank entsetzlich.
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie der Chi-Hilka einen seiner beiden Gegner gegen die Schläfe boxte und damit K.O. schlug.
Da waren es nur noch zwei von fünf.
Mein Angreifer wirkte noch deutlich fitter als ich - trotz seiner in Strömen blutenden Nase. Der Riese schlug mir so heftig ins Gesicht, dass sich helle Punkte vor meinen Augen bildeten.
Ich ging zu Boden, genau wie der Chi-Hilka neben mir. Wir hatten bisher wirklich tapfer durchgehalten. Aber es hätte an ein Wunder gegrenzt, wenn ein halbwüchsiger Chi-Hilka und ein friedliebendes Engelwesen, das nur über läppische Selbstverteidigungstechniken verfügte, dieser Attacke standgehalten hätten.
Fremdes Blut tropfte mir ins Gesicht, als sich der Seth über mich beugte. Mein Kopf dröhnte und ich hoffte auf einen schnellen Gnadenstoß.
Der andere Seth richtete sich auf und rollte seine Schultern. „Solch ein Aufwand wegen eines erbärmlichen Engelwesens“, motzte er.
„Was machen wir mit den zwei Gestaltwandlern und dem Kriegerkind?“, wollte der Riese wissen.
„Das sind Kollateralschäden. Lass sie einfach liegen.“
Meine Schultern wurden von dem blutenden Seth gepackt und er zerrte mich auf Augenhöhe. Meine Beine baumelten schlaff in der Luft.
„Bevor wir dich dem Boss übergeben, werden wir noch ein bisschen Spaß mit dir haben.“ Das lüsterne Grinsen des Mannes ließ nackte Panik in mir erwachen.
Die Präsenz in mir behielt während des gesamten Kampfes eine messerscharfe Wachsamkeit. Auf meiner Haut kribbelte es nun stärker als bisher zuvor. Die Präsenz war angespannt und es stach entsetzlich in meinem Nacken. Die Sterne am Rande meines Sichtfeldes verharrten in Reglosigkeit.
Meine Lebensgeister meldeten sich noch einmal zurück, um dem Dreckskerl Widerstand zu leisten, der mit der Hand unter mein Top fuhr und meine Brust knetete. Ich wehrte mich mit Armen und Beinen, doch der andere hielt mich fest.
Als der Riese sich an meinen Shorts zu schaffen machte, schrie ich verzweifelt auf. Meine Haut entzündete sich und der Seth, der mich festhielt, schleuderte mich abrupt von sich weg. Ich fiel zu Boden. Meine Augen glühten vor Zorn.
Der Riese wühlte in seiner Hosentasche nach einem Päckchen mit blauem Pulver. Er öffnete es und warf mir die Substanz direkt ins Gesicht. Ich atmete den magischen Staub ein und hustete. Das Feuer auf meiner Haut erlosch. Sie hatten meine Kräfte blockiert.
Zielstrebig steuerten beide wieder auf mich zu. Ich schluchzte im Angesicht dessen, was mir gleich widerfahren sollte.
Noch bevor der Seth erneut Hand an mich legen konnte, stürzte eine dunkle Gestalt vom Himmel herab. Nachtschwarze Schwingen zerschnitten die Luft. In den grünen Augen des Mannes funkelte unbändiger Zorn.
Wie ein Racheengel machte er mit den beiden Seths kurzen Prozess. In einer geschmeidigen Bewegung brach er dem Riesen das Genick wie ein Streichholz.
Dem anderen stieß er die Hand in die Brust, als würde sie durch Butter fahren, und riss ihm das Herz heraus.
Nachdem der Seth mit starren Augen in sich zusammengefallen war, legte der dunkle Engel seine Flügel dicht an seinen Rücken und drehte sich zu mir herum. Goldene Funken glitzerten in seiner leuchtend grünen Iris.
Mir stockte der Atem.
Er hielt mir seine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.
Mit weit aufgerissenen Augen kroch ich verängstigt vor ihm zurück. Solch eine gewaltige Macht hatte ich noch niemals zuvor in meinem Leben gespürt.
Der Feuerring war erloschen und durch die Rauchschwaden um uns herum erkannte ich die restlichen jungen Männer aus meinem Lauftrupp. Einige von ihnen hatten offensichtlich Hilfe geholt, denn Beccas Silhouette erschien im Nebel.
Entsetzt rannte sie auf mich zu, nur um im nächsten Augenblick vor dem dunklen Engel, der immer noch vor mir thronte, zurückzuweichen und fast über ihre eigenen Füße zu stolpern.
Er hatte diese furchteinflößende Wirkung also nicht nur auf mich.
Der Seth, den ich als erstes niedergerungen hatte, rührte sich und begann sich aufzusetzen. Der Engel gab ihm keine weitere Gelegenheit, sich ganz zu erheben und stieß ihn mit dem Fuß auf der Brust nieder.
Der Seth erstarrte beim Anblick seines neuen Gegners. Auf seiner Hose bildete sich ein feuchter Fleck im Schritt. Er hatte sich vor Angst eingepinkelt.
„Wie lautet euer Auftrag?“, donnerte die Stimme des gefallenen Engels.
Dem Seth hatte es offensichtlich die Sprache verschlagen. Er wand sich unter dem Gewicht des Engels und versuchte, sich zu befreien.
Ich stand auf und prüfte währenddessen die Lebenszeichen der beiden Gestaltwandler und des Chi-Hilkas. Sie hatten alle einen Puls und atmeten. Mein Herz machte vor Erleichterung einen Satz.
Meine Aufmerksamkeit wanderte wieder zu dem Abschaum, der gerade mal einen Meter von mir entfernt um Gnade winselte.
Das geflügelte Wesen drückte seine Fußspitze gegen die Kehle des Seths. „Wie lautet euer Auftrag?“, wiederholte er seine Frage in einem scharfen Tonfall.
Der Mann röchelte und zeigte mit dem Finger auf mich. „Das Seraphim-Wesen“, krächzte er. „Wir sollen unserem Vorgesetzten die Seraph aushändigen.“
Der Engel warf einen prüfenden Blick auf mich. Etwas blitzte in seinen Augen auf.
Die Präsenz um mich herum begann mich nun auf andere Art und Weise zu durchleuchten. Weniger körperlich. Ich spürte, wie sie sich an die Versorgungsbahnen meines Seelenenergienetzes herantastete. Das Gefühl war so wohltuend, dass ich die Präsenz gewähren ließ. Sie füllte jeden Winkel meiner Seinsmatrix aus. Ich hatte wirklich Mühe, mich der Situation entsprechend zu verhalten und nicht vor lauter Wonne aufzuseufzen.
Der Engel zog für einen kurzen Augenblick zufrieden einen Mundwinkel nach oben.
Dann wandte er sich wieder dem Seth zu: „Daraus wird wohl nichts.“
Blankes Entsetzen spiegelte sich im Gesicht des Seths wider. Seine Adern traten blau hervor und gefroren unter seiner Haut. Er versuchte verzweifelt, das Bein des Engels von sich herunter zuschieben und erstarrte letztendlich in seinen Bewegungen. Seine Haut war aschfahl.
Der Engel zog sein Bein zurück. Dabei brachen die starren Arme des Seths einfach ab. Wie vertrocknetes, knochiges Holz.
Die anderen beiden bewusstlosen Seths begannen ebenfalls in sich zusammenzufallen und verdorrten in Sekundenschnelle vor unseren Augen.
Unser dunkler Retter wandte sich an Becca. „Gib dem Jungen den Sud des Krassijel-Krauts. Das dürfte das Gift der Seths neutralisieren.“
Bevor er sich in den Himmel erhob und uns so schnell verließ, wie er erschienen war, schenkte er mir noch einen flüchtigen Blick. „Wir sehen uns, kleine Diebin.“
Ich wischte mit meiner Hand durch den Staub auf der kleinen Anrichte und betrachtete das vergilbte Bild darauf. Eine glückliche Familie. Ich warf den Rahmen um, sodass ich diesen Anblick nicht länger erdulden musste.
Ich ging auf die bodentiefen Fenster zu und zog die schweren Vorhänge auf. Die Strahlen der Sonne fielen in den staubigen Raum.
Ich stöhnte genervt auf, als sich die energetische Signatur meiner Cousine an der Vordertür ankündigte.
Sie betrat das Herrenhaus, ohne auf eine Einladung von mir zu warten. Ihre Schritte hallten durch den Empfangsbereich. Anschließend erklomm sie die Holztreppen und erreichte zielstrebig mein Arbeitszimmer.
„Komm nur gerne herein, Ophelia!“ Der sarkastische Unterton meiner Stimme hinderte sie nicht daran, ein aufrichtiges Lächeln aufzusetzen.
„Wer hätte gedacht, dass ich dich in diesem Jahrhundert noch mal zu Gesicht bekomme, Keen.“ Ophelia breitete ihre Arme aus und hieß mich auf ihre herzliche Art willkommen.
Ich ertrug die Umarmung regungslos.
„Ich war schon sehr erstaunt, als ich eine Gefühlsregung in deinem System gespürt hatte“, fuhr sie fort.
Ich löste mich von ihr und betrachtete ihr schönes Gesicht. Ophelia hatte sich während der letzten Jahrzehnte kaum verändert. Sie trug jetzt die Haare offen, wie es den jungen Frauen der heutigen Zeit anscheinend gefiel. Ihr Kleidungsstil war gewohnt elegant und ihr Duft noch immer der von Frühjahrsblühern.
„Dass du dir nach all den Jahrhunderten immer noch nicht abgewöhnen konntest, in meinem System herumzuspionieren“, rügte ich sie.
Ophelia legte den Kopf schief und sah mich wehleidig an. „Wir passen immer aufeinander auf. Daran kann die Zeit nichts ändern, Keen.“ In ihren Augen zeigte sich ein Hauch Besorgnis. „Außerdem war das ein so deutliches Signal, dass ich es nicht ignorieren konnte.“
„Und da hast du, nur wegen eines Anfluges von einem Gefühl, beschlossen, mal eben einen Kontinent zu überqueren und nach dem Rechten zu sehen?“