Rewrite Our Story - Kat Singleton - E-Book

Rewrite Our Story E-Book

Kat Singleton

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Beschreibung

*Cade Jennings war immer für mich da, wenn ich ihn brauchte - bis er es nicht mehr war.* Ich hatte mein ganzes Leben damit verbracht, den älteren Bruder meiner besten Freundin zu lieben. Mit jedem einzelnen meiner Geburtstagswünsche habe ich gehofft, dass Cade mich endlich bemerkt. Es ist Jahre her, dass ich die Kleinstadt Sutten Mountain am Boden zerstört und mit gebrochenem Herzen verlassen habe. Ich hatte den Schmerz genutzt, um einen Bestseller-Roman zu schreiben, der dafür sorgte, dass ich nie wieder zurückkehren musste. Bis eine Tragödie mich dazu zwingt, mich dem Mann zu stellen, der mir das Herz gebrochen hat. Ich dachte, ich wäre stark genug, ihn wiederzusehen. Aber ich habe nicht mit dem wütenden, gebrochenen Mann gerechnet, der mich anschaut. Denn nicht alle Liebesgeschichten haben ein Happy End. Cade und ich sind eine unerledigte Angelegenheit, und dieses Mal lässt er mich nicht gehen, bevor wir unsere Geschichte nicht neu geschrieben haben.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Epilog
Danksagung

Kat Singleton

 

 

Rewrite OUR STORY

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Übersetzt von Lara Späth und Madlen Müller

Rewrite OUR STORY

 

 

 

© 2024 VAJONA Verlag

Originalausgabe bei VAJONA Verlag

 

Übersetzung: Lara Späth und Madlen Müller

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Rewrite Our Story«.

 

Vermittelt durch die Agentur:

WEAVER LITERARY AGENCY, 8291 W. COUNTY ROAD 00 NS., KOKOMO, IN 46901, USA

 

Korrektorat: Aileen Dawe-Hennings und Susann Chemnitzer

Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag unter Verwendung von

Motiven von Canva und 123rf

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz

 

VAJONA Verlag

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

 

 

 

 

 

Für alle meine Besties, die ihre Book-Boyfriends lieber mögen, wenn die ihre Cap verkehrt herum tragen, ein Paar Cowboystiefel besitzen und schmutzige Dinge sagen. Ich hoffe, ihr habt mit Cade Jennings die Reise eures Lebens.

Prolog

 

 

Marigold, zehn Jahre alt

 

 

Ihre zerbrechliche Hand ist kalt und zittrig, als sie mir die blonden Locken aus der Stirn streicht. Sie sieht so müde aus, als sie traurig auf mich herabschaut. »Momma wird heute Abend weggehen, Schatz«, sagt sie mir, und ihre Stimme klingt nicht ganz so, wie ich sie sonst kenne.

»Wohin gehst du, Momma?«, frage ich und kuschle mich tiefer an ihre Brust. Ich bin so sanft wie möglich, vorsichtig, um ihr nicht wehzutun. Daddy erinnert mich immer daran, dass Momma jetzt zerbrechlich ist. Ich muss aufpassen, wie ich mich in ihrer Nähe bewege, damit ich ihr keine Schmerzen zufüge.

Momma seufzt langgezogen. Einer dieser großen Seufzer, die ich sonst nur von Erwachsenen höre. Plötzlich beginnt ihr Körper unter meinem zu zittern. Ich schaue auf und sehe, dass ihre Augen voller Tränen sind.

»Nicht weinen, Momma«, flehe ich, stoße mich vorsichtig vom Bett ab und wische ihr die Tränen weg. »Ich werde mit dir gehen, damit du nicht allein gehen musst.«

Ihre Augen schließen sich, während Wasser über ihre blassen Wangen rinnt. Ich vermisse die Farbe, die sie hatten, bevor sie krank wurde – braun, mit einem Hauch Rosa von der Sonne, wenn sie vergessen hatte, eine Mütze zu tragen, während wir auf unseren Pferden die Pfade entlangritten.

»Ich fürchte, wo ich hingehe, muss ich allein hingehen, Marigold«, antwortet sie traurig.

Mir stehen die Tränen in den Augen, auch wenn ich versuche, sie zu unterdrücken. Dad sagt mir immer, dass Momma mich nicht gern weinen sieht. Deswegen versuche ich, sie zurückzuhalten, aber Mommas Tränen werden immer stärker und es hat keinen Zweck, meine zu kontrollieren.

»Ich will nicht, dass du irgendwo hingehst, wo ich nicht hingehen kann«, flehe ich.

Ihre zarten Finger streichen durch mein Haar. »Mit allem, was in mir ist, wünsche ich mir, dass ich nicht gehen muss. Aber manchmal sind wir nicht diejenigen, die diese Entscheidungen treffen. Verstehst du mich?«

Ich nicke, obwohl ich es überhaupt nicht verstehe. Sowohl Momma als auch Dad haben mir gesagt, dass sie bald weggehen würde und ich sie nicht mehr sehen könnte, aber das ergibt für mich keinen Sinn. Es geht über meinen Verstand hinaus, auch wenn ich mich bemühe, ihre Worte zu verstehen.

Warum muss Momma irgendwohin gehen, wo ich nicht hingehen kann?

»Du wirst mich vielleicht nicht mehr sehen, meine liebe Marigold, aber ich weiß – ich schwöre es – du wirst mich noch spüren.«

Ich schaue durch verschwommene, tränengefüllte Augen zu Momma auf. »Wie?«

Sie legt ihre kalte Handfläche auf meine Brust, genau über die Prinzessin auf meinem Nachthemd. »Du wirst mich genau hier spüren. Für immer. Bis wir wieder zusammen sind.«

Ich schnaube. »Ich werde dich wiedersehen?«

Momma zieht mich an sich und vergräbt ihr Gesicht in meinem Haar, während ich meines an ihrer knochigen Brust verberge. »Du wirst mich wiedersehen. Wenn es so weit ist, treffe ich dich in einem Feld voller Ringelblumen. Genau wie die, nach der du benannt wurdest.«

Ich versuche, für Momma stark zu sein, aber ich kann es nicht länger aufrechterhalten. Ich schluchze. Der Gedanke, dass ich meine Momma vielleicht nie wiedersehen werde, kommt mir gerade in den Sinn. Für eine lange, lange Zeit.

»Ich werde auf dich warten, meine weiche, süße Marigold. Aber ich will dich dort eine Zeit lang nicht sehen. Hast du mich verstanden? Du lebst dein Leben, Schatz. Lass dir Zeit, mich dort zu treffen.«

»Geh nicht, Momma«, flehe ich und umklammere ihr Nachthemd.

Sie wischt mir die Tränen weg und fährt mit ihren Augen über mein Gesicht. »Ich werde immer bei dir sein. Das ist kein Lebewohl. Nicht wirklich. Wann immer du mich brauchst, werde ich hier sein.«

»Wie soll ich das wissen?«

Sie schürzt die Lippen und atmet tief ein, ihre Augen schließen sich für einen Moment, bevor sie sie wieder öffnet.

Sie sieht so müde aus.

»Ich werde dafür sorgen, dass du es weißt.«

Ich nicke, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll. Ich drücke meine Momma fest an mich, bis Dad hereinkommt und mir sagt, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen. Ich sage ihm nicht, dass Momma mir gesagt hat, dass sie weggeht. Ich kenne meine Momma. Sie wird es ihm lieber selbst sagen wollen.

Also klammere ich mich noch ein paar Sekunden lang an sie, drücke sie fest an mich, obwohl ich weiß, dass ich eigentlich sanft zu ihr sein sollte.

Und dann gehe ich und versuche, die Tränen zu verbergen, während Dad mir hilft, mich bettfertig zu machen.

Ich wusste, dass ich überhaupt nicht schlafen würde. Ich werde nicht schlafen können, weil ich weiß, dass Momma morgen nicht mehr da sein wird.

Ich weiß nicht, wie lange ich schon auf die Schneeflocken starre, die vom Himmel fallen, als ich Dads ersten Schrei höre. Ich schüttle den Kopf und versuche, das Geräusch zu unterdrücken. Mit jeder weiteren Schneeflocke, die auf den Boden fällt, werden Dads Schreie lauter. Sie verwandeln sich auch in etwas mehr. Fast wie ein schriller Schrei. Sie werden so laut, dass ich mir die Hände über die Ohren halte, weil ich weiß, was passiert ist.

Momma hatte recht gehabt. Sie war gegangen. Sie war irgendwohin gegangen, wohin Dad und ich ihr nicht folgen konnten.

Meine Füße machen sich selbstständig. Eben saß ich noch auf dem kleinen Sitz vor meinem Fenster, mit Blick auf die Bäume und die Ställe, und im nächsten Moment renne ich in Socken und Nachthemd durch den Schnee und habe das große Haus oben auf dem Hügel im Visier.

Vorsichtig schleiche ich mich durch die Hintertür, denn ich weiß, dass die Familie Jennings sie nie abschließt. Das müssen sie auch nicht. Es ist meilenweit kein Mensch zu sehen.

Meine Brust schmerzt, als ich auf Zehenspitzen den vertrauten Flur hinunterschleiche, wobei ich besonders vorsichtig bin, um die alten Dielen zu vermeiden, die bei dem leichtesten Druck knarren. Der Mond, der durch die großen Fenster an der Vorderseite des Hauses scheint, ist das Einzige, das mir den Weg weist. Ich achte darauf, kein Geräusch zu machen, als ich vor einer Tür aus Kirschholz zum Stehen komme. Plakate von Footballspielern und Rodeostars sind so unordentlich darauf geklebt, dass das Holz darunter fast unsichtbar wird.

Meine Schultern zittern heftig, als ich versuche, einen beruhigenden Atemzug zu nehmen. Das ist etwas, das mir meine Mutter beigebracht hat. Einatmen durch die Nase, ausatmen durch den Mund. Ich wiederhole die Bewegung ein paarmal, bevor meine kleine, zitternde Hand nach oben greift, um den Türknauf zu ergreifen. Er ist kalt an der Innenseite meiner Handfläche, sodass sich die Härchen auf meinem Arm aufstellen. Ich halte inne und warte darauf, ihn zu drehen, während ich einen Blick auf meine Kleidung werfe.

Momma wäre entsetzt, wenn sie wüsste, dass ich in meinem Nachthemd herumlaufe und die Kälte in der Luft beißt.

Zu schade, dass Momma nicht mehr hier ist.

Ich starre auf die Tür und denke darüber nach, wie sehr sich alles ändern wird, wenn Momma nicht mehr da ist. Tief in mir drin weiß ich, dass ich mich im Flur umdrehen und in das Zimmer schlüpfen sollte, in dem meine beste Freundin schläft. Pippa könnte alles durchschlafen. Sie würde wahrscheinlich nicht einmal aufwachen, wenn ich zu ihr ins Bett käme. Ich könnte so tun, als ob Momma uns noch nicht verlassen hätte, nur für eine Weile.

Es war nicht Pippa, die ich wollte – oder brauchte. Gleichzeitig wusste ich, dass es falsch war, seine Tür zu öffnen und in sein Zimmer zu schlüpfen. Mit einem traurigen Seufzer drehe ich mich um, meine nassen Socken machen ein leises, klatschendes Geräusch auf dem Parkett, als ich ein paar Schritte in Richtung Pippas Tür mache.

»Goldie?«, ruft eine vertraute Stimme hinter mir.

Ich erstarre, weil ich weiß, dass ich ertappt worden bin. Langsam drehe ich mich um, um der Stimme hinter mir ins Gesicht zu sehen.

Cade Jennings.

Der große Bruder meiner besten Freundin. Der Junge, in den ich verknallt bin, solange ich denken kann.

Seine Augen weiten sich, als er mich ansieht. Auf seinem Schlafanzug sind überall Superhelden abgebildet. Ich weiß noch, wie Pippa sich vor ein paar Wochen beim Frühstück über sie lustig gemacht hat.

Ich dachte, als Teenager sollte man keine Superhelden mehr mögen?

Cade hatte nicht mit der Wimper gezuckt, als er auf die Helden hinabsah. Es war ihm egal, was sie dachte.

Er zog mich sanft am Arm in sein Zimmer und schloss die Tür.

»Woher wusstest du, dass ich hier draußen bin?«, fragte ich und versuchte, die Tränen auf meinen Wangen wegzuwischen.

Cade antwortet mir zunächst nicht. Er zieht mich zu seinem Bett und drückt mich sanft nach unten, damit ich mich setzen kann.

»Cade?«, wiederholte ich, wobei ich mich aus irgendeinem Grund darauf konzentrierte, woher er wusste, dass ich da draußen war.

Er beugt sich hinunter und zieht mir die nassen Socken von den Füßen. Er wirft sie in den Wäschekorb, aus dem die Kleidung in alle Richtungen schwappt. Sofort geht er zu seiner Kommode und holt ein Paar Wollsocken heraus. Sie sind zu groß für meine Füße, aber er zieht sie mir trotzdem an. Die Größe ist mir egal. Sie sind gemütlich. Sie gehören ihm.

Er sieht mich mit einem Blick an, den ich nicht ganz verstehe, und seine Hände ruhen in ernster Haltung auf seinen Hüften. Ich glaube, er hat das von seiner Mutter gelernt. Das ist etwas, was sie ständig macht.

»Ich weiß nicht, Goldie«, flüstert er. »Ich bin aufgewacht und hatte das Gefühl, dass du da bist. Dass du mich brauchst. Und dann …«

»Und dann?«, flüstere ich und klammere mich an jedes einzelne seiner Worte. Wenn ich mich nur stark genug auf ihn konzentriere, werde ich mich vielleicht nicht mehr an Daddys Schreie erinnern, die in der kleinen Hütte widerhallten.

»Dann warst du da.« Cade hält inne und nimmt mein Aussehen in Augenschein. »Warum bist du nass?«, fragt er, bevor er die Tränen bemerkt, die meine Wangen bedecken. »Und warum weinst du?«

Er wirft mir eine Decke über die Schultern und zieht mich an seinen dürren Körper. Seine Frage öffnet mein Herz. All meine Gefühle strömen aus mir heraus, und ich fange an zu weinen, genau dort auf der Kante von Cades Bett.

»Oh, scheiße«, murmelt Cade in mein Haar, während er mich unbeholfen umarmt.

»Das ist ein schlimmes Wort.« Meine Stimme zittert, als ich zwischen meinen Schluchzern um Worte ringe.

Cade zieht seine blaue Bettdecke um uns herum. Wortlos stupst er mich auf dem Bett an. »Ich weiß nicht, was du von mir erwartest, wenn du so weinst, Goldie. Pops sagt immer, dass wir böse Worte benutzen können, wenn der Zeitpunkt richtig ist.«

Ich lasse mir von ihm helfen, es mir unter den Laken bequem zu machen. Da ist eine warme Stelle, wo sein Körper gewesen sein muss, bevor ich seinen Schlaf unterbrochen habe. Cade rückt näher an mich heran. Vorsichtig schiebt er mir eine verirrte, nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. Es erinnert mich an die Geste, die meine Momma vor ein paar Stunden gemacht hat. Stunden, bevor ich sie für immer verloren habe. Zumindest, bis wir uns wiedersehen, wie sie es versprochen hat. In einem Feld voller Ringelblumen.

Seine kupfernen Augen mustern mein Gesicht. »Ich mag es nicht, dich weinen zu sehen, Goldie.«

Cade Jennings ist nie sanft. Selbst mit dreizehn ist er noch rau. Unsere Mütter haben immer Witze darüber gemacht, wie wild und ungezähmt er ist. Wie die Mustangs, die wir Kinder so gern aus der Ferne beobachten. Ich habe noch nie erlebt, dass Cades Augen so weich werden wie in diesem Moment.

Die Zeit scheint stillzustehen, als er mir die Tränen von den Wangen wischt. Er schaut auf das Wasser, das jetzt auf seiner Daumenspitze steht. »Was brauchst du?«, flüstert er in die Dunkelheit. »Wie kann ich dir den Schmerz nehmen?«

»Momma«, krächze ich und schließe die Augen, in der Hoffnung, dass die Welt verschwindet, wenn ich sie nur fest genug zudrücke, und ich mich nie wieder daran erinnern muss, wie Daddy klang, als sein Herz brach – wie er klang, als meine Momma uns verließ. »Sie ist weg.«

Cades Arme umschlingen mich und ziehen mich an seine Brust, bevor ich ein weiteres Wort herausbringen kann. Im nächsten Atemzug zieht er seine weiche Bettdecke über unsere Köpfe, um den Rest der Welt auszublenden.

Ich weiß nicht, wie lange er mich festhält, während ich weine. Was mir an Cade immer gefallen hat, ist, dass er nicht das Bedürfnis hat, die Stille zu füllen. Er ist so viel ruhiger als ich. Er zieht es vor, zu beobachten, anstatt sich einzumischen. In diesem Moment bin ich dankbar dafür. Ich bin froh, dass er nicht versucht, den Raum mit Worten zu füllen, die unter diesen Umständen gar nichts bedeuten.

»Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.« Ich schmiege mich schniefend an seine Brust und wünsche mir, wir könnten für immer unter dem Schutz seiner Bettdecke bleiben.

»Weck mich, wann immer du willst.«

Ich sehe ihn mit verschwommenen Augen an. Ich muss wie ein Wrack aussehen, aber das scheint Cade nicht zu interessieren. »Meinst du das ernst?«

Er nickt. Sein Mund öffnet sich, als wolle er etwas sagen, aber er muss es sich anders überlegen, denn er schließt ihn schnell wieder. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis er endlich den Mund wieder öffnet, um zu sprechen. »Ich meine es ernst, Goldie.«

Cade Jennings hat es ernst gemeint. Er war für mich da, Nacht für Nacht. Als ich ein trauriges Kind war, das den Verlust seiner Mutter – seiner Welt – betrauerte, war er derjenige, der mir da durch half. Er stellte nie Fragen, wenn ich im Laufe der Jahre vor seiner Tür auftauchte. Er hatte immer eine Art sechsten Sinn und wusste immer irgendwie, wann ich ihn brauchte. Er öffnete die Tür und fand mich dort stehend, weil ich ihn aus irgendeinem Grund brauchte. Ich wusste, dass Cade immer da drin war, in den dunklen vier Wänden seines Schlafzimmers.

Cade Jennings war immer für mich da, wenn ich ihn brauchte – bis er es nicht mehr war.

 

Kapitel 1

 

 

Marigold, vierzehn Jahre später

 

 

Was hat es mit Flugzeugen auf sich, dass die Menschen jeglichen Anschein von persönlichem Raum vergessen?

Wir sind gerade erst auf der Rollbahn gelandet, als alle Personen neben mir aufstehen, obwohl wir uns im hinteren Teil des Flugzeugs befinden. Wir werden frühestens in zehn Minuten aussteigen, aber alle drei Passagiere in der Reihe hinter mir beugen sich über meinen Sitz und hauchen mich an, als ob das Schnaufen und Pusten eines Fremden im Nacken allen anderen helfen würde, schneller voranzukommen.

Ich hatte den Flug mitten in der Nacht buchen müssen, nachdem meine beste Freundin Pippa mich schluchzend angerufen hatte. Für einen Flug um sieben Uhr am nächsten Morgen gab es nicht viele Plätze zur Auswahl. Ich hatte den wunderbaren Luxus, auf einem Mittelsitz zwischen zwei Fremden zu sitzen, die sich beide nicht an die Armlehnen-Regeln hielten – die Person in der Mitte bekommt mindestens eine Armlehne. Meiner bescheidenen Meinung nach ist das einfach menschlicher Anstand.

Das Vibrieren des Telefons in meinem Schoß reißt mich aus meinen Gedanken. Ich schaue darauf hinunter und halte es dicht an mich heran, damit der Sitznachbar auf dem Fensterplatz meine Nachricht nicht lesen kann.

 

Pippa: Ich habe die App gecheckt und gesehen, dass du gerade gelandet bist. Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen!

 

Ich: Ich schreibe dir, sobald ich durch die Gepäckausgabe bin. Du weißt ja, wie es hier ist. Es wird wahrscheinlich eine Weile dauern.

 

Pippa: Klingt gut. Ich liebe dich, Mare. Danke, dass du gekommen bist.

 

Ich: Ich würde nirgendwo anders sein wollen.

 

Meine Brust zieht sich zusammen, als ich mich an den Grund meines Hierseins erinnere. Pippas Mutter, Linda, ist vor zwei Tagen plötzlich und für alle überraschend gestorben. Sie war bei bester Gesundheit – so dachten wir zumindest. Wie sich herausstellte, war ihr Herz in keinem guten Zustand. In der vorletzten Nacht ging sie zu Bett und wachte nicht mehr auf.

Pippa war völlig aufgelöst, als sie mich anrief und die Nachricht überbrachte. Ich befand mich mitten in einem Schreib-Retreat, als ich den Anruf erhielt. Ich hatte verzweifelt versucht, das Buch fertigzustellen, das ich meinem Verleger übergeben wollte, aber ich hatte alles stehen und liegen gelassen, um hier zu sein. Ich hatte Pippa nicht angelogen, als ich sagte, ich könne mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu sein. Auch wenn ich die kleine Stadt Sutten Mountain für das College verlassen hatte, würde es immer mein Zuhause sein. Linda war wie eine Mutter für mich. Sie machte da weiter, wo meine eigene Mutter aufgehört hatte, als sie starb, und füllte die Leere in meinem Herzen mühelos aus.

Linda Jennings war ein Sonnenstrahl in meinem oft dunklen Leben. Dad war nach dem Tod von Mom nicht mehr derselbe. Er tat, was er konnte, aber er trauerte um die Liebe seines Lebens. Er konnte nicht begreifen, wie sehr ich darüber trauerte, keine Mutter zu haben. An dieser Stelle kam Linda ins Spiel. Jahrelang war sie mein Fels in der Brandung – meine Mutterfigur. Sie ließ mich jedoch nie meine eigene Mutter vergessen. Linda stellte sicher, dass sie die Erinnerungen, die sie mit meiner Mutter teilte, an mich weitergab. Sie sagte immer, sie bewundere es, dass ich so süß wie Honig sei, mit einem kleinen bisschen Schärfe und Frechheit.

Als der Mann auf dem Fensterplatz neben mir versucht, sich zwischen meine Knie und die Rückenlehne des Sitzes vor mir zu quetschen, kommt diese Frechheit zum Vorschein. Ich schiebe meine Knie weiter vor mich und verhindere so, dass der Mann noch weiter in meinen persönlichen Bereich vordringt.

Der Typ starrt auf mich herab. »Entschuldigen Sie, bitte.« Er hustet, was mich zu einer Grimasse veranlasst, weil das vielleicht nur seine Spucke war, die auf meiner Wange gelandet ist.

Ich setze ein falsches Lächeln auf. »Tut mir leid, Sir, ich glaube, wir sind noch nicht an der Reihe.« Mein Blick fällt auf die Menschen vor uns, die immer noch darauf warten, ihr Gepäck aus den Gepäckfächern zu holen.

Der Mann auf der anderen Seite von mir kichert. Auch wenn er ein Armlehnen-Dieb ist und viel zu früh aufgestanden ist, scheint er in diesem Fall auf meiner Seite zu sein. »Versuchen Sie, einen Anschlussflug zu erwischen?«, meldet er sich zu Wort und sieht über meinen Kopf hinweg zu dem Mann am Fenster.

Der Mann am Fenster runzelt die Augenbrauen. »Ja. Ich muss in zwei Stunden einen Flug erwischen.«

Ich versuche mein Bestes, um das Lächeln auf meinen Lippen zu unterdrücken. Dieser Typ hat mehr als genug Zeit, um den kleinen Flughafen zu durchqueren, bevor sein nächster Flug startet.

Der Mann am Gang räuspert sich. »Ich denke, Sie werden es schaffen.«

Ich führe mit keinem der beiden Männer ein Gespräch fort. Sobald wir an der Reihe sind, unsere Plätze zu verlassen, schnappe ich mir meine Tasche aus dem Gepäckfach und verlasse das Flugzeug.

Das Loch in meinem Magen wird immer größer, während ich an der Gepäckausgabe warte und mich auf das Kommende vorbereite. Linda war der Klebstoff, der die Familie Jennings zusammenhielt. Ihr Mann, Jasper, ist wahrscheinlich außer sich. Sie waren seit der Middle School zusammen. Sie erzählte gern die Geschichte, wie er ihren Bleistift stahl und sie sich sofort in ihn verliebte.

Und dann ist da noch Lindas ganzer Stolz – ihre Kinder. Ich kenne den Schmerz, den der Verlust einer Mutter mit sich bringt, nur zu gut. Cade und Pippa müssen völlig am Boden zerstört sein. In meiner Magengrube macht sich ein Gefühl des Bedauerns breit. Ich hätte öfter nach Hause kommen sollen, nachdem ich zum College gegangen war. Linda hatte mich gebeten, an jedem Feiertag und an jedem Geburtstag nach Hause zu kommen. Sie hat mich immer ermutigt, auf die Ranch der Familie Jennings zu kommen und sie zu besuchen. Ich fand immer eine Ausrede, um nicht an den Ort zurückzukehren, der so viele glückliche – und so viele schreckliche – Erinnerungen barg.

Die Wahrheit ist, dass ich nie wirklich vorhatte, nach Hause zurückzukehren. Nicht wirklich. Zumindest nicht, bis mein gebrochenes Herz geheilt war. Ich hatte Cade so lange geliebt und als ich schließlich zu der katastrophalen Erkenntnis kam, dass er mich nie so geliebt hatte, wie ich es mir gewünscht hatte, war ich am Boden zerstört.

Der Anblick meines verbeulten schwarzen Koffers, der sich im Gepäckkarussell dreht, holt mich in die Gegenwart zurück. Ein paar unladylike Grunzgeräusche entweichen meinem Körper, als ich versuche, den Koffer vom Förderband zu heben. Mit ein paar weiteren Zügen fällt der Koffer mit einem lauten Knall zu Boden. Ich atme tief durch, streiche mir die blonden Locken aus dem Gesicht und greife nach den Griffen meiner beiden Taschen.

Pippa hatte mich nur gebeten, bis nach der Beerdigung zu bleiben, aber ich wusste, dass meine beste Freundin mich länger brauchen würde. Das ist der Grund, warum ich Rudy, meinem Agenten, gesagt habe, dass ich das Buch in Sutten zu Ende schreiben werde. Das ist nicht ideal, und er schien von der plötzlichen Planänderung nicht begeistert zu sein, aber da kann ich nicht viel tun. Wir wissen beide, wie sehr ich mit dem Buch im Rückstand bin. Ich hatte so viele Leute, die mich unterstützt haben, als ich meinen Debütroman – das erste Buch dieses Duos – geschrieben habe, und ich möchte die Leute, die mir eine Chance gegeben haben, nicht mit dem Abschluss der Liebesgeschichte dieses Paares enttäuschen.

Bevor ich die Gepäckausgabe verlasse, schreibe ich Pippa eine Nachricht, dass ich mich auf den Weg mache, und schiebe mein Handy zurück in meine Tasche, damit ich beide Hände benutzen kann. Mein Handy vibriert in meiner Gesäßtasche, als ich meine Koffer zum Ausgang schiebe. Ich vermute, dass es Pippa ist, die mir zurückschreibt, aber ich habe keine Hand frei, um es zu überprüfen. Wenn sie mir schreibt, dass sie hier ist, werde ich es früh genug herausfinden, wenn ich ihren Truck draußen sehe.

Die Sonne, die über den Bergen aufgeht, blendet mich, und ich muss die Augen zusammenkneifen, um Pippa zu finden. Ich runzle die Stirn, weil ich sie nirgends sehe. Ich bin kurz davor, mein Handy herauszuholen, als ich eine vertraute Stimme höre.

»Goldie.« Mir dreht sich der Magen um, als ich den Spitznamen aus seinem Mund höre. Bei den zwei Silben, die aus seinem Mund kommen, dreht sich mir immer noch der Magen um, selbst Jahre später. Früher war es die Vorfreude. Aber jetzt ist es ein Gefühl der Verzweiflung. Vielleicht hat es etwas mit der bedrohlichen Art zu tun, mit der er den Namen ausspricht, bei dem er mich nennt, solange ich denken kann. Ich starre auf meine Füße, habe Angst, ihm in die Augen zu sehen. Ich wusste, dass ich Cade wieder gegenüberstehen würde. Es ist nur … Ich dachte, ich hätte Zeit, mich darauf vorzubereiten. Ich dachte, ich hätte die zwei Stunden, die ich vom Flughafen bis zur Ranch brauchte, um mich zusammenzureißen und Pippa nach Informationen darüber zu fragen, wie es Cade geht – was ich von ihm erwarten kann.

Ein Paar Cowboystiefel kommt in Sicht. Ich muss nicht aufschauen, um zu wissen, zu wem sie gehören. So wie Cade mich immer gespürt hat, wenn ich spätnachts an seiner Schlafzimmertür auftauchte, kann ich ihn spüren. In jedem Raum, an jedem Ort, kann ich ihn spüren. So wie in diesem Moment.

Ich atme tief ein und schaue auf und in die Augen des Jungen, der mir das Herz gebrochen hat. Nur ist es kein Junge mehr, der mich anschaut. Es ist ein Mann, und er sieht besser aus, als ich es mir je hätte vorstellen können.

Kapitel 2

 

 

Cade, Gegenwart

 

 

Meine Augen gleiten an Mares Körper hinab, während sie mich scheinbar ungläubig anstarrt. Ihre glänzenden Lippen spalten sich, als sie mir ein Loch in den Kopf starrt.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr das verdenken kann. Das letzte Mal, als wir uns sahen – das letzte Mal, als sie mich sah – standen wir an diesem Flughafen. Sie hatte mir angeboten, mir alles zu geben, was sie zu geben hatte, aber ich habe sie abgewiesen. Ich bin vor ihr davongelaufen.

Es scheint, als hätte sie nicht vergessen, wie wir die Dinge hinter uns gelassen haben.

Das habe ich auch nicht.

»Hat die Großstadt dir die Sprache verschlagen?«, frage ich und ziehe an einer ihrer blonden Locken. Ihr Haar ist viel länger als beim letzten Mal, als ich sie gesehen habe. Es gefällt mir nicht, wie viel gezähmter es aussieht, jetzt, wo sie erwachsen ist. Vielleicht ist es die Tatsache, dass die sorgfältig gestylten Locken nur eine weitere Erinnerung daran sind, dass sie unsere Kleinstadt verlassen und nicht einmal zurückgeblickt hat. Sie hat sich an das Stadtleben angepasst, als ob es für sie gemacht worden wäre.

Als ob ihr Platz nicht auf der Ranch wäre, wo meiner immer sein würde.

Mare rümpft die Nase über mich. Wenn es der Versuch eines Knurrens ist, scheitert sie grandios. Es ist viel niedlicher und weit weniger einschüchternd, als sie es wohl beabsichtigt. »Ich habe Pippa erwartet«, sagt sie. Ihre Worte haben einen Biss, der mich nicht ganz überrascht. Sie weigert sich, mich anzusehen, während sie ihr Handy aus der Gesäßtasche ihrer Jeans zieht.

Auch ihre Jeans sehen nicht so aus, wie sie sollten. Sie sind nicht im Geringsten abgenutzt. Sie hat nicht ein einziges Loch oder eine Ausfransung. Ich hasse das. Mare hat ihre Jeans immer so lange getragen, bis sie so kaputt waren, dass Momma mit ihr geschimpft hat, bis sie sich ein neues Paar gekauft hat.

Die Erinnerung an meine Mutter lässt mein Herz zusammenzucken. Ich warte, während Mare auf ihr Telefon starrt. Pippa hat gesagt, es wäre besser, wenn Mare nicht wüsste, dass ich sie abholen würde. Ursprünglich hatte Pippa vorgehabt, es zu tun. Aber der Bestattungsunternehmer hatte Fragen an Dad, und er war nicht dazu in der Lage, zu beantworten, welche Art von Sarg oder welche Blumen sie bevorzugte, also hat er es an Pippa delegiert. Ich habe nicht gerade ein Auge für Details – nicht so wie Pippa –, also war sie die einfachste Lösung.

Ich starre die Frau vor mir an und wünschte fast, ich wäre derjenige, der die Beerdigungsdetails durchgeht. Wenigstens würde ich dann nicht die nächsten zwei Stunden mit einer Frau im Auto verbringen, die die Narben unserer Vergangenheit nicht vergessen hat.

»Hätte Pippa nicht jemand anderen schicken können?«, fragt Mare. Als ich ihr einen ihrer Koffer abnehmen will, schlägt sie mir trotzig die Hand weg.

Ich unterdrücke ein Grinsen. Die Art und Weise, wie Mare – das Mädchen, dem ich den Spitznamen Goldie gegeben habe – versucht, einschüchternd zu wirken, hat etwas, das den Schmerz in meinem Herzen lindert.

Trotz ihrer Versuche, mich wegzuschieben, schnappe ich mir ihren größeren Koffer und gehe zu meinem geparkten Wagen. »Und wen würdest du vorschlagen?«

Mare folgt mir widerwillig, und ihre Augen verengen sich, als sie sich auf die Heckklappe konzentrieren, die ich herunterziehe. »Ich weiß nicht, einer der Stallknechte.«

Ich schüttle den Kopf über sie. »Sie haben Arbeit. Morgens wird die Strecke gewartet, und dann haben wir heute ein volles Programm mit Ausritten.«

»Oh«, sagt sie leise.

»Gibt es etwas, das du nicht eingepackt hast?« Ich hieve den größeren Koffer auf die Ladefläche. Er ist schwerer, als ich erwartet hatte. »Wie viel hast du gepackt?«

»Ich war mir nicht sicher, wie lange ich bleiben würde …«

Ich schaue finster drein und drehe mich zu ihr um. »Hoffentlich nicht lange.«

Sie kaut ängstlich auf ihrer Lippe, während ich den anderen Koffer aus ihrem Griff reiße und ihn vorsichtig auf die Ladefläche des Wagens lege.

Erneut drehe ich mich zu ihr und schaue mich in der Umgebung nach weiteren Taschen um. »Sonst noch etwas?«

Sie schüttelt den Kopf. »Das ist alles, was ich mitgebracht habe.«

»Ich meinte, ob du noch andere Fragen hast, aber das ist gut zu wissen«, erwidere ich sarkastisch.

»Wie ich sehe, bist du so peachy wie immer.«

»Seit wann nennt mich jemand peachy?«

Mare rollt mit ihren blauen Augen. »Das ist nur eine Redewendung, Cade. Glaub mir, wenn jemand weiß, was für ein Arschloch du bist, dann bin ich das.«

Verdammt!

Sie ist schon auf dem Weg dorthin. Offenbar hat das Leben in der Großstadt ihr Rückgrat gestärkt. Die Marigold, die zum College gegangen ist, und die Marigold, die mich jetzt anschaut, sind zwei sehr unterschiedliche Menschen. Diese neue Version von ihr hat viel mehr Biss, wie es scheint.

Das sollte mich nicht aufregen. Und doch tut es das.

Ich stütze mich mit dem Arm an meinem Wagen ab. Ich mache mir nicht die Mühe, den Blick zu verbergen, den ich ihr zuwerfe, während ich sie von Kopf bis Fuß betrachte.

Marigold Evans.

Mein Goldie.

Verdammt, sie hat sich verändert, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Sie war neunzehn und begierig darauf, zu entdecken, was die große Welt sonst noch zu bieten hatte. Sie hatte Sommersprossen im Gesicht und einen leichten Sonnenbrand auf der Stirn. Jetzt steht sie vor mir, mit Schmerz in den Augen und einer Hautfarbe, die heller ist als damals.

Sie ist jetzt in vielerlei Hinsicht anders, und doch ist sie irgendwie genau dieselbe. Mein Blick wird zuerst von ihren Lippen angezogen. Sie sind immer noch geschwollen, die untere etwas praller als die obere. Wenn sie mich anlächeln würde, hätte sie zweifellos die tiefen Grübchen auf beiden Seiten ihres Gesichts, die mich früher einmal in den Wahnsinn getrieben haben.

Ihr Haar ist nicht mehr so hell, wie es einmal war. Wahrscheinlich liegt das daran, dass die Sonne nicht mehr so stark auf sie scheint, wie früher während unserer langen Ausritte. Irgendwie traurig, dass ihre typischen, goldenen Locken nicht mehr so glänzen, wie ich sie kenne.

»Willst du mich weiter anstarren?«, fragt Mare und unterbricht meine Gedanken. Das ist wahrscheinlich das Beste.

Ich klopfe auf den Wagen und schüttle grinsend den Kopf. Pippa schimpft immer mit mir, ich solle mehr lächeln, vor allem, wenn es um Kunden geht. Ich habe ihr unzählige Male gesagt, dass mein Gesicht nicht für ein Lächeln gemacht ist. Doch kaum bin ich fünf Minuten in Mares Gegenwart, ertappe ich mich schon dabei, dass ich mehr lächle als sonst. Vielleicht liegt es an der Vertrautheit. Bei allem Schlechten zwischen Mare und mir gibt es doch auch viel Gutes. Als ich aufwuchs, waren sie und Pippa wie Pech und Schwefel miteinander verbunden, was bedeutete, dass ich auch immer in ihrer Nähe war. Ich habe es nie zugegeben, aber ich mochte es. Sie und Pippa waren die einzigen Kinder auf der Ranch. Wir mussten auf die Schultage oder auf Kunden warten, um jemand anderen zu sehen. Es ist nur natürlich, wie nahe wir uns alle standen.

»Steig ein.« Ich schließe die Ladeklappe, öffne die Tür und genieße den frischen Geruch von neuem Leder. Ich habe lange gespart, um mir einen eigenen Truck zu kaufen, der nicht das Markenzeichen der Jennings-Ranch trägt. Sosehr ich die Arbeitstrucks auch liebe, und ich fahre sie immer noch, weil ich mich darauf vorbereite, den Familienbetrieb zu übernehmen, wollte ich etwas Eigenes haben.

Mare scheint nicht dieselbe Meinung zu haben. Sie scheint sogar verärgert darüber zu sein, dass ich nicht denselben, alten Transporter fahre, den sie noch von vor fünf Jahren kennt. Die Leute laufen hinter ihr her und gehen alle ihrem eigenen Leben nach, während sie meinen ganzen Stolz anstarrt.

»Ich rufe einen Uber.«

Ich setze mir die Baseballkappe auf den Kopf und schiebe sie nach hinten, damit ich eine Sonnenbrille aufsetzen kann. »Marigold«, schimpfe ich. »Ich weiß, es ist lange her, dass du zu Hause warst, aber du weißt ja, wie das ist. Es ist Nachsaison. Du könntest stundenlang auf ein Auto warten.«

Ihre Hände finden ihre schmalen Hüften. »Ich denke, ich werde warten.«

Ein frustriertes Knurren entweicht meinen Lippen. »Wenn ich nicht mit dir nach Hause komme, wird Pippa mich umbringen. Das weißt du doch. Und ich weiß es. Also, steig in den verdammten Wagen.«

Ihre Füße bleiben auf dem Boden.

Mein Kopf fällt mit einem geschlagenen Seufzer nach hinten. Ich habe nicht die Energie, das mit ihr zu machen. Ich drehe mich zu ihr um und atme lang und langsam ein. »Steig ein … bitte.«

Der Ausdruck in ihren Augen wird weicher. Als sie einen Schritt auf den Wagen zu macht, erkenne ich das Mädchen, das ich einmal kannte. Für ein paar kurze Augenblicke sieht sie nicht mehr wütend auf mich aus. Tatsächlich sieht sie mich so an, wie sie es früher getan hat. Sie sieht mich an, als würde sie denken, ich hätte ihr die Sterne vom Himmel geholt. Als ob ich nichts falsch machen könnte. Manchmal wünschte ich, wir könnten zu den alten Zeiten zurückkehren. Zu einer Zeit, bevor ich sie im Stich gelassen habe.

Gerade als ich denke, dass sie der Aufforderung nachkommen könnte, hebt sie trotzig ihr Kinn und sieht mir direkt in die Augen. »Nein.«

»Nein?«

»Ich will nicht zu dir in den Truck steigen, Cade.«

»Ich kann mich nicht erinnern, gefragt zu haben, was du willst.«

»Das ergibt Sinn, denn du hast dich nie darum gekümmert, was ich wollte.«

Ihre Worte sind wie ein Tritt in die Magengrube. Vor Jahren waren wir fast genau an der gleichen Stelle, als sie mich anflehte, ihr zu sagen, was sie hören will. Wir starren uns noch ein paar Sekunden lang wütend an, bevor ich einen langen Seufzer ausstoße.

»Steig in den verdammten Truck oder ich setze dich selbst hinein. So oder so, ich werde nicht ohne dich gehen.«

Sie mustert mich von oben bis unten, als wolle sie herausfinden, ob ich bluffe.

Das mache ich ganz sicher nicht. Die letzten paar Tage waren beschissen. Das Wissen, dass ich sie ausgerechnet dort wiedersehen muss, wo wir Schluss gemacht haben, zehrte an meinen Nerven.

Um ihr zu beweisen, dass ich es ernst meine, trete ich näher an sie heran.

Sie reißt sofort ihre Hände zwischen uns, um mich auf Abstand zu halten. »Gut!«, keift sie und geht einen Schritt von mir weg. »Ich komme mit.«

Sie schweigt, während sie auf den Sitz gleitet und die Tür schließt. Ich steige ebenfalls ein und schließe meine Tür.

Meine Finger tippen gegen das Lenkrad. Da wir beide im Wagen sitzen, weiß ich, dass ich einfach den Gang einlegen und losfahren sollte, aber etwas hält mich davon ab. Ich habe das Gefühl, dass ich ihr noch mehr sagen muss, aber ich kann mich einfach nicht entscheiden, was ich sagen soll.

Sie kommt mir zuvor. Mit einem langen Seufzer lässt sie ihre Hand über das Leder zwischen uns gleiten und legt sie vorsichtig auf meinen Oberschenkel. »Es tut mir so leid wegen Linda, Cade.« Ihre Stimme zittert, als sie mein Bein drückt. Meine Hand fällt instinktiv auf ihre.

Für ein paar Augenblicke verschwindet der Rest der Welt, und es gibt nur noch Goldie und mich.

Die Dinge sind nicht kompliziert. Es ist nur ihre Hand in meiner und das Gefühl immenser Geborgenheit. Die wütende Spannung ist verschwunden, zumindest für den Moment. Für ein paar kurze Sekunden erinnere ich mich daran, warum ich ihr überhaupt den Spitznamen Goldie gegeben habe. Abgesehen davon, dass es eine verkürzte Version ihres Namens ist, hat sie mich immer an die Sonne erinnert. Sie brachte Licht in mein Leben.

Und im Moment, auch wenn es nur kurz ist, bringt sie ein wenig Licht in eine dunkle Zeit.

Mein Daumen streicht einmal über ihren Handrücken, bevor sie sich zurückzieht und die Verbindung unterbrochen wird. Ich schlucke durch den Klumpen von Emotionen, der in meiner Kehle steckt.

Ich war derjenige, der meine Mutter im Bett meiner Eltern gefunden hat. Es sollte eigentlich klar sein, dass sie nicht mehr da ist, aber irgendwie ist mir immer noch nicht bewusst, dass wir sie nie wiedersehen werden. Bevor ich noch etwas sagen kann, lege ich den Gang ein, fahre vom Bordstein weg und beginne die vielleicht längsten zwei Stunden meines Lebens.

Kapitel 3

 

 

Mare, Gegenwart

 

 

Ich: Warum hast du mir nicht gesagt, dass Cade mich abholt und nicht du?

 

Pippa: Weil du komisch wirst, wenn ich ihn erwähne.

 

Pippa: Seid ihr auf dem Weg?

 

Ich: Ich werde nicht komisch.

 

Ich: Und ja. Wir sind gerade los.

 

Pippa: Du wirst definitiv komisch. Ich freue mich darauf, dich bald zu sehen.

 

Ich lege mein Handy zurück in meinen Schoß. Am liebsten würde ich ziellos auf einem meiner Social-Media-Konten scrollen oder zumindest die E-Mails abarbeiten, die sich in meinem Posteingang stapeln, aber ich tue nichts von beidem. Bald werden wir über Berge und Überführungen fahren. Wenn ich zu lange auf meinen Schoß starre, wird mir schlecht. Das Letzte, was ich in den quälenden zwei Stunden, die ich mit Cade festsitze, vorhabe, ist, die kostenlosen Snacks vom Flug auszukotzen.

Ich wage es, einen Blick aus dem Augenwinkel auf ihn zu werfen. Er sieht mit dem Alter nur noch besser aus. Warum kann er mit einer umgekehrten Mütze nicht albern aussehen? Er ist näher an den Dreißig als an den Zwanzig. Er sollte nicht so verdammt heiß in etwas aussehen, das er schon als Teenager getragen hat. Ich will mir gar nicht erst die Zeit nehmen, die neuen, definierten Muskeln an seinen Armen richtig kennenzulernen. Ich wünschte, es wäre nicht Nebensaison und das Wetter wäre nicht so schön. Dann würde ich ihn in seinem üblichen Flanellhemd oder einem verwitterten Sweatshirt sehen, beides Optionen, die seinen optimierten Körperbau geheim halten.

Ich habe kein solches Glück. Sein Jennings-Ranch-T-Shirt passt ihm zu perfekt. Es schmiegt sich an die prallen Muskeln, die nicht so ausgeprägt waren, als ich ihn das letzte Mal sah – damals war er zweiundzwanzig.

»Wie geht es deinem Vater?«, frage ich und lehne mich im Sitz zurück, um es mir bequemer zu machen.

Cade pfeift leise vor sich hin. »Schrecklich. Ich habe ihn noch nie so gesehen. Es ist, als wäre er da, aber nicht da, verstehst du?«

Ich nicke und starre auf die Berge, die durch die Windschutzscheibe zu sehen sind. Ganz oben liegt Schnee, der Rest ist in Grün- und Grautönen gehalten. »Ja, ich weiß«, flüstere ich. Meine Gedanken kreisen um die Jahre nach Mommas Tod. Daddy war nicht mehr derselbe, nachdem sie gestorben war. Er hat selten gelacht. Die meiste Zeit hat er nicht einmal bemerkt, dass ein anderer Mensch mit ihm die kleine Hütte im Wald teilte. Er vergrub sich in der Arbeit … aber ich fand einen Weg, nicht einsam zu sein. Ich fand ein zweites Zuhause bei der Familie von Cade und Pippa. Jeder Einzelne von ihnen war für mich da, als ich ein einsames Kind war. Aber ich war trotzdem traurig wegen meines Vaters. Er hatte nicht wie ich eine neue Familie. Er wollte auch keine haben.

Cades Fingerknöchel schlagen auf das Armaturenbrett. »Scheiße, es tut mir leid. Wenn jemand weiß, wie das ist, dann bist du es.«

Ich schlucke und versuche, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Ehrlich gesagt war das Schwerste am Verlust von Momma die Reaktion von Daddy darauf.

Der Tag, an dem er mir sagte, dass er von Sutten wegziehen und woanders neu anfangen würde, war der erste Moment, in dem ich Hoffnung für ihn empfand. Als er mir erzählte, dass er eine Frau kennengelernt hatte, und als er schließlich vor vier Jahren privat seine jetzige Frau Suzie heiratete, war ich so erleichtert wie nie zuvor. Ich weiß, dass Momma immer einen Platz in seinem Herzen haben wird, aber die Abwesenheit wird mit der Zeit leichter. Oder zumindest erträglicher. Ich möchte genau das Cade sagen, aber ich halte mich zurück.

Wenn man trauert, will man manchmal nicht gesagt bekommen, dass alles besser wird. Man will einfach nur den Schmerz spüren, ohne dass jemand einem falsche Versprechungen macht. Mit dem Tod wird nichts besser. Sie sind immer noch weg. Es wird nur erträglicher, damit umzugehen.

»Es gibt nichts, was dir leidtun müsste. Ich habe gefragt, weil ich es wissen wollte. Weil es mich interessiert«, sage ich.

Cade blickt kurz zu mir hinüber. Seine dunklen Augenbrauen ziehen sich auf der Stirn zusammen, als ob er tief in Gedanken versunken wäre. Ich lehne meinen Kopf gegen das kalte Glasfenster. Es gab eine Zeit, in der er mir offen gesagt hat, was ihm durch den Kopf geht. Ich frage mich, ob er mir sagen würde, worüber er nachdenkt, wenn ich ihn fragen würde.

Da ich eine Masochistin bin und es offensichtlich genieße, verletzt zu werden, wenn es um ihn geht, beschließe ich zu fragen. »Was hast du auf dem Herzen?«

Die Muskeln entlang seiner scharfen Kieferlinie spannen sich an. Er bewegt seinen Kiefer hin und her, als würde er gegen den Drang ankämpfen, das zu sagen, was er sagen will.

»Cade?« Ich stupse ihn an. Mein Herzschlag beschleunigt sich in meiner Brust. Wenn er mir nur mit einem Wort antwortet oder, noch schlimmer, gar nichts sagt, muss ich akzeptieren, dass er ein ganz anderer Mensch ist als der, mit dem ich aufgewachsen bin. Vielleicht muss ich leider akzeptieren, dass er sich mir nicht mehr so öffnen kann wie früher.

Die Zeit hat vielleicht nicht alle Wunden geheilt, wenn es um uns geht. Es könnten immer noch zu viele harte Erinnerungen zwischen uns sein, als dass die Dinge wieder so werden könnten, wie sie waren – bevor er mir das Herz gebrochen hat.

Anders als der Cade, den ich früher kannte, dröhnt keine Musik aus den Lautsprechern seines Trucks. Das macht die Stille zwischen uns noch ohrenbetäubender. Ich bin kurz davor, ihm zu sagen, dass er es vergessen soll, als er einen lauten Seufzer ausstößt.

»Ich habe gerade daran gedacht, wie sehr sie sich freuen würde, wenn du zurückkommst. Wenn es unter anderen Umständen wäre, meine ich.« Seine Stimme ist tief und viel heiserer als zuvor. Es ist immer noch ein Hauch von Wut darin, aber es ist eine sanfte Art von Wut. Seine Worte schneiden tief. Ich hätte eher zurückkommen sollen. Es war einfach zu hart. Ich hatte zu viel Angst, dem Mann, der neben mir saß, ins Gesicht zu sehen. Ich war so naiv zu glauben, dass es eines Tages nicht mehr wehtun würde, zurückzukommen. Und dass ich noch unzählige Jahre mit Linda verbringen würde. Ich habe mich in beidem geirrt.

»Ich hätte öfter herkommen sollen.«

Er nickt und rückt die Mütze auf seinem Kopf zurecht. »Ja. Das hättest du tun sollen.«

Ich muss den Blick von ihm abwenden und mich zum Fenster drehen, während ich versuche, meine Gefühle zu zügeln. Als Cade vor sich greift und das Radio einschaltet, stoße ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Wahrheit ist, dass ich keine gute Ausrede habe, um meine Abwesenheit zu erklären. Damals dachte ich, es wäre die einzige Entschuldigung, die ich brauchte. Mein Herz war gebrochen, und ich konnte dem Mann, der es gebrochen hatte, nicht gegenübertreten. Ich dachte, weil Pippa mit mir aufs College ging und ich Linda und Jasper sah, wenn sie zu Besuch kamen, dass alles in Ordnung sei. Nach unserem Abschluss ging Pippa zurück nach Sutten, und ich sagte ihr, dass ich nicht mit ihr gehen könne.

Kurz nachdem ich nach Chicago gezogen war, hatte ich einen großen Buchvertrag für mein erstes Buch erhalten. Das Leben wurde hektisch, mein Herz verheilte nicht, und ich brachte nie den Mut auf, nach Sutten zurückzukehren.

Aber ich hätte es tun sollen.

Jedes Mal, wenn Linda anrief, um sich mit mir zu unterhalten, konnte ich sehen, dass sie wollte, dass ich nach Hause komme. Wenn ich nicht so egoistisch wäre, hätte ich es getan. Tief im Inneren wusste ich, dass ich mich immer verletzt fühlen würde, egal, wie viel Zeit vergehen mag. Wenn ich es verdrängt hätte, würde ich jetzt nicht mit dem tiefen Bedauern leben, dass meine Zeit mit ihr so kurz war.

Es kostet mich alles, um die Tränen, die mir in die Augen steigen, zurückzuhalten. Cade hat gerade seine Mutter verloren. Er hat jedes Recht, wütend auf mich zu sein, weil ich nicht nach Hause gekommen bin, um sie zu sehen. Ich bin nicht diejenige, die weinen sollte. Ich habe es nicht verdient, so traurig zu sein, wenn ich mir nie die Mühe gemacht habe, nach Hause zu kommen.

Falls er den Krieg bemerkt, den ich mit meinen Gefühlen führe, sagt er nichts. Vielmehr dreht er die Musik lauter. Das alte Lied, das aus den Lautsprechern dröhnt, katapultiert mich in eine Erinnerung, die viele Jahre zurückliegt.

 

 

 

Kapitel 4

 

 

Mare, sechzehn Jahre

 

 

Ich stöhne, als ich zum gefühlt millionsten Mal versuche, meine beste Freundin zu wecken. Die Spitze meines Fingers sticht in Pippas Seite. Jede andere Person würde durch den Druck heulend aufwachen. Nicht jedoch Pippa. Sie gibt im Schlaf ein leises Knurren von sich und kuschelt sich noch tiefer in ihren Kopfkissenbezug.

»Pippa, du hast es versprochen.« Ich ergreife ihre Hand und ziehe mit aller Kraft. Aber es nützt nichts. Sie schläft wie eine Tote.

Mit einem verärgerten Seufzer ließ ich ihre Hand mit einem dumpfen Schlag auf die Matratze fallen. Als ich ihr sagte, wie ich die Nacht, in der ich sechzehn wurde, verbringen wollte, hatte sie geschworen, lange genug wach zu bleiben, um diese Pläne mit mir auszuführen.

Pippa ist eine Lügnerin.

Wie immer ist sie eingeschlafen, und jetzt muss ich mich entscheiden, ob ich abschreiben will, wie ich den Abend verbringen wollte, oder ob ich ihn allein verbringen will.

Ich stapfe zu ihrer Tür und ziehe sie grob hinter mir zu. Hauptsächlich, damit ich mich besser fühle. Wenn mein zehnminütiges Stochern und Stoßen Pippa nicht aufgeweckt hat, dann wird es auch das Zuschlagen der Tür nicht tun.

Während des gesamten Spaziergangs zu den Ställen überlege ich mir, was ich Pippa sagen werde, wenn sie morgen früh aufwacht. Ich hätte es besser wissen müssen, als darauf zu vertrauen, dass sie wach bleibt, aber ich hatte Hoffnung. Wenn die Uhr Mitternacht schlägt, ist das mein Geburtstag. Mein sechzehnter. Das ist eine große Sache. Und sie wird ihn verschlafen.

Ich bin so damit beschäftigt, wütend auf meine beste Freundin zu sein, dass ich die Gestalt nicht bemerke, die aus der Sattelkammer kommt. Ich rase direkt in sie hinein und stoße dabei fast den Sattel in seinen Armen zu Boden.

»Woah!«, ruft Cade, der den Sattel in einer Hand balanciert und mich mit der anderen stützt. »Führst du wieder Selbstgespräche, Goldie?«

Ich schaue zu ihm hoch und mache große Augen, als ich sein offenes, nicht zugeknöpftes Hemd sehe. Und was er darunter nicht trägt.

Gott, warum muss er perfekte Bauchmuskeln haben? Und warum will ich mir das Gefühl von ihnen einprägen?

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, behaupte ich und verschränke abwehrend die Arme vor der Brust.

Seine Lippen zucken, als er versucht, ein Lächeln zu unterdrücken. Es klappt nicht lange. Er zeigt seine perfekten weißen Zähne, während er den Kopf schüttelt. »Du redest viel. Es ist wahrscheinlich ein Talent, wie viel du reden kannst, wenn niemand zuhört.«

Er verschwindet durch die Scheunentore. Cade lässt mir nicht viele Möglichkeiten. Ich kann hier stehen bleiben und den Abend allein verbringen, oder ich kann ihm folgen und unser Gespräch fortsetzen. Es ist eigentlich gar keine Entscheidung. Ich nutze jede zusätzliche Sekunde, die ich mit ihm verbringen kann, vor allem, wenn das bedeutet, dass wir allein sind, was nicht oft vorkommt.

»Ich rede wirklich nicht so viel.« Ich eile zur Tür hinaus und bleibe stehen, als ich die beiden Pferde bemerke, die an einem Pfosten angebunden sind. Ich lege verwirrt den Kopf schief. »Machst du einen Ausritt?«

Aus der Stereoanlage in der Sattelkammer dröhnt Musik. Ich erkenne sie als eines von Cades aktuellen Lieblingsstücken. Er spielt sie ununterbrochen. Es ist zu einem meiner Lieblingslieder geworden, genau wie seines.

Cade legt den Sattel auf Tonkas Rücken. Seltsam. Normalerweise reitet er Ranger. Er greift unter Tonkas Bauch und legt den Sattelgurt an, bevor er mir antwortet. »Nein. Aber ich dachte, du und Pip seid zu deinem Geburtstag da. Ich bin gerade zurückgekommen, nachdem ich die Pfade für die Nacht überprüft habe. Ich dachte, ich mache die Pferde für deinen Geburtstagsausritt fertig.«

Mein Herz flattert. Es ist sinnlos, dagegen anzukämpfen. Ich weiß, dass sein Handeln nichts bedeutet. Aber für mich bedeutet es alles.

Er erinnerte sich.

Das Hochgefühl hält nur wenige Augenblicke an, bevor ich einen enttäuschten Seufzer ausstoße. »Wir wollten eigentlich eine Runde drehen. Aber sie schläft schon. Ich dachte mir, ich gehe allein.«

Cade beobachtet mich aufmerksam von Tonka aus. Normalerweise reitet Pippa auf Tonka und ich auf Dolly, was auch Sinn ergibt, denn das sind die beiden Pferde, die er an den Pfosten gebunden hat. Das einzige Problem ist die Tatsache, dass Pippa in ihrem Bett fest eingeschlafen ist.

»Du reitest nicht allein«, sagt er streng.

Ich runzle die Stirn. Diesen Ausritt lasse ich mir auf keinen Fall entgehen. Ich gehe, ob es ihm gefällt oder nicht.

»Du bist nicht mein Boss, Cade Jennings.«

»Wer soll dir denn sonst sagen, wenn du etwas Dummes tust?«, entgegnet er.

»Ich könnte diese Strecken im Schlaf reiten und das weißt du. Mir wird nichts passieren. Es ist Sommer. Der Schnee ist geschmolzen. Es hat seit Ewigkeiten nicht mehr geregnet. Schon wieder. Es wird. Alles. Gut gehen.«

»Dir wird nichts passieren, weil du nicht allein gehst.« Cade schlingt die Zügel um das Sattelhorn von Tonka. Er schaut zu Dolly, die bereits aufgesattelt ist und geduldig darauf wartet, loszureiten.

»Ja?«, diskutiere ich und stütze meine Hände auf die Hüften. »Und wer wird mich begleiten? Ich lasse mir das nämlich nicht entgehen. Schließlich ist es mein Geburtstag.«

»Ich komme mit dir.«

Mein Mund klappt zu. Ich schaue auf meine Stiefel hinunter. Das schwarze Leder ist schmutzig und müsste dringend gereinigt werden, aber ich war in letzter Zeit zu faul. Ich überlege, was ich ihm antworten soll, bevor ich wieder aufschaue.

Als sich unsere Blicke erneut kreuzen, knöpft er gerade sein Hemd zu, sein Blick ist nur auf mich gerichtet.

Ich bewege ängstlich meine Finger und frage mich, ob das zu schön ist, um wahr zu sein. »Müsstest du nicht irgendwo anders sein?«

»Nichts ist wichtiger, als deinen Geburtstag zu feiern«, antwortet er. Der raue Ton in seiner Stimme jagt mir ein Kribbeln über den Rücken.

Als Parker Prewitt mich letzte Woche fragte, ob ich mit ihm zu Pop’s Ice Cream Parlor gehen wolle, hatte ich nicht dasselbe Schaudern verspürt wie jetzt. Und das ist nicht mal ein Date. Aber es ist Zeit allein mit Cade. Der Junge, dessen Namen ich in jedes Notizbuch gekritzelt habe. Auf den ich immer gehofft habe, in jedem MASH-Spiel zu landen. Und er bietet mir an, die Nacht meines Geburtstags mit mir zu verbringen.

Kein Geburtstagswunsch könnte besser sein als dieser.

»Das musst du nicht«, widerspreche ich schwach. Jeder Teil von mir will diese Zeit mit ihm verbringen. Aber ich befinde mich in diesem seltsamen Schwebezustand, in dem ich nicht mehr das kleine Mädchen bin, dem es egal war, ob es Cade störte, wenn Pippa und ich mit ihm mitgingen. Cade ist nicht mehr jung, und ich bin es auch nicht. Ich will nicht, dass er das Gefühl hat, den Abend mit mir verbringen zu müssen, weil Pippa es nicht tut und er sich sonst schlecht fühlt. »Es ist okay, wenn ich allein bin.«

Er rollt mit den Augen. »Du hasst es, allein zu sein.«

Ich unterdrücke mein eigenes Augenrollen. Verdammter Cade. Er kennt mich zu gut.

»Ich hasse das Gefühl, Verantwortung zu tragen, noch mehr.« Ich gehe auf Dolly zu und streiche mit einer Hand über ihren grau gesprenkelten Körper. Sie wiehert aufgeregt, als ich einen Pfefferminz aus der Tasche meiner abgeschnittenen Jeansshorts ziehe und ihr meine Hand hinhalte, damit sie es auflecken kann.

Das Bonbon zerbricht zwischen ihren Zähnen. Ich lächle sie an und liebe es, wie sie sich in meine Hand schmiegt, während sie nach einer weiteren Leckerei sucht.

»Du trägst keine Verantwortung. Und jetzt lass uns gehen.«

Ich wende meinen Blick von Dolly zu Cade. Er steht neben Tonka und kratzt mit seinen Fingern an der Lieblingsstelle des Pferdes. Tonka gibt einen zufriedenen Laut von sich und dreht seinen Kopf, um Cades Hand in die optimale Position zu bringen.

Wir beide starren uns stumm an. Ich beobachte jede seiner Bewegungen genau und versuche zu entschlüsseln, ob er es ernst meint oder nicht. Er ist nicht der Typ, der lügt, damit sich jemand besser fühlt. Er wird einfach gar nichts sagen. Aber aus irgendeinem Grund werde ich das Gefühl nicht los, dass er das nur tut, um seiner Schwester einen Gefallen zu tun – oder vielleicht seinen Eltern. Es könnte sogar ein Gefallen für mich sein. Keine dieser Antworten ist der Grund, warum ich will, dass er das tut.

Die Verliebtheit, die ich nicht abschütteln konnte, hat mich zu der Überzeugung gebracht, dass er vielleicht, aber nur vielleicht den Abend tatsächlich mit mir verbringen möchte.

Dolly gibt ein lautes Wiehern von sich, das mich zusammenzucken lässt.

Cade lacht. »Sag du es ihr, Dolly. Ich dachte, wir würden einen Ausflug machen, aber Goldie scheint sich damit zufriedenzugeben, mich zu beobachten.«

Ich schiebe meinen Fuß hinein, hebe mich hoch und suche die richtige Position im Sattel. »Mach dir nichts vor«, schimpfe ich. »Ich habe dich nicht beobachtet.«

Cade wiederholt die gleiche Bewegung und wirft ein Bein über Tonkas Rücken, bis er im Sattel sitzt. »Du hast mich definitiv beobachtet.« Er schnalzt mit der Zunge und lockt Tonka von der Anhängevorrichtung weg. »Lass uns gehen.«

Bevor ich argumentieren kann, dass ihm all die Mädchen in der Stadt zu Kopf gestiegen sind, rammt er seine Fersen in Tonkas Bauch und treibt das Pferd vorwärts.

Er lässt mir keine andere Wahl, als Dolly ihm direkt hinterher zu treiben.

 

 

 

Kapitel 5

 

 

Mare, Gegenwart

 

 

Ich hatte kaum die Gelegenheit, die Beifahrertür von Cades Truck zu öffnen, als ein Körper gegen meinen stößt. Mein Rücken presst sich in den Rahmen des Trucks, als Pippa mich in eine Umarmung einschließt.

»Mare«, haucht sie in mein Haar und drückt mich fest an sich. »Ich bin so froh, dass du gekommen bist.«

Ich ziehe meine beste Freundin an mich und drücke sie so fest, wie ich kann. »Natürlich bin ich gekommen«, murmle ich in ihr Haar und bekomme einen Bissen von ihren glatten, braunen Locken ab.

Schweigen breitet sich aus, während wir uns gegenseitig umarmen. Es ist erst drei Monate her, dass Pippa mich in Chicago besuchte. Wir hatten die schönste Zeit unseres Lebens, als ich ihr in den sieben Tagen, die sie mit mir verbrachte, jede mögliche Touristenattraktion zeigte. Keiner von uns beiden hätte sich vorstellen können, warum wir uns heute wiedersehen würden.

Pippa zieht sich zurück und verschränkt ihren Arm mit meinem. »Ich weiß wirklich nicht, ob wir das ohne dich schaffen würden.« Als sie ›wir‹ erwähnt, fällt mein Blick auf Cade. Er sitzt immer noch auf dem Fahrersitz und richtet seine Aufmerksamkeit auf Pippa und mich. In seinen Augen liegt ein unleserlicher Ausdruck, als er mich anstarrt.

Ich sage Pippa nicht, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass Cade mich hier nicht haben will. Ich wende meinen Blick von ihm ab und lasse mich von ihr in Richtung des steinernen Weges ziehen, der zur Eingangstür führt.

Mein Herz sinkt, als ich die Schaukelstühle sehe, die auf der großen Veranda stehen. Eine von Lindas Lieblingsbeschäftigungen nach dem Abendessen war es, auf dem Stuhl zu schaukeln und auf das Land hinauszuschauen. Sie kochte Tee, gesüßt mit viel zu viel Honig, und kaute einem auf der Veranda das Ohr ab. Mir war gar nicht bewusst, wie sehr ich diese abendlichen Gespräche vermisst habe, bis mir dämmerte, dass es sie nie wieder geben würde.

Ich schaue zu Pippa an meiner Seite. Ihre Augen sind rot und ungeschminkt, während sie ihren Blick auf die Eingangstür gerichtet hält. Ich frage mich, ob ihre Gedanken an denselben Ort wandern wie meine. Als ich über meine Schulter schaue, bemerke ich, dass Cade die Heckklappe seines Trucks heruntergezogen hat.

»Ich sollte besser meine Taschen holen.«

Pippa schüttelt den Kopf und hält mich fest im Griff. Sie klammert sich an mich, als ginge es um ihr Leben. Als ob sie es jetzt, wo ich hier bin, nicht ertragen kann, mich loszulassen. »Cade kann sie holen«, sagt sie, und der Ton ihrer Stimme lässt keinen Raum für Diskussionen. Pippa ist so eigensinnig, wie sie nur sein kann. Was immer sie sagt, gilt.

Um ihr das zu beweisen, holt Cade meine beiden Koffer von der Ladefläche. Seine Finger umschließen jeden Griff, während er Pippa und mir mit genügend Abstand hinterherläuft.

Ich wende meinen Blick von ihm ab, um nicht dabei ertappt zu werden, wie ich auf den prallen Bizeps starre, der gegen die Ärmel seines Hemdes kämpft. »Wie kann ich dir helfen?«, frage ich Pippa und folge ihr durch die große Holztür.

Pippa atmet tief durch und führt mich in die geräumige Küche. Sie zeigt auf einen Tresen voller Fotos, Papiere und Kataloge für verschiedene Pakete des Bestattungsunternehmens. »Ich brauche eine Menge, ehrlich gesagt. Aber was mir am meisten auf dem Herzen liegt, ist, dass ich mich gefragt habe, ob du vielleicht bei der Trauerfeier sprechen würdest.«

Das Blut gefriert in meinen Adern, wenn ich daran denke, dass ich vor der ganzen Stadt stehen muss. Ich musste das schon einmal tun – bei der Beerdigung meiner Mutter. Ich war zu jung, um dort oben zu stehen, aber mein Vater wollte nichts sagen, und so viele Leute aus der Stadt schauten uns an. Ich bedankte mich, dass sie gekommen waren, und versuchte in Worte zu fassen, was Momma uns allen bedeutete. Das war nichts, was eine Zehnjährige tun sollte. Linda war da gewesen, um den Tag zu retten. Sie hatte ihren Platz verlassen und im Namen unserer Familie einige Worte an die Menge gerichtet.

Pippa muss bemerken, wie die Farbe aus meinem Gesicht weicht, denn sie kaut nervös auf ihrer Lippe. Sie wendet ihren Blick von mir ab und konzentriert sich auf die Fotos ihrer Mutter, die auf dem Tisch liegen. »Du hast einfach diese Art, mit Worten umzugehen, die sonst niemand hat.«

»Geschriebene Worte. Ich weiß nicht, ob ich gut darin bin, es laut auszusprechen.«

Pippas Schultern sacken in sich zusammen, als ihr Blick auf ein Bild ihrer Mutter mit dem kleinen Cade fällt. »Hilfst du mir wenigstens, etwas zu schreiben, das ich vorlesen kann?«