Rhapsodic - Laura Thalassa - E-Book

Rhapsodic E-Book

Laura Thalassa

0,0
10,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Geh' auf den Deal ein, wenn du dich traust! Callypso Lillis trägt ein Armband aus schwarzen Perlen, das ihre Schulden an den berüchtigten Bargainer symbolisiert – Schulden, die nie eingefordert wurden. Bis jetzt. In der Anderswelt geschehen düstere Dinge: Feenkrieger verschwinden, ihre Frauen kehren in gläsernen Särgen mit Kindern im Arm zurück. Um sein Volk zu retten, braucht der Bargainer Callies Hilfe – und ihre Vergebung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Laura Thalassa

 

Rhapsodic

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Übersetzt von Michelle Markau

 

 

Rhapsodic

 

 

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»RHAPSODIC«.

Copyright © 2016. RHAPSODIC by Laura Thalassa

the moral rights of the author have been asserted.

 

Vermittelt durch die Agentur:

Brower Literary & Management, Inc.

 

Deutschsprachige Ausgabe © 2025. Rhapsodic

by VAJONA Verlag GmbH

 

 

 

Übersetzung: Michelle Markau

Korrektur: Lara Gathmann und Susann Chemnitzer

Umschlaggestaltung: Stefanie Saw

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

Für meine Familie

Weil das Leben ein ganzes Dorf braucht

 

Ich habe Blut an den Händen, Blut zwischen den Zehen, Blut in den Haaren. Ich habe Spritzer auf meiner Brust, und zu meinem Entsetzen kann ich ein paar Tropfen auf meinen Lippen schmecken.

Zu viel davon klebt auf dem polierten Küchenboden. Niemand kann so einen Blutverlust überleben, nicht einmal das Monster zu meinen Füßen.

Mein ganzer Körper zittert, das Adrenalin pumpt noch immer durch meine Adern. Ich lasse die zerbrochene Flasche fallen, das Glas zersplittert, als es auf dem Boden aufschlägt, und sinke auf die Knie.

Blut tränkt meine Jeans.

Ich starre meinen Peiniger an. Seine glasigen Augen haben ihren Fokus verloren und seine Haut ihre Farbe. Wäre ich ein mutigerer Mensch, würde ich mein Ohr auf seine Brust legen, um mich zu vergewissern, dass sein kaltes, schwarzes Herz zum Stillstand gekommen ist. Ich kann es nicht ertragen, ihn zu berühren, nicht einmal jetzt. Auch wenn er mir nicht mehr wehtun kann.

Er ist weg. Er ist endlich weg.

Ein erschütterndes Schluchzen bahnt sich seinen Weg aus mir heraus. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit kann ich wieder atmen. Ich schluchze erneut. Gott, fühlt sich das gut an. Diesmal folgen die Tränen.

Ich sollte keine Erleichterung empfinden. Das weiß ich. Ich weiß, dass Menschen den Verlust von Leben betrauern sollten. Aber ich kann es nicht. Jedenfalls nicht seines. Vielleicht macht mich das zu einem schlechten Menschen. Ich weiß allerdings nur, dass ich mich heute Abend meiner Angst gestellt und sie überlebt habe.

Er ist tot. Er kann mir nicht mehr wehtun. Er ist tot.

Es dauert nur noch ein paar Sekunden, bis mir diese Tatsache bewusst wird.

O Gott! Er ist tot.

Meine Hände beginnen zu zittern. Da sind eine Leiche und Blut, so viel Blut. Ich bin komplett damit durchtränkt. Es besprenkelt meine Hausaufgaben und ein fetter Tropfen verdeckt Lincolns Gesicht auf meinem Geschichtsbuch.

Ein heftiger Schauer durchfährt meinen Körper.

Ich starre auf meine Hände hinunter und fühle mich wie Lady Macbeth. Out, damned spot! Ich eile zur Spüle und hinterlasse eine Spur blutiger Fußabdrücke hinter mir. O Gott, ich muss sein Blut von mir waschen.

Ich spüle meine Hände gründlich ab. Das Blut färbt meine Nagelhaut und setzt sich unter meinen Fingernägeln fest. Ich bekomme es nicht ab, aber das macht ohnehin keinen Unterschied, denn ich bemerke, dass die rote Flüssigkeit auch meine Arme überzieht. Also schrubbe ich diese stattdessen. Doch dann bemerke ich sie auf meinem Shirt, und ich kann sehen, wie sie in meinen Haaren gerinnt.

Ich wimmere, während ich mich weiter reinige. Es macht keinen Unterschied. Es geht nicht ab.

Scheiße.

Ich beuge mich über die Granitanrichte und begutachte das rosafarbene Gemisch aus Blut und Wasser, das die Arbeitsplatte, den Boden und das Waschbecken befleckt.

Davor kann ich mich nicht verstecken.

Zögernd gleitet mein Blick zur Leiche. Ein irrationaler Teil von mir erwartet, dass mein Stiefvater sich wieder aufrichtet und mich angreift. Als er genau das nicht tut, beginne ich wieder zu denken.

Was soll ich jetzt tun? Die Polizei rufen? Das Justizsystem schützt Kinder, also sollte alles gut gehen. Sie würden mich einfach zum Verhör vorladen.

Aber würden sie mich wirklich beschützen? Es ist ja nicht so, dass ich einfach irgendjemanden getötet hätte. Ich habe einen der reichsten, unantastbarsten Männer der Welt getötet. Es spielt keine Rolle, dass es Selbstverteidigung war. Selbst im Tod kommen Männer wie er immer wieder mit dem Undenkbaren davon.

Und ich würde darüber reden müssen – über alles. Übelkeit macht sich in mir breit.

Aber ich habe keine Wahl. Ich muss mich stellen. Es sei denn …

Das Monster, das in unserer Küche verblutet, kennt einen Mann, der einen Mann kennt. Jemanden, der eine chaotische Situation bereinigen kann. Ich müsste nur einen Teil meiner Seele verkaufen, um mit ihm zu sprechen.

Keine Bullen, keine Fragen, keine Pflegefamilien, kein Gefängnis.

Weißt du was? Er kann haben, was von meiner Seele noch übrig ist. Alles, was ich will, ist aus dieser Situation rauszukommen.

Ich stürze zur Müllschublade und versuche mit zitternden Händen, sie zu öffnen. Als ich es geschafft habe, ziehe ich schnell die Visitenkarte heraus und beginne, die seltsamen Kontaktinformationen zu lesen. Es steht nur ein einziger Satz darauf; ich muss ihn nur laut aufsagen.

Angst durchflutet mich. Wenn ich das tue, gibt es kein Zurück mehr.

Mein Blick schweift durch die Küche. Es ist bereits zu spät, um einen Rückzieher zu machen.

Ich drücke die Karte in meiner Hand zusammen. Dann atme ich tief durch und tue, was die Visitenkarte mir sagt.

»Bargainer, ich möchte einen Deal machen.«

 

Ein Aktenordner fällt vor mir auf den Schreibtisch. »Du hast Post, Callie.«

Ich nehme meine Tasse mit dem dampfendem Kaffee vom Mund und blicke von meinem Laptop auf.

Temperance »Temper« Darling – ich schwöre bei Gott, das ist ihr Name –, meine Geschäftspartnerin und beste Freundin, steht auf der anderen Seite meines Schreibtischs und lächelt kokett. Sie lässt sich auf den Platz mir gegenüber fallen.

Ich nehme meine Füße vom Schreibtisch und ziehe die Akte zu mir heran.

Sie nickt zu der Mappe. »Der hier ist leicht verdientes Geld.«

Sie sind alle leicht verdientes Geld, und das weiß sie.

Ihr Blick schweift über mein schrankgroßes Büro, ein Ebenbild von ihrem.

»Wie viel bietet die Kundin?«, frage ich und lege meine Füße wieder auf die Schreibtischkante.

»Zwanzig Riesen für ein einziges Treffen mit der Zielperson, und sie weiß bereits, wann und wo du ihn abfangen sollst.«

Ich pfeife. In der Tat leicht verdientes Geld.

»Zu welcher Zeit ist das Treffen mit dem Zielobjekt?«, frage ich.

»Heute Abend um zwanzig Uhr im Flamencos. Zu deiner Information, es ist ein schickes Restaurant, also –« Ihr Blick fällt auf meine abgewetzten Stiefel. »Das kannst du nicht anziehen.«

Ich rolle mit den Augen.

»Oh, und er wird mit Freunden dort sein.«

Und dabei hatte ich mich so darauf gefreut, relativ früh nach Hause zu kommen.

»Weißt du, was die Kundin will?«, frage ich.

»Die Mandantin glaubt, dass ihr Onkel, unsere Zielperson, seine Vormundschaft über seine Mutter, ihre Großmutter, missbraucht. Die beiden gehen wegen dieser Angelegenheit vor Gericht. Sie möchte einige Gerichtskosten sparen und ein Geständnis aus erster Hand bekommen.«

Ein vertrautes Hochgefühl lässt meine Haut schon jetzt leuchten. Das ist die Chance, einer alten Dame zu helfen und die schlimmste Art von Verbrecher zu bestrafen – einen, der seine eigene Familie ausbeutet.

Temper bemerkt meine leuchtende Haut, ihr Blick ist fasziniert. Sie streckt die Hand aus, bevor sie sich zügeln kann. Nicht einmal sie ist gegen meinen Glanz immun.

Sie schüttelt den Kopf. »Du bist echt verrückt.«

Das ist Gottes ehrliche Wahrheit.

»Nur wer es ist, kann es erkennen.«

Sie schnaubt. »Du kannst mich die böse Hexe des Westens nennen.«

Doch Temper ist keine Hexe. Sie ist etwas viel Mächtigeres.

Sie schaut auf ihr Telefon. »Verdammt«, sagt sie. »Ich würde gerne bleiben und plaudern, aber mein Täter ist in weniger als einer Stunde in Luca’s Deli, und bei dem Mittagsverkehr in LA möchte ich wirklich nicht gezwungen sein, die 405 wie das Rote Meer zu teilen. So etwas sieht verdächtig aus.« Sie steht auf und schiebt ihr Handy in ihre Tasche. »Wann kommt Eli zurück?«

Eli, der Kopfgeldjäger, der manchmal für uns und manchmal für die Politia, die übernatürliche Polizeitruppe, arbeitet. Eli, der auch mein Freund ist.

»Tut mir leid, Temper, aber er wird noch eine Woche weg sein.« Ich entspanne mich ein wenig, während ich diese Worte sage.

Das ist falsch, oder? Die Tatsache zu genießen, dass mein Freund weg ist und ich Zeit für mich habe?

Es ist wahrscheinlich auch falsch, seine Zuneigung als erdrückend zu empfinden. Ich habe Angst vor dem, was es bedeutet, vor allem, weil wir gar nicht zusammen sein sollten.

Die erste Regel lautet, sich nicht mit Kollegen einzulassen. An einem Abend mit Drinks nach der Arbeit vor sechs Monaten habe ich diese Regel gebrochen, als hätte es sie nie gegeben. Und ich brach sie wieder und wieder und wieder, bis ich mich in einer Beziehung wiederfand, von der ich nicht weiß, ob ich sie überhaupt will.

»Ugh«, sagt Temper, ihr Haar wippt ein wenig, als sie den Kopf zurücklehnt und ihren Blick gen Himmel richtet. »Die Verbrecher lieben es, Unruhe zu stiften, wenn Eli weg ist.« Sie geht auf meine Tür zu und verlässt mein Büro mit einem Abschiedsblick.

Ich starre einen Moment lang auf die Akte, dann nehme ich sie in die Hand.

Der Fall ist nichts Besonderes. Es gibt nichts besonders Grausames oder Schwieriges an ihm. Nichts, was mich dazu bringt, nach dem Johnnie Walker zu greifen, den ich in einer meiner Schreibtischschubladen aufbewahre. Ich merke, dass ich es trotzdem tun will, dass es mich in der Hand juckt, die Flasche herauszuziehen.

Es gibt zu viele schlechte Menschen auf dieser Welt.

Mein Blick fällt auf die Onyxperlen, die sich um meinen linken Arm schlingen, während ich mit den Fingern auf den Tisch trommle. Die Perlen scheinen das Licht zu schlucken, anstatt es zu brechen.

Zu viele schlechte Menschen und zu viele Erinnerungen, die es wert sind, vergessen zu werden.

 

 

 

 

 

Das protzige Restaurant, das ich um Punkt acht Uhr abends betrete, ist nur schwach beleuchtet, und auf jedem Zweiertisch flackern Kerzen. Das Flamencos ist eindeutig ein Ort, an den reiche Leute kommen, um sich gegenseitig zu verführen.

Ich folge dem Kellner, meine Absätze klackern leise auf dem Parkettboden, als er mich in einen privaten Raum führt.

Zwanzigtausend. Das ist ein Haufen Geld. Aber ich mache das hier nicht wegen des Geldes. Die Wahrheit ist, dass ich mit Süchten vertraut bin, und die hier ist eine meiner Lieblinge.

Der Kellner öffnet die Tür zu dem Privatraum, und ich trete ein.

Drinnen plaudert eine Gruppe von Leuten freundschaftlich um einen großen Tisch herum. Ihre Stimmen werden ein wenig leiser, als die Tür hinter mir zufällt. Ich mache keine Anstalten, mich dem Tisch zu nähern.

Mein Blick fällt auf Micky Fugue, ein kahlköpfiger Mann in den späten Vierzigern. Mein Ziel.

Meine Haut beginnt zu leuchten, als ich die Sirene in mir aufsteigen lasse. »Alle raus.« Meine Stimme ist melodiös, überirdisch. Unwiderstehlich.

Beinahe synchron stehen die Gäste auf, ihre Augen sind glasig.

Das ist meine schöne, furchtbare Macht. Die Macht einer Sirene. Die Willigen – und Unwilligen – zu zwingen, zu tun und zu glauben, was ich will.

Glamour. Er ist verboten. Nicht, dass es mich wirklich interessiert.

»Der Abend war toll«, sage ich ihnen, als sie an mir vorbeigehen.

»Ihr würdet das alle gerne irgendwann in der Zukunft wiederholen. Oh, und ich war nie hier.«

Als Micky an mir vorbeigeht, packe ich ihn am Oberarm. »Du nicht.«

Er bleibt stehen, gefangen im Netz meiner Stimme, während der Rest der Gäste nach draußen geht. Seine glasigen Augen flackern für einen Moment, und in diesem Augenblick sehe ich seine Verwirrung, während sein Bewusstsein gegen meine seltsame Magie ankämpft. Dann ist sie verschwunden.

»Setzen wir uns.« Ich führe ihn zu seinem Platz zurück und lasse mich dann auf den Platz daneben fallen. »Du kannst gehen, wenn wir fertig sind.«

Ich leuchte immer noch, meine Kraft nimmt mit jeder Sekunde zu. Meine Hände zittern nur ein wenig, während ich gegen meine anderen Triebe ankämpfe – Sex und Gewalt. Betrachtet mich als modernen Jekyll und Hyde. Die meiste Zeit bin ich einfach Callie, die Privatdetektivin. Aber wenn ich meine Kräfte einsetzen muss, kommt eine andere Seite von mir zum Vorschein. Die Sirene ist das Monster in mir; sie will nehmen und nehmen und nehmen. Sie will Verwüstung anrichten und sich an der Angst und der Lust ihrer Opfer laben.

Es fällt mir schwer, das laut zuzugeben, aber es ist schwierig, sie zu kontrollieren.

Ich nehme mir ein Stück Brot aus einem der Körbe in der Mitte des Tisches und ziehe einen kleinen Teller rüber, den einer der Gäste nicht angerührt hat. Nachdem ich Olivenöl und Balsamico-Essig auf den Teller getröpfelt habe, tauche ich das Brot ein und beiße hinein.

Ich beobachte den Mann neben mir. Der maßgeschneiderte Anzug, den er trägt, verbirgt den Bauchansatz. An seinem Handgelenk trägt er eine Rolex. In der Akte stand, er sei Buchhalter. Ich weiß, dass sie gutes Geld verdienen, besonders hier in L.A., aber so gut verdienen sie nicht.

»Warum kommen wir nicht gleich zur Sache?«, frage ich. Während ich spreche, stelle ich die Videofunktion auf meinem Handy ein, damit die Kamera unser Gespräch aufzeichnen kann. »Ich werde dieses Gespräch aufzeichnen. Bitte sage laut ›Ja‹ und gib deine Zustimmung zu diesem Interview.«

Mickys Brauen ziehen sich zusammen, während er gegen den Glamour in meiner Stimme ankämpft. Es nützt nichts. »Ja«, sagt er schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen. Dieser Kerl ist kein Narr; er versteht vielleicht nicht, was mit ihm geschieht, aber er weiß, dass er gleich überlistet wird. Er weiß, dass er bereits verarscht wird.

Sobald er zugestimmt hat, fange ich an.

»Hast du Geld von deiner Mutter veruntreut?« Seiner senilen, todkranken Mutter. Ich hätte die Akte wirklich nicht lesen sollen. Ich soll mich nicht emotional in Fälle hereinziehen lassen, aber wenn es um Kinder oder ältere Menschen geht, werde ich immer wütend.

Der heutige Abend ist keine Ausnahme.

Ich nehme einen weiteren Bissen von dem Brot und beobachte ihn.

Er öffnet den Mund –

»Von diesem Moment an bis zum Ende unseres Gesprächs wirst du die Wahrheit sagen«, befehle ich, wobei die Worte leicht gesungen klingen.

Er hält inne, und was immer er sagen wollte, kommt ihm nicht mehr über die Lippen. Ich warte darauf, dass er fortfährt, aber er tut es nicht. Jetzt, wo er nicht mehr lügen kann, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis er gezwungen ist, die Wahrheit zuzugeben.

Micky kämpft gegen meinen Glamour an, aber es ist aussichtslos. Er fängt an zu schwitzen, trotz seiner ruhigen Gesichtszüge.

Ich esse weiter, als ob alles in Ordnung wäre.

Seine Wangen verfärben sich. Schließlich stößt er hervor: »Ja. Wie zum Teufel hast du …«

»Ruhe.«

Sofort hört er auf zu sprechen.

Dieses kranke Schwein. Er stiehlt Geld von seiner sterbenden Mutter. Eine süße alte Dame, deren größter Fehler es war, diesen Loser zur Welt zu bringen.

»Wie lange machst du das schon?«

Seine Augen flackern vor Wut. »Zwei Jahre«, bringt er gegen seinen Willen knirschend hervor. Er starrt mich an.

Ich lasse mir Zeit damit, das letzte Stück Brot zu essen. »Warum hast du das getan?«, frage ich schließlich.

»Sie hat es nicht verwendet und ich habe es gebraucht. Ich werde es zurückgeben«, sagt er.

»Ach, wirklich?« Ich ziehe die Brauen hoch. »Und wie viel hast du dir … geliehen?«

Einige stille Sekunden vergehen. Mickys rötliche Wangen färben sich immer stärker. Schließlich sagt er: »Ich weiß es nicht.«

Ich lehne mich nahe zu ihm heran. »Schätze mal.«

»Vielleicht zweihundertzwanzigtausend.«

Wenn ich diese Zahl höre, durchfährt mich ein Hauch von Wut. »Und wann wolltest du es deiner Mutter zurückzahlen?«

»J-jetzt«, stammelt er.

Und ich bin die Königin von Saba.

»Wie viel Geld hast du derzeit auf deinen Konten?«, frage ich.

Er greift nach seinem Glas Wasser und nimmt einen tiefen Schluck, bevor er antwortet. »Ich investiere gerne.«

»Wie viel?«

»Etwas mehr als zwölftausend.«

Zwölftausend Dollar. Er hat das Geld seiner Mutter geplündert und lebt jetzt wie ein König. Aber hinter dieser Fassade hat der Mann nur zwölftausend Dollar zur Verfügung. Und ich wette, auch dieses Geld wird bald liquidiert. Diese Art von Männern hat Butterfinger; das Geld rutscht einfach hindurch.

Ich werfe ihm einen enttäuschten Blick zu. »Das ist nicht die korrekte Antwort. Also«, sage ich, während die Sirene mich dazu drängt, grausam zu sein, »wo ist das Geld?«

Seine verschwitzte Oberlippe zuckt, bevor er antwortet. »Weg.«

Ich greife hinüber und schalte die Kamera und das Aufnahmegerät aus. Meine Klientin hat das Geständnis bekommen, das sie wollte. Zum Nachteil für Micky bin ich noch nicht fertig mit ihm.

»Nein«, sage ich, »das ist es nicht.« Die wenigen Menschen, die mich gut genug kennen, würden erkennen, dass sich mein Tonfall geändert hat.

Wieder ziehen sich seine Brauen zusammen, als seine Verwirrung durchscheint.

Ich berühre sein Revers. »Der Anzug ist schön – wirklich schön. Und deine Uhr – Rolex-Uhren sind nicht billig, nicht wahr?«

Der Glamour lässt ihn den Kopf schütteln.

»Nein«, stimme ich zu. »Siehst du, für Männer wie dich verschwindet das Geld nicht einfach. Es wandert in … wie hast du es genannt?« Ich suche nach dem Wort, bevor ich mit den Fingern schnippe. »Investitionen. Es bewegt sich ein bisschen, aber das ist auch schon alles.« Ich lehne mich zu ihm heran. »Wir werden es noch ein bisschen mehr bewegen.«

Seine Augen weiten sich. Jetzt sehe ich Micky – nicht die Marionette, die von meiner Magie kontrolliert wird, sondern den Micky, der er war, bevor ich in diesen Raum gekommen bin. Jemand, der gerissen ist, jemand, der schwach ist. Er ist sich völlig bewusst, was hier passiert.

»W-wer bist du?«

Oh, die Angst in seinen Augen. Da kann die Sirene nicht widerstehen. Ich strecke meine Hand aus und streichle seine Wange.

»I-ich werde –«

»Du wirst dich zurücklehnen und zuhören, Micky«, sage ich. »Und das ist alles, was du tun wirst, denn in diesem Moment bist du machtlos.«

 

Die Luft in meiner Küche flimmert, als würde ich eine Fata Morgana sehen, und dann ist er plötzlich da und füllt den Raum, als gehöre er ihm.

Der Bargainer.

Heilige Scheiße, es hat funktioniert.

Alles, was ich von ihm sehen kann, sind gut ein Meter achtzig von Mann und eine Menge weiß-blondes Haar, das mit einem Lederband zusammengebunden ist. Der Bargainer steht mit dem Rücken zu mir.

Ein Pfiff durchbricht die Stille. »Das ist ein wahrhaft toter Mann«, sagt er und starrt auf mein Werk. Seine schweren Stiefel klingen dumpf, als er sich der Leiche nähert. Er ist komplett schwarz gekleidet, sein Shirt spannt sich eng um seine breiten Schultern. Mein Blick fällt auf seinen linken Arm, der mit Tattoos übersät ist.

Callie, worauf hast du dich da eingelassen?

Die Stiefelspitze des Bargainers stößt gegen die Leiche. »Hmm, ich korrigiere mich. Größtenteils tot.«

Das reißt mich aus meinen Gedanken.

»Was?« Er kann nicht am Leben sein. Die Angst, die durch meine Adern pulsiert, ist ein lebendiges, atmendes Wesen.

»Es wird dich wahrscheinlich mehr kosten, als du bereit bist zu zahlen, aber ich kann ihn wiederbeleben.«

Ihn wiederbeleben? Was raucht der Kerl?

»Ich will ihn nicht lebend«, sage ich.

Der Bargainer dreht sich um, und zum ersten Mal überhaupt kann ich ihn richtig ansehen.

Ich starre und starre. Ich hatte mir einen Widerling vorgestellt, und der Mann vor mir mag zwar böse sein, aber er ist kein Widerling.

Nicht einmal annähernd.

Der Bargainer ist auf eine Weise schön, wie es nur wenige Männer sind. Er wirkt nicht schroff, trotz des markanten Kiefers und des harten Glanzes in seinen Augen. Sein Gesicht weist eine Symmetrie auf, eine Üppigkeit in jedem seiner Züge, die ich häufiger bei Frauen als bei Männern gesehen habe. Hohe, markante Wangenknochen, sinnliche, geschwungene Lippen, silbern schimmernde Augen. Nicht, dass er weiblich aussähe. Das ist unmöglich bei seiner breiten, muskulösen Statur und seiner umwerfenden Kleidung.

Er ist einfach ein schöner Mann.

Ein wirklich schöner Mann.

Er mustert mich. »Nein.«

Ich starre ihn verwundert an. »Nein, was?«

»Ich mache keine Geschäfte mit Minderjährigen.«

Die Luft flimmert und, o mein Gott, er geht.

»Warte! Warte!« Ich strecke die Hand aus. Jetzt ist es nicht mehr nur die Luft, die flimmert. Es ist meine Haut. Das tut sie in letzter Zeit oft – sie leuchtet sanft.

Er hält inne und starrt auf meinen Arm. Etwas wandert durch seine Augen, etwas Wilderes als Schock, etwas Ungezügelteres als Erregung. Der Raum um ihn herum scheint sich zu verdunkeln, und ich schwöre, dass ich an seinem Rücken etwas Großes und Gewundenes erblicke.

So schnell wie der Moment gekommen ist, ist er auch wieder vorbei.

Seine Augen verengen sich. »Was bist du?«

Ich lasse meine Hand fallen. »Bitte«, flehe ich. »Ich muss unbedingt einen Deal machen.«

Der Bargainer seufzt und klingt dabei verärgert. »Hör zu, ich mache keine Deals mit Minderjährigen. Geh zur Polizei.« Trotz seines Tons starrt er immer noch auf meine Hand, jetzt mit einem distanzierten, besorgten Ausdruck.

»Ich kann nicht.« Wenn er nur wüsste. »Bitte, hilf mir.«

Sein Blick wandert von meiner Hand zu meinem Gesicht.

Der Bargainer knirscht mit den Zähnen, als ob er etwas Schlechtes riechen würde. Er starrt mich in meiner ganzen blutigen, zerzausten Pracht an. Noch mehr Zähneknirschen.

Sein Blick schweift durch den Raum und verweilt auf meinem Stiefvater.

Was sieht er? Kann er erkennen, dass es ein Unfall war?

Meine Zähne beginnen zu klappern. Ich verschränke meine Arme fest vor der Brust.

Obwohl er das nicht will, kehren seine Augen zu mir zurück, sein Blick wird kurz weich, bevor er sich wieder verhärtet.

»Wer ist er?«

Ich schlucke.

»Wer. Ist. Er?«, wiederholt der Bargainer.

»Mein Stiefvater«, krächze ich.

Er starrt mich an, sein Blick ist unerschütterlich. »Hatte er es verdient?«

Ich atme zitternd aus, und eine Träne quillt über, obwohl ich mich versucht habe, sie zurückzuhalten. Wortlos nicke ich.

Der Bargainer mustert mich lange, sein Blick wandert zu der Träne, die mir über die Wange läuft.

Er blickt weg und zieht eine Grimasse. Der Mann reibt sich mit der Hand über den Mund, geht zwei Schritte weg und wendet sich wieder mir zu.

»Gut«, knirscht er. »Ich helfe dir« – mehr Zähneknirschen und ein weiterer bohrender Blick, der auf der Träne auf meiner Wange verweilt – »umsonst.« Er verschluckt sich praktisch an den Worten. »Nur dieses eine Mal. Betrachte es als mein pro bono für dieses Jahrhundert.«

Ich öffne den Mund, um ihm zu danken, aber er hebt die Hand und kneift die Augen zusammen. »Nicht.«

Als er sie wieder öffnet, gleiten sie durch den Raum. Ich spüre, wie die Magie aus ihm herausströmt. Ich weiß über diese Seite unserer Welt Bescheid – die übernatürliche Seite. Mein Stiefvater hat sein Imperium auf seinen magischen Fähigkeiten aufgebaut.

Aber ich habe diese Art von Magie noch nie in Aktion gesehen – Magie, die Dinge auf unerklärliche Weise geschehen lassen kann. Ich schnappe nach Luft, als sich das Blut vom Boden löst, dann von der Arbeitsplatte und zuletzt von meinen Kleidern, Haaren und Händen.

Die zerbrochene Flasche folgt. In einem Moment ist sie noch da, im nächsten verschwindet sie. Was auch immer das für ein Zauber ist, er kitzelt meine Haut, während er durch den Raum fliegt.

Sobald er mit dem Tatort fertig ist, geht der Bargainer auf die Leiche zu.

Als er dort ankommt, hält er inne und blickt neugierig auf den Toten hinunter. Dann hält er inne. »Ist das der, für den ich ihn halte?«

Jetzt ist wahrscheinlich kein guter Zeitpunkt, um dem Bargainer zu sagen, dass ich den Hugh Anders ausgeschaltet habe, den mächtigsten Börsenanalysten, den es gibt, und den Mann, der einem für den richtigen Preis so ziemlich alles über die Zukunft sagen kann, was man wissen will. Wann ein Drogendeal über die Bühne gehen würde, ob eine Bedrohung des eigenen Lebens harmlos oder real ist, ob man für den Tod eines Feindes geschnappt werden würde. Auch wenn Hugh nicht der beste Seher der Welt war, so war er doch zumindest einer der reichsten. Nicht, dass ihn das vor dem Tod bewahrt hätte.

Welch eine Ironie.

Der Bargainer stößt eine Reihe von Flüchen aus.

»Verdammte, verfluchte Sirenen«, murmelt er. »Euer Pech färbt auf mich ab.«

Ich zucke zusammen, denn ich kenne die Veranlagung der Sirenen zum Unglück. Das hat meiner Mutter eine ungewollte Schwangerschaft und einen frühen Tod eingebracht.

»Hast du Verwandte?«, fragt er.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, schüttle den Kopf und schlinge meine Arme um mich selbst. Es gibt nur mich auf dieser Welt.

Er flucht wieder.

»Wie alt bist du?«

»In zwei Wochen werde ich sechzehn.« Der Geburtstag, auf den ich jahrelang gewartet habe. In der übernatürlichen Gemeinschaft ist das sechzehnte Lebensjahr das gesetzliche Alter der Volljährigkeit. Aber jetzt könnte genau diese Tatsache gegen mich verwendet werden. Sobald ich diese magische Zahl erreiche, könnte ich als Erwachsene verurteilt werden.

Ich war zwei Wochen von der Freiheit entfernt. Zwei Wochen. Und dann geschah das.

»Endlich«, seufzt er. »Eine gute Nachricht. Pack deine Koffer. Morgen ziehst du auf die Isle of Man.«

Ich blinzle, mein Verstand kommt nur langsam hinterher. »Was? Warte – morgen?« Ich würde umziehen? Und so bald? Bei dem Gedanken dreht sich mir der Kopf.

»Die Sommerkurse der Peel Academy beginnen in ein paar Wochen«, sagt er.

Die Peel Academy befindet sich auf der Isle of Man, eine Insel zwischen Irland und Großbritannien, und ist das beste übernatürliche Internat. Ich habe schon so lange davon geträumt, dorthin zu gehen. Und jetzt würde ich es tun.

»Du wirst ab morgen den Unterricht dort besuchen und niemandem erzählen, dass du Hugh fucking Anders umgebracht hast.«

Bei den Worten zucke ich zusammen.

»Es sei denn«, fügt er hinzu, »es wäre dir lieber, wenn ich dich mit diesem Schlamassel hierließe.«

O Gott! »Nein, bitte bleib!«

Ein weiterer lang gezogener Seufzer. »Ich werde mich um die Leiche und die Behörden kümmern. Falls jemand fragt: Er hatte einen Herzinfarkt.«

Der Bargainer sieht mich neugierig an, bevor er sich daran erinnert, dass er sich über mich ärgert. Er schnippt mit den Fingern, und die Leiche hebt vom Boden ab. Ich brauche einige Sekunden, um die Tatsache zu verarbeiten, dass eine Leiche in meiner Küche schwebt.

Der Bargainer sieht unbeeindruckt aus. »Es gibt etwas, das du wissen solltest.«

»Uh-huh?« Mein Blick ist auf den schwebenden Körper gerichtet. So unheimlich.

»Sieh mich an«, sagt der Bargainer. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf ihn.

»Es besteht die Möglichkeit, dass meine Magie mit der Zeit nachlässt. Ich mag zwar mächtig sein, aber dieser hübsche kleine Fluch, den ihr Sirenen auf euch habt, könnte sogar meine Magie außer Kraft setzen.« Irgendwie schafft er es, arrogant zu wirken, obwohl er mir sagt, dass seine Kräfte unzureichend sein könnten.

»Was passiert, wenn das der Fall ist?«, frage ich.

Der Bargainer grinst. Riesenarschloch. Ich habe ihn bereits durchschaut.

»Dann fang am besten an, deinen Glamour zu benutzen, Cherub«, sagt er und lässt seine Augen über mich gleiten. »Du wirst ihn noch brauchen.«

Mit diesem letzten Satz verschwindet der Bargainer zusammen mit dem Mann, den ich getötet habe.

 

 

 

 

 

 

 

Gegenwart

 

Macht. Das ist der Kern meiner Sucht. Macht. Einst wurde ich von ihrem Gewicht zerdrückt, und sie hätte mich fast ganz verschluckt.

Aber das ist schon lange her. Jetzt bin ich eine gewaltige Kraft.

Der private Raum des Restaurants leuchtet sanft im Kerzenlicht. Ich lehne mich dicht an Micky heran. »Es wird also Folgendes passieren: Du wirst deiner Mutter das Geld, das du veruntreut hast, zurückgeben.«

Seine zuvor leeren Augen richten sich auf mich. Wenn Blicke töten könnten …

»Fick. Dich.«

Ich lächle, und ich weiß, dass ich gefährlich aussehe.

»Hör gut zu, denn dies ist die einzige Warnung, die ich dir geben werde: Ich weiß, dass du keine Ahnung hast, was ich bin. Aber ich versichere dir, dass ich dein Leben ruinieren kann, und ich bin Arschloch genug, um das auch in Betracht zu ziehen. Wenn du also nicht alles verlieren willst, was dir wichtig ist, wirst du dich respektvoll verhalten.«

Normalsterbliche wissen, dass es übernatürliche Wesen gibt, aber wir grenzen uns gerne von denen ab, die nicht magisch begabt sind. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass solch lustige Sachen wie Hexenjagden durchgeführt werden, wenn Sterbliche zu sehr von uns eingeschüchtert sind.

Ich greife nach meiner Handtasche.

»Da du es allein nicht schaffst, ein guter Sohn zu sein, werde ich dir helfen«, sage ich beiläufig. Ich ziehe einen Stift und eine Reihe von Dokumenten, die mir meine Kundin gegeben hat, aus meiner Tasche. Dann schiebe ich Mickys Teller beiseite und lege sie vor ihn.

Bei dem einen handelt es sich um ein schriftliches Schuldeingeständnis, bei dem anderen um einen Schuldschein, beides Dokumente, die der Anwalt meiner Kundin verfasst hat.

»Du wirst jeden gestohlenen Cent zurückzahlen – mit zehn Prozent Zinsen.«

Micky macht ein leises Geräusch.

»Wie war das? Fünfzehn Prozent Zinsen?

Er schüttelt wütend den Kopf.

»Das habe ich mir gedacht. Ich gebe dir jetzt zehn Minuten Zeit, um die Dokumente durchzusehen, dann wirst du sie unterschreiben.«

Ich verbringe diese zehn Minuten damit, den Wein und das Essen zu probieren, das Mickys Gäste zurückgelassen haben, und lege die Füße hoch, weil, ugh, Stilettos.

Als die Zeit um ist, hole ich mir die Unterlagen von Micky zurück. Während ich sie durchblättere, werfe ich einen Blick auf den Mann selbst. Sein Gesicht ist jetzt mit einem ungesunden Schweißfilm überzogen, und ich wette, wenn er seinen Smoking ausziehen würde, würde ich riesige Ringe unter seinen Achseln sehen. Ich blättere weiter durch die Dokumente. Als ich fertig bin, stecke ich sie zurück in meine Handtasche.

»Wir sind hier fast fertig.«

»Fast?« Er sagt das Wort, als ob er es noch nie gehört hätte.

»Du hast doch nicht geglaubt, dass ich dich mit ein paar armseligen Signaturen davonkommen lasse, oder?« Ich schüttle den Kopf. Jetzt erleuchtet meine Haut den Raum mehr als die schwache Beleuchtung. Die Sirene in mir liebt das. Mit ihrem Opfer zu spielen. »Oh, Micky, nein, nein, nein.« An dieser Stelle höre ich auf, mit Micky zu spielen, und gehe zum Angriff über. Ich beuge mich vor und lege so viel Kraft in meine Stimme, wie ich nur kann. »Du wirst deine Fehler wiedergutmachen. Du wirst so etwas nie wieder tun und du wirst dich für den Rest deines Lebens bemühen, ein besserer Mensch zu werden und dir die Vergebung deiner Mutter zu verdienen.«

Er nickt.

Ich greife nach meiner Handtasche. »Sei ein guter Sohn. Wenn ich höre, dass du nicht brav warst – wenn ich irgendetwas höre, das ein schlechtes Licht auf dich wirft –, wirst du mich wiedersehen, und das willst du nicht.«

Er schüttelt den Kopf, seine Miene ist leer.

Ich stehe auf. Meine Arbeit hier ist getan. Ein einziger Befehl reicht aus.

Vergiss, dass ich existiere. Puff, deine Erinnerung löscht meine Existenz aus.

Schau weg. Deine Augen bewegen sich überallhin, nur nicht zu mir.

Verrate mir dein dunkelstes Geheimnis. Dein Mund und dein Verstand verraten dich.

Gib mir deine Reichtümer. Du wirst dein Bankkonto im Handumdrehen leeren.

Ertrinke.

Ertrinke. Ertrinke. Ertrinke. Du stirbst.

Das war mal jemandes Favorit, als die Welt noch jung war, als die Sirenen noch den Ruf hatten, Seeleute in den Tod zu locken.

Ertrinke.

Manchmal, wenn ich mit meinen Gedanken allein bin – was ziemlich oft der Fall ist –, denke ich an diese Frauen, die auf den Felsen lagen, den Seeleuten zuriefen und sie in den Tod lockten. Ist es wirklich so passiert? Wollten sie, dass sie sterben? Warum haben sie sich gerade diese Männer ausgesucht? Das sagen die Mythen nicht.

Ich frage mich, ob eine von ihnen wie ich war – ob ihre Schönheit sie zu Opfern gemacht hat, lange bevor sie ihnen Macht verlieh. Ob irgendein Seemann irgendwo diese Frauen missbrauchte, bevor sie überhaupt eine Stimme hatten. Ob sie wie ich wütend und abgestumpft wurden und ihre Macht dazu nutzten, die Schuldigen zu bestrafen, um sich zu rächen.

Ich frage mich, wie viel von dieser Erzählung wahr ist und wie viele ihrer Opfer unschuldig waren.

Ich mache Jagd auf schlechte Menschen. Das ist mein Rachefeldzug. Meine Sucht.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich steige die Treppe zu meinem Strandhaus in Malibu hinauf, meine Füße sind wund vom stundenlangen Stehen in hohen Absätzen. Vor mir blättert die schiefergraue Farbe meines Hauses von den Holzlatten ab. Leuchtend grüner Schimmel wächst auf den Schindeln des Daches. Das ist mein perfektes, unvollkommenes Zuhause.

Ich trete ein, hier riecht die Luft nach Meer. Mein Haus ist einfach. Es hat drei Schlafzimmer, die Arbeitsplatten sind abgeplatzt, und wenn man barfuß durch die Wohnung läuft, bekommt man Sand zwischen die Zehen. Das Wohnzimmer und das Schlafzimmer sind zum Meer hin ausgerichtet, und die gesamte Rückwand in beiden Zimmern besteht aus riesigen Glasschiebetüren, die sich vollständig zum Garten hin öffnen lassen.

Hinter meinem kleinen Garten verschwindet die Welt. Eine Holztreppe schlängelt sich die Küstenklippe hinunter, auf der mein Haus steht, und unten küsst der eisige Pazifik die sandige kalifornische Küste – und meine Füße, wenn ich es zulasse.

Dieses Haus ist mein Zufluchtsort. Ich wusste es von dem Moment an, als der Immobilienmakler es mir vor zwei Jahren gezeigt hat.

Ich gehe im Dunkeln durch mein Haus und mache mir nicht die Mühe, das Licht einzuschalten, während ich meine Kleidung Stück für Stück ausziehe. Ich lasse sie liegen, wo sie fällt. Morgen werde ich sie aufheben, aber heute Abend habe ich eine Verabredung mit dem Meer und dann mit meinem Bett.

Durch die Fenster meines Wohnzimmers scheint der Mond und mein Herz ist von einer unendlichen Sehnsucht erfüllt. Insgeheim bin ich froh, dass Eli sich von mir fernhalten muss, bis der Vollmond vorbei ist. Als Lykanthrop muss er während der Heiligen Sieben wegbleiben, die Woche um den Vollmond herum, wenn er seine Verwandlung vom Menschen zum Wolf nicht kontrollieren kann. Ich habe meine eigenen Gründe, um während dieser Zeit allein sein zu wollen, Gründe, die nichts mit Eli, sondern nur mit meiner Vergangenheit zu tun haben.

Ich schlüpfe aus meiner Jeans, als ich mein Schlafzimmer betrete, um meinen Bikini zu holen. Gerade als ich meinen BH öffnen will, bewegt sich ein Schatten, der dunkler ist als alle anderen.

Ich unterdrücke den Schrei, der in meiner Kehle hochkocht. Meine Hand tastet nach der Wand neben mir, bis ich den Lichtschalter finde. Ich knipse das Licht im Schlafzimmer an.

Vor mir, auf meinem Bett, liegt der Bargainer.

 

»Hallo, hier ist Inspector Garrett Wade von der Politia. Ich würde Ihnen gerne einige Fragen zum Tod Ihres Vaters stellen …«

Meine Hände beginnen zu zittern, während ich die Nachricht anhöre. Die Politia untersucht die Sache? Sie sind wie die übernatürliche Version des FBI. Nur noch gruseliger.

Es sollte keine Fragen geben. Die Behörden sollten sich heraushalten. Dafür hatte der Bargainer gesorgt.

Dieser hübsche kleine Fluch, den ihr Sirenen auf euch habt, könnte sogar meine Magie außer Kraft setzen.

Ich sitze schwer auf meinem Bett und reibe mir die Schläfen, das Telefon in der Hand. Der Regen prasselt gegen das Fenster meines Zimmers und verwehrt mir den Blick auf Peel Castle, das Schloss, das zu einer Akademie umgewandelt wurde und in dem alle meine Kurse stattfinden.

Seit jener schicksalhaften Nacht sind erst fünf Monate vergangen. Fünf Monate. Zu kurz, um meine Freiheit zu genießen, aber zu lang, um vor den Behörden jemals wieder als unschuldig zu erscheinen.

Ich habe meine Chance verpasst, als ich auf das Angebot des Bargainers eingegangen bin.

Die Peel Academy und das Leben, das ich mir hier aufgebaut habe, könnten mir genommen werden. Alles in einem Augenblick.

Ich nehme einen tiefen Atemzug.

So wie ich das sehe, habe ich drei Möglichkeiten. Erstens kann ich weglaufen und das Leben, das ich mir aufgebaut habe, aufgeben. Zweitens kann ich den Beamten zurückrufen, zur Befragung gehen und auf das Beste hoffen.

Oder drittens kann ich den Bargainer kontaktieren und ihn bitten, das Problem zu lösen. Nur dieses Mal wäre ich ihm etwas schuldig. Die Wahl ist einfach.

Ich stehe von meinem Bett auf und gehe zu meinem Kleiderschrank. Ich ziehe einen Schuhkarton aus dem obersten Regal und öffne ihn. Die schwarze Visitenkarte des Bargainers liegt versteckt unter anderem Krimskrams. Die bronzene Schrift ist etwas verblasst, seit ich sie das erste Mal in der Hand hatte.

Ich nehme die Karte aus der Schachtel und drehe sie in meiner Hand hin und her. Der Anblick bringt mir diese Nacht in all ihren blutigen Details zurück.

Unglaublich, dass es erst fünf Monate her ist.

Mein Leben ist jetzt so anders. Ich habe hart daran gearbeitet, meine Vergangenheit zu begraben, und ich habe mich mit meinem Glamour angefreundet.

Wo ich einst schwach war, bin ich jetzt mächtig. Eine Sirene, die den Willen eines Menschen beugen kann – ihn sogar brechen kann, wenn sie es will. Dieses Wissen ist eine Art Rüstung, die ich jeden Morgen beim Aufwachen anlege und die ich nur spät in der Nacht ablege, wenn meine Erinnerungen mich überwältigen.

Ich fahre mit dem Daumen über die Karte. Ich muss das nicht tun. Ich habe mir geschworen, ihn nicht mehr zu kontaktieren. Das letzte Mal, als ich ihn traf, bin ich – buchstäblich – mit einem Mord davongekommen. So viel Glück werde ich kein zweites Mal haben.

Aber das ist die beste von drei schlechten Optionen.

Also rufe ich zum zweiten Mal in meinem Leben den Bargainer.

 

 

 

 

Gegenwart

 

Ich erstarre in der Tür.

Der Bargainer lehnt an meinem Kopfteil und sieht aus wie ein Raubtier. Schlanke, gefesselte Kraft und gefährliche Augen. Außerdem scheint er es in meinem Bett viel zu bequem zu haben.

Sieben Jahre. Sieben lange Jahre sind vergangen, seit er aus meinem Leben verschwunden ist. Und jetzt ist er hier und liegt auf meinem Bett, als ob nicht schon fast ein Jahrzehnt zwischen uns gelegen hätte. Und ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich darauf reagieren soll.

Sein Blick wandert träge über mich. »Du hast bessere Dessous, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.«

Mein Gott, das nenne ich mit heruntergelassenen Hosen erwischt werden.

Ich ignoriere die Art und Weise, wie seine Worte scharf in mich eindringen. Als er mich das letzte Mal gesehen hat, war ich eine liebeskranke Teenagerin, und er wollte nichts mit mir zu tun haben.

»Hallo, Desmond Flynn«, sage ich und nenne seinen vollen Namen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich einer der wenigen Menschen bin, die ihn kennen, und diese Information macht ihn verwundbar. Und gerade jetzt, wo ich nur mit meiner Unterwäsche bekleidet dastehe und mich mit der Tatsache auseinandersetze, dass der Bargainer in meinem Zimmer ist, brauche ich ihn verwundbar.

Er schenkt mir ein langsames, schwelgerisches Lächeln, das meinen Magen zusammenzieht, während es mein Herz zusammenschnürt. »Ich wusste nicht, dass du heute Abend Geheimnisse ausplaudern willst, Callypso Lillis«, sagt er.

Die Augen des Bargainers verschlingen meine entblößte Haut, und ich fühle mich wieder wie die unbeholfene Teenagerin. Ich atme tief ein. Ich bin nicht mehr dieses Mädchen, auch wenn der Mann vor mir genauso aussieht wie in meiner Jugend.

Dieselbe komplett schwarze Kleidung, dieselbe imposante Gestalt, dasselbe atemberaubende Gesicht.

Ich durchquere das Zimmer und nehme mir meinen Baumwollbademantel von der Rückseite der Badezimmertür. Die ganze Zeit über spüre ich seine Augen auf mir. Ich wende mich von ihm ab und ziehe ihn an.

Sieben Jahre.

»Was willst du, Des?«, frage ich und schließe den Bademantel um meine Taille.

Ich tue so, als ob das normal wäre. Dass es normal wäre, dass er in meinem Haus ist, obwohl es das nicht ist. Gott, das ist es nicht.

»Fordernd wie immer, wie ich sehe.«

Ich schreie auf, als sein Atem mein Ohr kitzelt, und drehe mich um, um ihn anzusehen.

Der Bargainer steht keine dreißig Zentimeter von mir entfernt, so nah, dass ich seine Körperwärme spüren kann. Ich habe nicht gehört, wie er vom Bett aufgestanden ist und den Raum durchquert hat. Nicht, dass ich überrascht sein sollte. Die Magie, die er anwendet, ist subtil; wenn man nicht darauf achtet, bemerkt man sie meistens nicht.

»Seltsame Charakterschwäche von dir«, fährt er mit zusammengekniffenen Augen fort, »wenn man bedenkt, wie viel du mir schuldest.« Seine Stimme ist heiser und tief.

So nah kann ich jede komplexe Facette seines Gesichts sehen. Hohe Wangenknochen, aristokratische Nase, sinnliche Lippen, gemeißelter Kiefer. Das Haar ist so blass, dass es weiß erscheint. Er ist immer noch viel zu schön für einen Mann. So schön, dass ich nicht wegsehen kann, obwohl ich weiß, dass ich es sollte.

Es sind seine Augen, die mich immer am meisten fasziniert haben. Sie haben alle Schattierungen von Silber, am dunkelsten an den Rändern, wo ein dickes Band von Anthrazit sie umgibt, und am hellsten in der Mitte. Die Farbe von Schatten und Mondstrahlen.

Es tut weh, ihn anzusehen, nicht nur, weil er unmenschlich schön ist, sondern weil er mein zerbrechliches Herz vor langer Zeit zerrissen hat.

Der Bargainer nimmt meine Hand in seine und zum ersten Mal seit sieben Jahren sehe ich seinen Arm mit den Tattoos, die er trägt.

Ich schaue auf unsere ineinander verschlungenen Hände hinunter, als er den Ärmel meines Gewandes nach oben schiebt und mein Onyxarmband freilegt.

Mein Armband bedeckt fast meinen ganzen Unterarm, jede Perle ist ein magischer Schuldschein für einen Gefallen, den ich beim Bargainer gekauft habe.

Er dreht mein Handgelenk hin und her und begutachtet sein Werk. Ich versuche, meine Hand wegzuziehen, aber er lässt sie nicht los. »Mein Armband steht dir immer noch gut, Cherub«, sagt er.

Sein Armband. Das einzige Schmuckstück, das ich nicht abnehmen kann. Selbst wenn es nicht aus Spinnenseide bestehen würde und damit zu stark wäre, um es abzuschneiden, hindert mich die Magie, die es an mein Handgelenk bindet, daran, es abzunehmen, bis ich meine Schulden beglichen habe.

Die Hand des Bargainers drückt meine fest. »Callie, du schuldest mir eine Menge Gefallen.«

Mir stockt der Atem, als mein Blick auf seinen trifft. Die Art, wie er mich ansieht, die Art, wie sein Daumen Kreise über die weiche Haut meiner Hand reibt … Ich weiß, warum er hier ist. In gewisser Weise wusste ich es, seit ich ihn auf meinem Bett gesehen habe. Das ist er, der Moment, auf den ich sieben Jahre lang gewartet habe.

Ich atme aus. »Du bist also endlich hier, um zu kassieren.«

Statt mir zu antworten, gleitet die andere Hand des Bargainers an meinem fixierten Handgelenk hinauf, über alle siebzehn Reihen meines Armbands, und hält erst inne, als er ganz am Ende angelangt ist, als seine Finger die letzte meiner dreihundertzweiundzwanzig Perlen ergreifen.

»Wir spielen jetzt eine kleine Runde Wahrheit oder Pflicht«, sagt er. Seine Augen flackern zu meinen, sie glänzen schelmisch.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Er holt sich endlich seine Bezahlung ab. Ich begreife es noch nicht wirklich.

Sein Mund verzieht sich verführerisch. »Was darf es sein, Callie? Wahrheit oder Pflicht?«

Ich blinzle ein paar Mal, immer noch fassungslos. Vor zehn Minuten hätte ich gelacht, wenn mir jemand gesagt hätte, dass Desmond Flynn darauf wartet, dass ich nach Hause komme, damit er meine Schulden eintreiben kann.

»Pflicht also«, sagt er vergnügt und füllt damit mein Schweigen.

Die Angst erfasst mein Herz. Der Bargainer ist berüchtigt für seine hohen Zahlungen. Und es ist selten Geld, um das er bittet; er hat es nicht nötig. Nein, in der Regel nimmt er etwas Persönliches, und jede Rückzahlung ist mit zusätzlichen Zinsen verbunden. Wenn man bedenkt, dass ich dreihundertzweiundzwanzig unbezahlte Gefälligkeiten habe, gehört dem Mann im Grunde mein Arsch. Wenn er wollte, könnte er mir befehlen, ein kleines Dorf auszulöschen, und ich wäre auf magische Weise daran gebunden, bis jede einzelne Perle verschwunden wäre.

Er ist ein gefährlicher Mann, und im Moment rollt er eine Perle zwischen seinen Fingern und beobachtet mich mit diesen berechnenden Augen.

Ich räuspere mich. »Was ist die Pflicht?«

Anstatt mir zu antworten, lässt er mein Handgelenk los und tritt zu mir heran. Ohne seinen Blick von mir zu nehmen, neigt er meinen Kopf nach hinten und umfasst ihn.

Was macht er da?

Ich starre zu ihm auf. Ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen und ich bemerke, dass sich sein Blick verdunkelt, bevor er sich zu mir beugt.

Ich versteife mich, als seine Lippen meine berühren, dann entspannt sich mein Körper, als sein Mund über meinen gleitet. Sofort leuchtet meine Haut auf, als die Sirene erwacht. Sex und Blut, das ist es, wovon sie lebt.

Ich lege eine Hand um den Arm, der meinen Kopf umfasst. Meine Finger drücken die warme Haut seines Handgelenks. Darunter kann ich Des’ unnachgiebige Muskeln spüren.

Er ist echt. Das hier ist echt. Das ist alles, woran ich denken kann, bevor der Kuss endet und er sich zurückzieht.

Er blickt auf mein Handgelenk und ich folge seinem Blick. Die allerletzte Perle an meinem Armband schimmert kurz und verblasst dann. Der Kuss war meine Pflicht, die erste Zahlung, die der Bargainer eingeholt hat.

Ich berühre mit den Fingern meine Lippen, sein Geschmack noch auf ihnen. »Aber du magst mich nicht«, flüstere ich verwirrt.

Er greift nach meinem Gesicht und fährt mit seinen Fingern über meine leuchtende Haut. Wäre er ein Mann, wäre er in diesem Moment völlig in meinem Bann. Aber er ist etwas ganz anderes.

Die Augen des Bargainers glänzen, voller Emotionen, die ich mir ein Jahr lang gemerkt und dann sieben Jahre lang zu vergessen versucht habe.

»Ich bin morgen Abend wieder da.« Sein Blick schweift wieder über mich und er hebt eine Braue. »Betrachte den folgenden Rat als kostenlosen Gefallen: Sei auf mehr als nur einen Kuss vorbereitet.«

 

 

 

 

 

 

 

Bei Sonnenaufgang bin ich immer noch wach, immer noch in meinem Bademantel, und ich habe immer noch keine Ahnung, was zum Teufel vor sich geht. Ich sitze im Gras am Rande meines Grundstücks und atme die salzige Seeluft ein. Meine Knie sind bis zur Brust angezogen, und neben mir steht eine fast leere Weinflasche.

Ich habe Temper bereits angerufen und ihr gesagt, dass ich heute nicht im Büro sein werde. Das Schöne daran, ein eigenes Unternehmen zu führen? Man kann sich seine Arbeitszeit selbst einteilen.

Ich beobachte, wie sich die Sterne verdunkeln und sich das Reich des Bargainers schließt, während sich der Himmel langsam aufhellt.

Ich schaue auf mein Handgelenk hinunter. Ich könnte schwören, dass es sich jetzt, wo eine Perle fehlt, anders anfühlt. Es sind nur noch dreihunderteinundzwanzig Gefallen übrig, und der Rest wird garantiert viel schmerzhafter als der erste.

Ich fahre mit einem Finger über meine Lippen. Ich habe mich vorhin geirrt. Irgendwann einmal hat Des mich gemocht. Aber nicht so, wie ich ihn mochte – als ob er den Mond selbst aufgehängt hatte. Der Tag, an dem er gegangen ist, hat mir mein Herz herausgerissen und es ist nie richtig verheilt, und keine Menge an Alkohol, Männern oder Arbeit konnte es je wieder zusammenflicken.

Trotz der enormen Schulden, die ich immer noch bei ihm habe, bereue ich es kein bisschen, die Gefallen gekauft zu haben. Sie haben mich von einem Monster weggebracht; ich hätte meine Seele dafür verkauft. Aber der Preis, den ich vielleicht zahlen muss, bereitet mir Unbehagen. Es könnte alles Mögliche sein.

Ich muss Eli anrufen. Es ist Zeit, die Dinge zu beenden.

 

 

 

 

 

 

 

 

»Hey, Babe«, meldet sich Eli am Telefon, seine Stimme ist tief und rau. Er ist ein Mann weniger Worte und noch weniger Geheimnisse, und Letzteres wird für mich zu einem immer größeren Problem. Ich habe fast so viele Geheimnisse wie der Bargainer, ein Mann, der davon lebt, sie zu sammeln.

Eli ist sich bewusst, dass es vieles gibt, was ich nicht mit ihm teile, doch der Alpha in ihm drängt mich immer mehr dazu, mich zu öffnen. Shifter sind einfach so verdammt offen. Sie funktionieren nach diesem ganzen Sharing-is-caring-Prinzip.

Ich lehne mich gegen meine Arbeitsplatte. »Eli …« Das ist alles, was ich herausbekomme, bevor ich mir übers Gesicht reibe. Ich habe mich schon vor langer Zeit auf diesen Tag vorbereitet, aber das macht es nicht einfacher. Ich versuche es noch einmal. »Eli, ich muss dir etwas über mich erzählen, was du sicher nicht hören willst.«

Das hätte ein schnelles Gespräch werden sollen – ihn abservieren und dann das Gespräch beenden. Und genau das wollte ich auch tun. Aber mit ihm am Telefon Schluss zu machen, ist schon beschissen genug. Das Mindeste, was ich tun kann, ist, dem Mann eine Erklärung zu geben.

»Ist alles in Ordnung?« In seiner Stimme liegt ein tödlicher Ton. Der Wolf in ihm kommt durch. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um diese Bombe platzen zu lassen.

Ich hätte es ihm schon vor Monaten sagen sollen. Vor Monaten, als wir was füreinander waren? Freunde mit gewissen Vorzügen? Kollegen, die nach Feierabend noch zusammen waren?

In keiner Version meines Lebens hätte ich Eli, dem aufrechten Shifter, der in seinem Job das übernatürliche Gesetz aufrechterhält und in seinem Rudel das Gesetz ist, meine Geheimnisse verraten. Nein, die meisten meiner Geheimnisse würden mich in jede Menge Schwierigkeiten bringen.

»Mir geht’s gut, nur … Du kennst doch das Armband, das ich trage?«

Gott, das ist er. Der Moment der Abrechnung.

»Ja«, grummelt er.

»Dieses Armband ist nicht nur ein Schmuckstück.«

Eine Pause. Dann: »Callie, können wir darüber reden, wenn ich zurück bin? Jetzt ist kein guter Zeitpunkt –«

»Jede Perle ist ein Gefallen, den ich dem Bargainer schulde«, erkläre ich eilig. Das Geheimnis brennt, als es meine Kehle verlässt.

Für den Großteil der übernatürlichen Welt ist der Bargainer mehr Mythos als Mensch. Diejenigen, die ein wenig über ihn wissen, wissen, dass er keinen seiner Kunden mehr als zwei oder drei Gefallen auf einmal kaufen lässt, und er wartet nie so lange, um seine Schulden einzutreiben.

Am anderen Ende der Leitung ist es still, was kein gutes Zeichen ist. Schließlich sagt Eli: »Sag mir, dass das ein Scherz ist, Callypso.« Ein leises Knurren dringt in seine Stimme.

»Ist es nicht«, sage ich leise.

Sein Knurren wird intensiver. »Der Mann ist ein gesuchter Verbrecher.«

Als ob ich mir dieser kleinen Tatsache nicht bewusst wäre.

»Es ist vor langer Zeit passiert.« Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt verteidige.

»Warum erzählst du mir das erst jetzt?« Der Wolf in ihm hat seine Worte fast komplett übernommen.

Ich nehme einen tiefen Atemzug. »Weil er gestern Abend bei mir war«, sage ich.

»Er … war bei dir? Gestern Abend? Wo?«

Ich schließe meine Augen. Dieser Anruf wird nur noch schlimmer werden.

»In meinem Haus.«

»Erzähl mir, was passiert ist.« Nach der Art und Weise zu urteilen, wie Elis Stimme grollt, bezweifle ich, dass er das Telefonat noch lange aufrechterhalten wird.

Ich schaue auf den abgeplatzten Lack meiner Nägel hinunter.

Sag es einfach.

Die einzige Person, die außer Des noch von meinen Schulden weiß, ist Temper. »Ich war ihm dreihundertzweiundzwanzig Gefallen schuldig. Jetzt ist es einer weniger. Er wird den Rest ab heute Abend eintreiben.«

»Dreihundertzweiundzwanzig Gefallen?« wiederholt Eli. »Callie, der Bargainer würde niemals –«

»Er würde. Und er hat«, beharre ich.

Die Stille am anderen Ende der Leitung ist bedrohlich.

Er muss sich fragen, was den Bargainer dazu bringt, so gründlich von seinen Geschäftsmethoden abzuweichen. Und ich erkenne den Moment, in dem er zu seinem eigenen Schluss kommt.

Ich ziehe das Telefon von meinem Ohr weg, als Eli brüllt, und ich höre, wie etwas zerbricht. »Was hast du dir dabei gedacht, mit dem König der Nacht Geschäfte zu machen?«

Der König der Nacht. Die Rolle des Bargainer ist für Des nur ein Nebenjob.

Ich antworte Eli nicht. Ich kann mich nicht erklären, nicht ohne noch mehr schreckliche Geheimnisse preiszugeben.

»Zu was hat er dich gezwungen?« Ein Knurren übertönt den größten Teil seiner Worte.

Meine Furcht wächst. Mein Leben steht kurz davor, auf den Kopf gestellt zu werden. Wie ich den Bargainer kenne, wird er für die Rückzahlung mindestens von mir verlangen, dass ich das Gesetz breche.

Eli würde das niemals dulden. Ich muss es ihm sagen.

»Eli, ich kann nicht mit dir zusammen sein«, flüstere ich. Die Worte waren in meinem Kopf, seit wir diese Beziehung begonnen haben. Ich hatte nur so viele Gründe, sie nicht auszusprechen, dass ich die Wahrheit ignoriert habe.

Und jetzt, da ich sie gesagt habe, durchströmt mich Erleichterung. Es ist die falsche Reaktion. Eine Beziehung zu beenden ist traurig; ich sollte mich traurig fühlen, nicht … frei. Aber ich fühle mich frei. Ich habe diesem armen Mann etwas vorgemacht und verzweifelt versucht, mein vernarbtes, gebrochenes Herz in den Armen von jemandem zu heilen, der nicht der Richtige für mich ist.

»Callie, das ist doch nicht dein Ernst, oder?« Der Wolf in ihm lässt ein Heulen hören.

Ich schließe meine Augen gegen den Herzschmerz, den ich in der Leitung höre; es ist ein schmerzerfüllter, gebrochener Klang, der zu seiner Stimme passt.

Es ist besser so.

»Eli«, fahre ich fort, »ich weiß nicht, was der Bargainer von mir verlangen wird, und ich schulde ihm über dreihundert Gefallen.« Meine Stimme bricht.

Ich verlasse Eli wofür? Erinnerungen und Staub. Der Mann, der mir vor langer Zeit das Herz gebrochen hat, wird mich dazu bringen, Dinge auf sein Geheiß hin zu tun, und ich werde die ganze Zeit daran denken müssen, dass ich mir das selbst zuzuschreiben habe.

Vor langer Zeit dachte ich, er sei mein Retter, und wie ein Narr erkaufte ich mir einen Gefallen nach dem anderen von ihm, entschlossen, ihn in meinem Leben zu behalten, während ich mich in ihn verliebte.

Ich habe mein Leben für eine Liebe eingetauscht, die nichts weiter als Schatten und Nebelschwaden war.

»Callie, ich werde dich nicht verlassen, nur weil –«

»Er hat mich geküsst«, unterbreche ich ihn. »Letzte Nacht hat der Bargainer mich geküsst. Das war die erste Schuld, die ich begleichen musste.«

Ich wollte Elis Gefühle so weit wie möglich schonen, weil er ein guter Mensch ist, aber gleichzeitig muss er mir fernbleiben. Ich weiß, dass der Rudelführer mich beschützen will – mich retten will. Und wenn er glaubt, dass ich das auch will, wird er Des bis an den Rand der Erde jagen, und es wird nicht aufhören, bis einer der beiden Männer tot ist.

Das kann ich nicht zulassen.

Nicht, wenn diese Situation meine Schuld ist und diese Schulden meine Last sind.

Ich zwinge den Rest meiner Worte heraus. »Ich weiß nicht, was er heute Abend von mir verlangen wird, aber was immer es ist, ich werde es tun müssen. Es tut mir so leid«, sage ich. »Ich wollte nie, dass das passiert.«

Ich höre so etwas wie ein Wimmern von der anderen Seite des Hörers. Eli hat immer noch nicht gesprochen, und ich habe den Eindruck, dass er es nicht kann.

Ich kneife mir in den Nasenrücken. Jetzt kommt der besonders unangenehme Teil.

»Eli«, sage ich, »wenn er mich dazu bringt, etwas Illegales zu tun, etwas, das jemandem wehtut, musst du vielleicht …« Ich breche ab und reibe mir die Stirn.

Als übernatürlicher Kopfgeldjäger besteht ein Teil von Elis Aufgabe darin, paranormale Bösewichte verschwinden zu lassen. Und jetzt könnte ich einer dieser Bösewichte werden.

»Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst, jemanden zu verletzen«, sagt Eli, seine Stimme grollt bedrohlich. »Der Bastard hat etwas anderes für dich auf Lager.«

 

»Nicht du schon wieder«, sagt der Bargainer, als er in meinem Wohnheimzimmer erscheint.

Ich stolpere zurück, als ich ihn sehe. Es ist das zweite Mal, dass ich ihn gerufen habe, und ich sollte nicht mehr überrascht sein, dass er einfach so auftauchen kann, doch ich bin es.

Ich richte mich auf. »Deine Magie versagt.« Es sollte wie eine Anschuldigung klingen, kommt allerdings eher wie eine Bitte heraus.

Er mustert mein beengtes Zimmer. »Ich habe dich gewarnt«, sagt er, geht zum Fenster und blickt hinaus in die regnerische Nacht.

Ich habe seine Aufmerksamkeit bereits verloren.

»Ich möchte dafür sorgen, dass das nicht passiert.«

Der Bargainer dreht sich um und mustert mich. »Die Baby-Sirene will also noch einen Deal machen?«, fragt er und verschränkt die Arme. »Habe ich es beim ersten Mal nicht geschafft, dich genug zu erschrecken?«

Mein Blick wandert über sein weißes Haar und seine großen, definierten Arme.

Er hat mich ziemlich erschreckt. Er hat etwas an sich, das ein wenig wild aussieht. Verwildert und seltsam. Aber verzweifelte Zeiten verlangen verzweifelte Maßnahmen.

»Was wärst du bereit, mir zu geben?«, fragt er und kommt auf mich zu. »Welche dunklen und schrecklichen Geheimnisse würdest du mit mir teilen?«, fragt er und rückt noch näher. »Du hast doch gehört, dass ich Geheimnisse am liebsten habe, oder?«

Ich möchte zurückweichen, aber eine Art Urangst lässt mich nicht los.

Sein Blick schweift über mich. »Aber für eine Sirene … oh, da würde ich eine Ausnahme machen. Du müsstest mir alles geben, wonach ich verlange. Sag mir, Cherub, kannst du mir alles geben, was ich will?«

Ich schlucke, als er sich mir nähert.

»Könntest du für mich töten?«, fragt er mit tiefer Stimme. Seine Lippen streifen mein Ohr. »Würdest du mir deinen Körper schenken?«

O Gott, sagt er die Wahrheit? Könnte er mich wirklich dazu bringen, diese Dinge zu tun?

Er fährt mit seiner Nase über meine Wange und lacht über meine offensichtliche Angst.

Als er von mir zurücktritt, sagt er: »Wie ich schon sagte, ich verhandle nicht mit Minderjährigen. Du solltest dir dein Leben nicht ruinieren, nur weil du mir etwas schuldig bist.«

Die Luft flimmert.

Er hat mich vielleicht zu Tode erschreckt, aber im Moment ist mir das egal. Ich kann ihn nicht gehen lassen. So einfach ist das.

Die Sirene gewinnt die Oberhand und breitet sich direkt unter meiner Haut aus. Ich stürze mich auf ihn und packe sein Handgelenk, meine Hand leuchtet. »Mach einen Deal mit mir«, sage ich und lege so viel Glamour in meine Stimme wie möglich. »Ich bin nicht minderjährig.«

Das bin ich wirklich nicht. In der übernatürlichen Gemeinschaft ist das gesetzliche Mindestalter für die Volljährigkeit sechzehn. Und Gott weiß, bei dem, was ich getan und erlebt habe, fühle ich mich nicht wie eine Minderjährige.

Und im Moment kann ich mich darüber nicht beschweren.

Der Bargainer starrt auf meine Hand, als könne er nicht glauben, was passiert, und für einen Augenblick verspüre ich Reue. Es ist beschissen, jemandem den freien Willen zu nehmen.

Verzweifelte Zeiten.

Seine Züge werden schärfer, seine Brauen ziehen sich zusammen, der Rest seines Gesichts wird, in einem Wort, düster.

Er reißt mir den Arm aus der Hand. »Du wagst es, deinen Glamour bei mir anzuwenden?« Seine Stimme ist kraftvoll und beängstigend, sie erfüllt den ganzen Raum.

Ich trete zurück. Okay, meinen Glamour zu benutzen, war vielleicht eine Scheißidee.

»Es funktioniert nicht bei dir?« Welches übernatürliche Wesen ist immun gegen Glamour?

Der Bargainer tritt näher an mich heran, seine Stiefel klackern bedrohlich. Er ist wütend, so viel ist klar.

Er lehnt sich so nah heran, dass einige Strähnen seines weißblonden Haares meine Wangen kitzeln. »Du willst dein Leben wegschmeißen, indem du einen Deal mit mir machst?« Sein Mund verzieht sich ganz leicht, seine Augen funkeln vor Interesse. »Gut, dann machen wir einen Deal.«

 

 

 

 

 

Gegenwart

 

»Ich muss sagen, Schlaf steht dir nicht.«

Ich drehe mich im Bett um und reibe mir die Augen. Als ich meine Hand wegziehe, sehe ich den Bargainer neben dem Bett stehen, die Arme verschränkt und den Kopf schief gelegt. Er studiert mich, als wäre ich ein exotischer Vogel, was ich eigentlich auch bin.

»Was machst du hier?«, frage ich, immer noch groggy vom Schlaf.

»Falls du es vergessen hast, der Tag ist vorbei. Ich bin hier, um mehr von meiner Bezahlung abzuholen.« Die Art, wie er Bezahlung sagt, schickt einen Schauer meinen Rücken hinunter.

---ENDE DER LESEPROBE---