Rich Sam – Fassadenpoker - Matthias Wendtland - E-Book

Rich Sam – Fassadenpoker E-Book

Matthias Wendtland

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

POKER. LIEBE. GEFÄHRLICHES SPIEL. Die sich auf zauberhafte Weise entwickelnde Liebes­geschichte von Samuel und Nicola gerät plötzlich in Gefahr. Ein Verbrecher-Clan will Nicola umbringen, woraufhin Samuel sein wahres Gesicht zeigt und es mit der international operierenden Bande aufnimmt. Denn Samuel verfügt über sehr viel Geld, besondere Fähigkeiten und ein Sicherheitsunternehmen, das erst dann richtig loslegt, wenn der an Recht und Gesetz gebundene Staat nicht mehr weiter weiß und kann. Ein gefährliches Spiel beginnt ... Das Erstlingswerk des Autors besticht durch den unbändigen Glauben an das Gute. In diesem modernen Kriminal-Märchen wird der technische Vorsprung, den sich die Verbrecher sonst zunutze machen, umgekehrt.

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Seitenzahl: 464

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Zur Person des Autors

Matthias Wendtland, geboren 1964, ist Leiter der Polizeiwache Detmold. Er lebt dort mit seiner Frau Sylvia, ihre beiden Kinder sind schon seit mehreren Jahren selbstständig. Nebenberuflich hat er ein Magisterstudium absolviert und anschließend im Fachbereich Soziologie promoviert. Die Dissertation „Polizisten und berufliche Belastungen“ errang 2007 den 2. Preis der Deutschen Hochschule der Polizei. Seit 2000 unterrichtet er nebenamtlich junge Kommissarsanwärter*innen an der Fachhochschule Bielefeld, um sie auf ihren anspruchsvollen Beruf vorzubereiten. Darüber hinaus hat er an der Akademie Mont Cenis des Innenministeriums NRW soziale Ansprechpartner*innen ausgebildet.Seit 2013 berät er auch in seinem sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut BALANCE-ABC (www.balance-abc.de) Klient*innen außerhalb der Polizei. Rich Sam – Fassadenpoker ist sein Erstlingswerk.

Matthias Wendtland

RICH SAMFASSADENPOKER

Kriminalroman

Impressum

Copyright © 2019 Matthias WendtlandAlle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Autors wiedergegeben werden.

Umschlagfotos: El Nariz, Stephen Rees – shutterstock.comUmschlaggestaltung und Satz: Jennifer Nüßing Verlag:Dr. Matthias WendtlandIrmgardstr. 1132756 [email protected]: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, BerlinISBN: 978-3-750252-73-8 Personen und Handlung dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit Lebenden und Verstorbenen

sowie existierenden Unternehmen sind rein zufällig und

nicht beabsichtigt.

Für Sylvia, meine Pilgerführerin und -begleiterin im Leben

Prolog

Herbst 1995, San Francisco

Heiße dicke Tränen kullerten über seine Wangen und er ließ es widerstrebend geschehen, weil er allein war. Tagsüber hatte er sich inzwischen ganz gut im Griff, er war schließlich schon 14, und er hatte Papa versprochen, stark zu sein.

Abends, wenn er in seinem Zimmer des Pinewood-Hill-­Internats im Bett lag und nicht einschlafen konnte, sah das schon anders aus. Er bemühte sich zwar auch dann um Haltung, damit Chris nicht glauben sollte, er habe ein Weichei als Zimmergenossen, andererseits spürte er aber, dass es irgendwie auch guttat, die Enttäuschung und die Wut zuzulassen und nicht krampfhaft dagegen anzukämpfen.

Chris schlief sowieso immer schnell tief und fest ein, und selbst wenn er Sams Traurigkeit mitbekommen hätte, Chris war mehr als in Ordnung, er hätte es schon verstanden.

Seine Klassenkameraden nannten ihn Sam statt Samuel, da es sowieso in dem Alter immer schnell gehen muss, und gerade beim Sport kommen kurze knappe Ansagen einfach besser. Kickboxen, Football und Basketball waren die Gründe, warum er die Tage sogar genießen konnte.

Schon zu Hause in Wiesbaden hatte er sich gern ausgepowert, und zudem galt er als besonders talentiert. Vermutlich war das seiner Mutter zu verdanken, die vor seiner Geburt zur Weltspitze im modernen Fünfkampf gezählt hatte.

Die Begabung, Kraft, Ausdauer, Koordination und Konzentration auf den Punkt abzurufen, war ihm in die Wiege gelegt worden. Hinzu kamen eine rasche Auffassungsgabe und ein ausgeprägtes Gespür für die richtige Situation, die ihn schon in jungen Jahren als einen zukünftigen Spitzensportler auswiesen.

Mit Football hatte er bislang nichts am Hut, entdeckte aber auch hier schnell sein Interesse, wobei ihm die 1,84 Meter Körpergröße deutlich halfen. Die harten Trainingseinheiten des Kampfsportes sorgten dafür, dass er nicht so schlaksig und unbeholfen wie die meisten anderen Teenager durch die Welt stolperte. Nein, er hatte eine geschmeidige, hochkontrollierte Körperbeherrschung und war dadurch in seinem Jahrgang sowohl beim Basketball als auch beim Kickboxen eine absolute Granate.

Football machte ihm einfach Spaß, und es wäre bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis er auch hier das Topniveau, auf welcher Position auch immer, erreichen würde.

*

So richtig hatte er sich noch nicht daran gewöhnt, „Sam“ gerufen zu werden. Kein Wunder, denn Samuel war nicht sein ursprünglicher Name. Warum genau der Namenswechsel erforderlich war, hatte ihm sein Vater nicht verraten, aber er hatte begriffen, dass es sicherer sei, fortan nicht mehr Richard Bergmann, sondern Samuel Fisher zu heißen.

Konstantin Bergmann hatte gute Gründe, seinen Sohn in Sicherheit zu bringen. Er war Direktor beim Bundeskriminalamt und seit einigen Jahren für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität zuständig. Sein Haupttätigkeitsbereich bestand darin, die Strukturen der italienischen Mafia, die in vielen Ländern der Welt und auch in Deutschland agierte, zu zerschlagen. Diese Aufgabe nahm ihn mehr als er wollte in Anspruch, und so konnte er sich schon in den letzten Jahren nicht mehr so um seinen einzigen Sohn Richard, jetzt Samuel, kümmern, wie der es verdient hätte.

Er war ein prächtiger Junge mit unglaublichen Fähigkeiten, von denen der alleinerziehende Vater immer wieder fasziniert war. Den scharfen Verstand hatte der Junge wohl von ihm, die enorme Physis von seiner lieben, viel zu früh verstorbenen Mutter. Konstantin hatte Carola 1979 geheiratet, und alles schien perfekt zu laufen, bis ein schrecklicher Schicksalsschlag das Leben seiner Liebsten auslöschte und das seines Sohnes und sein eigenes total aus der Bahn warf.

Es geschah an Heiligabend 1981. Konstantin hatte endlich mal ein paar Tage frei und kümmerte sich um den knapp sieben Monate alten Richard und die Zubereitung der Weihnachtsgans, während Carola mit ihren Eltern und Schwiegereltern in der Christmesse war. Auf dem Heimweg, es waren nur wenige Kilometer von der Kirche zu fahren, nahm ihnen ein volltrunkener Kleinlasterfahrer die Vorfahrt. Er hatte schlicht das Rotlicht übersehen und erwischte den von Carola gesteuerten Toyota mit voller Wucht auf der Mitte der Kreuzung. Im zerstörten Toyota hatte niemand überlebt.

Bis 1995 ersetzte Konstantin, soweit es ihm möglich war, seinem inzwischen 14jährigen Sohn die Mutter und verbrachte so viel Zeit wie eben möglich mit ihm. Er merkte aber schon in den letzten Monaten, dass beide nun in eine weitere ernst zu nehmende Krise gerieten.

Genauer gesagt geriet Konstantin in eine Situation, die er kaum mehr kontrollieren konnte. Er hatte sich bei seinen Ermittlungen sehr weit aus dem Fenster gelehnt und war tief in die Organisation der Calzare-Familie vorgedrungen. Seine Verbissenheit und Gründlichkeit führten ihn schließlich zu dem Wirtschaftsjuristen Massimo Danieri, der über Jahrzehnte die Finanzgeschäfte des Clans gesteuert hatte.

Danieri wäre vielleicht nie ins Visier der Ermittlungen geraten, hätte er sich nicht komplett mit den Calzares überworfen. Sie hatten irgendwann den durchaus begründeten Verdacht, dass ihre Investitionen zwar erfolgreich verliefen, tendenziell aber noch ertragsstärker hätten ausfallen dürfen.

Dies ihrem Anwalt beweiskräftig vorzuhalten, übertraf zwar bei weitem ihre Verstandeskapazität, andererseits spielt dieser Faktor bei testosterongesteuerten Alphatieren und Berufsverbrechern nicht immer die entscheidende Rolle. Um Danieri zu disziplinieren, entführten sie zunächst seine Frau und verloren dann während der Verhandlungen so schnell die Nerven, dass sie sie viel zu früh töteten.

Diese Kurzschlusshandlung mag den Drahtzieher der Aktion – es war Francesco, der als vierter Sohn des Patrons seinen Vater auch mal von seinen Fähigkeiten überzeugen wollte – im ersten Moment befriedigt haben, tatsächlich war es für die Familie der Super-GAU schlechthin.

Als Cesare Calzare, das berüchtigte Familienoberhaupt, den Ernst der Lage begriff, war es bereits zu spät. Der unvermeidliche Niedergang des Clans war eingeläutet.

Massimo Danieri hatte, als er das geforderte Lebenszeichen seiner geliebten Sonia nicht geliefert bekam, verstanden. Er kannte die Familie zu gut, als dass man ihn mit einer wie auch immer erdachten Geschichte hätte versöhnen können. Die Calzares hatten ihm den Krieg erklärt. Sie sollten ihn bekommen.

Massimo Danieri rächte sich mit seinen Waffen und räumte die Konten seines ehemaligen Auftraggebers ab. Er kam zwar nicht an das Innerste des Imperiums heran, fügte der Organisation aber immerhin einen immensen Schaden zu. Natürlich war ihm bewusst, dass er den neu hinzugewonnenen Reichtum nie würde genießen können. Darum ging es ihm aber auch gar nicht mehr. Sein Gewinn war ihr Verlust, und der richtige Schlag sollte ja auch noch folgen.

Hierzu bediente sich Danieri eines deutschen Kriminalbeamten, dessen Arbeit er schon häufiger bewundernd zur Kenntnis genommen hatte. Ein gewisser Konstantin Bergmann hatte ein unglaubliches Aufspürtalent, das nicht nur den Calzares massive Probleme bereitet hatte. Mit einer Präzision, die sich im Milieu niemand erklären konnte, stach er intuitiv in die Wespennester diverser, teils befreundeter, teils konkurrierender Organisationen. Der Mann war immer gefährlich. Zum Glück konnte er allein aber nie allzu viel ausrichten.

Schließlich scheiterte er trotz seiner Akribie an der sehr großzügigen, täterfreundlichen deutschen Justiz im Dschungel der Beweisketten. Deutschland war dadurch nach wie vor ein hochinteressanter Aktionsraum für die Calzares. Vor allem gewaschenes Geld ließ sich hier prima investieren. Das Vertrauen der Calzares in die Stabilität der deutschen Wirtschaft war berechtigterweise enorm.

Danieri kontaktierte Bergmann mit dem Vorschlag eines Deals. Er war bereit, vollumfänglich auszupacken. Hauptköder waren fünf als unaufklärbar eingestufte Mordfälle im Milieu, die 1991 in Frankfurt am Main verübt worden waren. Abfallprodukte gab es aber auch in Form von Insiderwissen zu diversen internationalen Transaktionen in deutlich dreistelliger Millionenhöhe. Außerdem verfügte Danieri über Informationen zur Zusammenarbeit diverser Clans sowie über geopolitisch langfristig ausgeklügelte Strategieabsprachen.

Als Gegenleistung forderte Danieri die Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm, persönliche Straffreiheit und die Garantie, dass Bergmann sein persönlicher Verhandlungspartner werden und bleiben müsse.

Bergmann hatte schon beim ersten Happen der ihm zugeleiteten Danieri-Informationen erkannt, dass dieser Fall alles in den Schatten stellen würde, was er jemals ausgegraben hatte. Selbst wenn er nicht Einblick in alle Operationen des Bundeskriminalamtes hatte, war er überzeugt, dass hier einer der dicksten Fische aller Zeiten angebissen hatte … und das, obwohl er nicht einmal geködert worden war.

Für Konstantin Bergmann stand fest, dass man mit Danieri nicht lange verhandeln oder zögern sollte. Das Eisen musste geschmiedet werden, so lange es heiß war, und oft genug hatte er erleben müssen, dass Schockgefrierfrost den Ermittlern ins Handwerk pfuschte. Hier war die Devise Schnelligkeit vor Gründlichkeit angebracht. Als oberste Priorität stufte er die Sicherheit von Danieri ein, und damit bloß nichts schieflief, kümmerte Bergmann sich selbst bis ins letzte Detail um die Angelegenheit.

Danieri war seinerseits überrascht und zugleich begeistert, mit welcher Energie der deutsche Beamte die Dinge in die Hand nahm und für ihn regelte. In kürzester Zeit wurde eine Legende für Danieri im Zeugenschutzprogramm konstruiert.

Danieri hieß nun Max Keller und war für den Rest der Welt ein zurückgezogen lebender Einzelgänger, der sich nach erfolgreicher Businesskarriere in die Ruhe und Stille des Mecklenburger Landes begab.

Danieri verstand zwar alles, was in deutscher Sprache gesagt wurde, sein aktiver Wortschatz war allerdings so gering, dass man sich entschieden hatte, ihn als „stumm“ zu präsentieren. Der Mitte 60jährige musste sich einen Gehilfen engagieren, der für ihn die täglichen Dinge des Lebens zu regeln hatte. Für die einheimische Bevölkerung war er schnell der Butler „James“, obwohl er sich auf dem Amt als Johannes Kriener angemeldet hatte. Johannes Kriener alias James alias Konstantin Bergmann war Chauffeur, Gärtner, Einkäufer, Begleiter, Sprachrohr, einfach der Kontakt zur Außenwelt.

Auch wenn sie aus unterschiedlichen Welten kamen und sich eigentlich bekämpfen müssten, spürten Danieri und Bergmann schon bei ihrer ersten Begegnung, dass sie gut zusammenarbeiten würden. Vielleicht würde sich sogar eine Freundschaft oder etwas Ähnliches, was unter den Rahmenbedingungen eben möglich wäre, entwickeln. Mecklenburg-Vorpommern wurde gewählt, da Fremde hier schnell auffallen würden, der Schutz von Danieri schien machbar. Problematisch war allerdings, dass Konstantin Bergmann seinen Sohn nicht würde mitnehmen können.

Danieri bemerkte, dass sein Schutzengel von quälenden Gedanken befallen war, die ihn daran hinderten, den so gut ausgeklügelten Plan konsequent in die Tat umzusetzen. Er vermutete, dass Bergmann ein vielleicht zu großes persönliches Opfer für die Sicherheit eines Mafiaanwaltes wie ihn aufbringen müsste, andererseits hatte er massive Ängste und traute momentan nur Bergmann zu, sein Leben effektiv zu schützen. Um Bergmann zu überzeugen, sich auf Mecklenburg-Vorpommern einzulassen, sprach er offen seinen Verdacht an, Bergmann könne sich vielleicht nicht vorstellen, so lange von seiner Familie getrennt zu leben.

Klar, Bergmann war ein attraktiver Mann im besten Alter von 42 Jahren, mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte er eine Familie. Das Eis war gebrochen, Danieri hatte ins Schwarze getroffen. Der noch junge Abend wurde zu einer langen Nacht und schweißte die beiden durch das Schicksal zusammengeführten Männer zu einer Notgemeinschaft, die sich rasch als extrem zielstrebig erwies.

Da der verwitwete Bergmann nie wieder geheiratet hatte, war lediglich Richards Zukunft zu planen. Danieri hatte Bergmann finanzielle Unterstützung angeboten und dies verbalakrobatisch so vorsichtig wie eben möglich eingeleitet. Ihm war natürlich bewusst, dass Bergmann jede Art von Korruption niemals akzeptieren würde.

So kam es also darauf an, ihm das „Privatstipendium“ für Richards Ausbildung aus Sicherheitsbedenken schmackhaft zu machen. Die klug vorgetragene Sorge um Richards Sicherheit war natürlich ein raffinierter Schachzug des Italieners. Tatsächlich konnte keiner der beiden Verbündeten zu diesem Zeitpunkt einschätzen, ob Richard überhaupt in den vermuteten Rachefeldzug der Calzares verwickelt werden würde.

Aber allein der Gedanke, nach Carola und den Eltern erneut in die Situation zu geraten, den engsten Familienkreis nicht beschützen zu können, zog Konstantin immer mehr in den gespürten Abgrund, Danieris Angebot anzunehmen. Mangels Zeit und Alternativen gab Konstantin am Ende der Nacht auf. Er war mit Massimo, wie er ihn nach dem Abend nannte, eine Verbindung eingegangen, die sein Leben für immer verändern sollte. Und Richards Leben, der sich nun Samuel nannte, gleich mit.

So lag Samuel also mit wilden Gedankengängen in seinem Internatsbett und versuchte sich einzureden, dass Papa bestimmt keine andere Wahl gehabt hätte. Die Details, warum er nach San Francisco musste, würde er vielleicht nie erfahren. Im tiefsten Innern war ihm aber bewusst, dass Papa, der sich so gut in all den Jahren um ihn gekümmert hatte, ihn nicht grundlos weggeschickt haben konnte.

Was immer Papa dazu getrieben haben konnte, Samuels Pläne sahen bis vor einigen Wochen noch ganz anders aus. Die 15jährige Patrizia aus seiner Klasse hatte endlich angebissen und war mit ihm ausgegangen. Na ja, sie hatten sich zumindest in der Stadt getroffen, hatten sich ein Eis, das er ihr spendiert hatte, schmecken lassen und waren anschließend noch im Park spazieren gegangen.

Als sie ihm zum Abschied einen flüchtigen Kuss als Dankeschön für das Eis auf die Wange gab, war es voll und ganz um ihn geschehen. Er wusste, dass mehrere Jungs aus seiner Schule scharf auf Patrizia waren. Einige kannte er vom Sport, und zwei seiner etwaigen Konkurrenten, die sogar schon 16 und zwei Klassen über ihm waren, dazu auch schon einen Motorroller fuhren, hatte er besonders auf der Rechnung.

Nun hatte sich die schon gut gebaute, mehr als hinreißende Patrizia tatsächlich mit ihm getroffen … und zwei Wochen später musste er ihr gestehen, dass er nach Amerika gehen würde.

Mann, war das ein Nachmittag. Die Koffer waren schon für den nächsten Tag gepackt, als er sich mit ihr im Park traf und nun schon mit Zungenkuss begrüßt wurde. Schnell hatte sie gespürt, dass ihm etwas gewaltig Bedrückendes auf dem Herzen liegen musste und so ließ er unter heftigen Schluchzern die Katze aus dem Sack.

Seine Liebeserklärung und die unmittelbar anschließende Hiobsbotschaft von Amerika brachten die sonst so selbstsicher wirkende Patrizia vollkommen aus dem Gleichgewicht. Zunächst war sie verstört und irritiert, dann wütend und aggressiv, schließlich endlos traurig. Als er ihr dann noch erklären musste, dass er nicht nur für ein Jahr weg sein würde, brach für sie und für ihn eine Welt zusammen.

Ihre Fantasien, sie könne doch ihre Eltern überzeugen, Richard in der Familie aufzunehmen, wenn sein Vater wegziehen müsse, trafen ihn ins Herz. Er hatte das Gefühl, die Liebe seines Lebens gefunden zu haben, endlich mal richtig vom Glück verwöhnt worden zu sein, und doch schlug das Schicksal unbarmherzig zu. Die beiden mussten sich an dem Abend trennen, ohne zu wissen, ob sie sich jemals wiedersehen würden. Was für ein Opfer! Zu was für einem Zweck?

Kalifornien hatte natürlich auch sehr schöne Mädchen zu bieten, aber die Wunden waren noch frisch und weit davon entfernt zu verheilen. Wie sollte er Patrizia auch erklären, warum das alles sein musste, er verstand es ja selbst nicht. Um die Legende von Samuel Fisher wasserdicht zu gestalten, hatte sein Vater veranlasst, dass er bei einer älteren Frau, Nancy Fisher, in Oakland wohnen würde. Die genauen Hintergründe, warum die Wahl gerade auf Nancy fiel, konnte Samuel zwar nicht nachvollziehen, immerhin erwies sich sehr bald, dass Papa wenigstens hierbei ein glückliches Händchen hatte.

Nancy Fisher war schon 64 Jahre alt und stolz, noch einige Tropfen Indianerblut in sich zu haben. Ihre Urgroßmutter war die Tochter eines Chumash-Häuptlings, eines Indianerstammes aus der Gegend um Santa Barbara. Sie hatte einen deutschstämmigen Siedler geheiratet, und in der Familientradition wurde die deutsche Sprache gepflegt. Nancys Vater war College-Lehrer für deutsche Sprache und Geschichte und später, während des 2. Weltkriegs, sogar als amerikanischer Agent auf deutschem Boden tätig. Nancy selbst sprach immerhin so passabel deutsch, dass sie als vereidigte Dolmetscherin für den kalifornischen Staat und die polizeilichen Ermittlungsbehörden arbeitete.

Seit drei Jahren litt sie allerdings unter einer so rasch fortschreitenden Verschlechterung ihrer Sehfähigkeit, dass sie vorzeitig ihre Arbeit aufgeben musste. So hatte sie Zeit, sich um ihren Enkelsohn Chris Fisher zu kümmern.

Chris’ Mutter hatte sich vor sechs Jahren aus Verzweiflung von einer Brücke gestürzt, als Chris’ Vater, Nancys Sohn, bei einem Unfall auf einer Bohrplattform ums Leben gekommen war. So wuchs Chris also bei seiner Großmutter auf. Beide hatten ein für Samuel sofort spürbares inniges Verhältnis zueinander, das von einer gemeinsamen Begeisterung für Spiritualität getragen war. Ohne sich mit Worten auszutauschen, konnten die beiden über Blicke Gedanken teilen und sich verständigen.

Für Samuel war das alles vollkommen neu, hochinteressant und manchmal auch bedrohlich. Obwohl Samuel nicht so ganz klar war, warum, schien er den beiden in ihrer Zweisamkeit hochwillkommen.

Ihnen hätte er doch eigentlich dankbar sein müssen, dass sie bereit waren, ihn aufzunehmen. Tatsächlich zeigten sich Nancy und Chris ihrerseits stets hilfsbereit, freundlich und dankbar. Sie machten ihm das Leben unter den besonderen Umständen annehmbar und erträglich.

Chris und er gingen im neuen Schuljahr sogar gemeinsam auf dieselbe Schule. Chris war schon 15, Samuel konnte aufgrund seiner ausgezeichneten Noten in Deutschland die dritte Klasse überspringen, sodass beide als Freshmen zum Elite-Internat Pine­wood-Hill-Highschool in San Francisco wechselten.

Für Samuel war das schon ein gewaltiger Schritt. Fremde Umgebung, unglaublich großzügige Schulanlagen, hervorragende Lehrer und ausgezeichnete Sportmöglichkeiten. Alles in allem ein Traum von Schule.

Chris war zuvor auf einer einfachen Middleschool in Oakland und erlebte nun, in welchen Dimensionen die Reichen und Schönen dieser Welt ihr Leben gestalten konnten. Der Prunk und Reichtum dieser bislang für ihn verschlossenen Welt verschlug ihm glatt den Atem.

Ohne weiter zu fragen, was sie eigentlich beide auf solch einer Elite-Anstalt verloren hatten und wer für die sicherlich enormen Gebühren aufkommen würde, lernten sie schnell, die tollen Angebote zu nutzen und zu schätzen. Die Woche über blieben sie im Internatsbereich der Schule, am Wochenende fuhren sie zu Nancy nach Oakland.

1

Pamplona, Freitag, 01.06.2012

„So sieht man sich also wieder, nett hier.“

Mit einem bezaubernden Lächeln stand sie plötzlich vor ihm und blickte keck auf ihn herab. Wie aus einem Traum gerissen, erschrak Samuel leicht, schaute etwas verlegen, nach Worten suchend, in ihre dunklen Augen und antwortete gerade noch rechtzeitig: „Eh, Nicole, nicht wahr?“

„Fast. Nicola“, erwiderte sie freundlich.

„Aber wir haben uns ja eben auch nur ganz kurz gesehen.“

Eben, das war vor etwa zwei Stunden. Samuel war bereits auf dem Sprung, die Casa Paderborn, die von Deutschen geführte Pilgerherberge in Pamplona, für einen Stadtspaziergang zu verlassen, als Nicola das Vierbettzimmer betrat und erkennbar erschöpft aber zufrieden verkündete, sie werde in dem Etagenbett über Samuel nächtigen. Sie hatten noch ein paar belanglose Worte gewechselt, sich gegenseitig vorgestellt und zum heutigen Tagespensum ihrer Pilgerschaft beglückwünscht, als Samuel erklärte, er werde nun die Sehenswürdigkeiten der Stadt erkunden.

Nicola musste hingegen erst mal ankommen, duschen und ausruhen. „Bis später“ war der von beiden geäußerte vorläufige Abschluss des ersten Zusammentreffens.

Samuel war bemüht, die 20-30 Kilometer-Tagesetappen auf dem Jakobsweg früh zu beginnen, um nicht zu spät ans jeweilige Ziel zu gelangen. Im Gegensatz zu vielen anderen Jakobswegpilgern ging es ihm nicht darum, sich einen der begehrten Schlafplätze zeitnah zu sichern, er hätte immer etwas gefunden. Gerade die größeren Städte, wie zum Beispiel Pamplona, hatten aber so schöne alte Gebäude und Plätze, dass er es genoss, in die landestypische Atmosphäre einzutauchen.

Unter den Markisen des Cafés Iruña an der Plaza del Castillo, einem früheren Lieblingsort des Pamplona-Liebhabers Ernest Hemingway, hatte er es sich gerade bequem gemacht, einen café con leche grande bestellt und war, während er auf diesen wartete, noch einmal in Gedanken die bisherigen drei Tagesetappen von Saint-Jean-Pied-de-Port bis Pamplona durchgegangen, als er von Nicola so unvermittelt angesprochen worden war.

„Ja, unsere Begegnung in der Casa Paderborn war in der Tat recht kurz“, knüpfte Samuel an das begonnene Gespräch an. Mit einer einladenden offenen Handgeste wies er auf einen freien Stuhl an seinem Tisch: „Darf ich Ihnen einen Kaffee bestellen? Ich bin auch gerade erst hier angekommen.“

„Sehr gerne, aber unter uns Pilgern verzichten wir doch auf das Sie, oder?“

„Unbedingt!“

Mit einem Strahlen in den Augen registrierte Samuel, dass die ohnehin schon überwältigende Atmosphäre Pamplonas, das angenehme Klima, die mit dem Tageswerk verbundene Zufriedenheit und das Gefühl, mit sich ganz und gar im Einklang zu sein, eine weitere Steigerung erfahren hatte.

Der wundervolle Tag versprach noch besser zu werden. Als er das Zimmer verlassen hatte, war ihm die Schönheit seiner neuen Pilgerbekanntschaft zwar aufgefallen, verschwitzt und erschöpft wie sie war, hatte er aber die Gedanken mehr bei der verlockenden Stadt. Nun fragte er sich, wie ihm das passieren konnte.

Frisch geduscht, in ein leichtes, ihrer weiblichen Figur schmeichelndes Sommerkleid gehüllt, wirkte sie nahezu vollkommen. Es hieß ja schon, dass sich Gott oder allgemeiner gesprochen die Spiritualität mitunter auf dem Jakobsweg – in welcher Form auch immer – offenbaren würde. Dass dies so schnell und so überzeugend in der Person von Nicola geschah, Respekt! Die Wege des Herrn sind unergründlich, es wäre definitiv ein Fehler, sein Handeln oder das Schicksal in diesem Fall in Frage zu stellen.

„Ich habe dich schon in Saint-Jean-Pied-de-Port im Pilgerbüro gesehen“, führte sie das Gespräch fort.

„Du warst da sehr vertieft in deinen Reiseführer. Hast du dann auch am nächsten Tag den ganzen Weg nach Roncesvalles genommen? Das war ja ne ganz schön harte Etappe für den Anfang.“

„Ja, das kann man wohl sagen. Aber wenn man bedenkt, wie viele alte oder zumindest deutlich ältere Pilger die Etappe auch schaffen“, er führte den Gedanken nicht weiter fort.

„Also, bislang bin ich eher wenig gewandert und es gibt ja auch Tipps, dass man die Etappe vielleicht teilen und am ersten Nachmittag schon mal sechs Kilometer bergauf hinter sich bringen sollte, aber irgendwie habe ich gehofft, dass es schon klappen wird.“

Samuel wollte nicht gleich am Anfang zu prahlerisch wirken. Tatsächlich befand er sich in einem ausgezeichneten Trainingszustand. Aus der Sportkarriere war zwar nichts geworden, aber das hatte nichts mit seiner Fitness zu tun. Mit inzwischen 1,94 Metern und einem absolut austrainierten Körper stellte er so manchen Profisportler in den Schatten. War er Nicola wohl wegen seiner imposanten Erscheinung in Saint-Jean-Pied-de-Port aufgefallen?

„Und wie sieht deine weitere Planung für den Jakobsweg aus?“ erkundigte sich Nicola, als der Kellner kam, um auch die Bestellung für ihren Kaffee aufzunehmen.

„Mal sehen“, war die lapidare Antwort nach einer kurzen Bedenkpause.

„Ich möchte schon bis Santiago kommen, habe aber keinen festen Zeitplan oder so. Es ist für mich eine ganz neue Erfahrung, auf konkrete Ziele zu verzichten und dafür offener für neue Erlebnisse, Eindrücke und Begegnungen zu werden. Ich hoffe, mich vielleicht besser kennenzulernen und zu entscheiden, wie es im Leben weitergehen soll.“

„Mhm, so ähnlich geht’s mir auch“, entgegnete Nicola.

Beide schauten sich tief in die Augen und wägten die Bedeutung der vagen, aber tiefsinnigen Worte ab, ohne weitere Erläuterungen folgen zu lassen. Die momentane Zufriedenheit, die Erschöpfung vom Tag und das Gefühl, einen Gesprächspartner oder Pilgergefährten gefunden zu haben, der auch ohne Worte einen Ausdruck von Wärme und Verständnis vermitteln konnte, war für beide ein unerklärliches, aber enorm befriedigendes Erlebnis.

Die beiden cafés con leche wurden gebracht und rissen beide aus ihrem traumähnlichen Zustand.

„Muchas gracias, señor” fand Samuel zurück ins reale Leben. „Seit eben habe ich das Gefühl, dass sich meine Reise schon gelohnt hat. Ist es nicht faszinierend, wie wir uns im letzten Augenblick mit nichts als Augenblick unterhalten haben?“

Sein aufforderndes, freundliches und gleichsam provozierendes Lächeln entwaffnete Nicola. Unsicher, wie sie darauf reagieren sollte, brachte sie zunächst nur ein Nicken zustande, um dann aber noch schnell ein „Danke“ hinterher zu schieben.

„Danke für den Kaffee und erst recht für deine Gesellschaft. Ich spüre, dass du mir gut tust.“

„Oh Gott“, sprach sie nun mehr zu sich selbst. „Habe ich das wirklich gerade so gesagt? Was wird er jetzt wohl von mir denken?“ Zu Nicolas Verwunderung wirkte Samuel keinesfalls irritiert oder verunsichert und gab das soeben vorgebrachte Lob, das Nicola zu ihrer eigenen Überraschung so schnell, aber auch intuitiv unüberlegt, herausgebracht hatte, mit verblüffender Souveränität zurück.

„Sehr, sehr gern … und danke für deine spontane Ehrlichkeit. Mir geht es genauso mit dir und ich finde es umwerfend, dass wir das so schnell über die Lippen gebracht haben. Meistens taktiert man beim Kennenlernen und wartet ab, wie sich die Dinge entwickeln. Schon manchmal hatte ich das Gefühl, dass aus Unsicherheit und Scheu Chancen auf Freundschaften oder gute Beziehungen verpasst wurden. Konventionen und vermeintlich gebotene Distanz haben bestimmt schon viel Glück verhindert, und genau genommen ist das Leben zu kurz, um sich auf Menschen einzulassen, die einem ohnehin nicht liegen und mit denen man es, aus welchen Gründen oder Zwängen auch immer, ständig zu tun bekommt.

Wie erlösend ist es da, wenn jemand wie du den Mut aufbringt, das Eis schnell zu brechen und so direkt sagt, dass die erlebte Gemeinschaft angenehm ist. Eine unglaubliche Wohltat! Ist es nicht geradezu tragisch, auf wie viel mögliche Lebensqualität wir aus falsch verstandenem Anstand und aus übergroßer Vorsicht verzichten?“

Nach einer längeren, bewusst eindringliche Blicke zulassenden Pause, führte Nicola den Gedankengang fort: „Vertrauen ist wohl der Schlüssel dazu, und das muss man zu sich selbst und zu dem anderen haben. Du überraschst mich, weil ich im Moment eigentlich in einer Lebensphase bin, wo mir beides verloren gegangen erschien. Mein Selbstvertrauen ist aus dem Tritt gekommen und andere Menschen verunsichern mich in letzter Zeit. Wie durch ein Wunder hat das aber bei dir gar keine Rolle gespielt. Ja, der Weg hat sich für mich auch schon gelohnt.“

Wieder entstand eine lange Pause, in der beide die soeben geäußerten Botschaften auf sich wirken ließen.

„Ich bin sehr gespannt, mehr davon zu erfahren, denn Vertrauen ist auch eins meiner großen Lebensthemen. Weil der Weg aber noch lang ist, schlage ich vor, dass wir das vielleicht auf morgen verschieben. Ich habe schon mal das Streckenprofil gecheckt, und wie du sicher auch schon weißt, haben wir morgen eine sehr interessante Tagesetappe vor uns. Es geht erst mal aus Pamplona raus und dann stetig bergauf zum Alto del Perdón. Danach kommt ein längerer Abstieg nach Puente la Reina, und ich fände es aufregend, wenn wir analog zum Streckenprofil einen anstrengenden und anschließend erlösenden Weg zum gemeinsamen Austausch fänden. Jetzt habe ich nämlich erst mal Hunger, und beim chiquiteo ist es vermutlich zu laut für intensivere Gespräche. Was hältst du davon?“

„Chiquiteo?“

„Ja, das Abendessen. Die Leute essen hier nicht so riesige Portionen in einer einzigen Bar, sondern genießen hier und dort ein paar Kleinigkeiten, die sie ‚pinchos‘ nennen. Ausgesprochen leckere und toll fürs Auge zubereitete Häppchen. Weil wir ja schon wegen der Bettruhe wieder früh in die Casa Paderborn zurück müssen, sollten wir mit dem Essen langsam starten.“

„Stimmt, irgendwo habe ich schon mal davon gehört. Diesmal lade ich dich aber ein“, strahlte Nicola, während Samuel die Kaffees bezahlte.

Samuel hatte nicht zu viel versprochen. Die Bars waren zwar gegen 19.30 Uhr noch nicht so gut besucht wie am späteren Abend, die Tagesuhr der Pilger tickte aber nach einem anderen Rhythmus. In der Regel schlossen die Pilgerherbergen gegen 22.00 Uhr, und dann war auch allgemeine Bettruhe angesagt. Wegen der Mittagshitze war es empfehlenswert, den Tag dafür früh zu beginnen. So hatte man sein Tagespensum oft schon am frühen Nachmittag hinter sich gebracht.

Wie bei allen Südländern geht es aber auch in halb gefüllten Lokalen immer laut zu. Temperamentvoll wie die Basken, die den Nordosten Spaniens und Teile Südfrankreichs bevölkern, sind, unterstreicht die gehobene Lautstärke die Bedeutung der Erzählung, und so war Samuels Vorschlag, die tiefsinnigere Unterhaltung auf den morgigen Tag zu verlegen, Gold wert.

Immerhin erfuhren sie voneinander, dass Samuel in Deutschland aufgewachsen und mit 14 Jahren nach Amerika gegangen war, da er viel zu früh seine Eltern verloren hatte. Dort wurde er von einer amerikanischen Frau adoptiert, die sogar auf komplizierte Weise mit ihm um Ecken verwandt war. Zusammen mit ihm zog sie ihren einzigen Enkelsohn Chris auf.

Samuel lebte zur Hälfte in Kalifornien und zur anderen Hälfte in Deutschland. Er hatte Wirtschaftspsychologie in Stanford studiert und war offenbar ein recht erfolgreicher Geschäftsmann, wobei Nicola nicht so ganz verstand, wie seine tägliche Arbeit tatsächlich aussah.

Nicola wurde im April 1985 geboren, wuchs in Neuss am Rhein auf und hatte nach dem Abitur eine Inspektorenausbildung bei der Stadt Düsseldorf aufgenommen. Im dualen Fachhochschulstudium empfahl sie sich in den praktischen Ausbildungsanteilen schon frühzeitig für die Abteilung des Ausländeramtes, da sie neben Englisch, Französisch und Spanisch auch passable Türkischkenntnisse vorweisen konnte. Spanisch hatte sie in der Oberstufe als dritte Fremdsprache gewählt, türkisch konnte sie deshalb recht gut, weil ihre 12 Jahre ältere Schwester Isabel für das Goethe-Institut in Istanbul arbeitete und Nicola die Ferien häufig nutzte, sie dort zu besuchen. Ihre Eltern lebten noch immer in Neuss und waren mit ihren knapp 70 Jahren rüstige Rentner.

Rundum gesättigt von appetitlich aussehenden und unsagbar leckeren kulinarischen Feinköstlichkeiten sowie angeheitert vom Feuer des spanischen Rioja machten sich beide gut gelaunt auf den Weg in ihr gemeinsames Nachtlager. Die sich ankündigende Schwere der Lebenszwischenbilanz war zunächst auf zauberhafte Weise verschwunden und schien beide nicht weiter zu bekümmern.

Amüsiert über die von wem auch immer ins Spiel gebrachten Andeutungen, wer gleich im Bett welche Rolle zu übernehmen habe, fügte sich Samuel in den devoten Part des Untenliegenden. Mit gespielter Resignation wünschte er Nicola beim Erklimmen der oberen Etage des gemeinsamen Bettes eine gute Nacht und war vollkommen selig, als sie ihm einen flüchtigen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange gab.

„Danke für einen wunderbaren Abend“, flüsterte sie leise, um nicht die beiden Pilgergefährten aus Irland und Norwegen zu stören, die sich bereits im Nachbarbett zur Ruhe begeben hatten.

*

„Was für ein Tag“, schoss es Samuel durch den Kopf. Die nötige Bettschwere hatte er zwar, aber an ein baldiges Einschlafen war bei so viel Glück nicht zu denken.

Unwillkürlich kreisten seine Gedanken und landeten im Wiesbadener Park von 1995. Patrizia, ja, sie war die erste und bislang letzte Liebe, die ihn dermaßen im Sturm erobert hatte. Es gab nach ihr schon einige andere, mit denen er für Wochen oder Monate zusammen war, aber so richtig gefunkt hatte es bislang nie wieder, und so war Samuel trotz großen Interesses der Damenwelt noch nicht unter der Haube.

Patrizia, wie es ihr wohl jetzt erging? Noch monatelang hatte er sich nach ihr gesehnt, wohl wissend, dass es keine gemeinsame Zukunft geben konnte. Zunächst hatte er noch die Hoffnung gehabt, sein Vater könnte die Entscheidung mit Amerika rückgängig machen. Kaum dass er in Kalifornien angekommen war, musste er jedoch einsehen, dass die Dinge noch dramatischer lagen, als er ohnehin schon geglaubt hatte.

In der Schule wussten alle nur, dass er nach Amerika gehen würde, den genauen Zielort kannte er ja selbst noch nicht. Bevor er sich mit Briefen oder Lebenszeichen würde verraten können, hatte ihn sein Vater, der ihn nach Oakland begleitet und dort mit ihm zunächst in ein Hotel gezogen war, zu einem ernsten Männergespräch gebeten, das zwar nicht im Wortlaut, jedoch vom Ablauf in Richards Gedächtnis gebrannt blieb.

„Rich“, so nannte ihn sein Vater, „es tut mir so leid, dass ich dich in diese Situation gebracht habe. Bitte, bitte vertrau mir, dass es keinen anderen Weg gab und verzeih mir, wenn nicht jetzt, dann irgendwann …“, Papas Stimme wurde brüchig und Tränen liefen über sein Gesicht.

Nie zuvor hatte Richard seinen Vater weinen gesehen, und Richard erfasste unmittelbar und in aller Deutlichkeit, dass Papa unter einem immensen, unvorstellbar hohen Druck stehen musste.

„Rich, wir beide sind sehr wahrscheinlich in großer Gefahr. Ich habe einen Auftrag übernommen und muss mich um die Sicherheit eines Mannes kümmern, der für viele mächtige Leute einer großen Verbrecherbande eine enorme Existenzbedrohung darstellt. Glaub mir, ich habe mir mein Hirn zermartert, wie es anders gehen könnte“, erneut rang er mit seinen Worten, „aber ich glaube, dass es keinen anderen Ausweg gibt. Ich werde deine alte Schule benachrichtigen, dass du bei einem Kletterausflug in den Appalachen abgestürzt und ums Leben gekommen bist.“

Richard konnte die letzten Worte nicht fassen. „Ums Leben gekommen, ich …“, stammelte er nur nach. „Warum Papa, warum?“

„Ich mache mir große Sorgen, dass unsere Gegner alles daran setzen werden, einen drohenden Prozess zu verhindern. Sie werden uns jagen und töten wollen, es ist viel schlimmer als alles andere, was ich je erlebt habe. Jeder noch so kleine Schwachpunkt bietet ihnen eine Angriffsfläche, und ich weiß nicht, wie lange wir untertauchen müssen. Gemeinsam geht das leider nicht, weil wir davon ausgehen müssen, unseren Aufenthaltsort häufiger zu wechseln.

Wir kriegen das mit einer Schule für dich einfach nicht geregelt. Ich habe einen sehr guten Freund in Amerika, den du bald kennenlernen wirst. Du kannst ihm voll und ganz vertrauen. Er hat auch schon eine Familie, also genauer gesagt eine ältere Frau mit ihrem Enkelsohn für dich gefunden. Sie werden dich aufnehmen und gut behandeln.

Der Junge, er heißt Chris, ist nur etwas älter als du und du wirst ihn bestimmt mögen. Ihr werdet zusammen auf ein Internat in San Francisco gehen, wo ihr die Woche über leben und lernen werdet, am Wochenende seid ihr dann hier in Oakland bei seiner Großmutter. Wir werden noch die nötigen Sicherheitsvorkehrungen treffen, dass man dich hier nicht findet. Um ganz sicher zu gehen, müssen wir dich offiziell sterben lassen. Es wird dann schwierig, deine Spur wieder aufzunehmen. Du bekommst einen neuen Namen, eine komplett neue Identität. Ich werde, so gut ich kann, aus der Ferne auf dich Acht geben, weiß aber nicht, wie oft wir uns sehen können. Kannst du mir folgen?“

„Ich verstehe deine Worte, ich weiß, was du von mir erwartest, aber warum kann ich nicht wenigstens meinen Freunden schreiben, wo ich bin? Es gibt, … es gibt da ein Mädchen, ich, ich habe ihr versprochen, mich zu melden, verstehst du?“

Jetzt musste auch Richard weinen, ein verzweifeltes Schluchzen, das Konstantin Bergmann ins Herz traf.

„Oh, Rich! Es tut mir so leid. Du kannst ihr nicht schreiben, Rich ist tot!“

Nach einer wie ewig erscheinenden Pause fuhr er fort: „Aber du lebst. Du wirst ein vollkommen neues Leben beginnen und wirst Chancen bekommen, die du in Wiesbaden nie gehabt hättest. Wir haben eine Schule für Chris und dich ausgesucht, die zu den besten von ganz Amerika gehört.

Du kannst trainieren, wirst neue Freunde finden und ich bete, dass du glücklich wirst. Hoffentlich ist das nur eine Zwischenetappe unseres Lebens und wir kommen wieder dauerhaft, wo auch immer auf dieser Welt, zusammen.“

Die langsam vorgetragenen Worte trafen Richard wie Messerstiche.

„Aber ehrlich gesagt, ich kann es dir nicht versprechen. Den Kontakt werden wir über meinen Freund, Vincent Palmer halten. Wie gesagt, du wirst ihn bald kennenlernen. Er ist schon etwas älter und hat früher beim FBI gearbeitet. Wir haben ein paar Fälle gemeinsam gelöst, und einmal habe ich ihm mächtig aus der Patsche geholfen. Nicht nur deshalb, aber auch wegen dieser Sache, hat er sich mächtig ins Zeug gelegt, uns zu helfen.

Er hat inzwischen eine große Sicherheitsfirma in Frisco, die eng mit dem FBI und der CIA zusammenarbeitet. Mein Zeuge, der Mann, mit dem ich untertauchen muss, hat auch viele Informationen, die für die Amis von großem Interesse sind. Dadurch haben wir die bestmögliche Unterstützung, die man sich nur vorstellen kann. Vince verwaltet ein Treuhandkonto, das auf deinen Namen läuft. Also auf deinen neuen Namen.

Du heißt ab jetzt Samuel Fisher. Deine neue Oma ist Nancy Fisher, sie wird dich der Form halber adoptieren. Dafür sorgen wir für ihren Enkelsohn Chris. Beide sind nicht besonders vermögend, werden aber nun einen schönen Sprung nach oben machen. Chris kann mit auf das Internat, Mrs. Fisher bekommt ein eigenes Haus in Oakland und kann sich am Wochenende und in den Ferien voll und ganz um euch kümmern.

Außerdem liefert sie dir eine Top-Legende. Die Fisher-Familie hatte früher einen deutschen Zweig, aus dessen Linie du abstammst. Wie schon bei Chris, dessen Eltern bereits gestorben sind, wird Nancy auch für ihren deutschen Verwandten sorgen, der nach dem Tod seiner Eltern nun nach Amerika gezogen ist. Na ja, die Details können wir immer noch besprechen, im Grunde genommen musst du jetzt erst mal nicht viel mehr wissen.“

„Und wie geht es jetzt genau weiter? Wann musst du weg? Wann sehen wir uns wieder? Kommst du nach Oakland oder treffen wir uns woanders? Was …“

Konstantin Bergmann unterbrach seinen Sohn: „Ich verstehe, dass du viele Fragen hast, ich möchte sie auch gern alle beantworten. Aber es gibt noch so viele ungelöste Probleme, ich weiß einfach selbst noch nicht, was wird. Ich habe dich unendlich lieb und ich hasse mich und meine Arbeit dafür, was ich dir hier antue.

Tatsächlich werde ich nicht mehr für das BKA arbeiten, wir können einfach nicht sicher sein, ob es da nicht einen Maulwurf oder eine undichte Stelle gibt. Das einzig Gute ist, dass wir, also in erster Linie mein Zeuge, inzwischen aber auch ich, über eine riesige Menge an Geld verfügen, Unterstützung vom BKA, Interpol, FBI, CIA und so weiter haben und über ideale Bedingungen verfügen, dass unser Plan, die Verbrecher zu schnappen und zu verurteilen, sehr gute Chancen hat und aufgehen könnte.

Wann das sein wird und ob wir danach sicher sind, ich kann es dir beim besten Willen nicht sagen. Ich weiß es einfach nicht. Morgen werde ich wieder abreisen müssen und du wirst Vince treffen. Er bringt dich dann zu Nancy und Chris Fisher. Da die Schule erst in ein paar Wochen beginnt, habt ihr genug Zeit, euch anzufreunden.“

Ein basslastiges, schnappartiges Schnarchgeräusch des Norwegers aus dem Nachbarbett riss Samuel aus seinen Erinnerungen. Ja, das Schnarchen war in der Tat ein Problem in den Herbergen auf dem Jakobsweg. Schon in Roncesvalles hatte er diese bittere Erfahrung nach der ersten Tagesetappe machen müssen. Da war es ein Franzose gewesen, der mit einem orchestral anmutenden Dauerschnaufen den Schlafsaal im Wachzustand hielt. Was gäbe er jetzt für ein ruhiges Doppelzimmer, eins für sich und Nicola allein.

Wobei, und der nächste Gedanke brachte Samuel zum innerlichen Schmunzeln, eine wirklich ruhige Nacht würde das vermutlich auch nicht werden. So entspannte er sich, ließ den Wikinger weiter tönen, ohne sich weiter darüber aufzuregen, und genoss die frische Erinnerung an einen wundervollen Tag mit einer bezaubernden Nicola. Nicola, Nicola, die fast mantrahafte, unausgesprochene Wiederholung ihres Namens und ihre verzückende Erscheinung vor dem inneren Auge ließen ihn dann trotz der leicht widrigen Umstände alsbald einschlafen.

2

Pamplona, Samstag, 02.06.2012

Nicola und Samuel waren mit den anderen Pilgern früh aufgebrochen und marschierten auf ihr erstes heutiges Etappenziel, den Alto del Perdón, zu. Nachdem sie, von spiritueller Musik geweckt, den Morgentoast und die angenehme Atmosphäre der Herberge genossen und sich mit einer Umarmung von der liebevollen und fürsorglichen Herbergsleiterin verabschiedet hatten, taten sie sich zunächst schwer, das in der Luft hängen gebliebene große Thema des Vortages „Vertrauen“ anzugehen.

Das besondere Erlebnis beim Pilgern ist das veränderte Zeitempfinden, das sich schon nach wenigen Tagen einstellt. Während das heimatliche Universum unter den Folgen der so häufig beklagten Beschleunigung ächzt und leidet, mutet der Pilgerkosmos wie ein Film im Zeitlupentempo an. Es muss nichts überstürzt erledigt werden, und die Langsamkeit erweist sich mit der Zeit als ein weiser Lehrer, der Lektionen nicht mit Hochdruck erteilt, sondern mit Geduld anbietet.

Intuitiv spürten beide beim Verlassen des Stadtrands von Pamplona in Richtung Westen, dass die bald beginnende unbesiedelte Landschaft einen geeigneteren Rahmen für ihre mit Spannung erwarteten Lebensgeschichten bieten würde. So bereiteten sie sich innerlich auf den Anstieg des äußeren Weges und den Abstieg in die Tiefen der eigenen Seele vor.

Als die letzten Häuser hunderte von Metern hinter ihnen lagen, blieb Samuel stehen, blickte sich um und eröffnete bedächtig das Gespräch: „Die Sprinter sind nun vor uns, die ganz Langsamen hinter uns. Ich denke, dass wir erst mal ungestört sind. Möchtest du beginnen? Ich spüre, dass deine Probleme noch recht frisch sind. Erzähl mir nur, was du möchtest, wir haben alle Zeit der Welt. Ich bin gespannt darauf, was du erzählen wirst.“

Nicola schaute ihm prüfend in die Augen, ließ ihren Blick dann zurück auf Pamplona gleiten und nahm den Weg zum Alto mit ruhigem Schritt wieder auf. Samuel schloss sich an und wartete auf ihre Reaktion.

„Geduld, ja, eine andere große aktuelle Baustelle in meinem Leben. Warum glaubst du das mit dem ‚recht frisch‘?“

„Das waren in etwa deine Worte, als du gestern sagtest, dass andere Menschen dich in letzter Zeit verunsichern. Ich spüre einerseits deine Angst, andererseits sehe ich aber, dass das eigentlich nicht zu deiner sonstigen Ausstrahlung passt. Daher vermute ich, dass dich aktuelle Sorgen plagen, die zwar Macht über dich haben, dich aber nicht umwerfen werden. Du hast so viel Kraft in dir, dass du deine Ängste bezwingen wirst.“

„Schön gesagt, Herr Psychologe. Wenn es doch nur so wäre, wenn ich doch nur diese Zuversicht aufbringen könnte.“

Zögernd, wie sie anfangen und was sie ihm alles erzählen sollte, blieb sie stehen und startete, begleitet von leisen Tränen: „Bis Ende März war alles gut, also zumindest scheinbar gut. Ich lebte mit meinem Freund Martin seit knapp drei Jahren zusammen in Düsseldorf, hatte Spaß an meinem Job im Ausländeramt der Stadt Düsseldorf, und tatsächlich war mein Leben bis dahin von größeren Sorgen oder Problemen verschont geblieben.

Als wir dann eines Nachts eine Abschiebung eines abgelehnten Afghanen oder vielleicht auch Pakistani, so richtig sicher waren wir uns da nicht, durchführen wollten, lief der Einsatz total aus dem Ruder. Wir hatten nicht mit großer Gegenwehr gerechnet und daher auf Amtshilfe durch die Polizei verzichtet.

Der Mann war nur wegen kleiner Betrugsdelikte aufgefallen, er war auch nicht besonders kräftig oder so. Bei der Nationalität waren wir uns nicht sicher, weil er zwar angab, afghanischer Herkunft zu sein, ein früherer Dolmetscher hatte da aber so seine Zweifel. Egal, wir hatten einen richterlichen Beschluss, wonach er nach Afghanistan abzuschieben war, und wegen der besseren Chance, ihn anzutreffen, durften wir ihn zur Nachtzeit aus seiner Wohnung, das war so ein Zimmer in einem städtischen Asylbewerberheim, abholen und sollten ihn dann am selben Morgen zum Flieger bringen.

Zwei Kollegen und ich waren für den Einsatz vorgeplant. Ich war als Frau eigentlich nur dabei, um, na ja, man weiß halt nie, wie sich die Dinge entwickeln.

Also ich hätte mich um eine Frau gekümmert, die vielleicht in seinem Zimmer gewesen wäre. Da war aber keine. Wir sind mit dem Hausmeister rein und der hat uns auch das Zimmer geöffnet, und ich bin dann erst mal draußen auf dem Flur geblieben. Es lief dann auch zunächst alles ganz planmäßig. Er schlief in seinem Bett und leistete auch gar keinen Widerstand.

Als er schon fast alles gepackt hatte, schrie er auf einmal so laut, dass das halbe Heim geweckt wurde. Die beiden Kollegen versuchten ihn zu beruhigen und ich ging dann auch ins Zimmer, um seine Tasche zu übernehmen. Da war gar nicht viel drin, mehr so eine Sporttasche mit ein paar Sachen zum Anziehen. Sonst hatte der gar nichts an persönlichen Sachen dabei.

Nach einigem Hin und Her schien sich die Lage sogar wieder zu beruhigen, als plötzlich ein anderer Mann ins Zimmer gestürmt kam. Ich stand noch so’n bisschen von der Schranktür verdeckt seitlich zur Zimmertür und sah nur noch, dass der Typ so ein langes Messer in der Hand hatte und ja, er hatte die Hand mit dem Messer so ausholend über Kopfhöhe.“

Nicola stellte die Szene mit erhobenem, leicht nach vorn ausgestrecktem Arm zur Verdeutlichung dar.

„Da dachte ich, dass der gleich auf meine Kollegen losgeht. Und mich hatte er ja noch gar nicht bemerkt, und ich hatte ja noch die Tasche von dem Abzuschiebenden in der Hand, und da habe ich sie ihm mit voller Wucht ins Gesicht geschleudert.“

An dem heftiger werdenden Zittern ihres Körpers, dem krampfhaft wirkenden Gesamteindruck und den starren Augen erkannte Samuel, dass sie den Film von damals gerade wieder erlebte, alles wieder durchmachte und etwas sehr Schlimmes geschehen sein musste. Behutsam nahm er sie stützend in den Arm und schlug vor, sich am Wegesrand erst einmal hinzusetzen.

Er half ihr, den schweren Rucksack abzunehmen, legte ihn als Stütze für ihren Rücken ins grabenartig ansteigende Gras und setzte sich, nachdem auch er sein Gepäck losgeworden war, neben sie.

„Es ging dann alles irrsinnig schnell, obwohl es mir gleichzeitig irgendwie wie Zeitlupe vorkam. Von der Tasche getroffen, verlor der wilde Angreifer das Gleichgewicht, stolperte über den einzigen Hocker, der im Raum stand und stürzte zu Boden. Es war da so eng und ich weiß gar nicht genau wie es passieren konnte, auf jeden Fall lag er dann auf einmal auf dem Boden und schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an. Der war noch so jung und ich verstand erst gar nicht, warum der da einfach so liegen blieb. Wie sich dann später bei den Ermittlungen der Polizei herausstellte, die stellen so etwas ja immer noch mal nach, ist er wohl so unglücklich gestürzt, dass er sich im Fallen das Genick an der einzigen Fensterbank des Raumes gebrochen hatte. Der war da rückwärts unkontrolliert gegen gefallen und war sofort tot.“

Bei den letzten Worten verbarg Nicola ihr Gesicht in ihren Händen. Samuel nahm sie schweigend sanft in den Arm und strich ihr liebevoll mit der anderen Hand durchs Haar.

„Ich habe ihn getötet, ich habe einen Menschen getötet“, schluchzte sie und brachte kein weiteres Wort hervor.

Zwei ältere französische Pilger kamen in diesem Moment an den beiden im Gras kauernden, elendig dreinschauenden Weggefährten vorbei und erkundigten sich freundlich, ob sie etwas für sie tun könnten. Nicola schüttelte nur den Kopf und Samuel bat sie mehr mit Gesten als mit Worten weiterzugehen. Er würde sich schon um seine Freundin kümmern. Immer noch etwas irritiert gingen die beiden Franzosen mit dem spanischen, traditionellen Wunsch eines „buen camino“ schließlich langsam weiter, und als sie außer Sicht waren, fuhr Nicola fort: „Ich weiß, dass es Notwehr war, rein rechtlich gab es da auch keine größeren Probleme. Natürlich kam die Polizei und hat die nötigen Maßnahmen getroffen. Ich wurde auch von einem hinzugerufenen Notfallseelsorger betreut. Meine Behörde, allen voran mein Chef, hat sich auch ganz viel Mühe gegeben und mir erklärt, dass die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft reine Formsache seien und ich mir keine Sorgen machen müsse. Das war aber auch nur ein kleiner Teil des Problems, verstehst du?“

Samuel nickte kaum merklich und nahm sie fester in den Arm, um ihr zu zeigen, dass er voll und ganz bei ihr war, mit ihr fühlte und verstand, wie es momentan in ihr aussah.

„Ich bin mir nicht so sicher, ob ich das jemals überwinden kann. Ich habe immer geglaubt, dass ich mit meinem Sein und Handeln Gutes in der Welt bewirken kann. Das ist jetzt gar nicht mal so idealistisch gemeint, wie es sich vielleicht anhört. Aber meine bisherigen Erfahrungen waren, dass es sich einfach auch gut für mich anfühlt, wenn ich anderen helfen konnte. Das hatte bis dahin auch im Beruf immer ganz gut geklappt. Wir haben natürlich auch Maßnahmen getroffen, wo anderen Menschen Leid zugefügt wurde. Aber ich habe mich dann immer bemüht, es wenigstens so wenig schlimm wie möglich, so fair wie möglich zu tun, ihnen noch zuzuhören, sie gut zu begleiten.

Das war nicht immer leicht, aber am Ende war ich doch mit mir zufrieden und im Reinen.“

Erneut versagte ihre Stimme und es kostete sie Zeit und Überwindung wieder anzusetzen: „Ich weiß auch, dass ich meine Kollegen beschützen musste, dass ich das auch geschafft habe und sie mir dankbar sind, aber (erneute kurzzeitige Unterbrechung), aber nun ist er tot. Und mit ihm ist auch ein Stück von mir gestorben. (Lange Pause) Und wenn es dann schon mal so nach unten geht, kommt ein Unglück nicht allein.

Martin, mein Freund, mit dem ich seit fast drei Jahren zusammen war, konnte da überhaupt nicht mit umgehen. Also nicht, dass ich für den Tod eines Menschen verantwortlich war, das war für ihn kein Problem. Aber dass ich damit nicht klarkam, konnte er nicht ansatzweise nachvollziehen.

Ich habe mich total allein und von ihm verraten gefühlt und schließlich vor drei Wochen von ihm getrennt. Er ist Mathematiker und arbeitet für eine Versicherung. Sein ganzes Leben besteht aus Zahlen und Kalkulation. Ich denke schon, dass er mich, so gut er eben konnte, geliebt hat, aber er konnte mich nie richtig verstehen. Auch vorher schon nicht. Es gab immer wieder mal Momente in unserem Leben, in denen wir hätten reden müssen, manchmal vielleicht auch nur gemeinsam schweigen, aber diese Rechnung hatte für ihn zu viele unbekannte Variablen, wie er manchmal scherzhaft sagte.

Die Krisen waren es nie wert, genauer den Dingen auf den Punkt zu rücken, daher habe ich es dann bleiben lassen. Enttäuscht war ich aber schon öfter. Nach dem Vorfall war ich erst mal krankgeschrieben.

Ich habe viel Zeit zum Nachdenken gehabt, habe auch schon überlegt, ob ich eine Therapie oder so machen müsste. Eine gute Freundin hat mir geraten, den Jakobsweg zu gehen. Sie war selbst vor drei Jahren in einer schwierigen Lebensphase, und der Weg hat ihr geholfen und sie zurück ins Leben gebracht. Ich habe lange darüber nachgedacht, und ein befreundeter Pfarrer hat mich darin bestärkt, es zu versuchen. Er hat gesagt, dass ich in einer außergewöhnlichen Situation eine vollkommen nachvollziehbare Reaktion gezeigt habe und dass ich nicht wirklich krank sei. Es könne schon sein, dass eine Therapie helfen kann, er, und das ist interessant, weil du das auch gerade so ähnlich gesagt hast, er traut mir aber zu, dass ich so starke Selbstheilungskräfte in mir habe, dass ich es auch so schaffe.

Meine Zuversicht ist wie gesagt nicht sehr groß, aber seit gestern habe ich das erste Mal das Gefühl, dass es nicht weiter nach unten, sondern wieder in Richtung Licht geht. Ich bin mir sehr sicher, dass du der Grund dafür bist. Danke!“

Im positiven Sinn gerührt von den eigenen Worten, deren klare Wahrheit sie urplötzlich erfasste, fühlte sich die Gegenwart und Zukunft auf einmal gar nicht mehr so finster an. Ihre Last war nun ausgesprochen und geteilt. Und als Nicola erneut in Tränen ausbrach, waren es Tränen der Erlösung und Erleichterung, und so mischte sich schon ein Anflug von Lächeln in die zuvor herrschende traurige Grundstimmung.

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander im Gras, abwägend, grübelnd, weit entfernt von Euphorie, aber ein Stück des Weges war geschafft. Bei diesem Gedanken besann sich Nicola auf ihr anderes Ziel, die Etappe musste schließlich auch bewältigt werden.

„Das tat gut, nun ist es raus. Lass uns weitergehen, sonst müssen wir noch unter freiem Himmel campieren, und dafür bin ich nicht ausgerüstet. Was denkst du?“

„Mit dir zusammen? Das könnte mir durchaus gefallen. Andererseits bin ich optimistisch, dass wir es noch bis Puente la Reina schaffen werden. Alles hat seine Zeit und die letzte Stunde war gut investiert.“

Sie erhoben sich langsam, klopften ihre Kleidung aus und zwängten sich die abgelegten Rucksäcke wieder auf.

„Doch ganz schön schwer das Biest“, stöhnte sie. „Trotzdem fallen mir die Schritte jetzt leichter. Man sagt ja, das geteiltes Leid halbes Leid ist, und vielleicht trägst du jetzt etwas für mich mit.“

Sie schien zumindest eine gewisse Lockerheit wiedergefunden zu haben.

„Unseren eigentlichen Auftrag konnten wir dann übrigens gar nicht wie geplant ausführen. Die Polizei hat uns zwar nicht über alle Ermittlungsschritte informiert, aber der Typ, den wir abschieben sollten, sitzt jetzt in einem deutschen Gefängnis. Seine Betrügereien waren wohl nur die Spitze des Eisbergs und die weiteren Ermittlungen haben ergeben, dass er eine wichtige Position im Drogengeschäft hatte. Das war wohl auch der Grund, warum der andere ihm so schnell und riskant zu Hilfe geeilt ist. Der wollte wohl seinen Chef befreien.“

„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Wo lebst du denn jetzt eigentlich, ich meine, nachdem du dich von Martin getrennt hast?“

„Ich bin vorübergehend wieder zu meinen Eltern nach Neuss, wobei das natürlich auch keine Zukunft hat. Bei all dem Schlamassel muss ich mir natürlich auch noch überlegen, wie es insgesamt weitergehen soll. Im Moment kann ich mir schwer vorstellen, im Ausländeramt wieder anzufangen. Die sind zwar alle nett und hilfsbereit, aber ich glaube, dass ich das nicht mehr schaffe. Allein der Gedanke, wieder mit so gewaltbereiten Menschen zu tun zu haben, ich weiß nicht.“

„Gibt es denn andere Stellen oder Aufgaben bei der Stadt, wo du vielleicht besser aufgehoben wärst?“

„Die Entscheidung steht noch an. Ich hoffe, dass ich hier in Spanien erst mal wieder zu mir finde und dann auch den richtigen Weg für das weitere Leben einschlagen kann. Zurzeit ist das alles noch ein wildes Gedankenchaos. Ich will eigentlich nicht weglaufen, weg von Düsseldorf und weg von meinen Eltern. Andererseits sind da so viele Erinnerungen, die es mir da zukünftig schwer machen würden. Ich weiß es einfach noch nicht. Bis Ende Juli bin ich krankgeschrieben, und meine Dienststelle ist auch damit einverstanden, dass ich den Camino, also den Jakobsweg gehe. Ich hoffe einfach, dass ich in ein paar Wochen wieder fit für einen Neustart bin. Vermutlich gehen viele diesen Weg aus ähnlichen Gründen.

Auf der zweiten Etappe von Roncesvalles nach Zubiri habe ich einen Belgier getroffen, der so Mitte 40 war und auch einen kompletten Neustart vor sich hat. Er hat seinen Job verloren, fing deshalb an zu trinken und wurde dann auch noch von seiner Frau verlassen. Ich habe ihm gar nichts von mir erzählt, weil ich mich irgendwie geschämt habe. Also ich meine, dass meine Perspektive im Vergleich zu seiner noch ganz passabel ist. Da kam mir dann auch so der Gedanke, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat und jeder seinen eigenen Weg finden muss. Passend zum Pilgern, nicht wahr?“

„Ja. Und irgendwann ist der Weg dann gegangen und man hat sich mal verlaufen, Umwege gemacht, schöne Aussichten genossen, nette Menschen getroffen und wieder verlassen. Der Weg ist ein Synonym für das Leben. Voller Überraschungen, nicht wirklich kontrollierbar. Man hat seine Etappenziele und Pläne, aber vielleicht kommt alles auch ganz anders.“

„Und warum gehst du den Weg?“

„Ich kann das gar nicht so konkret beantworten. Es ist mehr ein Impuls, der sich vor einiger Zeit gemeldet und dann immer weiter entwickelt hat.“

Samuel hatte sich schon bis zu Nicolas Geschichte gefragt, was er bereit war, von sich zu erzählen. Aus unterschiedlichen Gründen entschied er sich für eine Mischversion aus Fakten und Fiktion. Im tiefsten Innern spürte er, dass er Nicola vertrauen konnte. Auf seine innere Stimme konnte er bauen, sie war sein bedeutendstes Kapital. Andererseits kannte er Nicola erst seit gestern. Und was hätte es schon gebracht, ihr all die Details von früher zu erzählen.

Also hatte er die Legende, die sich sein Vater zusammen mit seinem FBI-Freund Vince Palmer ausgedacht hatte, in Reserve, sollte Nicola zu genau wissen wollen, wie es ihn in die USA verschlagen hatte. Einstweilen begnügte er sich, seine aktuelle Lebenssituation zu schildern: „Ich bin jetzt 31 und sollte mir langsam klar werden, was mir wirklich wichtig ist. Manchmal kommt es mir so vor, als lebte ich nur in Extremen. Mal vom Schicksal verwöhnt, mal verhöhnt. Wenn ich es auf einen einfachen Nenner bringen müsste, habe ich in der Schule, im Studium und Beruf immer viel Glück gehabt. In Sachen Familie lief es hingegen nie so rund, und dadurch bedingt tue ich mich schwer, mich auf andere Menschen, speziell auf eine feste Partnerin einzulassen.

Der Gesamtzusammenhang ist mir schon klar, trotzdem finde ich einfach keinen richtigen Weg aus dem Durcheinander. Es ist zwar anders als bei dir, in mancher Hinsicht aber auch ähnlich.“

„Du findest keine Partnerin? Es fällt mir schwer, das zu glauben. Was ist denn bloß in deiner Familie so Schlimmes passiert?“

„Ach, das ist eine lange und komplizierte Geschichte.“

„Wir haben alle Zeit der Welt, und der Anstieg zum Alto del Perdón ist noch weit. Ich würde deine Geschichte sehr gerne hören, damit ich dich besser verstehen kann.“