Richard Wood - Johanna Schopenhauer - E-Book

Richard Wood E-Book

Johanna Schopenhauer

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Beschreibung

Richard Wood ist der Sohn eines unbemittelten Strumpffabrikanten zu Nottingham. Schon in einem Alter von acht Jahren wird er nach Russland gebracht zu dem Fürsten Andreas, der ihn, um seinen Kindern das Erlernen des Englischen zu erleichtern, mit diesen gemeinschaftlich erziehen läßt. Die freundlichste Aufnahme und Behandlung, welche der Knabe in der fürstlichen Familie findet, und die vortrefflichen Eigenschaften seines Herzens und Geistes machen ihn bald in den neuen Verhältnissen heimisch und glücklich; die Erinnerung an seine eigene Familie verdunkelt sich in demselben Grade, als er immer mehr und mehr ein Glied der fremden wird; und indem er vergißt, welche Bestimmung ihm seine Geburt gegeben hatte, wird er unvermerkt auf den Standpunkt seiner fürstlichen Freunde erhoben ...

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Richard Wood

Johanna Schopenhauer

Inhalt:

Johanna Schopenhauer – Biografie und Bibliografie

Richard Wood

Erster Theil

Zweiter Theil

Richard Wood, J. Schopenhauer

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN: 9783849635664

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Johanna Schopenhauer – Biografie und Bibliografie

Romanschriftstellerin, geb. 9. Juli 1766 in Danzig, gest. 16. April 1838 in Jena, Tochter des Senators Trosiener, wurde früh an den 20 Jahre älteren Bankier S. verheiratet und unternahm mit ihm mehrere Reisen durch einen großen Teil Europas. Nach dem Tode ihres Gemahls wandte sie sich 1806 nach Weimar, wo sich bald ein geselliger Kreis um sie bildete, in dem auch Goethe vielfach verkehrte. Durch Fernow, dessen Leben sie beschrieb, wurde ihr Interesse auf kunstgeschichtliche Studien hingelenkt. Ihr Verhältnis zu ihrem berühmten Sohne gestaltete sich durch ihre eigne Schuld sehr unerfreulich und endigte mit einem vollständigen Bruch. Von 1832–37 lebte sie in Bonn, dann in Jena. Sie lieferte Reisebeschreibungen, Romane und Charakteristiken, die durch seine Beobachtung und anziehende Darstellung den Beifall der Lesewelt fanden. Ihre »Sämtlichen Schriften« erschienen in 24 Bänden (Leipz. u. Frankf. 1830–31), ihr literarischer Nachlaß u. d. T.: »Jugendleben und Wanderbilder« (Braunschw. 1839, 2 Bde.; neu hrsg. von Cosack, Danz. 1884). Vgl. Düntzer, Goethes erste Beziehungen zu Johanna S. (im 1. Bd. der »Abhandlungen zu Goethes Leben«, Leipz. 1885); Laura Frost, Johanna S. (Berl. 1905). – Ihre Tochter Adele S., geb. 2. Juni 1797 in Hamburg, gest. 25. Aug. 1849 in Bonn, erwies sich in »Haus-, Wald- und Feldmärchen« (Leipz. 1844) und in den Romanen »Anna« (das. 1845), »Eine dänische Geschichte« (Braunschw. 1848) als gewandte Erzählerin.

Richard Wood

Erster Theil

Der Winter war, gegen Ende des Märzmonats, nach kurzem Scheiden, mit verdoppeltem Inngrimm wiedergekehrt; gewaltige Eiszapfen schwebten von allen Dächern herab, und flimmerten im klaren kalten Mondenlicht, kristallnen Girandolen vergleichbar. Der alles überkleidende Schnee blitzte, wie mit Diamanten übersäet, unter dem knisternden Fußtritt einzelner Wanderer, die, Pelz, Bart und Haar mit Reif bepudert, ihrer Wohnung zueilten. Öde und vereinsamt lagen Moskaus sonst so lebensreiche Straßen wie ausgestorben da, denn Menschen und Thiere drängten, von grimmiger Kälte getrieben, im Innern der Gebäude, zwischen den wärmenden vier Wänden sich zusammen, die Keiner verließ, den Nothwendigkeit nicht hinaustrieb.

In der Vorhalle der großen, aus der Asche wieder aufgestiegenen Kaserne, welche zur Militairschule gehört, standen indessen dennoch zwei junge Männer, ohne die große Kälte anscheinend zu bemerken, in eifrigem Gespräch lange bei einander. Der eine derselben, vom Kopfe bis zum Fuß in reiche Pelze gehüllt, vermochte zwar wohl der rauhen Winterluft Trotz zu bieten, doch nicht so der Andere, eine jugendlich zarte schlanke Gestalt, in der leichten Uniform der Lanzenreiter vom Bug; und doch war es gerade dieser, der, als ob er die Kälte gar nicht empfände, seinen wohl bepelzten Freund festhielt, und immer wieder – und immer fester an die Brust drückte.

Nun, so gehe denn, weil es nicht anders sein kann! sprach er endlich, indem er sich nicht ohne Anstrengung zusammennahm: mein Freund, mein Bruder, mein Eugen! gehe zurück zu den Deinen, zurück zum Palast Deines Vaters! gehe, aber verlaß mich nicht ganz. Reiche mir zuweilen die Freundeshand über die Kluft hin, welche der heutige Abend zwischen uns öffnet, – damit ich nicht ganz verstoßen mich fühle! setzte er, unwillkürlich sehr weich werdend, hinzu; und wandte unmuthig sich ab, vielleicht um eine aufsteigende Thräne in seinem Auge zu verbergen.

Eugen trat ein Paar Schritte zurück und sah ernst und forschend ihm ins Gesicht. Du bist krank! rief er, gewiß Richard, Du bist wieder krank, denn mit gesunden fünf Sinnen kannst Du auf solche ganz absurde Gedanken nicht verfallen. Nun, so steige nur gleich in den Schlitten, und fahre mit mir wieder nach Hause; ich will es bei Deinem Rittmeister schon verantworten.

Mein Gemüth, meine Seele sind voll trüber Gedanken und Trennungsweh', doch körperlich krank bin ich nicht: erwiederte Richard, wehmüthig lächelnd.

Ob Du wunderlich bist! rief Eugen; warum geberdest Du Dich denn so? spricht der Mensch nicht von Kluft! von Verlassensein! von lauter Jammer und Noth, als ob Gott weiß was für ein großes Unheil über ihn hereingebrochen wäre! Kannst Du denn wirklich befürchten, weil Du in der Kaserne jetzt wohnst und nicht mehr bei uns, würde Dir es an irgend etwas mangeln? recht wie ein Muttersöhnchen, das von Mama weg auf die Hochschule soll, und nun meint es wäre aus mit allem irdischen Glück.

Für solch ein Jammerbild wirst Du mich doch nicht halten, rief Richard bitter lächelnd.

Freilich nicht, erwiederte ebenfalls lachend Eugen, aber, nimm's nicht übel, seit einer Stunde ist dieses das erste vernünftige Wort, das ich von Dir höre. Soll ich Dich abermals daran erinnern, daß Keiner dieser Prüfungszeit, die Du jetzt antrittst, beim Anfange seiner militairischen Carrière sich entziehen kann? und auch daß es Mittel giebt, sie in gewissen Fällen sehr abzukürzen? Du kennst meinen Vater, an seiner herzlichen Liebe zu Dir kannst Du nicht zweifeln, also – fasse Muth, sei vernünftig und hoffe das Beste.

Ein schwerer Seufzer, der hörbar den tiefsten Tiefen seiner Brust sich entwand, war Richards Antwort. Eugen sah zweifelnd ihn an, und blieb still und gedankenvoll vor ihm stehen.

Richard, sprach er nach kurzem Schweigen sehr sanft, beinahe verlegen, es muß heraus, was ich auf dem Herzen habe; bereuest Du gerade diese Bahn zu Deinem ferneren Fortkommen Dir erwählt zu haben? Ist dem so, wie eine leise Ahnung in meiner Seele behaupten will? Warum solltest Du Dich scheuen, es Deinem Freunde schnell und offen zu gestehen. Es war Deine eigne Wahl, Niemand hat versucht sie leiten zu wollen. Aber in der Ferne sehen die Dinge anders aus als in der Nähe, und man mißversteht oft sich selbst und das eigne Herz.

Nein, nein, und Tausendmal nein! rief Richard mit großer Heftigkeit; ich bin kein wankelmüthiger Knabe, kein schwankendes Rohr. Ich habe alles wohl durchdacht, geprüft, überlegt, als ich den einzigen Weg einschlug, der mir, dem Namenlosen, dem Armen, eine entfernte Möglichkeit bot, ihn dem hohen Fürstenhause einigermaßen zu nähern, dem Du, dem die Deinen angehören, zu dem auch ich einst durch meine seltsame Stellung verleitet – –. Ach! laß jene qualvollen Tage mich vergessen! Laß mich hoffen, Zeit und Glück werden mir günstig sein. Und wahrlich, fuhr er, sich plötzlich hochaufrichtend, mit warmer Begeisterung fort: wahrlich, stellt sich mir die Gelegenheit, stellt sie sich mir, in welcher Gestalt es sei, ich werde nicht schwachmüthig sie mir entschlüpfen lassen. Bei der Stirnlocke will ich die Flüchtige schon zu fassen und zu halten wissen. Ich erreiche das Ziel, das ich mir gesetzt, oder gehe unter im Streben danach.

Bravo! bravo! so ist es Recht, so gefällst Du mir; erwiederte Eugen und schüttelte ihm kräftig die Hand. In kurzen flüchtigen Worten ermahnte er ihn nochmals, so guten Muthes zu beharren; erinnerte, daß er Morgen zur Mittagstafel erwartet werde, um selbst zu berichten wie seine neue Wohnung ihm gefalle, und daß Helene fest darauf rechne, noch vorher die gewohnte musikalische Übungsstunde mit ihm zu halten. Dann warf Eugen sich in den schon längst seiner harrenden Schlitten, und jagte wie auf Sturmesflügeln davon.

Richard starrte in die kalte schweigsame Mondnacht hinein, bis seinem Auge die flüchtige Freundesgestalt entschwunden, und auch der letzte Ton des silbernen Schellengeläutes verhallt war. Dann wandte er sich, und stieg langsam die zu seinem Zimmer führende Treppe hinan.

Auf alles, was in demselben zu seiner Bequemlichkeit beitragen konnte, war mit liebender Sorgfalt Rücksicht genommen. Zwischen Schlaf und Wachen harrte im Vorsaal der alte Paul seiner Befehle, ein treuer Diener, der schon seiner Kindheit gepflegt hatte, und ihm jetzt zur Bedienung zugegeben worden war. Vom großen Ofen ging eine überall gleichverbreitete wohlthätige Wärme aus, wohlverwahrte Doppelfenster hielten das Eindringen der rauhen Winterluft ab, und ein dicker Teppich deckte den Fußboden. Auch fehlte es weder an einem mit seinen Lieblingsschriftstellern wohl besetzten Bücherschranke, noch an einem bequemen Schreibtische.

Richard wollte der thätigen Theilnahme sich freuen, mit der hier für ihn, den dunkeln Fremdling, gesorgt worden war; aber das sonst so warme, jedem frohen Gefühl offne Herz lag für jetzt wie todt und erstarrt ihm in der Brust. Mit einer gewissen Ängstlichkeit suchte er nach irgend etwas, das ihn lebhaft genug anregen könne, um die innere Trostlosigkeit zu bekämpfen, die immer mächtiger werdend, sich seiner ganz zu bemeistern drohte; da fiel in einer etwas dunkeln Ecke des Zimmers eine schön gearbeitete Schatulle ihm auf, die er bis dahin übersehen, und zugleich erinnerte er sich eines Schlüssels, den Eugen, ehe er von ihm ging, ihm übergeben und zu sichrer Aufbewahrung anempfohlen hatte.

Unbeschreiblich freudig überrascht, erkannte er in dem zierlichen Behältniß ein sonst hochgehaltenes Eigenthum der Fürstin Eudoxia, der Mutter Eugens. Es war das Meisterstück eines jungen Ebenisten, der unter dem Schutze ihres Gemahls sich kürzlich in Moskau niedergelassen hatte; ein Kästchen von Ebenholz, mit einem gleich Diamanten blitzenden stählernen Netze überzogen. Aus jedem der hellpolirten Stahlplättchen leuchtete, wie aus so vielen freundlichen Augen, ein Strahl jener sonnenhellen Tage seiner Jugendzeit ihm entgegen, die er in banger Vorahnung mit dem heutigen geschlossen gewähnt, und eine Thräne der reinsten gefühltesten Freude umdunkelte sein Auge, als er vor dem Inhalte des Kästchens stand, beinahe laut aufjauchzend, wie ein glückliches Kind vor der unerwartet reichen Weihnachtsbescheerung.

Im kleinen Raum lag hier seine ganze glückliche Knaben- und Jünglingszeit ausgebreitet vor ihm; von den mit mühseliger Künstlichkeit aus Rennthierknochen geschnitzten Figürchen der Lappländer an, die er einst als vortreffliche Meisterstücke bewundert hatte, bis zu den glänzenden Terzerolen des Fürsten Alexis, Eugens älterem Bruder, zu denen er oft in kindischer Sehnsucht seufzend hinaufgeblickt, und dem prächtigen, mit Rubinen und Smaragden besetzten Türkendolch, sonst Eugens liebstes Eigenthum, das ohne seine Erlaubniß Niemand zu berühren, kaum anzublicken wagte. Dicht daneben kauerten auch die kleinen glattköpfigen Chinesen von Speckstein in einer Ecke beisammen, die viele Jahre lang auf einem Ecktischchen im Zimmer der Fürstin Eudoxia ihren Platz gehabt hatten, und wurden von ihm als kleine stumme Gesellen seiner glücklichsten Stunden mit einer Art von Rührung begrüßt. Denn nur wenn er ganz ausgezeichnet folgsam und fleißig gewesen war, wurde es ihm erlaubt, zu den Füßen seiner hohen Pflegemutter damit zu spielen.

Nichts von Allem fehlte, was in früher Jugend ihm besonders werth oder bedeutend erschienen. Da war die eigne Uhr des väterlichen Beschützers seiner Kindheit, des Fürsten Andreas; wie oft hatte dieser sie geöffnet, um dem auf seinem Knie sich schaukelnden Knaben das feine innere Räderwerk derselben bewundern zu lassen! Auch das einfache Taschenbuch, das er täglich in dessen Händen gesehen; Richard war in diesem Augenblicke zu bewegt, um den reichen Inhalt desselben zu bemerken. Da war auch noch eine kunstreiche Stickerei von den eignen Händen der Fürstin Eudoxia, eine von der Fürstin Natalie, der ältesten Tochter jenes edlen Paares, gezeichnete Landschaft, ein silberner Becher vom Fürsten Konstantin, ihrem verlobten Bräutigam; Richard hatte einst bei diesem den Becher gesehen, und die schöne getriebene Arbeit daran bewundert.

Sogar keines der entfernteren Mitglieder der Familie hatte sich davon ausgeschlossen, ihn, der so lange in ihrer Mitte gelebt hatte, durch ein Andenken an vergangne Tage zu erfreuen. Der Tisch war bald mit einer Menge jener eben so zierlichen, als größtentheils unbrauchbaren kleinen Geräthschaften aus Bronze und Vermeille bedeckt; glänzendes Spielzeug für große Kinder, das die Mode überall, besonders aber in Rußland eingeführt hat. Denn ungeachtet der unglaublichen Fortschritte, die dieses, die erste Grenze höherer Kultur erst vor kurzem überschritten habende Volk während des Laufes der letzten hundert Jahre gemacht hat, neigt sein Geschmack sich noch immer mit einer Art kindlicher Naivität dem zu, was die alten Griechen barbarisch zu nennen pflegten.

So suchen nur Eltern ihren Sohn, Geschwister ihren Bruder, über eine nothwendig gewordene Entfernung aus dem väterlichen Hause zu trösten und zugleich ihr Andenken in ihm lebendig zu erhalten: rief es laut in seinem Herzen. Seit über seine wahre Lage ihm die Augen aufgegangen waren, konnte er es sich leider nicht mehr verhehlen, daß er ein Fremdling unter Fremden aufgewachsen sei; doch diese traurige Wahrheit drückte ihn nicht mehr zu Boden; er hatte die Überzeugung gewonnen, geliebt zu sein, und diese erhob ihn wieder; sie tröstete ihn über Alles, was er früher entbehrt hatte, ohne es zu empfinden.

Ungeachtet der vor ihm ausgebreiteten Reichthümer schien Richard aber doch noch etwas zu vermissen; er suchte und suchte mit steigender Ängstlichkeit, bis er endlich auf dem Grunde der Schatulle ein ziemlich zerlesenes Büchelchen fand, eine englische Taschenausgabe des Vicar of Wakefield, und in demselben als Buchzeichen ein Stückchen blaues Silberband. Alles übrige war nun vor seinen Augen verschwunden; die auf dem Tische ausgebreiteten Herrlichkeiten mochten liegen bleiben wie sie lagen, er warf mit seinem Funde sich in den nächsten Sessel, und schien eifrig die unscheinbaren Blätter zu studiren. Ob er wirklich darin las? wer mag das sagen.

Nun, Bruderherz, spielst Du auch hier noch immer den Gelehrten? rief eine tiefe sonore Stimme neben ihm, und ein leichter Schlag auf die Achsel begleitete die Frage. Richard blickte auf; Iwan Yakuchin, Unteroffizier des Regiments, zu welchem auch er von heute an gehörte, stand vor ihm, ein ihm sehr lieber, wenn gleich nicht alter Bekannter; denn Iwan war erst seit wenigen Monaten aus dem südlichern Rußland nach Moskau gekommen.

Er war an Leib und Seele ein roher Diamant, dieser Iwan; ein treues, tapfres, redliches Gemüth, dessen seltnen Werth Richard auf den ersten Blick erkannt hatte; obgleich er weit davon entfernt war, ihn seinem weit höher gebildeten Freunde Eugen gleichzustellen, dessen ganzes Wesen durch die zartesten, innigsten Bande dem Seinigen auf das unzertrennlichste verzweigt war. Iwan aber hatte mit seinem heißen, liebebedürfenden, durch die erste Trennung vom väterlichen Heerde schmerzlich verletzten Herzen, sich an die Brust des Jünglings geworfen, dessen milde edle Erscheinung ihn unwiderstehlich anzog; er war nicht gewohnt, das was in seinem Gemüthe vorging, bis auf gelegenere Zeit weltklug zu verbergen, und Richard war eben so wenig dazu geeignet, eine ihm entgegenstrebende Neigung hart und kalt von sich abzuweisen.

Nicht nur als Kamerad, auch als Nachbar komme ich in dieser späten Stunde Dich zu begrüßen; denn wenn gleich weite Hallen, lange Korridors und einige Höfe zwischen uns liegen, so wohnen wir doch eigentlich unter einem Dach, sprach Iwan und schüttelte treuherzig dem Freunde die Hand. Was bin ich froh, Dich der parfümirten, vornehmen Atmosphäre endlich entronnen zu sehen, in welcher ein geheimes Etwas unser Einem, mir wenigstens, immer den Athem versetzt! fuhr er fort. Jetzt erst, Herzensbrüderchen, wirst Du recht aufleben, wenn Du fühlst und einsiehst, was es sagen will, sich selbst angehören, sich nach eigner Willkür regen und bewegen, frei von den tausend Banden, mit welchen jene Kneesen, Fürsten, oder wie man sie nennen will ...

Vater und Mutter, Brüder und Schwestern, sind, die Du meinst, mir gewesen; sie sind es mir noch, und werden es bleiben, und ich will auf keine Weise sie schelten hören: fiel Richard heftig mit zornblitzenden Augen ihm ein. Und wenn ich sie nie wiedersähe, und wenn sie ihre Hand ganz von mir abzögen, sie bleiben das Kleinod meines Herzens, an dem ich hänge, fester als am eigenen Leben. Habe ich nicht, außer diesem, ihnen alles zu verdanken? und ich will sie nicht verunglimpfen hören, nicht durch den Schatten eines sie herabsetzenden Gedankens.

Nun nun! nun nun! erwiederte Iwan sehr gutmüthig, ereifre Dich nicht, ich meine es ja nicht böse. Ich will mich ja gern fügen, wenn man mir nur das Verständniß öffnet. Ich kenne ja nichts, bin hier noch nagelneu, weiß noch von gar nichts; nicht einmal wer Du eigentlich bist. Als ich auf der Reitbahn zum erstenmale Dich sah, hätte ich Dich beinahe auch für so ein Fürstenkind gehalten. Und vielleicht bist Du es auch, denn hier sieht es doch gewaltig fürstlich aus! rief er plötzlich, indem er jetzt erst den mit glänzenden Geschenken bedeckten Tisch gewahr wurde. Was für Reichthümer! Hilf Gott, dergleichen kommt mir nicht einmal im Traume vor.

Richard, in der noch nicht verklungenen Freude seines Herzens, und zugleich froh dem Gespräch dadurch eine andre Wendung geben zu können, beeiferte sich seinem Freunde mit der größten Gefälligkeit jedes Stück einzeln zu zeigen, und ihm den Gebrauch von manchem derselben zu erklären. Denn der gute Iwan war ein ebenso großer Neuling in Hinsicht dessen, was die elegante Welt unentbehrlich nennt, als des Lebens in und mit ihr. Zugleich nannte Richard bei jedem der Geschenke ihm den Namen des Gebers, und suchte bei einigen derselben ihm begreiflich zu machen, durch welche Nebenbedeutung diese einen unschätzbaren Werth für ihn erhielten. Iwan sah und hörte alles mit der größten Aufmerksamkeit an: Brave Leute, gute Leute, vornehm aber gut, murmelte er dabei in abgebrochnen Sätzen vor sich hin; ja wohl Eltern und Brüder für Dich, mußt sie ehren und lieben, Du kannst nicht anders. Nachdem Iwan alles sattsam betrachtet und bewundert hatte, ausgenommen den Vicar of Wakefield, der ihm nicht gezeigt worden war, und dem er auch wohl kein Interesse abgewonnen hätte, setzten beide Freunde in immer traulicher werdendem Gespräch sich zu einander hin. Iwan erzählte von seinen früheren Verhältnissen; von seinem alten Vater, einem wackern Landmanne am Fuße des Kaukasus, von seiner fleißigen, noch im höheren Alter im Haushalte rührigen Mutter; von seinen vielen Schwestern und Brüdern, sogar von seinen vielen Hunden, die er alle hatte daheim lassen müssen, und nur einen mitnehmen dürfen. Er war so jung, so einfach auferzogen, hatte so weniges erlebt, daß ihm alles bedeutend erschien. Auch Richarden ging, in der Stille der Nacht, das ohnehin sehr bewegte Herz auf; auch er ergoß sich in offnem Vertrauen gegen seinen Freund; und als Iwan zu später Nachtzeit ihn verließ, konnte er nicht mehr darüber klagen, daß er nicht wisse, wer Richard eigentlich sei.

Sally! mach' endlich Feierabend: setz' Dich zu mir, und lass' uns unser Butterbrod und unsern Krug Porter gemüthlich mit einander verzehren, ich habe viel Neues Dir mitzutheilen, und mich über mancherlei mit Dir zu berathen.

So ungefähr hatte zwölf oder dreizehn Jahre vor jenem Abende in dem kleinen englischen Fabrikstädtchen Nottingham, Master Wood, ein guter ehrlicher Strumpf-Fabrikant, seiner noch in ihrem Haushalt beschäftigten Ehefrau zugerufen.

Ohne diesen letzten Zusatz hätte Mißtreß Wood ihren lieben Herrn und Gebieter wohl noch ein halbes Stündchen warten lassen. Zwar waren die Kinder schon zu Bette gebracht, die Taubenpastete für den morgenden Sabbath, dieses größte Festtagsgericht der englischen Kleinbürger, war bis zum Abbacken fertig, die Rhabarber-Torte ebenfalls, die Keine so trefflich zu bereiten wußte als sie: es war jedoch Sonnabend, am folgenden Tage wurden einige Gäste aus der Nachbarschaft erwartet, und die ordnungsliebende Hausfrau hätte gar zu gern vor Schlafengehen noch dieses und jenes besorgt.

Aber Master Wood hatte ihr Neues zu erzählen, und verlangte obendrein ihren Rath, ein Fall der sich nicht oft ereignete; was in aller Welt konnte das bedeuten! dieser Gedanke besiegte jede ihrer Bedenklichkeiten. In aller Geschwindigkeit warf sie noch eine Hand voll Cayenne-Pfeffer in die Pastete, band ihre Küchenschürze ab, rückte vor dem Spiegel ihre Haube zurecht, und saß nach zwei Minuten mit dem allerfreundlichsten erwartungsvollsten Gesicht neben ihrem Mann, an dem bereits gedeckten Abendtisch.

Beide befanden sich in jener heitern zufriednen Stimmung, wie sie der in England dem stillen Genusse häuslichen Wohlbefindens besonders geweihte Samstagabend erfordert, dieser freundliche Vorläufer des ernsteren, halb dem Gottesdienst, halb der Langenweile gewidmeten Sonntags. Master Wood hatte, wie der pünktliche Geschäftsmann an diesem Tage immer that, seinen Arbeitern ihren Lohn ausgezahlt, seine Wochenrechnungen abgeschlossen, und war mit dem Ertrage derselben zufrieden. Mißtreß Wood freute sich auf die einer arbeitsvollen Woche folgende Sonntagsruhe, auf den morgen zu erwartenden Besuch ihrer Verwandten, auf das neue Bonnet, mit welchem sie in der Kirche zu erscheinen gedachte. Mann und Frau waren gute, redliche, fleißige Leute, denen es, bei ziemlich beschränkten Mitteln, nicht leicht wurde, sich und ihre vierzehn Kinder anständig und ehrlich durch die Welt zu bringen, von denen das älteste achtzehn, das jüngste anderthalb Jahre alt war.

Solche zahlreiche Familien sind indessen in Großbritannien, besonders beim Mittelstande, nichts Ungewöhnliches; und das Ehepaar war mit seiner Lage ganz zufrieden. Der Hausvater hätte freilich gern, durch einige Vermehrung seines Kapitals, seinem Geschäft eine größere Ausdehnung gegeben; war aber doch herzlich froh, wenn bei möglichstem Fleiß von seiner, bei möglichster Sparsamkeit von seiner Frau Seite, es am Ende des Jahres ihm gelang, beide Enden zusammenzubringen, wie er es nannte; das heißt, wenn seine Ausgaben seine Einnahme nicht überstiegen. War er aber vollends so glücklich gewesen eine kleine Summe erübrigt zu haben, die er zu seinem Kapital schlagen konnte, so hätte er in dem Augenblicke gewiß nicht mit dem Lord Mayor von London getauscht.

Nach Beendigung des frugalen Mahles zog Master Wood, mit einiger Umständlichkeit, einen dicken Brief hervor, und machte Anstalt ihn seiner Frau vorzulesen; denn kein Engländer wird während der Mahlzeit von Geschäften sprechen; auch hatte Mißtreß Wood äußerlich ganz gelassen, wenn gleich vor innerer Ungeduld brennend, diesen Zeitpunkt abgewartet. Das Schreiben war von einem bedeutenden Correspondenten ihres Mannes, dem reichen und angesehenen Strumpfhändler Smith in London und der Anfang desselben kam der guten Frau zwar ganz angenehm, aber keinesweges besonders merkwürdig oder interessant vor. Es enthielt einige Bestellungen im Fache ihres Gatten, deren Ausführung freilich einen ziemlich bedeutenden Vortheil abzuwerfen versprach.

Jetzt, Sally, gieb Acht, nun kommt das Beste, rief Master Wood, indem er das Blatt umschlug, und zugleich seine Frau bemerken ließ, wie bis dahin der Brief von dem Handlungsdiener seines geehrten Gönners und Freundes, der nun folgende Zusatz aber von ihm selbst eigenhändig geschrieben sei; dann las er:

»Seit unsrer ersten kommerziellen Verbindung, werther Sir, besonders aber seit ich Sie und Ihre Familie persönlich kennen lernte und von Ihnen eingeladen wurde, bei einem Ihrer Söhne Pathenstelle zu vertreten, habe ich mir immer gewünscht, durch mehr als bloße Worte mein aufrichtiges Wohlwollen und meine Theilnahme Ihnen zu beweisen, und die Gelegenheit dazu hat sich gestern ganz unerwartet gefunden.

Sir John Murray, mein sehr ehrenwerther Freund, dessen großes Übergewicht an der Londoner Börse Ihnen gewiß nicht unbekannt ist, und mit dem ich zuweilen von Ihnen und der zahlreichen Familie gesprochen, mit welcher es dem Herrn gefallen Sie zu segnen, hat mir, in Hinsicht auf Sie, einen Vorschlag gethan, der mir zu annehmbar scheint, als daß man vernünftiger Weise nicht darauf eingehen dürfe.

Ein sehr vornehmer russischer Großer, ungefähr das, was man in unserm Lande einen Lord und Pair des Reiches nennen würde, hat durch den berühmten Banquier Groß in St. Petersburg an unsern Sir John den Auftrag ergehen lassen, ihm einen acht bis zehnjährigen englischen Knaben, von guter ehrbarer Familie, herüberzuschicken, den er mit seinen eigenen, ungefähr im nämlichen Alter stehenden Kindern erziehen lassen will, damit diese, gleichsam spielend, auf leichte Weise von ihm englisch reden lernen. Denn Sie müssen wissen, werther Sir, unsre Sprache wird auf dem Kontinente, besonders aber in Rußland, mit jedem Jahre beliebter, und es ist dort in großen Häusern gebräuchlich, junge Ausländer, besonders englische oder deutsche Knaben, zu dem nämlichen Zwecke in ihren Familien aufzunehmen.

Sir John, dem meine Vorliebe für Sie und die Ihrigen nicht unbekannt ist, kam gleich nachdem er diesen Auftrag erhalten zu mir, um sich zu erkundigen, ob einer Ihrer Söhne sich vielleicht zur Erfüllung desselben eignen möchte, fügte aber hinzu, daß kein langes Bedenken hier statt finden könne, sondern im Gegentheil der Entschluß gleich auf der Stelle gefaßt werden müsse. Die schon weit vorgerückte Jahreszeit möchte einer so bedeutenden Seereise nicht lange mehr günstig genug bleiben, um sie mit vollkommner Ruhe und Sicherheit unternehmen zu können; überdem liegt das nach Petersburg bestimmte gute Schiff, der Delphin, in diesem Augenblicke segelfertig auf der Themse, dessen Kapitain, der mir und Sir John wohlbekannte Simon Hill, ganz der Mann dazu ist, das Kind unterwegs wohl zu verpflegen, und ungefährdet an Ort und Stelle zu bringen.

Vor Allem bitte ich Sie, werther Freund, bei diesem Vorschlage, auch nicht auf die allerentfernteste Weise, an entehrende Dienstbarkeit zu denken. Ihr Sohn wird gewiß nicht den jungen russischen Lords zur Aufwartung beigegeben; er soll weder ihr Tiger, wie unsre Dandys das nennen, noch ihr Jokey werden, sondern, in allen Stücken ihnen gleich gehalten, alle Vortheile einer liberalen Erziehung mit ihnen zugleich genießen, wie nur sehr reiche und vornehme Eltern sie ihren Kindern zu gewähren vermögen. Hat er dereinst das dazu gehörige Alter erreicht, so kann er fest darauf rechnen, im dortigen Lande durch die edle Familie, in welcher er aufgewachsen, eine anständige, seinen Wünschen und Talenten angemessene Versorgung zu erhalten, oder für seine Zukunft wohl ausgestattet, in sein Vaterland zurück gesandt zu werden wenn er, als ächter Britte, dieses vorziehen sollte.

Die einleuchtend großen Vortheile dieses Anerbietens können Ihrem guten soliden Verstande unmöglich entgehen. Nicht nur daß Sie dadurch den mit jedem Jahre zunehmenden Ausgaben für die Erziehung eines ihrer Söhne überhoben werden; was bei einer so zahlreichen Familie keinesweges unbedeutend ist; ihr Sohn gewinnt dadurch auch eine Aussicht für sein ferneres Fortkommen in der Welt, wie Sie ihm solche, auf dem gewöhnlichen Wege, schwerlich gewähren könnten.

Daher schmeichle ich mir mit der Hoffnung in Ihrem Sinne gehandelt zu haben, indem ich auf das Anerbieten Sir Johns, der auf augenblickliche Entscheidung drang, in Ihrem Namen eingegangen bin, und alles Weitere mit ihm verabredet und festgestellt habe.

Da mir wohlbekannt ist, wie sehr jede Entfernung von Hause durch Ihre Geschäfte Ihnen erschwert wird, so soll mein Ihnen wohlbekannter Handlungsdiener, James Cox, nächste Mittwoch mit der Mailkutsche bei Ihnen eintreffen, um meinen Pathen Richard abzuholen, und zu mir nach London zu bringen. Er steht gerade in dem gewünschten Alter von circa acht Jahren, und möchte vermöge seiner hübschen Gestalt, seines aufgeweckten Wesens, und seiner übrigen guten Anlagen, für unsern Plan am besten sich eignen. Für die Garderobe des kleinen Reisenden werde ich Sorge tragen; ich werde mit allem, was er für die Reise nöthig haben wird, ihn versehen. Ist er einmal am Orte seiner Bestimmung angelangt, so muß er ohnehin nach dortigem Landesgebrauche gekleidet werden. 

Ungeachtet der in die Augen springenden großen Vortheile, welche die Annahme meines Vorschlags Ihnen gewähren muß, versichre ich Sie dennoch, werther Freund, daß ich dieselbe als einen, mir persönlich gewährten Beweis Ihres Vertrauens und Ihrer Achtung ansehen und zu schätzen wissen werde. Zum Zeichen dieser meiner guten Gesinnung erbiete ich mich jetzt aus eignem Antriebe, Ihnen einen Kredit auf die volle Summe auszustellen, deren Sie, wie Sie bei unsrer letzten Zusammenkunft äußerten, bedürfen würden, um Ihrem Geschäft eine größere Ausdehnung zu geben, und durch Erwerbung eines bedeutenden Vermögens zu Ehren und Ansehen gelangend, es binnen kurzem Ihrem hochmüthigen Nachbar Bird wenigstens gleich zu thun. Auch Sir John beauftraget mich Ihnen zu melden, daß er von nun an sich gern bereitwillig zeigen werde, Ihnen bei vorkommenden Gelegenheiten nützlich und hülfreich zu sein.

Das Nähere hierüber mögen Sie vorläufig mit unserm James Cox besprechen, der nicht ermangeln wird, sich nächste Mittwoch mit der Mailkutsche bei Ihnen einzustellen. Sollten Sie aber, freilich ganz gegen mein Erwarten, für gut finden, meine für Sie gethanen Schritte zu mißbilligen, und mein und Sir Johns Anerbieten von sich abzuweisen, so ist es nothwendig, daß Sie in der nämlichen Stunde, in welcher Sie dieses Schreiben erhalten, eine Staffette mit Ihrer abschlägigen Antwort an mich abfertigen; der nächste Tag wäre dazu schon zu spät. Auch kann ich nicht umhin Ihnen offen zu gestehen, daß von Ihrer Seite ein solches Verkennen meines guten Willens mir höchst empfindlich und unangenehm wäre, und obendrein mich, von Seiten Sir Johns, mancherlei Verdrießlichkeiten aussetzen würde.«

Das freundliche Gesicht, mit welchem Mißtreß Wood anfangs zuhörte, wurde immer länger und länger, je weiter Herr Wood las; die arme Frau wurde feuerroth, dann blaß, dann todtenbleich, und saß zuletzt an allen Gliedern zitternd, unfähig ein Wort aufzubringen, wie versteinert da.

Nun, Sally, Liebste, was sagst Du dazu? fragte Master Wood, als er mit dem Briefe fertig war. Sally erwiederte keine Sylbe. Nun? fragte er nochmals und bückte sich, um in das abgewendete Gesicht ihr zu sehen. Sally sprang auf, trocknete mit konvulsivischer Hast die in Thränen schwimmenden Augen, und sah nach der Uhr.

Noch nicht eilf Uhr, Gottlob! sprach sie mit seltsam bedrücktem Ton: im Posthause sind sie noch wach, auch Jemmy kann noch nicht zu Bette sein; ich rufe ihn während Du schreibst, und wäre er schon eingeschlafen, so laufe ich selbst mit unsrer Magd die Paar Schritte hinüber. Schreib nur geschwind, guter Mann; um Nein zu sagen, brauchts nicht vieler Worte. Damit wollte sie zur Thüre hinaus.

Mißtreß Wood! Sally! wo willst Du hin? rief der erschrockne Gatte.

Ich sagte es ja schon, war die entschlossene Antwort: zur Post will ich, das Pferd, die Stafette bestellen; es ist die höchste Zeit, wir haben keinen Augenblick zu verlieren, die Stafette muß gleich fort, mit Sonnenaufgang wäre es schon zu spät; so steht es ja in dem unglücklichen Briefe.

Aber Mißtreß Wood, aber Sally, aber theures Weib, aber so überlege, so bedenke doch nur! stotterte Master Wood in großer Angst, hielt aber doch die sich heftig sträubende Frau von der Thüre entfernt.

Bedenken? rief sie: giebt es da noch etwas zu bedenken? Ihre weit geöffneten Augen wurden vor Schrecken starr, wie die einer Leiche, indem sie ihm jetzt ins Gesicht sah; heftig schlug sie die Hände über ihrem Haupte zusammen. Wood! Mann! Vater! rief sie völlig außer sich: wie! wäre es möglich? Du wolltest? Du könntest über das Herz es bringen? meinen Richard! meinen süßen Liebling, meinen armen Knaben, weit weg von Alt-England, zu Kannibalen, in das wilde Kosakenland, zu Heiden, zu Mohamedanern oder gar zu Papisten! Nein, nein, nein; nicht nur ich die Mutter, nein, auch Dein eignes Gewissen kann nimmermehr eine solche That zugeben. Aber es ist nicht Dein Ernst, Du scherzest, aber das solltest Du so nicht mit mir, Du weißt wie schwach und furchtsam ich bin, setzte sie mit erzwungener Gelassenheit hinzu, und ein ängstliches Lächeln glitt über ihre verstörten Züge.

Wood war indessen doch zu einiger Fassung gelangt. Schmeichelnd, bittend, sie liebkosend, zog er die arme Mutter aufs Sopha und hielt sie dort fest, indem er durch Zureden und Vernunftgründe sie zu beschwichtigen suchte. Fürs erste bemühte er sich, ihr Vorurtheil gegen Rußland und dessen Bewohner zu bekämpfen, dann setzte er alle Vortheile des an sie beide ergangenen Vorschlages auf das weitläuftigste ihr auseinander. Er wollte mit Hülfe ihres wirklich sehr gesunden Verstandes ihr Mutterherz übertäuben; es gelang ihm nicht; in allem was er vorbrachte, hörte und verstand sie nur, daß er Willens sei ihr Kind aus ihren Armen zu reißen, um es nach einem fernen wilden Lande, zu fremden Leuten zu schicken.

Angst und Schmerz überwältigten endlich ihre physische Kraft. Fürchterlich aufkreischend glitt sie, ehe ihr Mann sich dessen versah, aus seinen Armen auf den Fußboden hin; dort lag sie zu seinen Füßen, konvulsivisch schluchzend, gräßlich lachend, das Gesicht bis zum unkenntlichen durch fürchterliche Zuckungen entstellt, in einem jener hysterischen Anfälle, denen bei heftigen Gemüthsbewegungen die Engländerinnen weit mehr und häufiger, als andre Frauen unterworfen sind.

Dem ehrlichen Wood geschähe himmelschreiendes Unrecht, wenn man ihn hier theilnahmloser Gleichgültigkeit beschuldigen wollte. Im Gegentheil versuchte er alles Erdenkliche, um den traurigen Zustand seiner Frau zu mildern, und als keines der sonst in solchen Fällen gewöhnlichen Hausmittel anschlagen wollte, lief er selbst den Apotheker aus dem Bette zu holen, der überall beim Mittelstande in England die Stelle eines Arztes vertritt.

Aber auch die stärksten Mittel, welche der Stiefsohn Äskulaps anwandte, versagten diesmal ihre Wirkung. Die nächtlichen Stunden vergingen, ohne daß die Leidende zu völligem Bewußtsein gelangte. Und als endlich der Tag darüber anbrach, während der Apotheker den besorgten Ehemann fortwährend durch Versicherungen des völlig gefahrlosen Zustandes seiner Frau zu beruhigen suchte, da, es läßt sich nicht abläugnen, da überkam den guten Master Wood doch eine Art innerer Zufriedenheit darüber, jedes weiteren Kampfes mit seiner Sally durch diesen Zufall überhoben zu sein.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Mißtreß Wood aus todtenähnlichem Schlummer erwachte. Das Geläute der nahen Kirche rief die Gemeine zum Gottesdienst, und tanzende Sonnenstäubchen spielten in dem, durch eine Öffnung der Gardinen, auf ihr Bette schräg hinfallenden Sonnenstrahle; es war eilf Uhr.

Zu spät, zu spät! rief die arme Frau, und ein Strom von Thränen machte ihrem verzweifelnden Gefühle Luft, indem er sie wahrscheinlich zugleich vor einem neuen Anfalle von Krämpfen bewahrte.

Das Ende von diesem Allen ist leicht abzusehen. Ungeachtet des tapfersten, bis zu der verhängnißvollen Mittwoche fortgesetzten Widerstandes, mußte Mißtreß Wood sich doch dem Willen ihres Herrn und Gebieters endlich ergeben. Freilich hatte auch er mit dem eignen Vaterherzen einigen Kampf zu bestehen; der hübsche muntre Richard war sein und des ganzen Hauses Liebling; doch mit Eigennutz verknüpfte Rücksichten bilden eine Kette, deren Glieder alle auf das engste ineinander greifen, und die in allen Ständen das gesellige Leben in allen seinen Nüancen durchzieht und umschlingt.

Eines entsteht aus dem Andern; dem Petersburger Banquier Groß lag alles daran, sich in der Gunst eines der mächtigsten Fürsten des Reichs dadurch immer fester zu stellen, daß er jeden Auftrag desselben auf das pünktlichste und schnellste ausführte.

Der englische Banquier, Sir John Murray, war nicht weniger dabei interessirt, die Wünsche eines so bedeutenden Handelsfreundes, wie Herr Groß ihm war, zu erfüllen, und die zwischen ihnen beiden bestehende Connexion dadurch immer fester zu knüpfen. Daß er sein großes Übergewicht über den zwar ebenfalls reichen, aber doch, als Ladenhändler in der City, tief unter dem zum Ritter erhobenen Wechsler stehenden Strumpfhändler dabei in Anwendung brachte, kann man ihm schwerlich verargen; und daß Master Smith, abgesehen von andern noch solidern Gründen zur Gefälligkeit, durch die herablassende Freundlichkeit eines so vornehmen Mannes zu geschmeichelt sich fühlte, um nicht seinen demüthigen Gevatter und Freund, den kleinen geldarmen aber kinderreichen Strumpf-Fabrikanten durch die lockendsten Verheißungen zu seinem Willen zu bringen, liegt nun einmal in der menschlichen Natur.

Leid, sehr leid thut es uns, daß wir die gute Sally, mit ihrem warmen Mutterherzen, noch gewissermaßen dem Ende dieser Kette anhängen müssen; aber abläugnen läßt es sich nicht, daß nur einer von allen Trostgründen, mit denen ihr Ehegemahl sie überschüttete, des gewünschten Eindrucks nicht ganz verfehlte.

Und wenn wir nun, vielleicht noch ehe Jahr und Tag verstreichen, mit Hülfe des von Sir John Murray und Smith & Compagnie uns verheißnen Credits, es dem stolzen Narren Bird und seinem aufgeblasenen Weibe gleich thun können? fragte er, ihr listig lächelnd ins Gesicht schauend; oder wenn, denn man kann nicht immer wissen wie alles kommt, wenn nun gar Mißtreß Wood, in ihrem eleganten neuen Landauer voll geputzter Kinder, an dem magern Einspänner der Mißtreß Bird vorüberrollend, mit einem kaum sichtbaren Kopfnicken sie begrüßt? Sally! Du kleine Hexe, was sagst Du dazu? He?

Sally sagte kein Wort. Sie weinte immer hin, aber sie lächelte doch ein klein, klein wenig, ganz heimlich und verschämt, mitten in ihren Thränen.

Wolle doch Keiner den ehrlichen Wood zu hart verdammen, oder wohl gar des Kinderhandels ihn beschuldigen, ohne vorher die große Gewalt eines von Jugend auf gesehenen Beispiels zu bedenken. In England, dem Markte der Welt, wie Schiller es sehr treffend nennt, ist vieles auf eine, uns Bewohnern des festen Landes unbegreifliche, ja empörende Weise verkäuflich. Offiziersstellen bei der Armee haben, bis zu einem gewissen Grade, ihren Preiß, um den jeder sie erhandeln, und wenn er sie aufzugeben geneigt ist, auch wieder verkaufen darf. Wie viel Gold und Goldeswerth ein Sitz im Parlamente kostet, ist allbekannt. Der Glückliche, der, wenn er auch nur ganz oberflächlich Theologie studirt hätte, durch Familienverbindungen oder Protection, einer bedeutenden Stelle im Dienste der englischen Kirche sich erfreut, darf frei und öffentlich um geringen Sold einen ärmeren Geistlichen sich erkaufen, der alle Pflichten und Arbeiten seines Standes für ihn übernimmt, während der sehr ehrwürdige Herr, ganz mühelos, eines Einkommens von mehreren Tausenden sich erfreut.

Um die für ihn unerschwinglichen Kosten einer Klage auf Ehescheidung zu ersparen, bindet der englische Tagelöhner, durch einen uralten Gebrauch dazu berechtiget, seinem untreuen Weibe einen Strick um den Hals, und verkauft es an seinen begünstigten Nebenbuhler um wenige Schillinge auf öffentlichem Markte.

Der feine honorable Gentleman aber trägt in ähnlichem Falle die Schande seines Namens, seines Hauses, seiner Kinder vor Gericht, breitet sie dort vor den Augen der Richter auf die widerwärtigste Weise weitläuftig aus, duldet es gelassen, wenn freche Zeitungsschreiber die scandalöse Geschichte zu einem pikanten Artikel in ihren Blättern benutzen, und klagt nicht auf Ehescheidung, sondern auf Schadenersatz durch Geld für den erlittenen Verlust; der denn auch von den Richtern gehörig gewürdigt und taxirt wird, ehe man die gebührende Summe ihm zuerkennt, die er auch ohne Erröthen sich richtig auszahlen läßt.

Möge denn auch der vom täglichen Beispiele verleitete Wood für seine Speculation einige Entschuldigung hier finden, von der sich doch nicht voraussagen ließ, ob sie nicht für den dabei am meisten betheiligten Richard am vortheilhaftesten ausfallen möchte.

Unter Thränen, Klagen und häuslichem Jammer aller Art, kam die verhängnißvolle Mittwoche heran. Wenn die Mutter in der Zwischenzeit von Trennung sprach, so weinte Richard mit ihr, und versicherte schluchzend, daß er lieber sterben wolle, als sie verlassen; wenn aber der Vater von der Kutsche und dem prächtigen Schiffe erzählte, auf welchem Richard fahren sollte, so gerieth der kaum achtjährige Knabe in eine ganz andre Stimmung, und schien den Tag der Abreise kaum erwarten zu können. Richard war eben ein Kind, wie alle an Leib und Seele gesunde Kinder sind, der Gegenwart lebend, und immer das Allererwünschteste von der Zukunft erwartend.

Als er das Vaterhaus verlassen sollte, hing er unter lautem Geschrei am Halse der trostlos jammernden Mutter; als man von ihr ihn gewaltsam entfernte, klammerte er sich an den Fuß eines nahe an der Hausthüre stehenden Tisches an. Aber der Anblick der vier stattlichen Pferde vor der ihn erwartenden Kutsche milderte, sobald er auf der Straße war, seinen Schmerz. Die ihm neue Freude des Fahrens, nebst einer Schachtel voll Confect, mit welcher James Cox sich in London zu diesem Zwecke versehen, trockneten völlig seine Thränen. Er langte ganz wohlgemuth bei seinem Pathen an, ließ all' die guten Dinge, die ihn dort erwarteten, sich wohlgefallen, weinte ein wenig, als er beim Zubettegehen die Mutter vermißte, schlief aber, reisemüde, bald ein. Er jauchzte vor Freuden, als er auf das bunt bewimpelte Schiff gebracht wurde, legte die Seereise gesund und munter zurück, und als er landete, war über die vielen neuen fremden Gegenstände, die sich ihm entgegen drängten, die Heimath so gut als vergessen.

Fürst Andreas, in dessen glänzenden Palast der kleine Fremdling sich, wie durch einen Zauberschlag, aus der engen Häuslichkeit versetzt sah, in welcher er bis dahin vegetirt hatte, war ein stattlicher, vornehm aussehender Mann, in den sogenannten besten Jahren, das heißt zwischen vierzig und funfzig. Die stolze Haltung, der ernste Blick, bezeichneten in ihm das mächtige Oberhaupt einer, in vielfachen Verzweigungen durch das ganze russische Reich verbreiteten, und sowohl am Hofe als im Volke in hohem Ansehen stehenden Familie. Es lag in seiner Persönlichkeit ein gewisses Etwas, das sich ganz dazu eignete, denen, die zum erstenmal in seine Nähe kamen, ehrerbietige, oder auch, je nachdem die Leute waren, furchtsam-ängstliche Scheu einzuflößen; doch das wahrhaft menschenfreundliche milde Betragen des Fürsten, wandelte diese gar bald in Vertrauen um, das aber nie in Vertraulichkeit ausarten durfte.

Den hohen Rang, die vielen, über Tausende ihn erhebenden Vorzüge, zu welchen sein Geschick ihn geboren werden ließ, wußte Niemand mit mehr Würde und Anstand zu tragen, als Er. In seinem ganzen Wesen zeigte sich keine Spur jener, fast wie Ironie aussehenden, populär sein wollenden Höflichkeit gegen Geringere, die diese nur in ängstigende Verlegenheit setzt, weil sie, aus ihrer Sphäre gehoben, den Maßstab verlieren, nach welchem sie, ohne beklemmende Besorgniß, zu viel oder zu wenig zu thun, ihr eignes Betragen einrichten könnten. Jede Ehrenbezeugung, die seinem hohen Stande gebührte, ließ er gelassen und ohne einen besondern Werth darauf zu legen, sich gefallen. Dadurch erleichterte er Jedem, auch dem Geringsten, den Umgang mit sich, ohne jemals sich selbst etwas zu vergeben.

In seiner Jugend hatte Fürst Andreas mehrere Jahre im Auslande zugebracht, hatte England, Frankreich, Italien und einen großen Theil von Deutschland mit Nutzen bereiset, und mit dem seinem Volke eignen Talente die verschiedenen Sprachen dieser Nationen sich angeeignet, und war dann mit bereichertem Geiste und erweiterten Weltansichten in seine Heimath zurückgekehrt.

Glühende Vaterlandsliebe war der Grundton seines Wesens, und das Bestreben, die Kenntnisse, die er im Auslande sich erworben, zur höheren Kultur seines Volkes zu verwenden, um es mit der Zeit den gebildetesten Völkern Europas gleichzustellen, ward zum Hauptzweck seines Lebens. Dieser innigste Wunsch steigerte mit zunehmenden Jahren sich bis zur Leidenschaft, und verleitete ihn bisweilen zu manchem bedeutenden Mißgriffe; denn er verlor oft, über seine allzugroße Vorliebe für alles Ausländische, die von der Existenz seiner Landsleute unzertrennlichen, durchaus charakteristischen Eigenheiten derselben aus den Augen, und verletzte beim besten Willen, wo er ganz das Gegentheil beabsichtigte.

Seine, an Alter ihm fast gleiche Gemahlin, Eudoxia, war das mildeste Gemüth von der Welt, das Mann und Kinder wie sich selbst liebte, und gleich einer segenspendenden Gottheit, und auch so verehrt, über allen den viel tausend Seelen schwebte, deren große Zahl, nach russischem Gebrauche, den überschwänglichen Reichthum des fürstlichen Hauses bezeichnete. Sie half jeder Noth ab, deren Kenntniß bis zu ihr gelangte; einem menschlichen Wesen wehe zu thun, oder auch nur es leiden zu sehen, wenn man helfen konnte, dünkte ihr unmöglich. Sie hörte es sehr gern, wenn ihre Leibeignen, nach dem naiven Gebrauche des russischen Volkes, sie Mütterchen nannten; was übrigens in jenem Lande ein Ehrenname im Munde desselben ist, dem ein geneigtes Ohr zu leihen, selbst die Kaiserin aller Reußen nicht verschmäht. 

Die Fürstin Eudoxia hatte übrigens alle Ansichten ihres Gemahls sich dermaßen angeeignet, daß man wohl von ihr sagen konnte, sie sah nur mit seinen Augen, und dachte nur seine Gedanken. Daß auch er menschlich irren könne, kam ihr eben so wenig in den Sinn, als daß jemals ein ihr nicht gleich Geborner die zwischen ihrer Hoheit und seiner Niedrigkeit bestehenden Schranken übersteigen wollen könne. Aufgewachsen in allen verjährten Vorurtheilen ihres hohen Standes, kannte sie nur Adlige und Leibeigne, und war, mit ächt orientalischer Ruhe, von dem in der Natur gegründeten Unterschiede dieser beiden Menschenracen fest überzeugt, ohne weiter darüber nachzudenken. Doch gerade deshalb trieb die ihr angeborne Güte des Gemüthes sie zum innigsten Mitleide mit den Unglücklichen, denen von der Natur alle innern und äußern Vorzüge schon bei ihrem Eintritte in das Leben versagt worden waren, welche die ihr Ebengebornen gleich einer Glorie umstrahlten.

Um für das ihnen angeborne Elend sie gleichsam zu entschädigen, und es ihnen dadurch minder fühlbar zu machen, entsagte Eudoxia im gewöhnlichen Leben, aus ächter Barmherzigkeit, den ihrer Geburt gebührenden Ehrenbezeugungen. Sie forderte nichts, was Ihrem Gefühl nach jene Armen noch tiefer beugen konnte; aber wehe dem unter ihnen, der tactlos genug gewesen wäre, diese Äusserlichkeiten zu vergessen, ohne von der Fürstin ausdrücklich und besonders dazu aufgefordert und berechtigt worden zu sein. Es giebt keine Worte, um ihr Erstaunen über eine solche, die Möglichkeit überschreitende, an Sakrilegium gränzende Unthat, gehörig zu schildern. Glücklicherweise hatte sie bis jetzt nur selten eine solche Erfahrung gemacht, denn sie ward allgemein, von Hohen und Niedern, geliebt und verehrt.

Auch war Fürstin Eudoxia wirklich eine gute Dame, mit der es sich ganz leicht leben ließ; denn auch sie liebte die Menschen, auch die niedriggebornen, aber freilich ungefähr so, wie wir Andern unsre Lieblingspferde oder Hunde lieben. Wer unter uns hat nicht schon mit mitleidigem Erbarmen auf seinen Hund niedergeblickt, wenn das treue Thier mit klugen Augen uns ansieht, und durch leises Winseln andeutet, daß es gern antworten möchte, wenn die arme stumme Kreatur nur reden könnte.

Isidor, der älteste Sohn des fürstlichen Paares, war bei Richards Ankunft schon funfzehn Jahre alt, und einem deutschen Hofmeister übergeben, unter dessen Leitung er für die diplomatische Carrière sich vorbereitete, für welche er bestimmt war. Alexis, sein um zwei Jahre jüngerer Bruder, wurde für den Militairdienst erzogen, und Eugen, der jüngste der drei Söhne, hatte so eben das siebente Jahr erst erreicht.

Von den beiden Töchtern des Hauses war Natalie, die älteste, ein sehr niedliches sechsjähriges Prinzeßchen, das unter den Händen der, übrigens sehr vorzüglichen Gouvernante, Mademoiselle Duprés, schon eine ziemlich französische Tournüre erhalten hatte, und für ein Muster von Artigkeit galt. Die kleine Helena aber, ein ächtes Kind der Natur, hübsch wie ein Engelsköpfchen, frisch und blühend wie ein Mairöschen, stand noch unter der Aufsicht ihrer Amme, und war die Lust und Freude der Eltern, wie des ganzen Hauses.

Mitten in diesen Familienkreis, zu welchem noch eine bedeutende Anzahl dem fürstlichen Hause anverwandter Kinder gehörte, der auch noch täglich durch demüthigere Gespielen, Söhne und Töchter der vornehmern Dienerschaft erweitert wurde, sah der kleine Insulaner, wie ein fremdes Wunderthier, sehr unvorbereitet sich hingestellt. Befangen, blöde, daneben etwas verblüfft, sah er nach der Reihe alle die fremden Leute sich an, und das Weinen mochte ihm näher sein als das Lachen.

Doch als Fürst Andreas, in recht verständlichem, wenn gleich etwas fremdartig ausgesprochnem Englisch ihn freundlich anredete, Herr Müller, Isidors Hofmeister, ebenfalls in seiner Muttersprache, ihn aufforderte guten Muthes zu sein, weil es in diesem Hause ihm nicht anders als wohl ergehen könne, und endlich sogar der sonst ziemlich zurückhaltende Isidor die paar englischen Worte, die er von Herrn Müller erlernt hatte, zusammensuchte, um den kleinen Fremdling willkommen zu heißen, da wurde diesem schon leichter um das Herz.

Das Beste dazu aber that Eugen, der kein Wort englisch wußte. Er nahm den neuen Gespielen, der seiner Meinung nach eigens für ihn verschrieben worden war, beim Kopf, fuhr mit linder loser Hand ihm liebkosend durch die lichtblonden Locken, sah ihm lächelnd in die großen blauen Augen, streichelte ihm die feuerroth glühenden Wangen, faßte ihn dann mit beiden Armen an, und sprang mit ihm ein paar Mal durch das Zimmer, daß der Fußboden dröhnte, und die kleine Helena, die sich in das Spiel mischen wollte, von ihrem Bruder beinah umgerannt wurde. Doch Richard nahm noch im rechten Augenblicke sie gewandt auf, und brachte sie zu ihrer Amme; denn er war an Aufmerksamkeiten dieser Art noch von zu Hause her bei seinen kleinen Geschwistern gewöhnt.

Die Nacht mußte Richard, auf Eugens ausdrückliches Verlangen, in der nächsten Nähe seines kleinen Beschützers schlafen; am folgenden Tage wurde der Insulaner mit seinen Umgebungen schon bekannter, und fing an, sich ein Herz zu fassen; nach vier Wochen waren sämmtliche Kinder im Stande, halb in russischer halb in englischer, und wo diese nicht ausreichten, durch Zeichen und Geberden sich unter einander recht leidlich zu verständigen. Es ging freilich ein wenig wie beim babylonischen Thurmbau dabei her, aber die Lust war deshalb nur um so größer, und des Lachens und Jauchzens kein Ende.

Richard wurde wirklich im Hause des Fürsten Andreas den Kindern desselben in jeder Hinsicht völlig gleich gestellt; gekleidet und bedient wie sie, theilte er Unterricht und Vergnügen mit ihnen. Ein alter freundlicher Diener war ihm, mehr zur Aufsicht als zur Bedienung beigegeben, der bei seinen kindischen Einfällen und Spielen ihm redlich half; Eugen, zu welchem Richard der Gleichheit ihres Alters wegen sich vorzugsweise hielt, bekam ein kleines Pferd zum Reiten, und am nämlichen Tage wurde auch Richard mit einem nicht minder hübschen beschenkt; lauter Dinge, an die nur zu denken, ihm daheim auch nicht im Traume eingefallen wäre.

Alle im Hause gaben sich gern und freundlich mit ihm ab, jeder Tag brachte ihm etwas Neues, das ihn erfreute, und so war es denn nicht zu verwundern, wenn die Sehnsucht nach Eltern, Geschwistern, und der fernen Heimath, wo es ihm lange nicht so gut ergangen war als hier, gar bald aus seinem Gemüthe völlig schwand. Richard war kaum acht Jahre alt, ein lebhaftes glückliches Kind; möge dieses zu seiner Entschuldigung dienen, wenn er nach einem kurzen Jahre sich der vorigen Zeit kaum noch erinnerte und ihm bedünkte, wirklich zu sein, was er doch eigentlich nur zu sein schien. An was gewöhnte der Mensch sich leichter als an Wohlleben und Pracht! und was entschwindet schneller und spurloser aus der Seele, als Erinnerung an frühere Armuth und Niedrigkeit.

Aber auch von Seiten der Eltern geschah leider wenig, um ihr Andenken im Gemüthe ihres Kindes lebendig und warm zu erhalten. Gleich nach seiner Ankunft in Petersburg hatte Richard an Vater und Mutter geschrieben, baldige Antwort war darauf erfolgt, doch auf einen zweiten Brief blieb diese mehrere Monate aus, und endlich erhielt er gar keine mehr. Richard gab nun ebenfalls das Schreiben auf, und die Folge davon war, daß er weder an Eltern noch Vaterland weiter dachte, und sich da, wo es ihm so wohl erging, so ganz daheim fühlte, daß ihm zu Muthe war, als sei es immer so gewesen.

Master Wood war aber auch wirklich in Nottingham vom Morgen bis zum Abend dermaßen mit Arbeit belastet, daß er kaum zu sich selbst kommen konnte. Seine Londoner Freunde hatten ihm ihr Versprechen gehalten; mit ihrer Hülfe war es ihm gelungen, sein Fabrikgeschäft um mehr als das doppelte zu erweitern, und den mit ihm rivalisirenden Nachbar Bird völlig zu überflügeln; aber nun gab es auch doppelt zu thun. Es gab so viele Geschäftsbriefe zu schreiben, daß für andre, die ihm ohnehin nie sonderlich aus der Feder fließen wollten, weder Zeit noch Lust übrig blieb.

Zeit, Gewöhnung, häusliche Leiden und Freuden, hatten auch die Thränen der Mutter früher getrocknet, als sie selbst es gedacht, und über die Trennung von ihrem Lieblinge sie getröstet. Freilich hätte sie anfangs ihm gern geschrieben, wäre sie nur in Behandlung der Feder etwas geübter gewesen; als nun aber, mit dem steigenden Wohlstande ihres Hauses, auch ihr Haushalt sich bedeutend vergrößerte, und späterhin sogar ein neuer kleiner Ankömmling die Lücke wieder ausfüllte, welche Richards Entfernung in die Reihe ihrer Kinder gebracht, so daß sie deren wieder vierzehn um sich sah, da begnügte die gute Frau sich ganz gelassen mit den Nachrichten von ihrem abwesenden Sohne, die sie zuweilen durch Vermittelung der Londoner Geschäftsfreunde ihres Mannes aus der dritten Hand erhielt. Sie waren bis jetzt noch immer erfreulich ausgefallen; Master Wood versäumte nie, den Richard betreffenden Punkt aus Sir Johns oder Master Smith's Briefen ihr vorzulesen. Ist es nicht vernünftig, für etwas das man ohne Mühe und Kosten erlangen kann, sich unnütze Schreibereien, und obendrein das theure Postgeld zu ersparen? pflegte er gewöhnlich nach einer solchen Vorlesung zu seiner Frau zu sprechen; und Sally nickte ihm beifällig zu, und wiegte ihr Neugebornes.

Früher noch als man es gehofft stieg Moskau, gleich dem Vogel Phönix verjüngt und verschönert, aus der Asche jenes weltgeschichtlichen Brandes wieder auf, dessen unabsehbare Folgen kommenden Beschreibern unsrer merkwürdigen Zeit noch nach Jahrhunderten Stoff zu Hypothesen liefern werden. Die reichen und vornehmen Bewohner der uralten Stadt, welche, um den Schrecken jener furchtbaren Katastrophe zu entgehen, sich bei Zeiten aus derselben entfernt hatten, kehrten nach und nach in ihre wieder hergestellten Paläste zurück, und auch Fürst Andreas beeilte sich, Petersburg, wohin er damals mit den Seinen sich geflüchtet hatte, wieder zu verlassen, um bei der Vollendung seines prachtvollen Baues in Moskau selbst gegenwärtig zu sein, und die innre Einrichtung und Ausschmückung desselben, nach seinem im Auslande geläutertem Geschmacke, unter seinen eignen Augen besorgen zu lassen.

Sobald alles zu ihrem Empfange eingerichtet war, folgte die Fürstin ihrem Gemahl. Nur ihre beiden Töchter und der jetzt neunjährige Eugen nebst seinem von ihm unzertrennlichen Gefährten Richard begleiteten sie. Der älteste ihrer Söhne, Prinz Isidor, blieb mit seinem Hofmeister zurück, um seine Vorbereitung zur Universität Dorpat, die er im nächsten Jahre beziehen sollte, zu vollenden. Alexis, der zweite Sohn, wurde einer der kaiserlichen Anstalten für die Bildung zur Marine übergeben; denn diesen beschwerlichen Dienst hatte er aus freiem Antriebe sich erwählt.

Das ewig heitre, mitunter wilde Treiben der beiden Knaben, die sie einen wie den andern ihre Söhne nannte, belustigte die Fürstin ungemein. Die von einem so bedeutenden Umzuge unzertrennliche Unruhe, das Hin- und Herlaufen der Arbeitsleute und Bedienten, das Packen und Hämmern, das Rufen und Lärmen vor der Abreise, und endlich die Reise selbst, beschäftigte die Kinder so angenehm und anhaltend, daß sie gar nicht dazu gelangen konnten, sich über den Abschied von ihren Petersburger Spielkameraden gehörig zu betrüben. Während der Reise, vorzüglich aber in Moskau selbst, gefiel ihnen alles ganz unendlich, denn alles war ihnen neu; der mildere Himmel, die schönere Natur rings um Moskau, verfehlten späterhin nicht, diesen Eindruck bleibend zu machen.

Prinzeßchen Natalie war schon zu wohlgezogen, um mit den beiden wilden Knaben sich viel abzugeben, die sie zwar recht lieb hatte, deren lärmende Spiele ihr aber oft Unlust und Mißvergnügen erregten. Die kleine Helena hingegen, die indessen jetzt fest genug auf ihren Füßchen stand, um sich nicht so leicht umrennen zu lassen, war und blieb ihre treue Spielgefährtin, lief, kletterte, sprang mit ihren beiden Brüdern, wie sie sie nannte, um die Wette. Zwar war auch sie einer Gouvernante, und zwar einer Deutschen jetzt übergeben, doch ihre Amme Elisabeth war, von der Fürstin Eudoxia dazu berechtigt, dennoch in Rang und Würden bei ihr geblieben. Sobald es nicht dem eigentlichen Unterrichte galt, den sie freilich ihr nicht ertheilen konnte, hatte Elisabeth die specielle Aufsicht über das Kind ihres Herzens sich nicht nehmen lassen.

Nach alter, ächt orientalischer Sitte, spielen überhaupt in den Familien der russischen Großen die Ammen eine sehr bedeutende Rolle. Frauen aus den höchsten Ständen hängen lebenslänglich mit unverbrüchlicher Liebe an der treuen Pflegerin ihrer hülflosen Kindheit; sie bleibt ihre Rathgeberin, die Vertraute ihrer Leiden und Freuden, und behält bei jeder großen oder kleinen Angelegenheit ihres Lebens eine oft entscheidende, nie unbeachtete Stimme.

Alle vier Kinder wuchsen im geselligsten Familienleben mit einander heran. Mit der Zeit wurden der Spielstunden weniger, der Stunden des Unterrichts hingegen mehr, und manche der letzteren wurden ihnen allen gemeinschaftlich ertheilt. In freien Stunden suchte die kleine Helena, soviel dieses anging, den beiden Knaben fortwährend zur Seite zu bleiben, und das immer frohe, freundliche Kind wurde auch von ihnen als ein lieber willkommner Spielkamerad betrachtet, dem sie, weil er jünger und schwächer war, manches nachsahen und alles zu Gefallen thaten. Richard, als der älteste und stärkste, bestrebte sich besonders, Helenen überall zu vertreten und sie ritterlich in seinen Schutz zu nehmen, wenn Gefahr oder Unbill ihr drohten.

Lebte der gute August Lafontaine noch, und wären seine, fast in der Wiege aufflammenden, jetzt schon halb vergeßnen Kinderlieben noch Mode, welchen Stoff zu den rührendsten und naivesten Liebesscenen hätten die kleine russische Prinzessin und der englische Strumpfwebersbube ihm geboten! Was könnte romantischer erdacht werden, um ihn zum Ausspinnen einer höchst zart empfundenen Novelle zu verleiten. Doch Richard und Helene waren, die Wahrheit zu gestehen, zu gesunde, zu unverschrobene, zu wahrhaft kindliche, mitunter auch, selbst als sie schon ziemlich herangewachsen waren, zu kindische Kinder, als daß so etwas bei ihnen nur denkbar gewesen wäre; sie nannten einander Bruder und Schwester, und liebten sich als solche recht ehrlich und offenbar.

So vergingen mehrere Jahre; Richard blieb, was er vom ersten Tage seines Eintritts in dieses Haus gewesen, der Liebling Aller, vom fürstlichen Ehepaar an bis zum Ofenheizer herab; vor allem aber Eugens innigster unzertrennlichster Freund. Wer beide, ohne sie genauer zu kennen, zusammen sah, mußte für Brüder sie halten; sie selbst hatten gänzlich vergessen, daß nur Wahlverwandtschaft, nicht Bande des Blutes sie verbänden. Alles hatten sie mit einander gemein, die Liebe der Eltern, die Vortheile welche Reichthum, Stand und Geburt, den Söhnen des Glückes gewähren; jeden Unterricht, nicht nur im Gebiete der Kunst und Wissenschaft, auch in ritterlichen Übungen, und in Allem was Jünglinge aus den höhern Ständen bedürfen können, um sowohl in den bedeutendsten Stellungen des öffentlichen Lebens, als auf dem glatten Parkette der Salons, mit Anstand und Sicherheit aufzutreten.

Daß der arme Richard durch alles dieses viel zu hoch über die bescheidne Sphäre erhoben werde, welche sein Geschick beim Eintritt in das Leben ihm angewiesen hatte, daran dachte Keiner, am wenigsten er selbst; sogar das Fürstenpaar schien die zwischen dem in Dunkelheit gebornen Fremdling, und den Sprößlingen seines erlauchten Hauses bestehende Scheidelinie, ganz aus den Augen verloren zu haben.

Die Fürstin wünschte ihre Kinder, besonders ihre Töchter, das ächte Frühlingsleben der Jugend so lange als möglich genießen zu lassen; sie führte sie daher später, als sonst wohl geschieht, in die Gesellschaft der großen Welt ein; versagte ihnen aber, als sie heranwuchsen, keine ihrem Alter angemessne Freude. Sogenannte Kinderbälle, musikalische Übungen, Spazierfahrten im Sommer, Schlittenpartieen an leidlichen Wintertagen, gewährten ihnen Abwechselung und Vergnügen im Überfluß; sogar ein kleines Theater wurde ihnen im Palast errichtet, auf welchem, anfangs an Geburtstagen und bei ähnlichen festlichen Gelegenheiten, kleine dramatische Vorstellungen von ihnen gegeben wurden, die sich zuletzt zu einem förmlichen Liebhabertheater gestalteten.

Alles dieses bot Gelegenheit zu mannigfaltigen Verbindungen mit andern jungen Leuten ihres Standes und Alters. Ganz unbefangen nahm Richard an allen Festen und Vergnügungen thätigen Antheil, und spielte dabei, durch seine persönlichen Vorzüge dazu berechtigt, keinesweges eine untergeordnete, sondern vielmehr eine sehr ausgezeichnete Rolle. Eltern und Heimath wurden über das alles völlig vergessen; darf man ihn deshalb verdammen? Doch mitten in diesem Freudentaumel wurde er ganz unerwartet an beide erinnert, und zwar, sonderbarer Weise, von der Fürstin Eudoxia selbst.

Die Fürstin liebte es, in müßigen Stunden sich von ihrem Pflegesohne die neuesten Erzeugnisse der französischen Literatur in ihrem Kabinette vorlesen zu lassen, welche aber damals, gegen den romantisch wilden Schwung, den sie in unsern Tagen gewonnen haben, noch ziemlich nüchtern sich ausnahmen. Das neueste Werk des damals noch sehr bewunderten Herrn von Arlincourt war, zu Richards großer Freude, eines Tages beendet, und er, innerlich noch gähnend, eben im Begriff das Buch an seinen Platz zu bringen, als die heute besonders gütig gestimmte Fürstin plötzlich auf den, ihr nie zuvor gekommenen Einfall gerieth, nach seiner Familie sich zu erkundigen. Sie fragte ihn, wie alt seine Mutter sei, wollte die Anzahl seiner Geschwister, Namen und Alter eines jeden derselben von ihm erfahren, lauter Fragen, die Richard nicht zu beantworten im Stande war, und die ihn beängstigten und verwirrten, weil er, nach langem Besinnen, doch nichts fand, was er darauf erwiedern könne. Durch eine schnell ersonnene Antwort rasch aus der Verlegenheit sich zu ziehen, war seinem redlichen Sinne nicht möglich, und doch war ihm nicht unbekannt, mit welcher Innigkeit alle Russen, vom Höchsten bis zum Geringsten, an den Ihrigen hangen, und mit welcher religiösen Pietät sie besonders ihre Eltern und das Andenken derselben ehrfurchtsvoll hochhalten. In diesem Augenblicke erschien das gänzliche Vergessen der Seinigen ihm beinahe wie ein Verbrechen.

Ich wurde so jung von den Meinigen getrennt – ich erhalte so selten Nachricht von ihnen, stotterte er endlich, erglühend im ganzen Gesicht; Thränen traten ihm in die Augen, als er bemerkte, daß der Fürstin seine Verlegenheit nicht entging. Doch sie mochte dieselbe anders sich deuten, als er in seiner tiefen Beschämung es fürchtete; vermuthlich weil der wahre Grund derselben ihr undenkbar war; denn sie sah mitleidig lächelnd ihn an.

Guter Sohn, sprach sie, freilich liegen mehr als zehn lange Jahre, und Meere und Länder zwischen Dir und den Deinen. Aber was Du dort verlorest, hast Du hier wiedergefunden, und sollst es nie wieder verlieren.

Tief bewegt küßte Richard die ihm gebotene schöne Hand. Ich bin Willens Dir und den Deinen eine kleine Freude zu bereiten, fuhr die gütige Frau fort, Du sollst Deine Mutter und auch Deine Schwestern beschenken. Ein armenischer Kaufmann war heute Morgen bei mir, unter dessen Waarenvorrathe ich allerlei Kleinigkeiten auswählte, die einer englischen Lady vielleicht gefallen können, weil sie in ihrem Lande etwas Seltenes sind.

Schwer beladen mit wirklich fürstlichen Geschenken mannigfaltiger Art, eilte Richard von der Fürstin in sein Zimmer. Seine Freude war gränzenlos; wer ihm in den Weg kam, wurde um Rath und Hülfe angegangen, wie das alles auf das sicherste und sorgfältigste einzupacken wäre. Er gönnte weder sich noch andern Ruhe, bis er seine Kostbarkeiten zur weitern Beförderung auf dem Wege nach Petersburg wußte, und sah hernach täglich nach der Windfahne, bis er Nachricht von der glücklichen Ankunft seiner Sendung aus England erhielt.